Difference between revisions of "Das Fremde verstehen/Ordnungsschemata"

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Vorheriges Kapitel: 1.2 Deutungsmuster des Fremderlebens

1.3 Ordnungsschemata des Fremderlebens

verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest

Die Modalitäten des Fremderlebens lassen sich auf Ordnungsschemata zurückführen, worunter soziale Wirklichkeitsdefinitionen zu verstehen sind (z. B. wer Asylant ist). Als Unterscheidungsmuster gliedern sie die Welt, machen sie verständlich und beherrschbar. Repressiv werden die Deutungsmuster dann, wenn sie sich als natürliche Ordnung verstehen und den dahinter liegenden Interessensstandpunkt zu objektivieren und zu verabsolutieren versuchen. Eine "Phänomenologie[1] von Fremdheit" stellt sich daher der Aufgabe, die Deutungsmuster von Fremdheit anhand von elementaren Ordnungsschemata systemspezifischer Innen/Außen- Beziehungen zu untersuchen. Schäffter (1991: 15) unterscheidet vier elementare Ordnungsschemata:

  • Ordnungen transzendenter Ganzheit, in denen das Fremde als tragender Grund- und Resonanzboden von Eigenheit dient.
  • Ordnungen perfekter Vollkommenheit, die das Fremde als Negation von Eigenheit betrachten.
  • Ordnungskonzepte dynamischer Selbstveränderung, die das Fremde als Chance zur Ergänzung und Vervollständigung einschätzen.
  • Konzeptionen komplementärer, sich wechselseitig ergänzender Ordnung, in denen Eigenheit und Fremdheit als Zusammenspiel sich wechselseitig hervorrufender Kontrastierungen begegnen.

Alle Erfahrungsmöglichkeiten stehen zwischen Faszination und Bedrohung.

Inhalt

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.1.1


1.3.1 Fremdheit als Resonanzboden

Foto: Ein Hirte auf der Sani Ebene notiert seine Adresse, Lesotho 2005, Severin Lenart

Das Fremde erscheint nach diesem Ordnungsmuster als abgetrennte Ursprünglichkeit. So werden Zivilisation und Wildnis ebenso wie Innen- und Außenwelt als Spannungsverhältnis auf der Grundlage basaler Gemeinsamkeit aufgefasst. Das Fremde ist danach das Ursprüngliche (bzw. ursprünglich Eigene; vgl. Morgan - Evolutionismus). Die Beziehung zum Fremden charakterisiert keinen Bruch, sondern eine existentielle Teilhabe – ein Gleichklang von Unterschiedlichem. Im Modus von Resonanz für das Innen/Außenverhältnis lässt sich Fremdheit über Affinität, Verständnis, Einfühlung, Solidarität, Liebe, Mitleid, Empathie als prinzipiell verstehbar einordnen. "Sieh, das Fremde ist wie Du!"

Das Fremde ging nach dieser Erfahrungsmöglichkeit aus einer ursprünglichen Ganzheit hervor und liefert nunmehr die Kontrastfläche für die eigene Identität. Faszination kann hier ebenso entstehen wie Bedrohung durch das Gefühl der Identitätsauflösung. Fremdheit[1] wird zur Schwellenerfahrung. Sie wird als Entdeckung und Wiedergewinnung des eigenen Ursprungs gedeutet. In der europäischen Tradition lassen sich als Beispiele Rousseau, Gauguin, aber auch die Beatles anführen. Gerade deutsche Dichter hatten noch um 1900 eine besondere Intuition im Umgang mit dem Fremden, auf der Grundlage einer conditio humana, die auf einer gemeinsamen anthropologischen Basis die grundsätzliche Verstehbarkeit aller menschlichen Ausdrucksformen beschworen. In der Wissenschaft wird diese Sicht von der interkulturellen Hermeneutik repräsentiert, die auf der angenommenen psycho-physischen Einheit der Menschheit ein gemeinsames Vorverständnis als Grundlage von Fremdverstehen auf der tieferen Basis des Allgemein Menschlichen postuliert.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1


1.3.2 Fremdheit als Gegenbild

Eine Ausgabe des Stürmers von 1934,http://research.calvin.edu/german-propaganda-archive und ein Umschlagbild des Comicbuches Rocket to the Moon, Avon Periodicals, NY 1951

Diese Ordnungsstruktur beruht auf innerer Kohärenz und führt zu Ausgrenzung des "Andersartigen", des "Artfremden". Das Fremde erhält den Charakter einer Negation der Eigenheit. ("Wien muss den Wienern Heimat bleiben; Wir machen ernst") – im Sinne gegenseitiger Unvereinbarkeit. Eine genau definierte Grenzlinie soll die Integrität der Eigenheit bewahren. Diese Integrität der eigenen Ordnung wird durch das Fremde bedroht. "Das Fremde ist das Unding, das Nicht- Eigene". Die angesprochene Ordnungsstruktur der Einheit und Integrität hat die Metaphorik von Reinheit, Unvermischtheit, innerer Stärke und Gesundheit, während das Fremdartige die Konnotation von Vermischung, Unreinheit, Gift und Schmutz erhält. Vor allem tritt dieses Ordnungsmuster hervor, wenn die innere Ordnung durch "Überfremdung" gefährdet erscheint. Es rechnet sich in selbst bewusster Eindeutigkeit ausschließlich einer Seite des dualen Verhältnisses zu. Jede Form von Fremderleben ruft konflikthafte Gegensätzlichkeit hervor. Das Fremde erscheint als der natürliche Feind.

Viele Beziehungsverhältnisse können nach diesem Ordnungsmuster gedeutet werden: beispielsweise Geschlechterbeziehungen: statt Empathie wie im ersten Deutungsmuster entsteht danach Geschlechterkampf. Brennende Asylantenheime oder zerfetzte Roma sind andere Beispiele dafür. Da das Fremde als unzulässige Alternative einer reduzierten Eigenheit verstanden wird, kommt es zu einer innerpsychischen interpersonalen oder interkulturellen Auseinandersetzung. Das Fremde kann nicht in seiner Eigenart belassen werden, sondern erhält als Unbewusstes, als Krankheit, Irrationalität oder Aberglauben einen zutiefst bedrohlichen Charakter. Wenn dann Reinheit zur Stagnation der Entwicklung führt, kann das Ausgegrenzte die Bedeutung einer positiven Alternative erhalten. Dann drehen sich die Vorzeichen um: das vereinseitigte Sinnsystem sucht wieder nach Vielfalt, Neuheit etc., verfängt sich aber in den Fesseln einer dualen Ordnungsstruktur. Es führt zu Mythen der Zivilisationskritik und Natürlichkeitssehnsucht mit ihren Idealisierungen vom Edlen Wilden usw. Wenn sich der Edle Wilde auf dem Globus nicht mehr finden lässt bleibt nur noch die Flucht in die Zeit: utopische Zukunftsromane ersetzen die erträumten Reiseberichte. Darin äußern sich neuerlich der Herrschaftscharakter und die Aggressivität einer assimilativen Vereinnahmung des Fremdkulturellen durch diesen Modus des Fremderlebens.

Nach einer Kritik von Duala-M‘bedy in seinem Buch "Xenologie - die Wissenschaft vom Fremden" (1997) benötigt die Europäische Kultur[1] den Mythos des Fremden, um sich selbst in den Griff zu bekommen. Abermals wird spiegelbildlich verkehrt ein vereinseitigtes und reduziertes Bild des Anderen produziert, um es als Kulturregulativ instrumentalisieren zu können. Von einem kulturpessimistischen Standpunkt aus sind die Anderen nicht unvergleichlich, sondern das, was wir nicht sind.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1


1.3.3 Fremdheit als Ergänzung

Foto: Ein Kind bestaunt ein selbstgebautes Auto am Naßfeld, Salzburg, Österreich ca. 1990, Heidemarie Rest-Hinterseer

Durch die steigende Komplexität eines Sinnsystems wird die duale Ordnung bedroht. Eine Person, Gruppe oder Kultur verfügt durch interne Differenzierung über eine Vielzahl unterschiedlicher Umwelten, über ein Spektrum interner Fremdartigkeit. Diese Ordnungsstruktur ist daher nicht eine Form der schützenden Abgrenzung, sondern der Versuch der Regelung von Prozessen der Verinnerlichung des Äußeren[1] und des Entäußern des Inneren. Charakterisiert wird sie durch ein Zusammenspiel von Aneignung von Fremdem mit struktureller Selbstveränderung. Das Fremde erhält für dieses dynamische Ordnungsgefüge die Funktion eines externen Spielraumes mit entwicklungsfördernden Impulsen und Lernanlässen. Nach dem Motto "Werde, wer Du bist!" ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. In einem Wechselspiel zwischen Assimilation (Angleichung) und Akkomodation (Aneignung) erscheint die Fremderfahrung als Selbsterfahrung (Esoterik, Ashrams etc.). Es entsteht Faszination durch die Verbindung von Informationsbedarf, Abwechslungsbedürfnis, Neugierde und Wissenstransfer.

Freilich wird durch das skizzierte expansive Selbstverständnis das Fremderleben auf die genannten Funktionen reduziert und es entsteht in der Folge ein Problem der Verarbeitungskapazität. Das wiederum kann dazu führen, dass die Faszination unvermittelt in eine Bedrohung umschlagen kann. Jede Selbstveränderung hat die Potenz der Bereicherung ebenso wie der System sprengenden Überforderung. Darin zeigt sich die tiefe Ambivalenz des Deutungsmusters (z.B. Kulturschock). Wenn die Verarbeitungskapazität gesprengt und als Selbstentfremdung erlebt wird, muss das expansive Deutungsmuster auf die Sicherheit des zweiten Typus zurückgreifen (z.B. interpersonale Beziehungen).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.1


1.3.4 Fremdheit als Komplementarität

Foto: Eine Köchin als Kamerafrau am Weingut Nelson's Creek bei Paarl, Südafrika 2005, Severin Lenart

Den bisher besprochenen Varianten des Fremderlebens ist gemeinsam, dass sie das Fremde nicht in seiner Besonderheit stehen lassen können. Die Auseinandersetzung ist darin nicht partnerschaftlich-dialogisch, sondern die Andersheit wird als Eben-doch-Eigenes vereinnahmt. Das beruht auf der Funktion des Fremden für die Konstitution der eigenen Identität.

Das vierte Ordnungsmuster nach dem von Schäffter vorgeschlagenen Modell (die Fremdheit als Komplementarität) unterscheidet sich von den bisher skizzierten Strukturen dahingehend, dass es auf einer wechselseitigen, sich gegenseitig hervorrufenden Fremdheit beruht. Es ist eine Ordnungsstruktur, die verschiedene Einzelperspektiven übergreift. Inneres und Äußeres werden nicht als separate Bereiche behandelt, indem sich Eigenes und Fremdes wechselseitig relativieren und bestimmen. Aus der Vielzahl eigenständiger Perspektiven und möglicher Interpretationen der Welt, ergibt sich ein Abgehen von einem unbestreitbaren Fundament im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Bezugssysteme; es entsteht ein Verzicht auf einen übergeordneten Bezugspunkt. Damit wird auch auf die Annahme einer universellen Rationalität und einer universell beobachtbaren empirischen Welt verzichtet. Das Wissen über die Welt bleibt nach diesem Ordnungsmuster unaufhebbar an lokale und soziale Konstitutionsprozesse gebunden. Für die Übersetzung und Verbindung zwischen lokalen Wissensbeständen gibt es keine (angenommene) Garantie mehr.

Die Erkenntnistheorie - so Schäffter (1991: 25) - wird beim komplementären Ordnungsmuster durch die Hermeneutik abgelöst. Die Ordnungsstrukturen sind damit nicht mehr ambivalent, sondern polyvalent; sie beziehen sich auf eine Praxis des Unterscheidens. Die Ordnung lebt vom permanenten Oszillieren (Pendeln) zwischen Positionen der Eigenheit und Fremdheit, die sich in wechselseitigem Kontakt hervorrufen. Es kann sich keine reine Innen- oder Außenwelt mehr etablieren, keine reine Eigen- oder Fremdwelt. Darin äußert sich eine komplementäre Ordnung wechselseitiger Fremdheit. Ab einem gewissen Moment ersetzt die Feststellung von „Nicht- Verstehbarkeit“ den Versuch der Akkomodation. Darin ist keine Verweigerung des Verstehens zu konstatieren, sondern die Anerkennung einer Grenzerfahrung - einer eigenen Grenzlinie der Erfahrungsmöglichkeit. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass externe Berichte nicht völlig aneignungsfähig sind und daher in ihrem Eigenwert zu respektieren. Solche Schwellenerfahrungen werden dann als Zwang zur radikalen Anerkennung von gegenseitiger Differenz aufgefasst - als Sensibilität für gegenseitige Fremdheit.

Die Ordnungsleistung bezieht sich daher auf die Praxis des Fremderlebens. Das Fremde wird als Ergebnis einer Unterscheidungspraxis in wechselseitiger Interaktion erkennbar, aber nicht endgültig bestimmbar. "Es kann nur noch beobachtet werden, wie der Beobachter die anderen Beobachter beim Beobachten des Beobachtens beobachtet" (ebd.: 27). Damit verbindet sich ein neues Verständnis von kulturhistorischer Distanz. Es zielt darauf ab, die Verwurzelung in unserer eigenen Kultur klar zu erkennen und unsere Abhängigkeit von den eigenen gesellschaftlichen Normen, die sich im Denken, Empfinden und Handeln zeigt. "Erst wenn wir bewusste Eurozentriker[1] sind, vermögen wir das Fremde unvoreingenommen (...) wahrzunehmen. (...) Der eigenen Perspektivität bewusst, könnten wir dann das Fremde als Fremdes belassen" (ebd.: 28). Das Fremde macht dann die blinden Flecken unserer eigenen Wahrnehmungsfähigkeit erkennbar. Im Resultat kommt es zu einer Erfahrung einer gegenseitigen Grenze. Dann - so hofft Schäffter - kann es vielleicht zu neuen Formen von Gemeinsamkeit kommen, die tragfähiger sind, als die Einfühlung in die vermeintlich universellen Grundlagen des Humanen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1


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