Ethnographische Feldforschung in Organisationen/Feldforschung

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Vorheriges Kapitel: 6.1 Begriff "Ethnographie"

6.2 Erkenntnisgewinnung durch Feldforschung

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Eine ethnographische Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung führt zu einer spezifischen Art der Erkenntnisgewinnung:

Dadurch, dass man zu den Menschen in ihr alltägliches oder professionelles Umfeld geht und sie dort auch beobachtet, gewinnt man Informationen über ihr praktisches Handeln. Dadurch, dass man mit ihnen spricht, sich die Handlungen und ihr Denken darüber, erklären lässt, Interviews führt, wird auch die Dimension des Sprechens abgedeckt. EthnographInnen suchen somit sowohl zu den Dimensionen des Sprechens als auch jenen des Handelns Zugang. Sprechen und Handeln der Menschen sind üblicherweise nicht deckungsgleich. Ziel einer Feldforschung ist daher, die Unterschiede wahrzunehmen, aufzuzeichnen und zu erklären.

Foto: Beim informellen Gespräch über Arbeit (© Elisabeth Anderl, 2005 (Projekt KASS))


Inhalt

6.2.1 Teilnahme

Es existiert mit anderen Worten eine Reihe sehr wichtiger Phänomene, die möglicherweise nicht durch Befragung oder Auswertung von Dokumenten in Erfahrung zu bringen sind, sondern in ihrer vollen Wirklichkeit beobachtet werden müssen. Nennen wir sie die Imponderabilien des wirklichen Lebens. (...) Andererseits nützt es bei dieser Art von Arbeit dem Ethnographen, manchmal Kamera, Notizbuch und Bleistift zur Seite zu legen und sich selbst am Geschehen zu beteiligen. (Malinowski 1979 [1922]: 42f; 45)

Diese Aufforderung Malinowskis aus 1922 verweist auf etwas sehr Wesentliches: Feldforschung bedeutet Wahrnehmung mit allen Sinnen (vgl. dazu Spittler 2001), es bedeutet, das Leben, den Alltag der Menschen am eigenen Körper erfahren wollen, nicht nur zuhören, was sie z.B. unter Arbeit, Anstrengung, Müdigkeit etc. erzählen, sondern mitmachen, die Rhythmen, Anstrengungen, Erfolge mit dem eigenen Körper nachvollziehen. Teilnahme verlangt daher empathische Nähe, den Aufbau von Vertrauen und von Beziehungen, um die Vorstellungen und Konzepte der Menschen, mit denen man sich beschäftigt, auch verstehen zu können. In diesem Zusammenhang wird häufig von einer "zweiten Sozialisation" und von "rites de passage" gesprochen. Übergangsrituale, die auch eine Aufnahme in eine andere Gesellschaft symbolisieren.

Foto: Die Ethnologin Irmgard Hitthaler (rechts) bei der Teilnahme (© Matthias Hartl, 2005 (Projekt KASS))

Feldforschung in Organisationen bezieht sich meistens auf ein Arbeitssetting in einer Welt, die eine Trennung von Arbeit und Freizeit kennt. Die Teilnahme beschränkt sich daher oft auf einen berufsbezogenen Ausschnitt in einer privaten Firma oder öffentlichen Organisation und folgt z.B. nicht den Managern oder Arbeiterinnen auch in ihre Wochenendbeschäftigungen.

In komplexen Gesellschaften ist es fast immer unmöglich, alle Aspekte des Lebens einer Gruppe von Menschen mit teilnehmender Beobachtung zu umfassen, weil die Individuen mehrere Gruppenzugehörigkeiten haben und sich in verschiedenen sozialen Räumen bewegen. Die Ergebnisse bleiben daher immer nur partikulär. Innerhalb des gewählten Rahmens können aber wichtige Aufschlüsse gewonnen werden, da nur über Teilnahme z. B. im Sinne von Mitarbeiten die Erfahrung von spezifischen Zeit- und Raumorganisationen, die von Macht und Hierarchie durchdrungen sind, möglich ist.

Es gibt auch Beispiele für teilnehmende Beobachtung in "totalen Organisationen". Das sind solche, die alle Lebensbereiche einschließen, wie Gefängnisse (z.B. Rhodes 2001; 2004), Klöster (z.B. Hüwelmeier 2004) oder die geschlossene Psychiatrie.

Ziel der Teilnahme ist jedenfalls, die Logik des Systems, Zusammenhänge, Vorstellungen, etc. von innen heraus zu verstehen. Dazu gehört auch die Darstellung des "native’s point of view", das heißt, wie die Beforschten selbst ihre Situation oder bestimmte Ereignisse sehen und beurteilen.


6.2.2 Beobachtung

Wenn Teilnahme als Eintauchen, als Herstellen von Nähe bezeichnet werden kann, so ist Beobachtung das Gegenteil davon. Beobachtung heißt zurücktreten, heißt kritisch hinterfragen, was man tut. Immer wieder Distanz herzustellen ist wichtig, sonst "geht man im Feld auf". In der Kultur- und Sozialanthropologie lautet der entsprechende Fachterminus „going native“ – aus einer Person, die eine Gruppe beforscht, wird ein Teil dieser Gruppe. Die Position als WissenschafterIn wird dabei aufgegeben. Persönlich muss das keineswegs von Nachteil sein. Es gibt viele Beispiele von EthnologInnen, die ins Feld einheiraten und dort bleiben. Im Fall der Organisations- und Betriebsanthropologie ist es gar nicht selten, dass AnthropologInnen eine Karriere in der Firma oder dem Berufsfeld machen, das sie im Rahmen eines Forschungsvorhabens als teilnehmende BeobachterIn kennen gelernt haben. Aber um WissenschafterIn zu bleiben, muss man auch wieder auf Distanz gehen können. Das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen "Insider" werden und "Outsider" bleiben, soll sicherstellen "that one is close enough to see what is going on, but not so close as to miss the wood for the trees (Bate 1997: 1151). Die Wechselspielherstellung ist vielfältig als Quelle ethnographischer Erkenntnis beschrieben worden (z.B. Hauser-Schäublin 2003; Diel-Khalil 1999).

Beobachtung kann unsystematisch oder systematisch erfolgen (vgl. Beer 2003 c). Unsystematische Beobachtung liegt z.B. dann vor, wenn in einer Feldforschung abends in einem Feldtagebuch die Erinnerungen an die Ereignisse des Tages festgehalten werden. Systematische Beobachtung bezieht sich auf ein gezieltes und geplantes Beobachtungssetting mit genauer Festlegung dessen, wer und was beobachtet wird. Das Ziel ist dabei Verhalten quantifizierbar und messbar zu machen (Beer 2003c: 122; vgl. auch Bernard 2002: 390ff).

In der Industrieanthropologie und der Business Anthropology werden besonders häufig strukturierte und stark systematisierte Beobachtungstechniken verwendet (interactional analysis).

Beispiele, die in dieser e-learning Unterlage genauer ausgeführt werden, sind Beispiel dafür sind die Manchester Shop Floor Studies, ein anderes die Hawthorne Experiments.



6.2.2.1 Beispiel Hawthorne

Abbildung: Raumplan mit Tisch des Beobachters aus: Roethlisberger/Dickson (1947/1939): 403

Im Gegensatz zu den Manchester Shop Floor Studies war Beobachtung in Hawthorne und in vielen weiteren Ethnographien der "interaction analysis" eine sehr distanzierte Form der Beobachtung. Im "bank wiring observation room" saß der Beobachter an einem eigenen Tisch hinter den Werkbänken der Arbeiter und war den ganzen Tag mit minutiösen Aufzeichnungen von allem, was er hörte und sah, beschäftigt. Gegenüber den Arbeitern versuchte er so unauffällig wie möglich zu sein und sich aus deren "normalen" Aktivitäten so weit es irgendwie ging, heraus zu halten (Wright 1994: 11).


6.2.3 Eingrenzung des Feldes

Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung erfordert, dass die Gruppe und die Orte, die man beforscht, hinreichend begrenzt sind. Niemand kann Feldforschung z.B. in der Ukraine machen und die UkrainerInnen teilnehmend beobachten oder bei IBM und die IBM- MitarbeiterInnen weltweit ethnographisch beschreiben. Die Einheiten und die Orte, die man beforscht, müssen also überschaubar und zugänglich sein. Die Eingrenzung des Feldes - so nennt man die Entscheidung für eine kleine, beforschbare Einheit - hat bewusst zu erfolgen. Es muss immer klar bleiben, dass die Eingrenzung künstlich ist, dass ein Dorf, eine Insel, ein Stamm, eine Firma nicht abgeschlossen sind und jedenfalls über Außenbeziehungen verfügen. Diese Beziehungen nach außen (z.B. ökonomische, verwandtschaftliche, transkulturelle, transnationale etc.) sind einzubeziehen. Trotzdem definiert man ein Feld, z.B. eine bestimmte Personengruppe oder Organisation mit dem Bewusstsein, dass dieses Feld nach allen möglichen Richtungen offen ist und dass diese Menschen z.B. in der Organisation nur einen begrenzten Zeitraum verbringen und auch noch ein anderes Leben daneben haben.

Vered Amit (2000) fordert daher, das Feld bewusst zu konstruieren. Wie das zu erfolgen hat, lässt sich nicht generell sagen. Jedes konkrete Forschungsvorhaben muss sich auf Basis der Fragestellung und der Rahmenbedingungen gezielt damit auseinandersetzen.


6.2.4 Vergleich

Viele der frühen Ethnographien, denen es primär um die Beschreibung "fremder" Völker ging, waren von impliziten Vergleichen bestimmt. Ohne es klar auszusprechen, werden die Unterschiede zwischen den "Anderen" und dem "Wir" herausgearbeitet. Implizite Vergleiche haben meist eine Folge: Die Unterschiede werden viel stärker betont als die Ähnlichkeiten. Organisationsanthropologische Feldforschung ist fast immer Feldforschung in der eigenen Gesellschaft. Hier führt das "Allzubekannte", auf das EthnographInnen auf Grund von Gemeinsamkeiten und Überschneidungen treffen, zu häufigen Problemen:

  • Auf Basis von einzelnen Anknüpfungspunkten werden eigene Vorannahmen vorschnell bestätigt.
  • Unter der Annahme einer gemeinsamen Rationalität werden die Kategorien und Erklärungsmodelle der Beforschten kritiklos übernommen.
Abbildung: Organigramme von Universitäten im Vergleich
Quellen: Universität Wien und Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Von Ouroussoff (2001) hat die Managementstruktur einer Firma untersucht und auf Basis ihrer Feldforschung ein Modell erstellt. Zehn Jahre später beforschte sie mit einer ähnlichen Fragestellung eine andere Firma, ebenfalls in Großbritannien. Erst durch die Forschung in der zweiten Firma wurde ihr bewusst, dass die Schlüsse aus der Analyse des ersten Managements falsch waren. Ohne Vergleichsmöglichkeit hatte sie die "indigenen Konzepte" des ersten Managements vorschnell akzeptiert und zu ihren eigenen wissenschaftlichen Ergebnissen gemacht (von Ouroussoff 2001: 50). Der Prozess der Feldforschung selbst und die Auswertung der Daten schließen immer Vorannahmen und Vergleiche mit ein. Vergleiche sind eine wesentliche Quelle anthropologischer Erkenntnis. Aber man muss wissen, dass man vergleicht und was womit. Wird Feldforschung im eigenen Land, "at home", betrieben, dann kann implizites Vergleichen noch viel unkontrollierter werden, weil als Raster nicht "wir - sie" sondern "rational - irrational", "normal - anormal" angelegt wird.

Wichtig ist immer kritisch zu hinterfragen, ob und inwiefern man seine eigenen Konzepte in die anderen hineinprojiziert.

6.2.5 Offenheit des Forschungsprozesses

Die Forderung nach Offenheit des Forschungsprozesses wird generell mit qualitativen Methoden verknüpft (Mayring 2002). Für die ethnographische Feldforschung ist Offenheit ein definierendes Kriterium, das aus der Beschäftigung mit fremden Gesellschaften kommt.

Diese Offenheit muss ständig neu hergestellt werden, da die Tendenz groß ist - wenn man schon nicht mit vorgefassten Hypothesen ins Feld geht - im Feld rasch welche zu bilden, und sich dann ausschließlich darauf zu konzentrieren. Offenheit bedeutet zu akzeptieren, dass in jeder Phase einer Feldforschung Relevantes auftauchen kann, das die bereits vorgefassten Hypothesen und Schlüsse wieder über den Haufen wirft.


6.2.6 Methodenvielfalt

Feldforschung schließt immer Methodenvielfalt mit ein. Üblicherweise werden verschiedene Beobachtungstechniken mit mehreren Interviewverfahren kombiniert, manchmal durchaus auch quantifizierbare Daten erhoben. Welche Methoden konkret verwendet und wie sie kombiniert werden, hängt nicht nur von der Fragestellung ab, sondern auch von den Spezifika des Feldes, das man beforscht. Der sinnvolle Einsatz jeder Erhebungstechnik setzt die Akzeptanz durch alle Beteiligten voraus.

Foto: Sharmin Farzana und Michael Santos beim Abgleich von Feldforschungsdaten (© Gertraud Seiser, 2005, (Projekt KASS))


6.2.7 Selbstreflexion

Reflexion und Selbstreflexion sind in einem offenen Forschungsprozess mit teilnehmender Beobachtung von enormer Bedeutung. Fragen dabei sind:

  • Wie wirkt sich meine Befindlichkeit auf die Wahrnehmung der anderen aus?
  • Inwieweit beeinflusst die Interaktionssituation die Forschung?
  • Wie komme ich mit Zurückweisungen oder mit Vereinnahmungen zurecht?
  • Wie verändert sich mein Verhalten und das der Beforschten im Forschungsprozess?
  • Wie präsentiere ich mich meinen Forschungssubjekten - und wenn das nur freundlich, lieb und hilfsbereit ist - wie lange halte ich das durch, und kommt es überhaupt an?

Selbstverständlich ist jede Feldforschung eine nicht wiederholbare und unmittelbar vergleichbare Erfahrung. Trotzdem wurden aus publizierten Erfahrungsberichten typische Phasen der emotionalen Involviertheit herausgearbeitet, die verallgemeinerbar sind (z.B. Bernard 2002: 356ff; Agar 1996: 90ff). Der Beginn einer Feldforschung ist meistens von Enthusiasmus, aber auch Unsicherheit geprägt. Darauf folgt oft ein emotionaler Absturz, Einsamkeit, Langeweile, Unverständnis, Frustration. Um dem zu entkommen, wird meist ein Urlaub von der Feldforschung empfohlen, der sinnvollerweise schon vorher fix eingeplant wird. Der weitere Verlauf der Feldforschung hängt entscheidend davon ab, wie mit dieser Krise umgegangen werden kann. Ziel sollte sein, einen professionellen und von der Erhebungsarbeit bestimmten Umgang mit sich und den anderen zu finden. Insgesamt ist es sehr hilfreich, sich bereits im Vorfeld auch mit der persönlichen, emotionalen Seite der Feldforschung auseinanderzusetzen.

Michael Agar, der sowohl eine klassische Feldforschung auf einem anderen Kontinent als auch Feldforschung in der eigenen Stadt durchgeführt hat, weist darauf hin, dass Feldforschung zuhause viel stressiger sein kann, als in einem anderen Land. Es ist dann nicht ein langer, langsamer und kontinuierlicher Prozess, an dem man sich sozial adaptiert, sondern es handelt sich um ständige, rasche und abrupte Rollenwechsel, die Stress verursachen (Agar 1996: 102f).

Ziel der Forderung nach Selbstreflexion und Reflexion der Interaktionssituationen ist nicht die große Nabelschau in publizierter Form, sondern das Vermeiden von massiven Verzerrungen der Daten.


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