Organisations- und Betriebsanthropologie - Annäherungen und Abgrenzungen/Annäherung

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Vorheriges Kapitel: 1. "Organisations- und Betriebsanthropologie": Annäherungen und Abgrenzungen

1.1 Womit beschäftigt sich die Organisations- und Betriebsanthropologie?

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Der Kulturanthropologe Thomas Wilson (1998) unterscheidet in Bezug auf die Europäische Union zwei grundsätzliche Perspektiven, die auch für die Organisations- und Betriebsanthropologie nützlich erscheinen: Eine "anthropology from above" und eine "anthropology from below".

Diese zwei Perspektiven könnten auch als Innen- und Außenperspektive auf Organisationen bezeichnet werden. Daraus ergeben sich folgende Felder:

Abbildung: Womit beschäftigt sich die OBA?

Beide Perspektiven finden sich in den vier zentralen Forschungsschwerpunkten, die John Van Maanen in der ethnographisch arbeitenden Organisationsforschung erkennt, zu der auch die Organisationsanthropologie zählt (Van Maanen 2001):

  • Der Forschungsschwerpunkt Organisationsprozesse und informelle Beziehungen stellt Fragen wie: Wie wird Arbeit strukturiert? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie wird Kontrolle ausgeübt und wie wird ihr entgegengearbeitet? Wie wird Autonomie erreicht?
  • Organisationale Identität und Veränderung: Welche symbolische Bedeutung geben die Organisationsmitglieder dem, was sie tun? Wie produzieren, reproduzieren und verändern diese symbolische Bedeutung? Welche Bedeutung geben sie radikaler Veränderung, zum Beispiel durch die Einführung neuer Technologien oder veränderter Organisationsstruktur?
  • Kontext von Organisationen: Welchen Einfluss hat das gesellschaftliche Umfeld auf das Geschehen innerhalb der Organisation? Welchen Einfluss haben Organisationen auf gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen?
  • Organisationale Moral und Konflikt: Forschungen über tatsächliche oder imaginierte Verstöße gegen die normative Ordnung, die mit Organisationen assoziiert wird. Van Maanen fasst darunter Forschungen über Konflikte und illegale Praktiken in Profit- und Non-Profit- Organisationen genauso wie Studien über illegale oder "gegenkulturelle" Organisationen wie z.B. Gangs, Drogenhandelringen oder religiösen Kulten.

Diese vier Forschungsschwerpunkte finden sich in einem der drei Gegenstandsbereiche der Business Anthropology wieder, die die Anthropologin Marietta L. Baba (2006) benennt: dem Bereich des "Organizational Behavior and Management"[1] bzw. der Organisationsanthropologie im engeren Sinn. Die Lehrveranstaltung "Einführung in die Organisations- und Betriebsanthropologie" befasst sich mit diesem Teilbereich der Business Anthropology.

Die zwei anderen Bereiche - 1) Design von Produkten[2], Dienstleistungen und Arbeitsprozessen sowie 2) Marketing und KonsumentInnenverhalten - werden im Rahmen der Lehrveranstaltung nicht behandelt und bleiben in dieser Lernunterlage daher unberücksichtigt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5
[2] Siehe Kapitel 1.1.3

Inhalt

1.1.1 Typen von Organisationen

Foto: Menschen in Organisationen (© EASA-Conference Vienna, 2004)

Es gibt zahlreiche Typologien zur Einteilung von Organisationen in verschiedene Gruppen, wobei die Grenzen oft verschwimmen und nach Regionen und Staaten verschieden sein können. Diese Einteilungen kommen primär aus den anderen Sozialwissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften. In der Kultur- und Sozialanthropologie wurden in bezug auf gegenwärtige Industrie- und postindustrielle Gesellschaften keine eigenen Typologien entwickelt. Als historisch älteste und prototypische Unterscheidung gilt jene in Arbeitsorganisation und Verwaltung (Müller-Jentsch 2003: 34). Auch Verwaltungen müssen Arbeit organisieren, und Produktionsunternehmen benötigen eine Verwaltung, die regulierende und redistributive Funktionen hat. Trotzdem steht in Wirtschaftsunternehmen die Arbeitsorganisation im Vordergrund während es in einer staatlichen Verwaltungseinheit die bürokratischen Aufgaben sind.

Organisationen können auch nach der Art und Weise, wie Kontrolle über die Mitglieder ausgeübt wird unterschieden werden in:

  • Zwangsorganisationen (z.B. Gefängnisse, geschlossene Psychiatrie); Kontrollmodus ist hier physischer Zwang;
  • utilitaristische Organisationen (z.B. Unternehmen); Kontrollmodus läuft über materielle Entschädigung;
  • normative Organisationen (z.B. Kirchen, politische Parteien); Kontrollmodus ist normative Integration.

Auch bei dieser von Amitai Etzioni 1971 entwickelten Typologie gibt es Mischformen (Müller-Jentsch 2003: 29).

Organisationen lassen sich auch nach dem Zustandekommen ihrer Mitgliedschaft unterscheiden - "von unten" (z.B. Selbsthilfegruppen), "von oben" (z.B. Staatsbürgerschaft), nach den Zielsetzungen (Profit, Non- Profit) etc. Für Typologieinteressierte bietet die Einführung in die Organisationssoziologie von Müller-Jentsch (2003) verschiedenste Varianten und weiterführende Literatur.


1.1.2 Ethnographischer Zugang zu Organisationen

Verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen befassen sich mit Aspekten von modernen Organisationen, insbesondere die Wirtschaftswissenschaften, die Politikwissenschaften und die Soziologie. Jede dieser Disziplinen hat eine Vielzahl von Begriffsdefinitionen, theoretische wie empirische Modelle, Konzepte und Annäherungen an Organisationen hervorgebracht.

Die meisten neueren Kultur- und SozialanthropologInnen stehen Begriffsdefinitionen, die doch nichts anderes bewerkstelligen als Phänomene zu kategorisieren und zu essentialisieren, eher skeptisch gegenüber. Feldforschung betreibende Kultur- und SozialanthropologInnen versuchen, theoretische Modelle aus der Empirie zu entwickeln. Sie gehen daher nicht von Begriffen aus, die sie vorab definieren, sondern grenzen ein Phänomen grob ein und versuchen es dann zu "ethnographisieren" (Baumann 1999: 143ff). Das bedeutet auf die Organisations- und Betriebsanthropologie umgelegt, man geht nicht von einer Definition von Organisation aus und fragt dann, ist die konkrete Einrichtung, mit der ich mich befasse, beispielsweise ein Fußballverein, auch eine Organisation im Sinne der Definition, sondern man beschreibt und analysiert den Verein.


1.1.3 Produktdesign

Foto: Werbung des Technischen Museums Wien: Detail (© Gertraud Seiser, 2007)

Im Rahmen der Lehrveranstaltung wird auf Studien im Feld des Produktdesigns nicht eingegangen werden. An dieser Stelle soll ein konkretes Beispiel einen Hinweis geben, wobei es dabei gehen kann.

Wenn wir einen Kopierer benützen, dann wir davon aus, dass der Startknopf immer grün und etwas größer als die anderen Knöpfe ist. Die fast schon weltweite Einheitlichkeit der grünen Start-Knöpfe bei Kopierern ist das Arbeitsergebnis der Anthropologin Lucy Suchman am Palo Alto Research Center aus einer Auftragsarbeit für Xerox 1979. Es wurden damals immer komplexere und leistungsfähigere Kopierer entwickelt. Suchman hat mittels teilnehmender Beobachtung untersucht, wie Kopierer benützt werden und festgestellt, dass komplizierte Maschinen mit vielen Möglichkeiten zwar gewünscht werden, aber schwer zu bedienen sind. Einfachheit ist ebenso wichtig wie eine Vielfalt an Möglichkeiten. Jetzt haben alle Kopierer, egal was sie sonst noch alles können, einen einfachen grünen Knopf für die schnelle Kopie zwischendurch (Jordan 2003: 3).

Der Einsatz von kultur- und sozialanthropologischen Methoden und Zugängen im Bereich von Produktdesign oder allgemeiner, dem der Mensch-Maschine- Kommunikation, wird immer wichtiger. Zunehmend mehr AnthropologInnen arbeiten in diesen Feldern (Suchman 1987; Squires/Byrne 2002; vgl. Baba 2006).


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