Transformationen in afrikanischen Religionen/ADDR
Vorheriges Kapitel: 5.2 Afrikanische Diaspora Religionen (ADR)
Contents
5.3 Afrikas Digitale Diaspora Religionen (ADDR)
verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht
Während der Begriff der afrikanischen Diaspora und die damit verbundenen historischen und sozio-kulturellen Prozesse seit dem Beginn der Neuzeit vor allem in Afro-Amerika bereits auf eine jahrzehntelange Forschungsgeschichte zurückblicken können, befindet sich die ethnologische Erforschung von Afrikas Digitaler Diaspora (ADD) praktisch noch in den Geburtswehen.
Die Bezeichnung „Afrikas Digitale Diaspora“ verweist auf die afrikanische Besiedlung des Cyberspace und die damit einher gehenden neuen Kulturentwicklungen. Durch die Entwicklung des Cyberspace hat auch das Studium und die Beschäftigung mit traditionellen afrikanischen Religionen (ATR = African Traditional Religion) und vor allem mit ihren Derivaten in der afrikanischen Diaspora (ADR = African Diaspora Religion) eine neue Dimension dazu gewonnen, für die ich die Bezeichnung Afrikas Digitale Diaspora Religionen (ADDR) geprägt habe.
In vielerlei Hinsicht können interessante Analogien zwischen diesen beiden unterschiedlichen Formen der afrikanischen Diaspora gemacht werden. Während bereits in den vergangenen Jahrhunderten die historischen diasporischen Umstände afrikanische Kultur und Religion bedeutend verändert haben, so erleben wir momentan eine völlig neue Form kultureller und religiöser Transformationen: Afrikas Digitale Diaspora transformiert das Transformierte auf die den Gesetzen des digitalen Zeitalters eigene Weise.
Die sich im Augenblick vollziehenden Cyber-Transformationen von ATR und ADR bringen eine Anzahl grundlegender Veränderungen mit sich: So z.B. verlassen viele ursprünglich „indigene“ bzw. „traditionelle“ religiöse Konzepte und Praktiken ihr lokal begrenztes Setting und werden mittels digitaler Kommunikationstechnologien potentiell der gesamten Weltöffentlichkeit zugänglich .
In diesem Prozeß der Öffnung, in dem sich afrikanische kosmologische Weltbilder und Ritualsysteme sowohl hinsichtlich ihrer Reichweite als auch ihrer Anziehungskraft vermehrt internationalisieren und globalisieren, werden sie zu neuen Formen von Weltkultur transformiert .
Inhalt
5.3.1 Die ontologische Ebene
Von spirituellen Wirklichkeiten zu physischen Computern
Als Zeitzeugen dieser afrikanischen CyberCosmoGenesis in ihrem status nascendi können wir einige äußerst interessante Beobachtungen hinsichtlich der ontologischen Verwandtschaft bestimmter Aspekte afrikanischer Spiritualität mit den fundamentalen Prinzipien des Cyberspace anstellen:
Der Terminus „Cyberspace“ wurde vom amerikanischen Science-Fiction Autor William Gibson in seiner Cyberspace -Trilogie popularisiert. Dabei kreierte er eine neue Mythologie virtueller Welten, indem er Konzepte, Metaphern und Personifikationen aus der haitianischen Vodou Religion benutzte und diese mit der Cyberspace- Terminologie korrelierte.
Ebenfalls wichtig für das Verständnis der formal-konzeptionellen Nähe zwischen dem traditionellen Ifá -Divinationssystem der Yoruba bzw. afrikanischer Geomantie und der modernen Computer-Sprache ist der binäre Code — als die formale Basis beider Kommunikationssysteme. Aus diesem Grunde behaupten heute afrikanische Babaláwos und westliche Wissenschaftler gleichermaßen, daß das Konzept des Cyberspace durch das numerische System des Ifá wie auch der afrikanischen Geomantie vorweggenommen wurde — wenngleich innerhalb des Kontextes der „spirituellen Technologie“. Von dieser Perspektive aus gesehen kann die Kommunikation via Computer-Technologie lediglich als eine weitere Transformation derselben formalen Prinzipien betrachtet werden.
Ein weiteres Beispiel für die analoge Beziehung zwischen afrikanischen Religionen und dem im Entstehen begriffenen Cyberspace kann in der Orisha-Religion geortet werden: Als vielleicht jüngstes und bemerkenswertestes Verwandlungs-Phänomen in einer langen Reihe von Transformationen und Cyber-Transformationen afrikanischer religiöser Konzepte tritt uns der Terminus „Shangócentricity“ entgegen. Während Shangó in der antiken Yoruba-Mythologie und religiösen Praxis als göttliche Repräsentation des Blitzes und des Donners verehrt wurde, steht Shangó heute — in unserem postmodernen digitalen Zeitalter — auch für den elektrischen Strom in der Qualität des exponentiell wachsenden elektronischen Blitzgewitters innerhalb unserer Computer. Als oberster Repräsentant dieser gegenwärtig bedeutendsten Metapher für spontane digitale Erleuchtung verwandelt Shangó die gegenwärtige Zivilisation in eine radikal neue Sphäre des Wissens.
Aus all diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, daß sich dutzende afroamerikanische, aber auch holländische und deutsche Computer- und Software- Firmen für Namen wie Shangó, Ifa, Orisa, Voodoo, etc. als ihre jeweiligen Warenzeichen entschieden haben.
5.3.2 Die sozio-kulturelle Ebene
Von der physischen zur virtuellen religiösen Praxis
Auf der sozio-kulturellen Ebene läßt sich beobachten, daß diese neuen Cyber-Welten von ATR & ADR keineswegs die herkömmliche religiöse Praxis in afrikanischen und Diaspora-Kommunitäten ablösen oder ersetzen werden. Vielmehr tendieren sie dazu, frühere und traditionelle Konzepte auch vor dem Hintergrund neuer Kontexte zu interpretieren und fügen dadurch zusätzlich neue Dimensionen zu den bestehenden Formen hinzu, durch welche Religion — auch im Sinne von Kommunikation und re-ligio = rückbinden — erfahren werden kann. Auf diese Weise werden laufend neue parallele Welten religiöser Praxis und Virtualität (= Spiritualität?!) geschaffen.
So sind zum Beispiel viele Babaláwos, Santeros, Houngans, Mambos, sowie religiöse Spezialisten in anderen ADR im Augenblick gleichzeitig in drei verschiedenen sozialen Feldern in jeweils unterschiedlichen Rollen tätig:
• In ihrer Rolle als Priester, Heiler oder Wahrsager innerhalb ihrer traditionellen lokalen full-time-face-to-face-communities'', mit allen Aufgaben und Verpflichtungen ihrer Profession für Ihre Klienten.
• In ihrer Rolle als Lehrer, religiöse Spezialisten und spirituelle Führer innerhalb moderner internationaler part-time-face-to-face-communities'', sei es bei wissenschaftlichen Konferenzen, praktischen Workshops, Versammlungen von Diaspora-Kommunitäten, oder auch bei immer größer werdenden New-Age Zirkeln.
• In ihrer Rolle als spirituelle Webmasters, Computer Consultants, Digitale Divinatoren oder religiöse Unternehmer am Cyber-Markt innerhalb der postmodernen globalen no-more-face-to-face-communities''.
Vor allem für Letztere ist die entstehende Digitale Diaspora bereits jetzt zum bevorzugten Feld ihres Wirkens geworden. Sie präsentieren sich und repräsentieren sich selbst im WorldWideWeb, vernetzen sich mit ihren professionellen Counterparts in Afrika wie vor allem in der afrikanischen Diaspora und darüber hinaus, und rekrutieren eine ständig wachsende internationale Klientel für Orakel- Konsultationen, Initiationen, und andere teils sehr einträgliche religiöse Praktiken ihrer jeweiligen Tradition.
Immer mehr Menschen als Angehörige von ATR oder ADR involvieren und engagieren sich zunehmend in mehr als nur einem dieser eben skizzierten sozio- kulturellen Felder. Ihre Aktivitäten sind es vor allem, welche die Voraussetzung dafür bilden, daß sich ATR & ADR auch vis-à-vis einer größeren (auch nicht- afrikanischen) Öffentlichkeit öffnen. Dabei absorbieren oder „synkretisieren“ sie manchmal auch Elemente und Konzepte aus anderen religiösen Traditionen, um schließlich zu neuen Weltreligionen in unserem postmodernen Cyber-Age zu avancieren.
5.3.3 Information und Kommunikation
Fremd- und Selbstrepräsentation im WWW
Die Fülle an Information über ATR & ADR, die in den letzten 15 Jahren über das Internet verfügbar gemacht wurde, ist ziemlich eindrucksvoll — so ist auch die Unterschiedlichkeit ihrer Qualität. Im Jahre 2000 konnten bereits über 50.000 Web Pages über ATR & ADR im WWW besucht werden, wobei sich diese Zahl etwa alle 18 Monate verdoppelte. Einige der populärsten Seiten, wie z.B. das OrishaNet, erfreuten sich über 136.000 Besuche im Monat.
Je nach den spezifischen Interessen der jeweiligen User dienen diese Web Pages unterschiedlichen Zwecken und Anforderungen:
• Viele Menschen innerhalb wie außerhalb der jeweils repräsentierten religiösen Traditionen benutzen diese Seiten, um rasch, leicht und billig allgemeine und spezifische Informationen zu erhalten. Universitäts-Studenten in aller Welt, insbesondere EthnologInnen und KulturanthropologInnen, machen inzwischen ihre „Feldforschungen“ über spezifische Aspekte von ATR & ADR u.a. auch im Internet — sei es entweder, um dort bereits existierende Information lediglich zu sammeln (visuelles bzw. beobachtungsorientiertes Paradigma), sei es vor allem aber auch, um manchmal durch direkte Kommunikation mit ihren virtuellen Gastgebern in einen interaktiven Forschungsprozess einzutreten (diskursives bzw. befragungsorientiertes Paradigma).
• Vor allem Angehörige von ATR & ADR nutzen das Internet, um mit anderen Mitgliedern ihrer religiösen Gemeinschaft zu kommunizieren. Dies trifft ganz besonders auf typische Diaspora Situationen zu, deren Mitglieder manchmal durch enorme geographische Distanzen voneinander getrennt sind. Guest-Books, News- Groups, Discussion Boards und Chat-Rooms dienen hier in erster Linie dazu, um eine kontinuierliche und ungebrochene Integration innerhalb ihrer eigenen Kommunitäten zu fördern.
• Hohepriester, Divinatoren, Leiter religiöser Zentren und Organisationen, sowie auch Kulturaktivisten richten meist ihre eigenen Homepages ein, einerseits um sich selbst zu präsentieren, andererseits aber auch, um ihre eigene religiöse Tradition zu repräsentieren. Während in der Vergangenheit der Großteil der öffentlich erhältlichen Information über ATR & ADR von Ethnologen, akademischen Forschern anderer Disziplinen oder Journalisten recherchiert und kompiliert wurde — wobei diese in den wenigsten Fällen initiierte Mitglieder derjenigen religiösen Traditionen waren, die sie zu repräsentieren versuchten — so stammen heute die vielleicht besten Informationen im WWW von den Praktizierenden selbst. Es existieren bereits unzählige Web-Sites, die von Repräsentanten ihrer jeweiligen Religionen eingerichtet und betreut werden. Das Verhältnis zwischen Fremd- und Selbst-Repräsentation im Netz verlagert sich immer rascher zugunsten der zunehmenden Promotion von Insider Perspektiven.
• Diverse Institutionen und deren Mitarbeiter nutzen das Internet vornehmlich zur Organisation von Konferenzen, zum Koordinieren von Seminaren und Workshops, sowie zur Vernetzung von professionellen Individuen und Gruppen quer durch Afrika und die Diaspora. Einige Babaláwos und Mambos bieten im Netz periodisch Orakelbefragungen und religiöse Kurse an, führen Konsultationen mit ihren Klienten durch, kündigen regelmäßig Plantas (divinatorische Sitzungen) an, und bereiten auf vielfältige Weise das Terrain für neue Initiationen vor.
• Schließlich dient das Internet den kommerziellen Interessen einer wachsenden Anzahl von Unternehmern, die mit religiösen Artikeln handeln, einschlägigen Mus
5.3.4 Das Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace
In ähnlicher Weise wie wir als Ethnologen und Kulturanthropologen beim Studium der Cyber-Transformationen von ATR & ADR vor gänzlich neue theoretische und kulturkritische Fragen gestellt werden, stehen auch die betroffenen Exponenten dieser aktuellen kulturellen Transformationsprozesse einer Anzahl widersprüchlicher und konfliktbeladener Probleme gegenüber, deren Bewältigung neue Strategien der Konsensfindung im Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace erforderlich macht.
Einige der virulentesten Fragen in diesem Zusammenhang, die inzwischen nicht nur von CyberAnthropologen, sondern großteils auch von den Proponenten der CyberTransformationen von ATR & ADR wie auch von ihren Widersachern thematisiert werden, lassen sich folgendermaßen umschreiben:
• Wie werden Fragen der Autorität und Legitimität, bestimmte religiöse Traditionen im Cyberspace repräsentieren zu dürfen, beantwortet?
• Welchen Veränderungen in Form und Gehalt sind ATR & ADR im digitalen Transformationsprozeß ausgesetzt?
• Inwieweit wird der religiöse Korpus im Übergang vom oral-kulturellen zum schrift-kulturellen Modus in seiner Essenz beeinträchtigt?
• Wie wirkt sich der unmittelbare Transformationsprozeß zwischen primärer Oralität und sekundärer Oralität auf Theorie und Praxis der Religionen aus?
• Wird reserviertes Wissen respektiert, werden ontologische Wahrheiten behütet? Kann die persönliche Initiation durch cyber-mediale Initiationsformen ersetzt werden?
• Wie definiert sich die „religiöse Gemeinschaft“, sobald durch ihre Präsenz im Internet (potentiell) die ganze Welt das Publikum darstellt?
• Welche Argumente sprechen für eine religiöse Besiedlung des Cyberspace, und welche Argumente sprechen dagegen?
Vor dem Hintergrund der historischen Tatsache, daß viele afrikanische Religionen — insbesondere in der Diaspora — ursprünglich entweder als Familientraditionen mündlich von Generation zu Generation weiter tradiert wurden oder nur in bestimmten verwandtschaftlichen Linien überlebten, die ihrerseits selbst wiederum signifikanten Veränderungen in den vergangenen Jahrhunderten ausgesetzt waren, gewinnen obige Fragen umso mehr an Brisanz.
Im Falle der mannigfaltigen Orisha Traditionen in den Amerikas, die bekanntlich durch die historischen Prozesse des Sklavenhandels und die sich daran anschließenden Immigrationsbewegungen (Kontraktarbeiter) von Yoruba- Deszendenten eine ungeahnte Vielfalt an religiösen Ausformungen in allen Teilen der Neuen Welt entwickelten, läßt sich deutlich das Dilemma ablesen, in welches diejenigen ihrer Repräsentanten geraten, die mit dem Anspruch der Wiedervereinigung aller in der afrikanischen Diaspora verstreuten Orisha-Gläubigen antreten.
Einige ihrer eher kosmopolitisch orientierten Repräsentanten mögen zwar unter Rücksichtnahme auf die historischen Bedingungen der Diaspora für alle neuen Einflüsse offen sein, denen ihre Religion als Konsequenz der Sklaverei, der anschließenden kolonialien Umarmung und der bis heute nachwirkenden westlichen Dominanz ausgesetzt war. Andere hingegen, die oft in afrikanischen Bewußtseins- Bewegungen aktiv involviert sind, mögen mit der gleichen Selbstverständlichkeit jegliche Art fremder Einflüsse auf ihre Religion aufs Entschiedenste zurückweisen und für eine Re-Afrikanisierung ihres religiösen Erbes plädieren.
In den einschlägigen Diskussions-Foren des Internet werden eine große Anzahl manchmal höchst kontroversieller Diskurse zum Thema der ATR ausgefochten. Diese berühren meist so sensitive Fragen wie Rass
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