Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St Lucia - Karibik/Traditionelle Medizin

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1.6 Traditionelle Medizin

verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht
Foto: Der "African bushdoctor" Norris Lionell mit Buschmedizin (Manfred Kremser © 1982)

In den Kommunitäten überall in St. Lucia gibt es zahlreiche traditionelle Heiler, auf die mit verschiedenen Namen Bezug genommen wird:

• "bushdoctor" bzw. "African bushdoctor", '

"doktè wazyé", '

"obeahman" oder

• "gadè". '

Diese Männer oder Frauen betätigen sich im Wahrsagen, Heilen, Beraten und in der Behandlung vieler Krankheiten, die das menschliche Gemüt, den Körper und den Geist beeinflussen. Sie erhalten ihre Ausbildung nicht von irgendeiner formalen Erziehungsinstitution. Vielmehr repräsentieren sie die Fortsetzung eines alten Erbes von Wissen, Weisheit und Fertigkeiten über das menschliche Leben und die Umwelt, welches mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Innerhalb dieses allgemeinen Bereiches der traditionellen Medizin können wir die Arbeit der traditionellen Hebamme nicht hoch genug einschätzen. Sie wird in den Kommunitäten als „''fanm chay'' oder „''chas fanm'' bezeichnet. Diese lokalen Hebammen haben seit Generationen Babies zur Welt gebracht und postnatale Behandlung für Mütter und ihre Babies bereitgestellt. Bedingt durch die Ausdehnung der schulmedizinischen Versorgung auf entlegene Gebiete und den leichteren Zugang zu den Spitälern werden heute die Dienste der traditionellen Hebamme oder „chas fanm“ nicht mehr so viel beansprucht wie früher. Dennoch sind noch viele von ihnen in den Dörfern tätig und stellen vor allem in Notfällen ihre wertvollen Dienste zur Verfügung.

Foto: Medizinische Farne am Kélé-Altar zwischen den Shangó-Steinen (Manfred Kremser © 1985)

Der gute Buschdoktor besitzt in der Regel ein breites Wissens über pflanzliche Heilmittel, Basisversorgung und pharmazeutische Medizinen. Er oder sie können konsultiert werden, um Buschmedizin "wimèd wazyé" für verschiedene gesundheitliche Beschwerden zu verabreichen, wie zum Beispiel Erkältungen, Gelenksschmerzen, Magenverstimmungen, etc., oder auch einen Trank zu mischen, der das System von Unreinheiten reinigt und abführend bzw. ausscheidend wirkt. Klienten, die mit der Wirksamkeit von Medikamenten, die von einem konzessionierten Arzt verschrieben wurden, nicht zufrieden sind, mögen zuweilen auch den Buschdoktor für zusätzliche medizinische Behandlungen aufsuchen.

Es gibt eine sehr weit verbreitete Meinung in St. Lucia, dass westlich ausgebildete Ärtze nicht alles wissen, was mit Krankheiten zusammenhängt, und dass einige Krankheiten tatsächlich jenseits ihres Verstehensbereiches liegen. Daher bleibt die Popularität des Buschdoktors bei Leuten aus allen gesellschaftlichen Schichten erhalten, trotzdem sich die schulmedizinische Versorgung bis in entlegene Teile der Insel ausbreitet. Die Heilmittel des Buschdoktors werden auch in Bereichen jenseits des rein Medizinischen für wirkungsvoll gehalten. So zum Beispiel mag er/sie in der Lage sein, Schutz gegen das Böse zur Verfügung zu stellen, menschliche Angelegenheiten zu beeinflussen wie z.B. den Erfolg in der Liebe sicherzustellen oder auf den Geliebten einzuwirken. Auch vermag er/sie, eine Unglückssträhne umzukehren, oder einfach in verschiedenen Schwierigkeiten Rat anzubieten.

Buschdoktoren hatten sehr viel unter sozialen wie anderen Vorurteilen der Gesellschaft zu leiden und wurden in ihrer Aktivität eingeschränkt. Die seit der Sklaverei und dem Kolonialismus vererbten Vorurteile gegen die indigene Kultur afrikanischer Menschen wurde in vielen negativen offiziellen Einstellungen der Kirche und des Staates gegenüber der Arbeit des Buschdoktors zum Ausdruck gebracht. Sie wurde geächtet und als anti-religiös gebrandmarkt, als das Werk des Bösen, als Hexerei und Zauberei. Selbst die etablierten Ärzte versuchten tatkräftig die Buschdoktoren zu diskreditieren, wahrscheinlich weil sie in ihnen eine unwillkommene Konkurrenz erblickten. Dennoch haben Untersuchungen gezeigt, dass der Einfluss des Buschdoktors sehr tief in der Gesellschaft verankert ist, dass sogar diejenigen Leute, deren Stimmen in der Öffentlichkeit so negativ sind, unter privaten Umständen den Buschdoktor selbst konsultieren.

Die Buschdoktoren in St. Lucia sind alles andere als anti-religiös. Tatsächlich sind sie gewöhnlich sehr eifrig praktizierende Christen, für die Gott und ihr christlicher Glaube eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit spielt. Viele unter ihnen akzeptieren keinerlei Bezahlung für ihre Arbeit von ihren Klienten, da sie ihre Arbeit nicht wirklich als die ihrige, sondern als die von Gott oder einer Gottheit selbst betrachten. Ihre Talente und Fertigkeiten wurden ihnen von Gott verliehen, um seine Arbeit fortzusetzen. Folglich sind Gebete und Rituale gewöhnlich sehr zentrale Aspekte ihrer Arbeit. Ein anderes wichtiges Element ist ihr Glaube. Diejenige Person, die Behandlung oder Beistand sucht, muss an den Heiler und seine Arbeit glauben, andernfalls würde alles viel schwieriger sein, und eine erfolgreiche Behandlung seitens dieses Heilers wäre beinahe unmöglich. Traditionelle Medizin und die Heiler, die damit arbeiten, sind ein sehr wichtiges Betätigungsfeld in den Kommunitäten St. Lucias. Fast jeder einzelne St. Lucianer hat daraus bereits Nutzen gezogen.


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