Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St Lucia - Karibik/Rastafari

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1.5 Rastafari

verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht
Foto: Chikalot, ein Roots Rasta beim Trocknen von Erdnüssen (Manfred Kremser © 1985)

Der jüngste weit verbreitete religiöse Einfluß in St. Lucia ist die Rastafari Philosophie und Religion. Während es — wie bei allen Glaubenssystemen — dogmatische und andere Unterschiede unter ihren Anhängern gibt, können die Grundsätze von Rastafari wie folgt zusammengefasst werden:

Haile Selassie von Äthiopien — aus der Linie von König Salomon — ist die höchste menschliche Manifestation von Gott auf Erden.

• Die Afrikaner sind das auserwählte Volk, auf welches in der Bibel Bezug genommen wird; sie wurden in Gefangenschaft genommen und überallhin verstreut.

Der Westen ist Babylon und ist zur Zerstörung verdammt, soferne er nicht seinen Kurs ändert.

Afrika ist das spirituelle und natürliche Heimatland der Schwarzen. Deshalb ist die „Repatriation“'', also die Rückkehr in die Heimat — spirituell und schließlich auch physisch — eine Notwendigkeit.

Marihuana ist ein heiliges Kraut, gegeben zum Zwecke der Heilung der Nation ("for the healing of the Nation")''; es wird in der Meditation wie in der gemeinschaftlichen Verehrung verwendet.

Neben diesen Grundsätzen gibt es noch eine Reihe anderer Glaubenssätze, wie z.B. die Bedeutung von Marcus Garvey — ähnlich in der Position wie Johannes der Täufer — im Sinne eines Vorläufers von Haile Selassie. Aber der Interpretationsrahmen ist in vielen Fällen sehr breit. So werden viele Anhänger als Rastafari betrachtet, ohne notwendigerweise zu glauben, daß z.B. die Königin von England „die Hure von Babylon“ ist, von der im Buch der Offenbarung die Rede ist. Selbst die „Dreadlocks“-Haartracht (Löwen-Mähne, König von Juda), das am deutlichsten zur Schau getragene Symbol, welches mit Rastafari assoziiert wird, wird nicht notwendigerweise als eine absolute Notwendigkeit für jemand betrachtet, der ein überzeugter Rastafari ist.

Die Präsenz von Rastafari geht in St. Lucia auf die frühen 1970er Jahre zurück. Die Bewegung hat sich sowohl im urbanen als auch im ländlichen Bereich der Insel sehr rasch ausgebreitet. Ihre Anhänger waren vor allem junge Leute, besonders junge Männer, welche die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der St. Lucianischen Gesellschaft in allen Bereichen — Wirtschaft, Politik, Erziehung, Rechtssystem — in Frage stellten und dagegen protestierten. Sie wiesen auf die Klassen- und Rassenvorurteile in der St. Lucianischen Gesellschaft hin und forderten diese in der Tat heraus, ihren erklärten christlichen Prinzipien gerecht zu werden.

Foto: Mitglieder der Zimbabwe Roots Farm bei der kooperativen Arbeit "koudmen" (Manfred Kremser © 1985)

Aus diesen Gründen, wie auch wegen ihrer kompromißlosen Einstellung was den Gebrauch von Marihuana betrifft (der nach der Rechtslage St. Lucias illegal ist), kamen Rastafari permanent in Konflikt mit dem Gesetz. Zusätzlich gab es die unvermeidlichen Probleme aufgrund unseriöser Personen, die die Bewegung für ihre eigenen Zwecke mißbrauchten und damit Rastafari als Ganzes in Verruf brachten. Selbst der Ausdruck „Dread“, dem im Bewusstsein der Rastafari philosophische und moralische Bedeutung zukommt, wurde auf diese Weise mit kriminellem Verhalten assoziiert.

Die Bewegung erhielt die größte Aufmerksamheit in der Mitte der 1970er Jahre, als von vielen Leuten grundlegende Fragen über die Natur und die weitere Entwicklung von Gesellschaften weltweit gestellt wurden. Die zunächst kompromisslose Moral der Rastas trug dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Heucheleien und die Ungerechtigkeiten der St. Lucianischen Gesellschaft zu richten.

Der Rastafari-Einfluß machte sich auch in einem breiter angelegten Bewusstsein eines natürlichen Lebensstils bemerkbar, der mehr im Einklang mit der Umwelt steht; ebenso in einer Betonung, die eigenen Resourcen zu nutzen; wie auch darin, daß ein besonderer Wert auf Kreativität gelegt wurde, besonders was das Handwerk betrifft. Ihr Einfluß trug dazu bei, eine allgemeine Neubewertung der Traditionen des ländlichen St. Lucia zu stimulieren und zu unterstützen. So wurde z.B. die Tradition der kooperativen Arbeit („koudmen“) vor allem unter der Jugend wieder sehr verbreitet, die sie ansonsten vielleicht nicht kennengelernt hätte.

In den 1980er Jahren verlor die Bewegung wieder einige ihrer Anhänger und auch etwas von ihrer starken öffentlichen Präsenz. Das war teilweise auf eine größere Akzeptanz der Tatsache zurückzuführen, daß weder Rastafari noch die Gesellschaft über Nacht verschwinden werden; teilweise aber auch auf die Tatsache, daß sich einige Rastas in Bereiche der Gesellschaft integriert hatten, ohne ihre Glaubensüberzeugungen aufzugeben. Auf diese Weise demonstrierten sie, daß eine friedliche Koexistenz möglich ist.

Heute liegt die Betonung weniger auf offener Konfrontation, sondern vielmehr auf internen Organisationsformen, die sicherstellen sollen, daß ihren Kindern eine Zukunft ermöglicht wird, in der sie an ihren Glaubenshaltungen festhalten und dennoch innnerhalb der Gesellschaft leben können.

Es bleibt abzuwarten, wie sich auf lange Sicht gesehen die breitere Gesellschaft St. Lucia’s und Rastafari einander anpassen werden; aber in den 40 Jahren ihrer Präsenz in St. Lucia hatte die Rastafari-Bewegung einen ungeheuren Einfluß auf die Meinung aller Menschen, die mit ihr in Berührung gekommen sind — sei es Freund oder Feind.


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