Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St Lucia - Karibik/Kele

From Eksa
Jump to: navigation, search

Vorheriges Kapitel: 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz

1.4 Kélé

verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht
Foto: Das Kélé-Opferritual im April 1988 geleitet von Hohepriester Etienne Wells Joseph (Manfred Kremser © 1988)
Foto: Das Kélé-Opferritual im April 1983 geleitet von Hohepriester Noah Delaire (Manfred Kremser © 1983)

Die lokale Shangó-Tradition namens „Kélé“

Kélé ist ein afrikanisches Ritual zur Anrufung afrikanischer Ahnen und Gottheiten, dessen Höhepunkt die Opferung eines unbefleckten Schafes bildet.

Dieses Ritual wird von Zeit zu Zeit in der nordöstlichen Region der Insel durchgeführt, vor allem in den Orten Babonneau, Fond Assau und Umgebung. Es ist genau diese Region St. Lucias, in welche die letzten noch in Afrika geborenen und aufgewachsenen Einwanderer als Kontraktarbeiter ("Indentured Labourers") geschickt wurden. In diesem Gebiet haben sich bis heute ganz bestimmte afrikanische Traditionen unter den sogenannten „Djiné“, also den Leuten von „Guinea“ (= Afrika) fast ungebrochen erhalten.

Die Kélé- Zeremonie beinhaltet die Verehrung der Gottheiten Shangó, Ogun und Eshu. Diese religiösen Konzepte gehen auf die Yoruba-„Orisa“ zurück und haben durch ihren Transfer nach St. Lucia vielerlei Reinterpretationen erfahren:

• Shangó zählt unbestritten zu den populärsten afrikanischen Orisas in der Neuen Welt. In St. Lucia tritt uns der Name Shangó nicht nur in Form so genannter Donnersteine entgegen, die auch das Zentrum des Kélé -Altars bilden, sondern Kélé selbst wird oft als Shangó- bzw. Chango bezeichnet. Für die Djiné stellen die Shangó -Steine die physische Repräsentation des Donnergottes dar. Durch sie wird in der rituellen Handlung die Verbindung zwischen Mensch und Gott hergestellt. Daher werden in allen Häusern von Djiné -Familien mit Kraft geladene Shangó -Steine aufbewahrt. Ihnen werden sowohl beschützende als auch heilende Eigenschaften zugeschrieben.

• Ogun wird als göttlicher Repräsentant des Eisens wahrgenommen, weswegen von den Djiné alle Arten von eisernen Geräten an den Altar bei der Kélé -Zeremonie gelegt werden. In der Moderne gilt Ogun vor allem als Beschützer der Autofahrer und anderer Berufe, deren Arbeit an das Eisen bzw. Eisengeräte gebunden ist. Viele Indizien aus neuesten ethnographischen uns ethnohistorischen Untersuchungen lassen vermuten, daß der Ursprung des Kélé in St. Lucia auf das Ogun -Festival in Ado-Ekiti/Nigeria zurückreicht.

In St. Lucia kam es dann zu einer Synkretisierung der beiden religiösen Yoruba-Traditionen für Shangó und Ogun, aus deren Verschmelzung sich der Kélé -Kult in der Diaspora entwickelte, dies vor allem auf den kleinen karibischen Inseln, wo zu wenige Repräsentanten einer spezifischen afrikanischen Religion lebten, um die Tradition unbeeinflußt von den benachbarten Traditionen aufrecht zu erhalten.

Neben Shangó und Ogun finden wir in der auf diese Weise neu entstandenen Kélé-Tradition noch eine dritte personifizierte Gestalt vor, die von den Djiné mit dem Namen Eshu bzw. Akeshew bezeichnet wird und als Widersacher der beiden Ersteren auftritt.

Die Assoziation von Eshu mit dem gefährlichen Inhalt der Kalebasse, die am Ende jeder Kélé -Zeremonie orakelhaft zerschmettert wird, führte in den Augen christlich-klerikaler Kritiker oft irrtümlicherweise zur Gleichsetztung von Akeshew mit dem Teufel, sowie der Hohepriester des Kélé mit Schwarzmagiern.

Die Riten der Kélé-Zeremonie wurden von Familien weitergegeben, die sich selbst als „Nèg Djiné“ identifizierten. Es gibt einen Hohepriester, der seine Rolle an einen anderen weitergibt, bevor er stirbt. Alle Teilnehmer, inklusive des Hohepriesters, sind auch praktizierende Christen, die keine Schwierigkeit damit haben, die beiden Traditionen in ihrem persönlichen Leben miteinander zu verschmelzen.

Im südlichen Teil von St. Lucia, in einem Dorf namens Piaye, wird von einer weiteren „Djiné“-Gruppe die Abhaltung eines Koutoumba — und anderswo in St. Lucia eines Kont — anläßlich des Todes einer Person von den Praktiken der afrikanischen Religionen und nicht vom traditionellen europäischen Christentum hergeleitet.

Inhalt

1.4.1 "ngai bai an kélé" — einen Kélé "geben"

Foto: Msgr. Patrick A.B. Anthony im Interview mit den Hohepriestern des Kélé (Manfred Kremser © 1983)

Im Rahmen der afroamerikanischen Religionen der Gegenwart nimmt der Kélé in St. Lucia in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kulten Afro-Amerikas, wie z.B. Voodoo, Candomblé, Umbanda, Macumba und Santería ist dieser fast rein afrikanisch erhaltene Minderheitskult der Djiné keinerlei Synkretisierung mit christlichen Religionen eingegangen. Im Zentrum der kultischen Handlungen eines Kélé -Rituals steht das blutige Opfer eines Schafbockes, welches in Verbindung mit Gaben von Speise und Trank für die afrikanischen Götter Shangó, Ógùn und Eshu dargebracht wird. Vor allem wegen der Praxis dieses „heidnischen“ Blutopfers zählt der Kélé zu den umstrittensten kulturellen Traditionen der kleinen karibischen Insel St. Lucia. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses zwischen afrikanischem Erbe und westlich orientierter religiöser wie kultureller Wertungen konzentriert sich die folgende Dokumentation auf die Beschreibung der Opferhandlungen und Opfergaben dieses afrikanischen Ritual in der Diaspora, sowie der sie beeinflussenden neuen gesellschaftlichen und ökologischen Bedingungen.

Ein Djiné , der sich an seinen Hohepriester wendet, um ihn mit der Abhaltung einer Kélé -Zeremonie für ein aktuelles Anliegen zu betrauen, sagt, daß er einen Kélé „geben“ möchte („ngay bay an Kélé“) . Diese Formulierung, wie auch die bei einem Kélé tatsächlich in großen Mengen veräußerten Opfergaben, Nahrungsmittel und Getränke, erinnern an den Charakter von Verdienstfesten, der den Kélé -Zeremonien in der Vergangenheit tatsächlich zukam.

Traditionellerweise wurden Kélé -Zeremonien von den Hohepriestern oder anderer führender Oberhäupter der Djiné-Familien mehrmals jährlich „gegeben“, wobei sämtliche Djiné dazu geladen wurden. In diesen Fällen galten sie entweder der Danksagung, oder auch um „die afrikanischen Ahnen der gegenwärtigen Ritualgemeinschaft um Schutz in allen wichtigen Angelegenheiten zu bitten — gute Ernte, Gesundheit und Erfolg im Leben.“ Es sind auch Fälle bekannt, in denen ein Kélé „gegeben“ wurde, um die Ahnen um Beistand für eine bevorstehende Gerichtsverhandlung zu bitten.

In anderen Fällen wurde in Erinnerung an einen kürzlich verstorbenen Vorfahren zum Jahrestag seines Ablebens von dessen Familie ein Kélé „gegeben“; ebenso nachdem der Verstorbene einem hinterbliebenen Familienmitglied im Traum erschienen war und um Nahrung gebeten hatte. Die Verweigerung von Nahrung für das verstorbene Familienmitglied konnte eine Krankheit oder ein anderes Unglück mit sich bringen. Aus diesem Grunde wurden von den Djiné früher zu den verschiedensten Zeiten des Jahres — mit Ausnahme der Fastenzeit — Kélé-Zeremonien abgehalten.

In den letzten Jahrzehnten jedoch kam es — bedingt durch die rasch voranschreitende Verwestlichung zahlreicher Lebensformen, sowie durch das Aussterben der alten traditionsbewussten Djiné — zu einem Rückgang dieser Tradition, so daß gegenwärtig nur ein- bis zweimal im Jahr eine Kélé -Zeremonie stattfindet. Diese wird in der Regel vom Hohepriester alljährlich am Sonntag nach Ostern und zum Jahreswechsel „gegeben“ .


1.4.2 Die Vorbereitungen einer Kélé-Zeremonie

Foto: Die Zubereitung des Yams in Breiform (Manfred Kremser © 1985)

Wenn ein Djiné aus einem der oben erwähnten Motive einen Kélé „geben“ möchte, wendet er sich zunächst an den Hohepriester, dem er sein Anliegen persönlich vorbringt. Traditionellerweise war es üblich, alle übrigen Mitglieder der erweiterten Großfamilie, sowie insbesondere die mit speziellen Funktionen an der Kélé - Zeremonie ausgestatteten Djiné persönlich einzuladen, sobald der Termin und die Lokalität für die Abhaltung des Opfer-Rituals fixiert war. Dies galt vor allem für die Assistenten des Hohepriesters, die Trommler und Tänzer, die Köchinnen für die Verarbeitung des geopferten Schafbocks, sowie für diejenige Person, der die Köpfung des Opfertieres anvertraut wurde — zumeist ein Fleischhauer.

Handelte es sich beim bevorstehenden Kélé um ein wichtiges Anliegen der gesamten erweiterten Großfamilie, so wurden alle Familienmitglieder gebeten, einen bestimmten Anteil an den erforderlichen Nahrungsmitteln und Getränken bereitzustellen. Es ist unbestritten, daß in der Vergangenheit diese reziproken Hilfeleistungen wie vor allem die sie begleitenden kommunikatorischen Prozesse zur Stärkung der Solidarität innerhalb der Djiné-Familien beitrugen.

In jüngster Zeit wird die Ankündigung jedoch über die Medien vorgenommen, vor allem via Radio im „community diary“, wie auch über die lokale Presse. Aus diesem Grunde finden sich neben den geladenen Djiné auch zahlreiche Interessenten ein, die nie zuvor einer Kélé -Zeremonie beigewohnt hatten. Als unvermeidliche Folge dieses „clash of culture“ betrachten einige von ihnen das Ritual als ein Stück afrikanischer Exotik in der eigenen Heimat; andere treten dem Blutopfer mit gemischten Gefühlen entgegen; und auch solche Stimmen, die mit Verachtung auf dieses „heidnische“ Blutopfer herabblicken, halten nicht mit ihren abwertenden Kommentaren zurück.

Die Tage vor der Zeremonie werden von derjenigen Familie, welche den Kélé „gibt“, zur Bereitstellung der Nahrungsmittel und Getränke verwendet. Zunächst wird ein geeigneter Schafbock entweder unter den eigenen Beständen ausgesucht, oder auch käuflich erworben. Sodann werden größere Mengen von Yams, Cassava, Plantanen und Blattsalat aus den eigenen Gärten herbeigeschafft; die übrigen Nahrungsmittel, sowie auch die alkoholischen und nicht alkoholischen Getränke, werden am Markt in der Hauptstadt Castries eingekauft. Die Gesamtausgaben für das Opfertier, Nahrungsmittel und Getränke beliefen sich im Jahre 1983 auf zirka EC$ 800,00 (= € 300,—).

Die für den Altar bestimmten Ritualobjekte und Opfergaben müssen vom Hohepriester persönlich beschafft werden, da es sich — wie im Falle des Inhalts der Kalebasse — um geheimzuhaltende Substanzen handelt.


1.4.3 Der Ort der Opferhandlungen

Foto: Der Hohepriester Noah Delaire bei der Opferhandlung am Altar (Manfred Kremser © 1983)

Die Abhaltung einer Kélé -Zeremonie mit den damit verbundenen Opferhandlungen ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Es gibt — im Gegensatz zu den anderen afro-amerikanischen Kulten wie z.B. Voodookeine Kulthäuser oder feststehenden Opferplätze. Vielmehr hängt die Wahl des Ortes der Durchführung der Kélé-Zeremonie jeweils von der Person ab, die einen Kélé „gibt“. In den meisten Fällen ist dies ein genügend großer Platz im Gehöft dieser Person, der zirka 80 Personen rund um den zu errichtenden Altar fassen kann. Andernfalls wird die Opferzeremonie im Gehöft des Hohepriesters abgehalten, welches vor allem aufgrund seiner vielfältigen juridischen wie auch medizinischen Funktionen innerhalb der Djiné-Gemeinschaft zu einem vielfrequentierten Treffpunkt wurde.

In jüngster Zeit ist man dazu übergegangen, die Kélé -Zeremonie bei solchen Djiné abzuhalten, deren Gehöft ein Rum-Shop miteinschließt, um auch die Versorgung derjenigen Gäste, die sich als Ergebnis der Ankündigungen in den Medien als Zuschauer einfinden, vor allem mit alkoholischen Getränken und zunehmend auch mit Fleischspeisen zu gewährleisten. Damit wird die ursprüngliche Idee einer Kommunion aller Anwesenden — unter Einbeziehung der Ahnen sowie der afrikanischen Gottheiten — über Bord geworfen und einer Kommerzialisierung der Weg geebnet. Ursprünglich wurde nämlich das Fleisch des Opfertieres unter allen Mitgliedern der Kultgemeinde sowie unter allen anderen Personen, die sich zum Kélé eingefunden hatten, verteilt. Dieses mußte zur Gänze am gleichen Tag konsumiert werden.


1.4.4 Die Opfergaben und Ritualobjekte

Foto: Shangó-Steine bilden das Zentrum des Kélé-Altars (Manfred Kremser © 1988)
Foto: Von allen Opfergaben wird Eshu, repräsentiert durch die Kalebasse, als Erstem gegeben (Manfred Kremser © 1985)

Am Morgen desjenigen Tages, an dem die Kélé-Zeremonie stattfindet, errichtet der Hohepriester gemeinsam mit seinen Assistenten den Altar, der oft auch Ógùn bezeichnet wird. Dabei wird vor allem darauf geachtet, daß er so ausgerichtet wird, daß die Teilnehmer während ihrer Opferhandlungen nach Osten blicken — denn „es ist immer weise, zur aufgehenden Sonne zu blicken“. Dementsprechend werden auch die Ritualobjekte und Opfergaben , die in den vorangegangenen Tagen vorbereitet wurden, in folgender Reihenfolge angeordnet:

• Zunächst wird eine Anzahl von Shangó -Steinen halbkreisförmig aneinander gereiht. Dabei handelt es sich teilweise um amerindische Stein-Äxte, teilweise um nicht eindeutig identifizierbare „Donnersteine“ bis zu einer Größe von ca. 45 cm Länge. Von einigen dieser Shangó -Steine wird behauptet, daß sie von den ersten Djiné aus Afrika mitgebracht worden wären; andere wiederum wurden oft Jahre nach einem Blitzschlag bei hohen Bäumen gefunden.

• Daneben wird ein balanmin, eine dünne Eisenstange, die bei der Feldarbeit als Grabstock verwendet wird, fest in den Boden gerammt. Diese Eisenstange repräsentiert Ógùn , den Gott des Eisens .

• An diesen wird ein Schößling einer Kokosnußpalme angebunden. Die Kokosnuß zählt angeblich zu den Lieblingsgerichten von Ógùn, das Palmblatt wird von den Yoruba als „Kleidung Ógùn s“ bezeichnet.

Foto: Kélé-Altar mit Kalebasse (=Eshu), Donnersteinen (=Shangó) und Eisengabel (=Ogun) (Manfred Kremser © 1985)

• Ein „medizinischer Farn“ namens pat makak wird an der Basis der Eisenstange und rund um die Shangó -Steine herum ausgebreitet.

• Von den einzelnen Teilnehmern an der Kélé -Zeremonie werden Ackerbaugeräte und Werkzeuge aus Eisen zu beiden Seiten der Shangó -Steine aufgelegt, wie z.B. Spaten, Gabeln, Buschmesser, Sägen und Äxte — sie gelten als die Insignien von Ógùn .

• Ein Gewehr, welches als einziges der Eisengegenstände bereits während der Zeremonie zweimal aufgenommen wird, um genau zu den beiden Höhepunkten der Kélé-Zeremonie abgefeuert zu werden — einmal im Moment der Köpfung der Opfertieres, das zweite Mal im Moment des Zerschlagens der Kalebasse am Ende der Opferhandlungen.

Foto: Die Getränke Rum und Wasser inmitten von Yams und Shangó-Steinen (Manfred Kremser © 1985)

• Eine Kalebasse mit geheimgehaltenem Inhalt, den magischen Substanzen der Djiné, oft auch als djinéfication bezeichnet — angeblich ein Gemisch aus den zu Asche verbrannten verdorbenen Kräutern mawi und mannmetamann — wird neben dem Schößling der Kokosnußpalme plaziert. Mit dieser Kalebasse wird Eshu assoziiert, der Widersacher von Shangó und Ógùn. Um zu verhindern, daß er seinen schadenbringenden Einfluß auf die Kultgemeinde überträgt, muß er von allen Opfergaben ebenfalls etwas abbekommen — und zwar als Erster.

• Mehrere Knollen rohen Yams der Sorte der Sorte yam potijé. Yams, in Breiform zubereitet, gilt neben dem Fleisch des Schafbocks als eine der Lieblingsspeisen von Shangó.

• Zirka sieben Kerzen, die am äußeren Rand der halbkreisförmig angeordneten Shangó -Steine leicht in den Boden verankert aufgestellt werden.

• Je eine Flasche mit weißem Rum und mit Olivenöl. Es wird gesagt, daß Ógùn weiße Getränke bevorzugt — in Nigeria wird ihm daher auch weißer Palmwein geopfert; für Shangó hingegen, dessen Farbe rot ist, verwendet man in Nigeria das rötliche Palmöl.

• Ein Krug gefüllt mit reinem Trinkwasser.

• Ein Glas, ein Teller und ein Messer, welches zum Zerschneiden des rohen Yams verwendet wird.

• Das Opfertier, ein weißer Schafbock, wird mit einem Strick an den Grabstock gebunden.

1.4.5 Das Opfertier und seine Reinigung

Foto: Die Reinigung des Opfertiers im Bach. (Manfred Kremser © 1985)

Während in den meisten afro-amerikanischen Religionen Kleintiere wie Hühner als Opfertiere Verwendung finden, ist es im Kélé ausschließlich ein weißer Schafbock, der gleichermaßen am Höhepunkt der Zeremonie geopfert wird.

Bei der Auswahl dieses männlichen Opfertieres wird größte Sorgfalt darauf verwendet, daß der Schafbock, der älter als ein Jahr sein muß, in freier Natur aufgewachsen ist — denn Shangó liebt weder geknechtete Menschen, noch unfreie Tiere. Deshalb wurden in der Vergangenheit von den Hohepriestern des Kélé sowie von solchen Djiné-Familien, die regelmäßig Kélé-Zeremonien abhielten, an den Hängen des La Sorcière-Bergmassivs makellose weiße Schafböcke gezogen, um sie nach vollendeter Reife als Opfertiere zu verwenden.

Die Wahl eines Opfertieres der Farbe weiß, der Lieblingsfarbe von Ógùn, der wir auch bei anderen Opfergaben im Kélé begegnen, ist ein symbolischer Ausdruck für die durch das Ritual herbeizuführende Reinigung. Im therapeutischen Kontext traditioneller afrikanischer Medizin gilt dementsprechend die Farbe weiß — im Zyklus der Triade schwarz-rot-weiß, analog dem kosmischen Kreislauf von der Nacht (= Dunkelheit, Krankheit) über die Morgenröte (= Übergang, Gefahr) zum Tag (= Helligkeit, Gesundheit) — als letzter Schritt der Gesundung im Sinne der Reintegration des Patienten in die göttliche Ordnung. Ebenso begegnen wir in den afro-amerikanischen Kulten der Farbe weiß als religiöser Erfahrungsqualität im Sinne der Gottesnähe des Heilsuchenden (es sei in diesem Zusammenhang auf die etymologische Verwandtschaft der Worte „Heil“ und „heilen“ bzw. „heil werden“ selbst in der deutschen Sprache verwiesen).

Erst in jüngster Zeit wird das Opfertier auch von anderen Kleinbauern angekauft, wobei der Preis eines mittelgroßen Schafbockes 1985 zirka EC$ 240,— (= € 100,—) betrug. Die Kosten werden von derjenigen Person getragen, welche den Kélé „gibt“. Bei der Auswahl spielt auch die Größe des Opfertieres eine wichtige Rolle. Laut den Regeln der Tradition soll es nämlich alle Personen ernähren, die an der Zeremonie teilnehmen: Djiné, die aktiv partizipieren, geladene Gäste und sonstige Anwesende — im Durchschnitt sind dies zwischen 50 und 100 Personen .

Bevor das Opfertier an den Altar geführt wird, muß es einer Reinigung unterzogen werden. Als Auftakt der Zeremonie erscheint der Hohepriester, gekleidet in einem langen weißen Mantel aus dünner Baumwolle und einer schwarzen Fell-Mütze, und bindet das Opfertier vom Grabstock los. Sodann schneidet er mit einem Messer einige Haare von den Enden des Schweifes und der Ohren des Schafbockes ab und wirft sie in die Kalebasse . Anschließend marschiert die gesamte Kultgemeinde unter Trommelbegleitung zu einem nahegelegenen Fluß oder Bach. Dort wird das Opfertier vom Hohepriester oder seinem Stellvertreter einer Reinigung unterzogen, wobei zunächst jedes der vier Beine einzeln gewaschen wird. Anschließend erfolgt die Waschung des gesamten Körpers, beginnend vom Kopf, über den Rücken hinweg, bis einschließlich des Schweifes — denn es wird gesagt, daß den afrikanischen Gottheiten Shangó und Ógùn nur reine Gaben dargebracht werden dürfen .


1.4.6 "Feeding Shangó" — Die Opferhandlungen

Foto: Der Hohepriester Etienne Wells Joseph vorm Kélé-Altar mit den Opfergaben (Manfred Kremser © 1985)

Nachdem die Ritualgemeinschaft an den Altar zurückgekehrt ist, wird das nunmehr gereinigte Opfertier wieder am Grabstock festgebunden. Es werden die Kerzen angezündet. Sodann teilt der Hohepriester allen anwesenden Personen in kreolischer Sprache mit großer Ernsthaftigkeit den Anlaß der bevorstehenden Opferhandlungen mit. Ebenso ladet er alle Djiné sowie auch die übrigen Personen, die daran teilnehmen wollen, ein, irgendeinen persönlichen Gegenstand auf den Boden zwischen die Ritualobjekte zu legen, falls Glück oder besonderer Erfolg erwünscht sind. Sodann wird ein Kreis rund um den Altar gezogen, in den außer den aktiven Ritualteilnehmern niemand eintreten darf. Frauen sind zur Gänze von der Teilnahme am Opferritual ausgeschlossen.

Die "Feeding Shangó"-Opferhandlungen im Kélé-Ritual inkludieren:

Danksagungen und Bitten, Gebete und Lieder in afrikanischer Sprache,

Libationen mit Rum und Wasser,

• Opfergaben von rohen Speisen,

• das Köpfen des Schafes und das Trinken seines Blutes,

• Opfergaben von gekochten Speisen.


1.4.6.1 Die Lieder und Gebete

Abbildung: Gebet
Abbildung: Liedtext

Das Opferritual beginnt damit, daß sich der Hohepriester vor dem Altar niederkniet und einen Gesang in afrikanischer Sprache anstimmt. Die Lieder werden zu verschiedenen spezifischen Kélé -Trommelrhythmen gesungen, namentlich Adan, Kere, Gbudu, Kugbu und Ere. Zu den am häufigsten gesungenen Liedern gehören:

Bei jeder Strophe, der ein Trommelwirbel folgt, beugt sich der Hohepriester so weit nach vorne, bis er mit seiner Stirne den Boden berührt. Dem schließen sich Gebete an, die ebenfalls in afrikanischer Sprache gesprochen werden:

Dieses Idiom konnte im Verlaufe unserer Forschungen teilweise als Ekiti-Dialekt des Yoruba aus dem süd-westlichen Teil Nigerias identifiziert werden. Mit Ausnahme einiger weniger älterer Djiné wird es von keinem der Anwesenden mehr verstanden.

Die Gebete beginnen immer mit den Anrufungen von Ógùn. Daran schließen sich die vorgetragenen Anliegen an, weswegen der Kélé gegeben wird. Es sind dies oft der Wunsch nach Gesundheit und Reichtum, sowie die Bitte um Schutz der Kinder vor Krieg und anderem Unheil.

1.4.6.2 Libationen mit Rum und Wasser

Foto: Francois, der Sohn des verstorbenen Hohepriesters Noah Delaire, bei der Libation (Manfred Kremser © 1985)

Noch während der Hohepriester vor dem Altar kniet und Ógùn anruft, nimmt er die Flasche mit weißem Rum, gießt etwas davon in das Glas und besprengt damit dreimal die Gegenstände, die rund um den Altar liegen. Anschließend gießt er einen Schluck weißen Rums in die Kalebasse. Schließlich trinkt er selbst den Rest aus dem Glas. Dann gießt er etwas Wasser aus dem Krug in das Glas und wiederholt die gleiche Prozedur des Besprengens und Trinkens, wobei jedesmal, wenn das Glas geleert wird, die Trommeln wirbeln. Diese Libationen mit weißem Rum und Wasser werden sodann von seinem Stellvertreter, und schließlich von allen anderen Mitgliedern der Ritualgemeinschaft, die um Glück und Erfolg bitten wollen, in der gleichen Art durchgeführt.

1.4.6.3 Das Speiseopfer

Foto: Die Fütterung von Shangó mit rohem Yams der Sorte "Yam Potigé" (Manfred Kremser © 1985)

Diesem Libationsopfer folgt die „erste Fütterung von Shangó mit rohen Nahrungsmitteln: Unter Begleitung von heftiger Trommelmusik und Gesang gießt der Hohepriester etwas Olivenöl in den Teller. Dann nimmt er mehrere Knollen des rohen Yams der Sorte yam potijé (portugiesischer Yams), macht mit dem Messer mehrere Kreuzzeichen hinein und schneidet sie in kleine Würfel, die er in das Olivenöl eintaucht. Anschließend wirft er einige dieser eingeweichten Yams-Stücke auf den Altar mit den Ritual-Objekten, andere wirft er in die Kalebasse. Nach wie vor kniend wirft er weitere Yams-Würfel nach allen vier Himmelsrichtungen, bevor er schließlich nochmals den Altar dreimal mit etwas weißem Rum besprengt. Sodann verstummen die Trommeln und der Gesang. Der Höhepunkt steht bevor.

1.4.6.4 Das Blutopfer

Foto: Auf die Schärfung der Machete wird peinlichst geachtet (Manfred Kremser © 1985)
Foto: Der Kopf des Schafbocks nach der Köpfung (Manfred Kremser © 1985)

Die Etablierung des Kontaktes mit der Welt der göttlichen Wesen, Ógùn und Shangó, sowie mit der Welt der afrikanischen Ahnen, welche als Bindeglieder zwischen den Menschen und diesen göttlichen Wesen fungieren, wird im Ritual des Kélé nach der Darbringung von Libations- und Speiseopfern endgültig durch das Blutopfer vollzogen.

Der Übergang von der menschlichen Ordnung zur göttlichen Ordnung wird durch die Farbe rot, der Farbe des Blutes des Opfertieres, markiert.

Die Anerkennung des Blutes als die heilige Lebenskraft, sowohl im Menschen als auch im Tier, bildet auch im Kélé die Basis des Blutopfers. Durch dieses Opfer — also durch das Zurückgeben des heiligen Lebens, welches im Opfertier zum Vorschein kommt — leben die göttlichen Wesen und die Ahnen; folglich leben auch die Menschen und die Natur. Durch das Blutopfer wird die mächtige Potenz des Blutes in vielerlei Hinsicht nutzbar gemacht, vor allem zum Zwecke der Fruchtbarkeit und der Heilung.

Das Vergießen des Blutes ist also nicht Endzweck, sondern Voraussetzung für die Nutzbarmachung der göttlichen Kraft im menschlichen Leben.

1.4.6.4.1 Die Köpfung des Opfertieres

Foto: Hochspannung unmittelbar vor der Köpfung des Opfertiers (Manfred Kremser © 1985)

Der Hohepriester führt die Köpfung des Opfertieres nicht selbst durch. Er gibt lediglich die Anweisungen an seine Assistenten, die den Schafbock zunächst vom Grabstock losbinden und an die westliche Seite des Altares bringen. Laut Aussage einiger Informanten führte der Hohepriester in der Vergangenheit das Opfertier dreimal bzw. siebenmal entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn rund um den Altar herum, ehe die Köpfung vollzogen wurde. Heute entfällt diese Praxis. Geblieben ist jedoch die ungeheure Spannung in der Atmosphäre, die sich unmittelbar vor der Köpfung aufbaut. Während einer der Assistenten des Hohepriesters ein Gewehr von den um den Alter herum angeordneten Ritualobjekten aufhebt, dieses lädt und sich für den Salut-Schuß bereitmacht, den er genau im Augenblick der Köpfung abzufeuern hat, plazieren sich die beiden Trommler an der Seite des Hohepriesters, um sich für den Trommelwirbel vorzubereiten, der der Köpfung unmittelbar zu folgen hat.

Wenn alle bereitstehen, wird der Schafbock von drei Assistenten vom Boden gehoben. Einer zieht an dem Seil, welches um den Hals des Opfertieres herumgebunden ist, die beiden anderen Assistenten halten je ein Hinterbein des Schafbockes, wobei sie heftig in die entgegengesetzte Richtung ziehen, so daß der Hals des Tieres straff gespannt wird. Ein weiterer Assistent — zumeist ein Fleischhauer — steht mit einer neuen zuvor bestens geschärften Machete bereit, um auf Kommando des Hohepriesters mit einem einzigen wohlgezielten Hieb die Köpfung zu vollziehen. Im selben Moment, indem die Machette den Hals des Opfertieres durchtrennt, wird der Salut-Schuß abgefeuert und die triumphierenden Zurufe der umstehenden Menschenmenge mischen sich mit dem Trommelwirbel, dem sogleich auch Gesang in afrikanischer Sprache hinzugefügt wird. Der Kopf des Schafbockes rollt zu Boden und wird im nächsten Moment vom Hohepriester ergriffen, der das herausspritzende Blut in seiner anderen Hand auffängt und zum Mund führt, um es schlürfend zu trinken. Während die übrigen aktiven Teilnehmer an der Kélé-Zeremonie das von einem Assistenten aus der Halsschlagader aufgefangene Blut des Opfertieres aus einem Glas oder einer Kalebasse trinken, besprengt der Hohepriester mit dem restlichen Blut des Tierkopfes die Shangó - Steine sowie sämtliche an den Altar gelegten Ritualobjekte und Opfergaben. Anschließend tanzt der Hohepriester barfuß auf dem zu Boden geronnenen Blut des Schafbockes.

1.4.6.4.2 Die Annahme des Opfers

Foto: Der Augenblick der Köpfung mit einem einzigen Machetenhieb (Manfred Kremser © 1985)
Foto: Die Ritualobjekte und Opfergaben besprengt (=gesegnet) mit Blut (Manfred Kremser © 1985)

Für die Annahme des Opfers durch Shangó und Ógùn ist entscheidend, daß die Köpfung des weißen Schafbockes mit einem einzigen Hieb gelingt. Ist dies nicht der Fall, so wird gesagt, daß das Opfer wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten während der Kélé-Zeremonie von den Göttern bzw. den Ahnen nicht akzeptiert wurde. In diesem Fall muß von der für das Mißlingen des Opfers verantwortlichen Person in nächster Zeit ein weiterer Kélé „gegeben“ werden, ansonsten wird ihr irgendein Unheil zustoßen. Aus diesen Gründen wird allergrößte Sorgfalt bei der Köpfung des Schafbockes angewandt.

Im Falle der Annahme des Opfers durch Shangó und Ógùn — wenn also die Köpfung mit einem Hieb gelingt — gelten die mit dem Blut des Opfertieres besprengten Gegenstände als gesegnet . Die positiven Folgen können zum Beispiel sein, daß der Arbeit mit den gesegneten, meist eisernen Geräten und Werkzeugen mehr Erfolg beschieden sein wird; oder auch, daß ihre Besitzer bei deren Gebrauch nicht in Arbeitsunfälle verstrickt werden. Aus demselben Grunde legt der gegenwärtige Hohepriester des Kélé, der hauptberuflich ein Chauffeur bei einer Möbelfirma ist, immer seinen Autoschlüssel an den Altar. Nach dessen Segnung durch das Blut des von Ógùn angenommenen Opfertieres wird er nach eigenen Aussagen davor geschützt, in Verkehrsunfälle verwickelt zu werden. In anderen Fällen wird berichtet, daß die am Altar zu kleinen Würfeln zerschnittenen und anschließend zum Zwecke des Aussetzens verteilten Yams-Knollen später ertragreicher sein sollen, als gewöhnliche Yams-Pflanzen.

Der Zeitpunkt der Schlachtung des Opfertieres am Ende des ersten Teils der Kélé-Zeremonie, der „ersten Fütterung von Shangó“ mit rohen Speisen, symbolisiert den durch das Blutopfer vollzogenen Übergang im Sinne einer Wandlung zum nunmehr sakralisierten zweiten Teil der Kélé-Zeremonie, der „zweiten Fütterung von Shangó“ mit gekochten Speisen.

1.4.6.5 Die „zweite Fütterung von Shangó“

Foto: Das Zerlegen des Opfertiers (Manfred Kremser © 1985)
Foto: Die Fütterung Shangos mit gekochten Speisen (Manfred Kremser © 1985)

Der Köpfung des Opfertieres folgt eine längere Pause in der Kélé-Zeremonie, während der verschiedene Volkstänze wie zum Beispiel Solo, Kont, Bélé und Debotte aufgeführt werden. In der Zwischenzeit wird der Körper des Schafbocks entfellt und tranchiert.

Das Fleisch wird zum Kochen in die Küche gebracht, in der mehrere Djiné-Frauen beschäftigt sind, die Speisen zuzubereiten. Das Herz, die Leber und die Genitalien (inklusive Hoden) des Opfertieres werden separat gekocht und sind als Opfergaben für Shangó und Ógùn bestimmt. Der Rest des Schafbockes wird für die Mitglieder der Kultgemeinde sowie für die übrigen Anwesenden nach kreolischer Küche zubereitet, ebenso die Beilagen. Für Shangó und Ógùn jedoch werden die Beilagen nicht nach kreolischen Rezepten gekocht, sondern im Mörser nach afrikanischer Art zu Brei zerstampft — denn die afrikanischen Gottheiten und Ahnen ziehen das Essen in Breiform der kreolischen Küche vor.

Nachdem die Speisen fertig zubereitet sind, werden je ein Teller mit separat gekochtem Fleisch, Yams und Reis an den Altar gebracht. Dort werden sie in ähnlicher Form wie bei der „ersten Fütterung von Shangó “ geopfert — mit dem wesentlichen Unterschied, daß es sich nun um gekochte Speisen handelt. Bevor der Hohepriester und anschließend die übrigen Kultteilnehmer von den Speisen essen, werfen sie mehrere Bissen auf die Ritualobjekte am Altar und nach den vier Himmelsrichtungen; denn auch Eshu, der im Westen sitzt, muß gestillt werden, damit er nicht übelbringend interveniert.

Weitere Libationsopfer schließen sich dem an. Zusätzlich werfen der Hohepriester und sein Stellvertreter die nicht aufgebrauchten Speisen des Altars in die umstehende Menschenmenge und rufen mit ihrem Lied die jungen Knaben auf, mitzumachen und all das zu tun, was die Djiné schon immer gemacht hätten. Auf diese Weise soll die Tradition auch in Zukunft fortgesetzt werden.

1.4.7 Der Spruch des Kalebassen-Orakels

Das formale Ende des Kélé-Rituals wird von einem der Assistenten des Hohepriesters mit einem Tanz eingeleitet, den er mit zuerst langsamen und majestätisch anmutenden Schritten beginnt. In der rechten Hand führt er eine Machete akrobatisch durch die Luft; in seiner Linken hält er die mit „schwarzer Magie“ gefüllte Kalebasse.

Während sich die Trommeln wie auch der Tanz zu fast ekstatischer Leidenschaft steigern, zerschmettert der Tänzer mit einer abrupten Bewegung die Kalebasse am Boden, indem er sich nach Westen wirft, dorthin, wo der Tod angesiedelt ist. Im Augenblick des Aufberstens der Kalebasse auf dem Boden wird ein weiterer Salut-Schuß abgefeuert, der das formale Ende der Zeremonie markiert.

Keiner der Anwesenden darf auch nur einen Tropfen des gefährlichen Inhalts der Kalebasse abbekommen, da ihm ansonsten Krankheit oder ein noch schwerwiegenderes Übel droht. Geschieht dies trotzdem, so hat er in nächster Zeit einen Kélé zu „geben“, um sich von diesen schädigenden Einflüssen zu reinigen.

Außerdem läßt sich an der Art und Weise, wie die zerbrochenen Kalebassenteile am Boden liegenbleiben, ablesen, ob das Opfer angenommen wurde oder nicht: Kommen die Teile so zu liegen, daß die Außenseite der Kalebasse am Boden aufliegt und die Innenseite frei nach oben schaut, ist dies ein gutes Zeichen; im anderen Falle, wenn ein oder mehrere Kalebassenscherben mit ihrer gekrümmten Seite nach oben liegenbleiben, so bedeutet dies, daß das Opfer wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten von den afrikanischen Gottheiten Shangó und Ógùn zurückgewiesen wurde. Als Konsequenz droht bevorstehendes Unglück. Um dieses abzuwenden, müssen die dafür Verantworlichen in naher Zukunft einen Kélé „geben“.

  • Foto: Der Tanz mit Kalebasse (Eshu) und Machete (Ogun) (Manfred Kremser © 1985)
  • Foto: Kurz vor der Entscheidung des Kalebassenorakels (Manfred Kremser © 1985)
  • Foto: Diese Lage der Kalebassenteile verkündet die Annahme des Opfers (Manfred Kremser © 1985)

1.4.8 Die kreative Kommunion mit den Ahnen

Foto: „Feeding the ancestors“ am Familiengrab des Hohepriesters Noah Delaire (Manfred Kremser © 1985)
Foto: Gebete und Libationen für den verstorbenen Hohepriester (Manfred Kremser © 1985)

Wird eine Kélé -Zeremonie anläßlich des Gedenkens an einen jüngst verstorbenen Hohepriester oder ein führendes Mitglied der Djiné-Familien abgehalten, so begibt sich die Kultgemeinde im Anschluß an das Ritual, welches vom späten Morgen bis knapp vor Sonnenuntergang dauert, ans Grab des Verstorbenen, um ihm dort — in ähnlicher Weise wie es zuvor am Altar des Kélé -Ritualplatzes für die afrikanischen Götter Shangó und Ógùn geschah — die Opfergaben darzubringen.

In diesem Falle nimmt der Hohepriester die bei der „zweiten Fütterung von Shangó für den Ahnen reservierten Speisen und Getränke vom Altar auf und gibt sie in einen speziell dafür bereitgehaltenen Holzteller. Anschließend begeben sich die Familienmitglieder sowie die gesamte Kultgemeinde im Rahmen einer feierlichen Prozession unter Begleitung von Kélé-Trommeln und -Gesängen an das zuvor gereinigte Grab des Ahnen, welches sich in den meisten Fällen im katholischen Ortsfriedhof befindet. Dieses wird zunächst am Kopfende mit einigen Büscheln des „medizinischen Farnes“ pat makak vom Altar dekoriert. Darin werden mehrere Kerzen aufgestellt und angezündet. Am Fußende des Grabes werden die Opfergaben abgestellt.

Sodann tritt unter den Anwesenden andächtige Stille ein. Der Hohepriester, die Trommler und die männlichen Familienmitglieder treten hintereinander an das Grab heran, adressieren stille Gebete an den Ahnen, nehmen von den gekochten Opferspeisen, werfen einige Bissen auf das Grab und essen dann selbst davon, greifen anschließend zum Rum, geben dem Ahnen durch Sprühen zu trinken und trinken dann selbst davon. Ein leiser Trommelwirbel beendet die Kommunion jedes einzelnen Nachkommen mit dem Ahnen.

Die Wirksamkeit des Ahnenkults als eines spirituellen Prinzips der Einheit manifestiert sich hier in der Kontinuität der lebenden und toten Generationen. Das Verhältnis zu den Ahnen beruht auf einem Prinzip des Austausches und der wechselseitigen Anteilnahme. Durch das Opfer für die Ahnen werden ihre Kräfte erneuert, und so können sich die Lebenden wieder unter ihren Schutz stellen.

Sobald diese Opferhandlungen abgeschlossen sind, stimmen die Trommeln wieder die afrikanischen Kélé-Gesänge an. In kollektiver Erinnerung an die verstorbenen Djiné und ihre afrikanischen Ahnen tanzt dazu die gesamte Kultgemeinde, die sich rund um das Grab versammelt hat.

1.4.9 Das Festmahl der Ritualgemeinschaft

Foto: Kreolische Speisen für die alle Teilnehmer am Kélé-Ritual (Manfred Kremser © 1983)
Foto: Trommel, Tanz und Gesang zum fröhlichen Ausklang (Manfred Kremser © 1983)

Noch vor Sonnenuntergang kehrt die Kultgemeinde wieder an den Ort der Kélé-Zeremonie zurück. Inzwischen wurden von einigen weiblichen Djiné, die sich als Köchinnen zur Verfügung gestellt hatten und daher nicht an das Grab mitgekommen waren, die Speisen für die gesamte Kultgemeinde nach kreolischer Küche zubereitet. In der Reihenfolge der Rangordnung der Mitglieder der Kélé-Ritualgemeinschaft erhalten sie alle je einen Teller mit mehreren Fleischstücken des geopferten Schafbockes garniert mit verschiedenen Vegetabilien wie Yams, Plantanen, Brotfrucht, Reis und Salat. Dazu gibt es alkoholische wie auch nicht alkoholische Getränke.

Traditionellerweise wurde von demjenigen Djiné, der den Kélé „gab“, streng darauf geachtet, daß alle Anwesenden vom Fleisch des Opfertieres zu essen bekamen. Der Schafbock mußte zur Gänze noch am selben Tag verspeiset werden. Nichts von den zubereiteten Speisen durfte übrigbleiben. Ebenfalls mußte sichergestellt werden, daß alle, die sich zur Kélé -Zeremonie eingefunden hatten, ausreichend mit Nahrung und Getränken versorgt wurden. Da die Kélé -Zeremonien abwechselnd jeweils bei einem anderen Djiné stattfanden, wurde langfristig das Prinzip der Gruppenreziprozität eingehalten.

Im Anschluß an das Festessen rufen die Trommeln wieder zum Tanz zu den afrikanischen Kélé-Rhythmen auf. Nur mehr von wenigen Tänzerinnen und Tänzern können die dazugehörigen Tanzbewegungen richtig ausgeführt werden. Unter dem Applaus der Umstehenden geben die Alten ihr Repertoire wieder. Die Kélé-Trommeln suggerieren mit dem Gesang jeje modi moli moje, mode aiyos („kommt Ihr jungen Menschen und tut, was wir schon immer getan haben“) die Aufforderung an die Jugend, mitzumachen. Spontan treten jüngere Tänzer hervor und versuchen — zuweilen unter dem Gelächter der Zuschauer — die Tanzbewegungen der Alten zu imitieren. Und alsbald formieren sie sich in rivalisierenden Gruppen zum Tanz-Wettbewerb.

Bis in die Nachtstunden hinein währt das Fest, welches nunmehr nach der Erfüllung der religiösen Verpflichtungen gegenüber den afrikanischen Göttern und Ahnen in erster Linie einem sozialen, kommunikativen und künstlerisch-expressiven Zweck innerhalb der anwesenden Djiné-Familien dient. Bevor sich die Mitglieder der Kultgemeinde nach Hause begeben, nimmt jeder seinen am Beginn der Kélé-Zeremonie an den Altar gelegten und nunmehr durch das Blut des Opfertieres gesegneten (Eisen)-Gegenstand wieder zu sich.

Lediglich die Shangó-Steine müssen noch eine ganze Woche lang unberührt am selben Ort liegen bleiben, ehe sie am darauffolgenden Sonntag nur vom Hohepriester selbst im Rahmen einer kleinen Zeremonie entfernt werden dürfen. Denn im Augenblick der Darbringung des Blutopfers wurden sie angeblich von Shangó mit solch geballter Energie geladen, daß eine vorzeitige Berührung verhängnisvolle Folgen haben könnte. Erst wenn sie wieder etwas „abgekühlt“ sind, werden sie vom Hohepriester ihren Besitzern zurückgegeben. Dann allerdings besitzen sie heilkräftige Wirkungen — sie sind nun frisch aufgeladen — und werden in weiterer Folge auch für therapeutische Zwecke eingesetzt.

In regelmäßigen Intervallen bedürfen sie aber der neuerlichen „Aufladung“ — und dies geschieht erst wieder beim nächsten Kélé.


Nächstes Kapitel: 1.5 Rastafari


↑ Nach oben