Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St Lucia - Karibik/Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz

From Eksa
Jump to: navigation, search

Vorheriges Kapitel: 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite

1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz

verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht

Die andere religiöse Tradition, die in St. Lucia durch mehrere Jahrhunderte hindurch Seite an Seite mit dem Christentum existiert, ist weit schwieriger zu definieren. Dennoch ist in vielerlei Hinsicht ihr Einfluß genauso mächtig als der des Christentums. Diese Tradition kann weder mit einem einzigen Namen bezeichnet werden, noch weist sie eine repräsentative Organisation oder ähnliches auf. Sie wurzelt in den verschiedenen ethnischen Religionen Afrikas, welche die afrikanischen Vorfahren der heutigen afroamerikanischen Inselbevölkerung während der Zeit der Sklaverei mitbrachten und in unterschiedlicher Art und Weise weiter tradierten. In der Kolonialzeit wurde diese Tradition für illegal und subversiv gehalten. Deshalb war sie von Anbeginn an eine Untergrundtradition in St. Lucia. Es ist teilweise diesem Umstand zuzuschreiben, daß diese religiöse Tradition vielmehr in Fragmenten denn als integriertes System überlebt hat.

Wir wollen nun einige dieser Fragmente betrachten, und zwar diejenigen, die halbwegs intakt überlebt haben. Der die meisten Lebensbereiche durchdringendste Korpus von Glaubensvorstellungen und Praktiken bezieht sich auf die spirituelle Welt. Die meisten St. Lucianer glauben auf irgend eine Weise, daß es — zusätzlich zur materiellen Welt des Menschen und der Natur — eine unsichtbare Welt gibt, die von unterschiedlichen Wesenheiten mit übernatürlichen Mächten bewohnt wird.

Diese Mächte können sowohl zum Guten als auch zum Bösen hin verwendet werden, und die Wesenheiten manifestieren sich unter bestimmten Bedingungen in ganz bestimmten Formen. Sie alle haben ihre spezifischen Funktionen und Namen: bolòm, soukouyan, djab lamè'', usw. Wie auch im Christentum ist die spirituelle Welt das Schlachtfeld eines andauernden Krieges zwischen Gut und Böse. Es wird angenommen, daß sich eine Person durch bestimmte Praktiken mit den Kräften des Bösen verbinden kann. Dies kann dem Zweck dienen, um entweder selbst Wohlstand zu erlangen, oder auch um Anderen zu schaden, über sie Macht zu gewinnen, und vieles andere mehr.

Solch eine Person wird jan gajé genannt (aus dem Französischen "gens engagé", d.h. jemand, der „mit dem Teufel verlobt“ ist oder mit ihm im Bunde steht). Ein jan gagé wird überaus gefürchtet. Er/Sie kann nicht alleine bekämpft werden. Man ist auf Hilfe angewiesen: entweder durch die Kraft christlicher Gebete, oder durch einen gadè, oder auch durch beides.

Ein gadè ist eine Person — ähnlich wie ein Wahrsager — die bestimmte Kräfte hat. So z.B. kann er/sie in die Zukunft sehen, Heilmittel gegen diabolische Krankheiten zusammenbrauen, Erfolg bei Prüfungen oder beim Jobsuchen sicherzustellen, usw. Vom gadè wird angenommen, daß er seine Kraft für gute Zwecke benützt. Doch kann natürlich auch er bestochen werden und sich zum Bösen verwenden.

Im allgemeinen werden diese spirituellen Kräfte und ihre menschlichen Agenten mit der Nacht in Verbindung gebracht. Ihre Manifestationen und ihre Stärke sind dann am heftigsten, wenn die Dunkelheit hereinbricht. Angeblich verlieren einige ihre Macht, sobald die Sonne wieder aufgeht. Tatsächlich hängt dies nicht nur mit der Natur solcher rund um die Welt verbreiteten Glaubensvorstellungen zusammen, sondern vor allem auch mit der „Untergrund“-Natur dieser Tradition, welche nur geheim weitergegeben werden konnte. „Obeah“ gilt in den Landesgesetzen St. Lucias und der meisten karibischen Territorien nach wie vor als Verbrechen .

Die Geheimhaltung und offizielle Feindseligkeit, die viele der Ideen und Praktiken dieser Fragmente der Religion umgibt, machen es äußerst schwierig, das Gute vom Schlechten oder Wertlosen zu trennen. So z.B. ist ein gadè oft eine wertvolle Quelle, was das Wissen über medizinische Heilpflanzen betrifft — denn in traditionellen Wissensystemen wird Heilung im allgemeinen als Teil der Religion betrachtet. Aber offizielle Einstellungen über den gadè machen es in der Regel eher schwierig, dieses Wissen zu erlangen und zu prüfen.

Im allgemeinen kann behauptet werden, daß die weitaus überwiegende Mehrheit der St. Lucianer — wissentlich oder unwissentlich — ein bestimmtes Maß an Glauben an die spirituelle Welt afrikanischer Religionen in sich tragen, während sie gleichzeitig auch dem christlichen Glaubenssystem anhängen. Dieser Glaube kann sich zum Beispiel in Fällen von Krankheit manifestieren, bei denen westliche medizinische Praktiken nicht effektiv waren, so daß man sich dann an den gadè wendet. In anderen Fällen wird der Patient von allem Anfang an die Heilmittel vermischen. Oder in wieder einem andern Fall wird jemand, der in einer dunklen Nacht allein nach Hause geht, ein christliches Gebet sprechen. Gleichzeitig wird er aber auch sein Hemd umgekrempelt tragen , und — sobald er zu Hause ankommt — rückwärts eintreten.

Bei genauerer Betrachtung kann man bei den meisten St. Lucianern die eine oder andere Vorstellung oder Praxis vorfinden, die sie aus der fragmentierten afrikanischen religiösen Tradition beziehen — ganz gleich, ob es der betreffenden Person bewußt ist oder nicht.


Nächstes Kapitel: 1.4 Kélé


↑ Nach oben