Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie - Glossar/Ethnographie

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2.3 Ethnographie

Verfasst von Marie-France Chevron

Unter Ethnographie versteht man einen empirischen Zugang, welcher primär in der Ethnologie (Kultur- und Sozialanthropologie) oder unter Heranziehung von in der Ethnologie entwickelten Methoden zur Anwendung kommt. Grundsätzlich ist dabei das Ziel, wie bei jeder empirischen Arbeit, Material und Daten zu sammeln, diese aufzubereiten und auszuwerten, um eine Forschungsfrage zu beantworten. Aber darüber hinaus zielt die ethnographische Arbeitsweise immer darauf ab, die möglichst "dichte Beschreibung"[1] eines komplexen sozio-kulturellen Sinnzusammenhangs zu erreichen. Das bedeutet, dass die einer Kultur eigentümlichen Lebens- und Denkweisen sowie deren Sicht der Wirklichkeit (emische Sicht) Objekt der Forschung sind. Diese Innensicht wird durch die Außensicht der ForscherInnen (etische Sicht) ergänzt.

In der Fachliteratur gilt die "teilnehmende Beobachtung"[2], wie sie von Bronislaw Malinowski in den Argonauten des westlichen Pazifik im Jahre 1922 beschrieben wurde, als Prototyp der ethnographischen Arbeitsweise. In diesem Zusammenhang wird zum Ausdruck gebracht, dass es das Ziel der Ethnographie ist, die für eine Gesellschaft typische Art der Verflechtung zwischen allen Lebensbereichen gezielt und systematisch zu erfassen. In der ethnographischen Arbeit werden die Eindrücke und Erlebnisse und Erfahrungen der ForscherInnen während der "teilnehmenden Beobachtung" gesammelt, festgehalten und gedeutet. Hierfür werden eigene methodologische Überlegungen im Hinblick auf die systematische Beobachtung vorgestellt. Während der Beobachtung, die in diesem Zusammenhang oft als "fremder Blick" beschrieben wird, gilt es eine möglichst große Nähe zum Forschungsgegenstand zu erreichen, um diesen besser verstehen zu können. Dabei gilt es die Gefahr der zu großen Nähe, des "going native" zu vermeiden, denn zur wissenschaftlichen Arbeit gehört die Distanz als Voraussetzung für objektive und überprüfbare Forschungsergebnisse. Bei Malinowski wurde die stationäre Beobachtung, also das lang andauernde Beobachten an einem Ort beschrieben.

Ursprünglich waren die von der Ethnologie erforschten sozialen Gruppen kleine Gesellschaften mit komplexen verwandtschaftlichen Beziehungen und einer den WissenschaftlerInnen vorerst fremden Kultur. Daher war es äußerst schwierig und aufwendig, erst einmal den Zugang zu der untersuchten Gesellschaft zu bekommen, mit den Menschen eine längere Zeit zu leben, ihre Sprache zu erlernen und sich die in der fremden Gesellschaft vorherrschenden symbolischen wie auch sozialen Orientierungen während einer sogenannten "zweiten Sozialisation" anzueignen. Hierbei galt es von Anfang an, die eigenen Vorurteile und den eigenen Ethnozentrismus zu überwinden. Die Ergebnisse wurden zumeist in großen Monographien als Darstellungen der Kultur einer einzigen ethnischen Gruppe präsentiert.

Bei der klassischen Form der "teilnehmenden Beobachtung", aber auch allgemein bei ethnographischer Forschungsarbeit wird ein überaus hohes persönliches Engagement der WissenschaftlerInnen bei der Erhebung der Daten vorausgesetzt. Aus diesem Grund wird verlangt, dass man die Forschungsergebnisse im Hinblick auf individuelle Befindlichkeiten und Probleme bei der Durchführung der Feldforschung thematisiert. Grundsätzlich werden alle Schritte der Forschung in einem Tagebuch und in Feldnotizen[3] festgehalten, damit sie zu einem späteren Zeitpunkt von den WissenschaftlerInnen selbst oder von FachkollegInnen überprüft werden können. Die quellenkritische Bewertung aller Informationen sowie Überlegungen zu dem Verlauf des Wissensgewinns sowie zu den empirischen Fallstricken gehören ebenfalls dazu. Heute werden immer öfters Forschungen im Sinn der "multi-sited ethnography" durchgeführt. Dabei handelt es sich um ethnographische Forschungen, welche parallel oder hintereinander an verschiedenen Orten durchgeführt werden. Diese Vorgangsweise erscheint bei Forschungsfragen zur Migration besonders sinnvoll, da Angehörige einer Kultur oft in der Diaspora, also in verschiedenen Regionen der Welt leben.


Literatur:

Malinowski, Bronislaw. 1922. Argonauts of the western Pacific: an account of native enterprise and adventure in the archipelagoes of Melanesian New Guinea. London: Routledge.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.1.2 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.3 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie


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