Transformationen in afrikanischen Religionen/ADR

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Vorheriges Kapitel: 5.1 Afrikanische Traditionelle Religionen (ATR)

5.2 Afrikanische Diaspora Religionen (ADR)

verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht

Abbildung.: Logo der Wiener Karibik-Tagung 1990 über afrikanisch-karibische Religionen sowie der Buch-Trilogie Kulte/Cults, Voodoo, Rastafari (designed by Wittigo Keller © 1990)

Es gibt eine Vielzahl gegenwärtig stark an Bedeutung gewinnender religiöser Traditionen in den Amerikas, deren unverwechselbare Spiritualität ihre Wurzeln in Afrika hat. Aufgrund komplexer Prozesse des Kontaktes zwischen verschiedenen afrikanischen Religionen und kolonialem Katholizismus wurden sie in der älteren Literatur oft als synkretistische Kulte bezeichnet.

Dieser Begriff wurde von Melville J. Herskovits vorgeschlagen für die von ihm in afroamerikanischen Kulturen beobachtete und beschriebene intensive Vermischung von afrikanischen religiösen Inhalten mit christlichen Formen. Vor allem in katholischen Ländern kam es dort häufig zu einer Identifizierung von Heiligen der Kirche mit afrikanischen Gottheiten und zur Neudeutung der beiden Quellen religiöser Inspiration . Dadurch bildeten sich schließlich neue Religionsformen.

Heute werden diese meist unter dem Dachbegriff Afrikanische Diaspora Religionen oder auf englisch African-Derived Religions (ADR) zusammengefasst. Sie standen in der Vergangenheit in erster Linie für den gemeinschaftlichen kulturellen Widerstand in einer Situation der Unterdrückung durch Machtapparate europäischer Kolonialmächte. Heute bieten sie ihren Anhängern zusätzlich zur religiösen Inspiration und therapeutischen Praxis auch ein afrikanisches Modell der Persönlichkeitsbildung und kosmischen Eingliederung an.

Dem gegenwärtigen Trend zur Re-Afrikanisierung afroamerikanischer Religionen steht gleichzeitig eine Popularisierung durch das globale Medium des Internet seitens führender Repräsentanten gegenüber.

Zu den bedeutendsten afroamerikanischen Religionen in Brasilien zählen heute Umbanda , Candomblé , Macumba , Xangô und Batuque . Im karibischen Raum Vodun in Haiti; Regla Ocha (Santería) und Palo Monte sowie Abakuá in Kuba; Rastafari , Kumina und Revivalists in Jamaica; Shango und Spiritual Baptists in Trinidad & Tobago; Kélé in St. Lucia; Maria Lionza in Venezuela, sowie die Maroon - Religionen in Surinam. In den USA dominieren, neben Hoodoo in Louisiana, vor allem die Schwarzen Kirchen.

Viele dieser religiösen Traditionen erlangten im 20. Jhdt. internationale Bedeutung. Durch Migrationsbewegungen entstehen laufend neue Zentren afrokaribischer Kultur in den Metropolen der USA (Brown 1991) und Kanadas, wie auch in Südamerika und Europa, die zunehmend mehr Anhänger aus der weißen Mittelschicht anziehen.

Im 21. Jahrhundert wird dieser Prozess durch den neuen virtuellen Raum des Cyberspace noch gefördert. Insbesondere die PriesterInnen des Vodou und der Santería nutzen diesen Raum für die Präsentation ihrer Websites, die potentiell die gesamte Weltöffentlichkeit als Publikum haben. So transformieren sie erneut die bereits historisch transformierten afrikanischen Traditionen in eine neue Form globaler Ritualkultur. Diese Cybertransformationen legen den Grundstein für eine afrikanische digitale Diaspora Religion der Zukunft (Kremser 2001b; 2003).

Im Folgenden wird ein kompakter Überblick über die afroamerikanischen Religionen, insbesondere in der Karibik ermittelt. Dabei werden einerseits die großen Entwicklungslinien ihres historischen Entstehungsprozesses und ihre Beziehungen zu den afrikanischen Ursprungsreligionen skizziert. Andererseits wird die heute gelebte Praxis afrokaribischer religiöser Kultur anhand ausgewählter Beispiele illustriert. Hier stehen wieder die großen Traditionen des Orisha/Vodou-Komplexes im Mittelpunkt, wobei sowohl ihre gemeinsamen Charakteristika als auch ihre unterschiedlichen lokalen Ausformungen herausgearbeitet werden.

Inhalt

5.2.1 Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Im Rahmen der afroamerikanischen Kulturforschung gibt es kaum Vorgänge, die schwerer zu fassen sind als die historischen Veränderungen in der Wahrnehmung und Interpretation verpflanzter afrikanischer Religionen — insbesondere im Hinblick auf die komplexen Prozesse von Kontinuität und Diskontinuität in der Neuen Welt (Mintz/Price 1976).

In der Diaspora war die Religion einer der wichtigsten Faktoren, der die institutionalisierte Neugruppierung von afrikanischen Menschen erlaubte. Die so entstandenen Gemeinschaften wurden schließlich zu Zentren des kulturellen Widerstandes gegen die politisch und wirtschaftlich dominanten Kolonialmächte und bildeten fortan den sichtbarsten Ausdruck kultureller Identität auf der Basis afrikanischer Spiritualität.

Die Frage nach den afrikanischen Wurzeln in der religiösen Kultur der afrikanischen Diaspora führt uns direkt zum Problem der Suche nach Identität als eine der brennenden Fragen afroamerikanischer Psychologie und Ontologie. Die Identität wiederum bezieht sich auf die Tradition(en), der sich Menschen zugehörig fühlen und auf die sie sich beim Versuch, sich in das kulturelle Mosaik der Welt einzuordnen, rückbinden.

Die afroamerikanischen Gesellschaften sind hinsichtlich ihrer Identität sehr ambivalent. Als neue Gesellschaften können sie sich folglich nur schwer direkt an irgendeine alte kontinuierliche Tradition anbinden. Verglichen mit der Entwicklung anderer Gesellschaften charakterisieren sie sich durch eine relativ starke Diskontinuität — bedingt durch die historischen Prozesse des atlantischen Sklavenhandels und dessen Auswirkungen auf seine Opfer (Alleyne 1990:107).

Diejenige Tradition, der sich der überwiegende Teil der Bevölkerung Afroamerikas gerade in existentiellen und spirituellen Fragen am ehesten zugehörig fühlt, ist die „afrikanische“. So können z.B. viele spezifische Formen der religiösen Kultur durch komplexe Prozesse von Kontinuität, Diskontinuität, Synkretismen, Reinterpretationen, etc. eindeutig mit Afrika in Verbindung gebracht werden — obwohl natürlich die ebenso massiv vorhandenen Einflüsse der abendländisch- christlichen Kulturen, bedingt durch ihre öffentliche Dominanz, oft die Sicht darauf verstellen mögen (Kremser 1992).


5.2.1.1 Die Metapher der Vase

Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade im viel beachteten Amerika-Gedenkjahr 1992 der Literaturnobelpreis einem karibischen Schriftsteller zuerkannt wurde, dessen literarisches Werk das Ringen einer ganzen Region verdichtet, sich nach Jahrhunderten gewaltsam herbeigeführter Entfremdung von der Urheimat Afrika neu zu definieren. Dabei wird der Ruf nach Restaurierung dieser „geborstenen Geschichte“ afrikanischer Menschen in der Diaspora oft in einer Weise vorgetragen, welche die existentielle Tiefe des Anliegens deutlich vor Augen führt. In seiner Nobelpreis-Rede „Die Antillen: Fragmente epischen Erinnerns“ greift Derek Walcott (1993:10f) zu einer anthropologischen Metapher:

„Zerbrich eine Vase, und die Liebe, welche die Fragmente wieder zusammenfügt, ist stärker als jene Liebe, die ihre Symmetrie für selbstverständlich hielt, als sie noch heil war. Der Kleber, der die Stücke wieder einpasst, besiegelt ihre ursprüngliche Form. Solch eine Liebe ist es, die unsere afrikanischen und asiatischen Fragmente wieder zusammenfügt, die zerbrochenen Erbstücke, deren Restaurierung ihre weißen Narben zeigt. In diesem Einsammeln zerbrochener Stücke besteht die Sorge und der Schmerz der Antillen, und wenn die Stücke einander unähnlich, nicht passend sind, dann enthalten sie mehr Schmerz als ihre ursprünglichen Skulpturen, jene Bilder und heiligen Gefäße, die an den Wohnorten ihrer Vorfahren als selbstverständlich gegolten hatten. Die Kunst der Antillen besteht in dieser Restaurierung unserer geborstenen Geschichte, der Scherben unseres Vokabulars, und unser Archipel wird zu einem Synonym für Stücke, die vom ursprünglichen Kontinent abgebrochen worden sind.“


5.2.2 Afrikanischer Ursprung — amerikanisches Amalgam

Die meisten afroamerikanischen Religionen sind ein Amalgam verschiedener religiöser Traditionen, die aus drei Kontinenten stammen: Amerika, Afrika und Europa. Dieses Amalgam begann im Jahre 1492 mit der Ankunft von Kolumbus in der „Neuen Welt“ und der Gründung der ersten europäischen Siedlungen auf Hispaniola. Dort stießen die Siedler auf amerindische Bevölkerungsgruppen, die ursprünglich von den Taino Südamerikas abstammten. Obwohl diese indigenen Bevölkerungsgruppen durch importierte Krankheiten und Zwangsarbeit binnen weniger Jahrzehnte dezimiert wurden, haben viele ihrer religiösen Traditionen bis zum heutigen Tag überlebt. So z.B. finden sich einige Mythen und Namen indianischer Schutzgeister („protector spirits“) der Kariben, Ciboney und Arawaken in den Theologien der kubanischen Santería, der brasilianischen Umbanda, sowie auch des puertorikanischen Espiritismo.

Der drastische Rückgang der indianischen Bevölkerung veranlasste die Europäer, nach neuen Arbeitskräften Ausschau zu halten. Dies führte zur größten Massendeportation in der Geschichte der Menschheit, in deren Zuge geschätzte 11,7 Millionen Menschen afrikanischer Provenienz in den Amerikas als Sklaven verkauft wurden. Die Mehrheit der Sklaven, die in die Karibik verschleppt wurden, kam aus weitläufigen geographischen Gebieten Westafrikas — von Benin und Nigeria bis hin zur Kongo/Angola Region Zentralafrikas. Das einzige, was sie in die Neue Welt mitbringen konnten, waren ihre kulturellen und religiösen Traditionen. Diese ließen sie in das Gewebe des kulturellen und religiösen Lebens in ihrer neuen Heimat einfließen. So wurde jenes kulturelle Amalgam geformt, welches eine unauslöschliche Spur in den Religionen der Region hinterlassen hat.

Nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart wird in vielen afrokaribischen Gemeinschaften die Rückbesinnung auf „Mutter Afrika“ wieder ins Zentrum gestellt. So kommt es zu einem erneuten Austausch und einer wechselseitigen Beeinflussung — ein Prozess in beide Richtungen, den es laut Pierre Verger (1968) schon zur Zeit der Sklaverei gab und den er als Flux-Reflux Bewegung bezeichnete.


5.2.3 Die Vielfalt religiöser Kultur in Afroamerika

Von den heute insgesamt über 150 Millionen Menschen afrikanischer Provenienz in den Amerikas identifiziert sich der überwiegend größte Teil mit zumindest einer der zahlreichen religiösen Traditionen in ihren Ländern — seien diese primär afrikanischer oder christlicher Prägung, oder auch eine spezifische Mischung innerhalb dieses breiten Spektrums.

Wie angesichts der regionalen Verschiedenheiten und der unzähligen Variationen religiöser Kultur in der Karibik klar ersichtlich ist, sind allzu strukturierende wissenschaftliche Einteilungskonzepte nicht geeignet, die komplexen gelebten Realitäten zu erfassen. Dennoch gab es in der Forschungsgeschichte immer wieder Versuche einer umfassenden Darstellung und Kategorisierung der religiösen Vielfalt der Karibik.

Aufgrund der äußerst komplexen Prozesse des Kontaktes zwischen verschiedenen afrikanischen Religionen und kolonialem Katholizismus wurden die meisten afrokaribischen Religionen in der älteren Literatur oft als „synkretistische Kulte“ bezeichnet (Herskovits 1941; Bastide 1971; Simpson 1980; Pollak-Eltz 1995).

Der Begriff „synkretistische Kulte“ wurde in der Anthropologie erstmals von Herskovits (1937) vorgeschlagen. Er umfasste die von ihm in afroamerikanischen Kulturen beobachtete und beschriebene intensive Vermischung von afrikanischen religiösen Inhalten mit christlichen Formen. Vor allem in katholischen Ländern kam es dort häufig zu einer Identifizierung von Heiligen der Kirche mit afrikanischen Gottheiten und zur Neudeutung der beiden Quellen religiöser Inspiration. Dadurch bildeten sich schließlich neue Religionsformen heraus, deren bekannteste heute zum überwiegenden Teil dem Orisha/Vodou-Komplex zuzuordnen sind (Greenfield 2001).

Vor dem Hintergrund eines verstärkten Afrika-Bewusstseins in der gesamten Karibik seit den 1990er Jahren — in denen es auch zu einem intensiveren Austausch zwischen den afrikanischen und den Diaspora Religionen einerseits, aber auch zwischen Christentum und ATR (=African Traditional Religion) gekommen ist — tendieren neuere Kategorisierungen dazu, die Art und Weise wie auch die Intensität anzusprechen, in der die afrikanische Rationalität und Ästhetik die religiösen Rituale in der Karibik beeinflussen (Kremser 2004:22-26).

So werden auf der einen Seite jene rituellen Traditionen, die sich in ihrem Wesenskern auf afrikanische Rationalität und ATR gründen (Barnes 1997, Davis 1991, Murphy 2000, Olmos 1997), von anderen rituellen Systemen meist christlicher Provenienz aber dennoch starker afrikanischer Prägung unterschieden. Letztere stellen den Versuch dar, den christlichen Glauben zwar zu adaptieren, die religiöse, spirituelle und rituelle Praxis jedoch dem afrikanischen Geschmack anzupassen. Dazu zählen vor allem die vielen afrikanisch inspirierten christlichen Kirchen (Appiah 1999, Glazier 2001).


5.2.3.1 Die 5 Kategorien nach Simpson

Nachdem die anthropologische Forschung bereits ein differenzierteres Bild erbrachte, teilte Simpson (1978:14) die afroamerikanischen Religionen in fünf Kategorien ein. Diese beruhen jedoch nicht auf emischen Konzepten und sind daher auch keineswegs als strikte Trennungen zu verstehen:

1) Die neo-afrikanischen Religionen (Neo-African Religions) haben sich im Kontext der Sklaverei entwickelt. In ihnen konnten viele der afrikanischen Traditionen bewahrt werden, welche auch mit römisch katholischem Glaubensgut und Praktiken vermischt wurden. Diese inkludieren Vodou in Haiti; Santería in Kuba, der Dominikanischen Republik und Puerto Rico; sowie Shangó in Trinidad und Grenada.

2) Die Ahnen-Religionen (Ancestral Religions), die weniger afrikanische Traditionen erhalten konnten und von den verschiedenen protestantischen Traditionen herrühren, die von Missionaren des 19. Jhdts. importiert wurden. Diese inkludieren Cumina und Convince in Jamaika; den Big Drum Dance in Grenada und Carriacou; sowie Kele in St. Lucia.

3) Die Revitalisierungs-Religionen (Revivalist Religions), die ein Phänomen des 20. Jhdts. sind und mit den Pentecostal oder charismatischen protestantischen Bewegungen der USA in Verbindung stehen. Sie umfassen Revival Zion in Jamaika; die Shouters und Spiritual Baptists in Trinidad; die Cohortes in Haiti; sowie die Shakers und Streams of Power in St. Vincent.

4) Religionen, deren Hauptaugenmerk auf der Divination und der Heilung durch spirituelle Medien liegt. Sie inkludieren Espiritismo in Puerto Rico; Umbanda in Brasilien; sowie Maria Lionza in Venezuela.

5) Religiös-politische Bewegungen, die Anfang des 20. Jhdts. aus Protest gegen Neokolonialismus und dessen wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit entstanden sind. Dazu gehören die Rastafari und Dread Bewegungen, die zwar in Jamaika entstanden sind, aber heute in der gesamten Karibik und weit darüber hinaus verbreitet sind.


5.2.4 Die gemeinsamen Charakteristika

Ungeachtet der lokalen Unterschiede auf den einzelnen Inseln der Karibik lässt sich eine Anzahl gemeinsamer Charakteristika feststellen, die in fast allen Religionen der Orisha/Vodou-Traditionen anzutreffen sind.

Henry (1991) stellt einige Gemeinsamkeiten der verschiedenen afrikanischen Diaspora Religionen heraus, wobei er zwischen den afrikanischen und europäisch- christlichen Einflüssen unterscheidet:

Die afrikanischen Wurzeln erkennt er in den

Synkretisierungen bzw. Identifizierungen afrikanischer Gottheiten mit katholischen Heiligen;

• die spirit possession, bei welcher der Körper des Gläubigen von einer Gottheit in Besitz genommen wird;

• das Abhalten von Tieropfern;

• der Gebrauch von afrikanischen Rhythmus-Mustern, Gesang und einer Ritualsprache;

‚African-type’ Tanzbewegungen;

• der Gebrauch von Öl, Mehl und Getreide-Produkten, welchen spirituelle Kräfte zugeschrieben werden;

Divinationsformen, speziell für beratende und diagnostische Zwecke.

Christliche Elemente stellen für ihn die

• Rezitation von Gebeten,

• das Singen von christlichen Hymnen,

• der Gebrauch von Kerzen und

• die Identifizierung der Gottheiten innerhalb eines christlichen Rahmens dar.


5.2.4.1 Himmel und Erde

Für Angehörige afrokaribischer Religionen findet das Leben gleichzeitig auf zwei verschiedenen Ebenen statt:

• in der Welt des physischen Universums, welches von menschlichen Wesen bewohnt wird, und

• in einer anderen Welt — abstrakt, unendlich und unbegrenzt — welche von spirituellen Wesen bewohnt wird, wie z.B. göttliche Wesen, Ahnen, und spirituelle Doppelgänger von allem, was konkret unser Universum bewohnt.

Zwischen diesen beiden Welten gibt es eine andauernde Beziehung, einen unablässigen Strom des Transfers von spirituellen und materiellen Elementen. Dieser Strom wird durch den ständigen Transfer und die Wiederverteilung von ashé symbolisiert und durch das Ritual reguliert.

Das Ethos der Orisha/Vodun-Kulturen basiert auf einer spirituellen Weltsicht, die sich auf die existentielle Multidimensionalität des menschlichen Wesens gründet und die Aufrechterhaltung einer interdependenten Komplementarität und Reziprozität der Welten zum obersten ethischen Handlungsprinzip erhebt. Demnach existiert die spirituelle Welt nur so lange, wie die reale Welt existiert — et vice versa .

Charakteristisch für die Spiritualität afrokaribischer Religionen ist die Art und Weise, wie die Beziehung zwischen menschlichen und spirituellen Wesen in gemeinschaftlichen Ritualen erarbeitet wird.

Dieser Spirit kann dabei entweder

• als göttliche Persönlichkeit,

• als Kreuzung menschlich konstruierter kosmischer Koordinaten, oder auch

• als spezifischer Bewusstseinszustand konzipiert werden.


5.2.4.2 Spirituelle Arbeit und rituelle Inszenierung

Spirituelle Arbeit bezeichnet jede Art von Arbeit oder Dienst (griechisch „leitourgia“), die von Menschen in Verbindung mit dem Spirit für das Wohl der Gemeinschaft im weitesten Sinne geleistet wird.

So werden die religiösen Rituale in der afrikanischen Diaspora von den Praktizierenden in zweifacher Weise gesehen:

• als Arbeit für den Spirit, und

• als Arbeit des Spirits.

Dem entsprechend wird auch die Reziprozität zwischen Gemeinschaft und Spirit durch physische Arbeit ausgedrückt:

• Die Gemeinschaft arbeitet durch Musik, Wort und Tanz, um dem Spirit die Präsenz zu ermöglichen.

• Der Spirit wiederum arbeitet durch die physische Arbeit der Kongregation, um die menschlichen Aktionen mit seiner Kraft aufzufüllen.

Afrokaribische Rituale sind daher:

• Dienst für den Spirit, um durch Opferhandlungen und Lobpreisungen dem Spirit zu gefallen. Und sie sind

• Dienst des Spirits, um durch Handlungen, die vom Spirit unternommen werden, die Kongregation zu inspirieren.

Auf diese Weise wird die Reziprozität der Spiritualität in den afrokaribischen Religionen bekräftigt (Murphy 1994:7).

Das Dienen — in all seinen subtilen Bedeutungen — ist somit der zentrale Wert gemeinschaftlichen Lebens. Dieser Gemeinschaftsbegriff des Rituals umfasst in letzter Konsequenz neben den lebenden Menschen auch noch alle anderen meist unsichtbaren spirituellen „Bewohner“ des Kosmos und ist zudem von einer tiefenökologischen Erkenntnis geprägt, der zufolge letzten Endes alles in dieser Welt mit allem anderen verbunden ist.


5.2.4.3 Der initiatorische Prozess

Der wichtigste Aspekt afrokaribischer Religionen liegt darin begründet, dass sie initiatorische Systeme darstellen. Rituelles Wissen wird dabei in einer ganz spezifischen Weise erworben, übermittelt und weiterentwickelt. Die Initiierten nehmen an einer Erfahrung teil, während derer sie eine mystische Kraft empfangen und in sich aufnehmen. Diese erlaubt es ihnen in der Folge, in ein dynamisches System, welches sie selbst mobilisieren helfen, integriert zu werden und sich damit zu identifizieren.

Diesem Prozess der „Erfüllung“ kann die Entwicklung der wertvollsten Inhalte religiöser Gemeinschaften zugeschrieben werden. Er ist für die ureigenste Existenz der Religionen durch die mystische Allianz zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verantwortlich (Dos Santos & Dos Santos 1984:75).

Diese Kraft, die als ashé (Yorùbá: asé; Fõ: sé) bekannt ist, ist der Urquell aller vitalen Prozesse. Sie wird sowohl durch materielle wie auch durch symbolische Mittel weitergegeben und ist zudem kumulativ. Sie ist eine Kraft, die nur durch „Hereinnahme“ in den Körper und in die Psyche — durch Verkörperung und den damit einher gehenden Individuationsprozess — erworben werden kann. Sie taucht aber nicht spontan auf, sondern muss bewusst und gezielt übermittelt werden (Kremser 1993).

Ein gründliches Verständnis dieser Kraft ist die Voraussetzung für das Verstehen der tieferen Bedeutung des Opfers als eine besondere und symbolische Form, ashé zu vermitteln. Ashé wird nicht erlernt, sondern es wird aus den Händen und dem Geiste derer empfangen, die schon weiter fortgeschritten sind. Es wird von Person zu Person durch eine lebende und dynamische Beziehung vermittelt — durch symbolische Elemente, durch Blut, Früchte, rituelle Kräuter, Wörter, mystische Pakte und Beziehungen, die mit den Ahnen, der Natur und mit der Gruppe als Ganzem hergestellt werden (Kremser 1987).

Je höher der hierarchische Status, desto fortgeschrittener ist die mystische Entwicklung, die eine größere Akkumulation von ashé und von initiatorischem Wissen erlaubt. Der Grad der Initiation wird durch die Jahre bestimmt, die seit der Initiation verstrichen sind, und nicht durch das chronologische Alter des Teilnehmers.


5.2.4.4 Possession — Die Dynamik der Verkörperung

Die Dynamik der Verkörperung hält die Welt übernatürlicher Entitäten am Leben. Die Wesenheiten manifestieren sich durch den Körper der PriesterInnen oder der Initiierten indem sie sprechen, tanzen, segnen, Rat geben, Embleme und Paraphernalien benützen, ihren Ursprung, ihre Geschichte und ihre Bedeutung kommunizieren.

Während der Erfahrung der Verkörperung wird das gesamte religiöse System, seine Theogonie und Mythologie, noch einmal durchlebt. Jeder Teilnehmer ist der Protagonist einer rituellen Aktivität, in welcher das geschichtliche, psychologische, ethnische und kosmische Leben der Partizipierenden erneuert wird. Die Dynamik der Verkörperung erschafft psychologisch hier und jetzt die Existenz eines Wissenssystems wieder, welches durch die persönliche Erfahrung dramatisiert wird. Dieses System kann nur verstanden werden, indem es die rituellen Erfahrungen, Analogien, Mythen und die nachgespielten Legenden durchlebt. Wissen wird nur dann von Bedeutung, wenn es aktiv inkorporiert wird!

Wir berühren hier einen der wichtigsten, wenn nicht überhaupt den allerwichtigsten Aspekt des rituellen Systems. Zumindest zwei Personen sind für die Übermittlung durch Initiation unerlässlich. Wissen geht direkt von einem Wesen auf das andere über. Weder Lesen, Erklärungen oder logisches Denken wird auf einer bewussten oder intellektuellen Ebene benötigt. Der Transfer des komplexen Codes von Symbolen wird durch die reale Präsenz von Personen und ihrer dynamischen Beziehungen erreicht:

• Materielle Symbole und Gesten;

Worte, die artikuliert, exklamiert und mit Leben erfüllt werden;

• Modulationen, Emotionen und die persönliche Geschichte dessen, der sie zum Ausdruck bringt.

All das ist Teil des Prozesses der Übertragung (Dos Santos & Dos Santos 1984:78).


5.2.5 Die unterschiedlichen lokalen Traditionen

Der Einfluss von ATR in der Karibik variiert an Intensität von Insel zu Insel. Er war abhängig von

• der Zusammensetzung der verschiedenen afrikanischen Ethnien ,

• der historischen Situation des Landes,

• der Dauer der Kolonialisierung und

• dem Ausmaß an kultureller Präsenz und Dominanz seitens der Europäer.

Eine lang andauernde europäische Beeinflussung bewirkte eine Schwächung in der Bewahrung von ATR. In Haiti, wo die französische Kolonialmacht und deren kultureller Einfluss schon 1804 — bedingt durch die Sklavenrevolten und die Unabhängigkeit — endete, konnten viel mehr afrikanische Traditionen bewahrt werden, als in den meisten anderen karibischen Nationen.

Ein aktueller tabellarischer Gesamtüberblick informiert über das breite Spektrum afrokaribischer Religionen, der alphabetisch die lokalen religiösen Traditionen auflistet und mit der jeweils wichtigsten ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Standardliteratur versieht.

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5.2.5.1 Vodou in Haiti

Das Wort „Vodun “ — abgeleitet vom Fõ-Wort vo·dû (= „Hineinsehen in das Unbekannte“, Mysterium, Geistwesen) — bezeichnet die Konzepte und Verhaltensweisen, welche in die Beziehungen zwischen den Menschen und der nichtmateriellen Welt bestimmen.

Mit über 60 Millionen Praktizierenden ist Vodun (deutsch oft Wodu , englisch zumeist Voodoo, französisch Vaudou, haitianisches Kreol Vodou) heute eine der bedeutendsten afroamerikanischen Religionen und zugleich Volksreligion von Haiti (über 90%). Im Jahre 2003 kam es unter Prime Minister Jean Bertrand Aristide zur offiziellen staatlichen Anerkennung.

Wenn die Anhänger/innen des Vodou in Haiti von den Lwas sprechen, gruppieren sie diese in Familien oder Nationen, die nanchon heißen. Jede dieser nanchons hat seine bestimmten Zeremonien und Rituale, eigene Grußformen, Tänze und Musikinstrumente. Im Vodou in Haiti bezeichnen diese Namen keine geographischen Regionen mehr, sondern charakterisieren Kategorien der Lwas .

Nach Hurbon (1993) gibt es drei wichtige Rituale:

• Im Rada Ritual werden die Spirits von Dahomey verehrt, welche als prinzipiell gute Lwas angesehen werden. Sie werden von Guinea kommend als Lwa-Ginen bezeichnet.

• Im Kongo -Ritual wird auf die Lwas der Bantu Region Bezug genommen.

• Die Lwas der Petro-Rituale stammen meistens von der Kolonie St. Domingo selbst ab (von der mythologischen Figur Dom Pedro, dem Anführer einer Maroon Rebellion im 18. Jhdt.) und werden Creole Lwa genannt.

Viele der Rada Lwas haben Petro, Ibo und Kongo Gegenstücke, deren Persönlichkeit zeichnet sich durch umgekehrte Charakterzüge aus. Die Lwas, welche sich als archetypische Figuren präsentieren, haben niemals nur positive oder ausschließlich negative Eigenschaften.


5.2.5.2 Santería in Kuba

Kuba ist heute höchstwahrscheinlich jener Ort in den Amerikas — vielleicht mit Ausnahme von Salvador de Bahia — wo sich die Yorùbá -Religion in ihrer reinsten Form erhalten hat. Die Santería wird zunehmend populärer, auch außerhalb Kubas, vor allem in den USA, wobei nicht nur emigrierte Kubaner Gläubige oder Priester sind. Von Brasilien kommen Priester nach Kuba, um sich initiieren zu lassen.

In Kuba begann 1521 der Sklavenhandel. Unter den verschleppten Menschen waren Mitglieder der Bantu -Sprachfamilie, welche in der Literatur meist als Congos bezeichnet werden. Als sie nach Kuba kamen, brachten sie ihren Glauben an Familienahnen, große Chefs und Gottheiten mit. Die Schaffung eines neuen Pantheon im kubanischen Palo Monte ermöglichte ihnen, diese weiter zu verehren. Die Ritualsprache ist Spanisch, wobei Worte von der Kongo-Region mit einfließen.

In den Jahren 1820-1860 kamen die meisten Yorùbá nach Kuba. Sie brachten ihren Glauben an verschiedene regionale Deities, Spirits, Eguns und Orishas mit und kreierten daraus in der Santería ein neues Pantheon. Die Bata drums sind ihre heiligen Trommeln, die Ritualsprache entspricht der Yorùbá -Sprache des 19. Jhdts. Der Synkretismus regionaler Varianten einzelner Orisha hat wohl zu einer Verringerung ihrer Anzahl in der Regla Ocha geführt, keineswegs jedoch zu einer Vereinfachung der mit ihnen verbundenen Vorstellungen.

Aus den Regionen von Dahomey und Benin stammen die Vodun-Deities, die sich in der Regla de Arara weiter tradierten. In dieser Tradition trommeln auch die Frauen. Die Deities wohnen in kleinen Häusern, außerhalb des Hauses. Es kam zur Assimilation mit der Santería.

Weiters gibt es die Geheimgesellschaften der Abakuá Bruderschaft, die seit 1825 existiert. Die von verschiedenen Ethnien gebildeten Cabildos (Bruderschaften) waren die Hauptträger der afrikanischen Traditionen. In ihnen und in den Familien wurde Wissen weiter tradiert. Auch für die Organisation des Karnevals übernahmen sie eine wichtige Rolle.


5.2.5.3 Orisha (Shangó) in Trinidad und Tobago

Zur Zeit der Sklaverei wurden Menschen der Ethnien Congo, Yorùbá, Mandingo, Hausa, Rada und Ibo nach Trinidad verschleppt. Selbst nach der Abschaffung der Sklaverei 1838 wurden noch ca. 9000 Yorùbá als Kontraktarbeiter von den Briten nach Trinidad gebracht.

Auf Trinidad gibt es bis zu 40 Orishas, wenngleich nur die Hälfte von ihnen Bedeutung für die Gläubigen haben. Houk (1995:145) listet 16 wichtige Orishas Trinidads auf mit ihrer zugehörigen Farbe, ihrem Tag und Essen. Es werden ihnen Tieropfer dargebracht sowie ‘dry food’ (Pflanzen und ihre Produkte) gegeben. Die den Orishas zugeordneten Farben variieren zwischen den einzelnen Lokalitäten, wie auch die Zuordnung zu katholischen Heiligen.

Henry (1991) stellte in Trinidad eine Öffnung der Shangó -Religion fest — die sowohl die Klassen- wie auch die ethnische Zugehörigkeit betrifft. Während noch in den 1950ern Shangó eine Religion der grass-roots-people der afrikanisch- stämmigen Bevölkerung war und von der Ober- und Mittelschicht als wild und barbarisch abgetan wurde, nehmen heute viele Mitglieder der Mittelschicht an den Zeremonien teil. Im Gegensatz zu früher bildet sich Klassen-übergreifend ein neues Selbstbewusstsein heraus, welches — entgegen den neokolonialen und amerikanischen Einflüssen — das afrikanische Erbe ehrt und aufwertet.

Seit den 1970ern ist es bei vielen Intellektuellen und Jugendlichen Bestandteil ihrer Identität, Shangó -Zeremonien beizuwohnen, bzw. der Religion anzugehören. Auch die ethnische Grenzziehung löst sich ein wenig auf. Menschen indischer Abstammung suchen Shangó -Priester auf, besonders in ihrer Funktion als Heiler. Es kommt zu neuen Identifikationen zwischen afrikanischen und hinduistischen Gottheiten.

In Trinidad kam es in den letzten Jahren zu einem bedeutsamen Aufschwung der Shangó-Tradition, welche im Jahre 1993 auch staatlich offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde. Heute spricht man vielmehr von der Orisha-Religion (Kment 2005).


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