Difference between revisions of "Sozialwissenschaftliche Terminologie - Exempla/Handeln und Norm"

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Vorheriges Kapitel: 3 Sozialwissenschaftliche Terminologie - Exempla

3.1 Handeln und Norm

Verfasst von Friedhelm Kröll und Nicole Pesendorfer

Foto: Zuschauereffekt. Iwan Beijes, [www.sxc.hu](http://www.sxc.hu), 2007

Von Aristoteles über Hegel bis zu Max Weber[1] und Hannah Arendt[2] ist das menschliche Lebewesen anthropologisch-philosophisch in den Mittelpunkt der Wissenschaften vom Sozialen und Politischen gestellt worden. Dort wird es in mehrfacher Hinsicht grundbestimmt:

  • Der Mensch ist ein handelndes Wesen.
  • Handeln wird als motiviertes Verhalten interpretiert (Motiv: Beweggrund)
  • Das Modell des (motivierten) Handelns ist nach dem Muster des teleologischen Handelns (Telos: Ziel, Zweck) gebildet. Teleologisches Handeln meint: der Aktor verwirklicht seinen Zweck, das antizipierte Ziel eines erwünschten Zustands, indem er in einer jeweils gegebenen Situation erfolgsversprechende Mittel auswählt und in geeigneter Art und Weise anwendet.
  • Das teleologische Handlungsmodell gilt unter der Voraussetzung, dass das menschliche Lebewesen zurechnungsfähig, d.h. zum handlungsfähigen Subjekt sozialisiert ist.
  • Der Mensch ist ein zoon politikon, ein politisches Lebewesen, das durch die Teilhabe an der Polis, der öffentlichen Sozialität, in den Status des Menschen erhoben ist.

Bei der Beschäftigung mit der menschlichen Natur lassen sich zwei Orientierungen ausmachen:

  • eine eher verhaltenstheoretische Fundierung[3] der Sozialwissenschaften
  • eine eher handlungstheoretische Fundierung[4] der Sozialwissenschaften.


Verweise:

[1] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm
[2] Siehe Kapitel 4.2
[3] Siehe Kapitel 3.1.1
[4] Siehe Kapitel 3.1.2

Inhalt

3.1.1 Verhalten - Zur verhaltenstheoretischen Konzeptualisierung der Sozialwissenschaften

  • Für verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften erscheint der Mensch als tierverwandtes animal. Dabei wird der Modus des Verhaltens primär als Reaktion verstanden. Es dominiert eine deterministische Sicht des Verhaltens über eine subjektzentrierte Sicht des Handelns.
  • Verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften sind am objektivistischen Wissenschaftsideal[1] exakter Naturwissenschaften[2] experimentellen Zuschnitts orientiert.
  • Verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften sind bemüht, immer-und-überall geltende Invarianten des menschlichen Verhaltens herauszustellen.
  • Verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften tendieren dazu, von Grundannahmen einer von Geschichte und sozialem Raum unabhängigen menschlichen Natur auszugehen.
  • Die Frage nach der Beschaffenheit der menschlichen Natur wird aus den Sozialwissenschaften ausgelagert. Die Bestimmung der Parameter der menschlichen Natur wird aus anderen Wissenschaftsdisziplinen importiert (etwa psychologischen Lerntheorien oder Neuro-Wissenschaften).
  • Verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften tendieren dazu, den Subjektcharakter des menschlichen Lebewesens zugunsten naturdeterministischer Anschauungen gering anzusetzen.
  • Verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften zielen auf allgemeine, in der menschlichen Natur verankerte Gesetzmäßigkeiten.
  • Verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften tendieren zu einem "methodologischen Individualismus". Die Basis- und Beobachungseinheit bildet das individuelle Verhalten, woraus schließlich Theorien sozialer Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens abgeleitet werden.
  • Dem "methodologischen Individualismus" ist eine Tendenz zum Reduktionismus eigen: Reduktion des menschlichen Verhaltensrepertoires auf eine naturale Bestimmungsbasis; zum anderen Reduktion auf das individuelle Verhalten als zentrale Einheit.
  • Verhaltenstheoretischer Sozialwissenschaften weisen auf deterministische Konzeptualisierungen, was nicht zuletzt sinnfällig wird in der Bevorzugung des Begriffs Verhalten gegenüber Handeln.
  • Dem entspricht die merkliche Vorliebe für experimentell gewonnene Beobachtungsdaten (nach naturwissenschaftlichem Leit- und Vorbild[3]).
  • Verhaltenstheoretische Sozialwissenschaften fügen sich in lineare Evolutionstheorien ein. In ihren Konzeptionen des Sozialen wird weniger die Eigenart des Sozialen[4] akzentuiert als das natural-evolutionäre Kontinuum zwischen tierischem und menschlichen Verhalten zugrundegelegt.


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 2
[3] Siehe Kapitel 2.3.1
[4] Siehe Kapitel 2.3


3.1.2 Handeln - Philosophische Anthropologie als Fundierung handlungstheoretischer Sozialwissenschaften

Handlungstheoretische Denkweisen rekurrieren auf eine philosophisch untermauerte Anthropologie, wobei der Akzent hier weniger auf der biologischen Anthropologie als auf der Sozial- und Kulturanthropologie liegt. Um ein Grundverständnis für die handlungstheoretische Fundierung der Sozialwissenschaften und hierüber ein Verständnis für die Eigenart des menschlichen Handelns bzw. für die Eigenart des Sozialen[1] zu gewinnen, soll auf wesentliche Denkansätze zurückgegriffen werden, wie sie im Werk von Arnold Gehlen[2] und Helmuth Plessner[3] niedergelegt sind. (Aus wissenschaftspolitischen Gründen heraus wird Gehlens Werk eher verschämt zitiert; wohingegen das Werk Plessners heute eine Art Renaissance erfährt.)

Differenz zwischen Gehlen und Plessner:

  • In Gehlens Anthropologie ist der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses auf die Seite der Norm (bzw. Institution[4]) - der sozialen Normierung des menschlich- zwischenmenschlichen Verhaltens - gelegt, ohne den Aspekt der Spontanität menschlichen Handelns zu vernachlässigen: domestikatorischer Akzent.
  • In Plessners Anthropologie liegt der Schwerpunkt stärker auf der Seite des Handelns, des menschlichen Handlungspotenzials bzw. der menschlichen Handlungsmacht: emanzipatorischer Grundimpuls.

Generalthesen der Philosophischen Anthropologie:

Wo beim Tier Verhalten und Umweltverhältnis wesentlich vom Instinktprogramm reguliert werden, tritt beim Menschen die soziale Norm in Kraft. Das Tier ist in seine artspezifische Umwelt eingepasst. Der Mensch ist gezwungen und in der Lage, seine Welt(en) zu erzeugen und umzuschaffen. Der philosophisch-anthropologisch unterbaute sozialwissenschaftliche Welt-Begriff ist außerbiologischer Natur. Durch tätige Konstitution seiner Welt(en), im Zuge kulturspezifisch-variationsreicher sozialer Normierung seiner Verhaltensweisen und Handlungskreise, seiner Beziehungen und Verkehrsabläufe, erzeugt der Mensch seine innere Natur. Die Zweite Natur (Kultur)[5] ist durch eine Doppelaspektivität charakterisiert: die Verschränkung von äußerer Sozial- und Kulturwelt einerseits und Herausbildung von Innenwelt andererseits.

Zentrale Gesichtspunkte:

  • Der Mensch erscheint als biologisches Sonderproblem, das bereits im Ansatz den Einschluss einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive nahelegt.
  • Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier (vgl. Nietzsche). Er ist zum Handeln genötigt und muss den sinnhaften Aufbau seiner Welt leisten.
  • Der Mensch kann - im Gegenlicht der Instinktdeterminiertheit und Spezialisiertheit des Tieres - als Mängelwesen beschrieben werden. Allerdings darf der Mangel an Instinktsicherheit und artspezifischer Spezialisierung nicht gleich gesetzt werden mit Schwäche bzw. Evolutionsnachteilen.
  • Der Mensch ist ein Möglichkeitswesen. Die vitale Einschränkung aufgrund mangelnder Instinktsicherheit und fehlender Spezialisiertheit erweist sich als Vorteil: sein Feld ist die Welt und nicht eine artspezifische Umwelt.
  • Im Unterschied zur tierischen Festgelegtheit auf eine spezifische Umwelt ist der Mensch durch Weltoffenheit charakterisiert und verfügt über die Fähigkeit, seine gegebenen Bedingungen zu überschreiten.
  • Instinktreduktion, Unspezialisiertheit und Weltoffenheit zwingen den Menschen zur permanenten Erzeugung seiner Lebensbedingungen und Lebensmöglichkeiten.
  • Der Mensch lebt nicht nur, er muss sein Leben führen: Lebensführung im Medium sozialer Praxis (Handeln) und sozialer Ordnung (Norm[6]) sowie Interaktion und Kommunikation[7] ermöglichender und garantierender Symbolwelten.
  • Führung des Lebens beinhaltet Aufbau und Ausbau beweglicher Handlungsfähigkeit entsprechend dem offenen Welthorizont, (reflexive) Bearbeitung und Organisation seiner Triebpotentiale zu Handlungsantrieben (Motive), sowie lebenslanges Lernen.
  • Der Mensch erscheint als ein Wesen, das in überaus langen Fristen und verwickelten Prozessen Sozialisation und Ich-Bildung durchlaufen muss, um seine kulturelle und soziale Handlungsfähigkeit zu erwerben.
  • Der Mensch ist ein Grenzen setzendes und Grenzen überschreitendes Wesen: er verfügt über das Vermögen zur Transzendenz. Als gesetzte Grenzen sind diese Grenzen Schwellen.
  • Der Mensch ist ein riskantes Wesen. Auch der Mensch ist in der objektiven Welt - der Natur - Gefahren und Risiken ausgesetzt, mitunter selbstprodzierten Naturkatastrophen.
  • Den Menschen zeichnet die Fähigkeit zur Imagination aus, die den Schlüssel für Planung im Zusammenhang von Phantasie und Probehandeln bilden.
  • Der Mensch ist ein selbstthematisches Wesen. In Welt-, Menschen- und Selbstbildern ortet und ordnet er seine Stellung im Kosmos.
  • Der Mensch ist ein "die Tierheit hinter sich lassendes Tier" ohne je die Naturbasis, das Animalische verlassen zu können. Der Mensch lässt seine Tierheit hinter und unter sich, indem er gezwungen ist, sein Leben zu führen, sich eine Zweite Natur[8] zu schaffen.
  • Trotz funktionierender Naturbeherrschung bleiben der Mensch und seine Welt an die Natur zurückgebunden. Weltoffenheit kann dem Menschen daher nicht ohne jede Einschränkung zugesprochen werden.


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.3

[2] Siehe Kapitel 4.1
[3] Siehe Kapitel 4.2
[4] Siehe Kapitel 3.2.1
[5] Siehe Kapitel 3.2.2
[6] Siehe Kapitel 3.1.3
[7] Siehe Kapitel 1.7
[8] Siehe Kapitel 3.2.2


3.1.3 Norm

Charakteristika menschlicher Normregulierung:

  • Soziale Normen sind auf Dauer gestellt und können von Einzelnen nicht beliebig außer Kraft gesetzt werden.
  • Die soziale Normierung des menschlichen Lebens weist eine uferlose Variabilität auf.
  • Soziale Normen regeln Interaktionen in Gestalt von Verpflichtungen und Berechtigungen.
  • Soziale Normen sind übertretbar und suspendierbar (Normen können zeitweilig außer Kraft gesetzt werden: z.B. politischer Ausnahmezustand; bestehende Normen können auf Dauer, für immer außer Geltung gesetzt werden: Normwandel[1], Entstehung und Bildung neuer Normen).
  • Soziale Normen sind durch Sanktionen (Diskriminierung, Missachtung u.ä.) gestützt. Die Geltungskraft sozialer Normen kann an dem Grad faktischer Sanktionen abgelesen werden.
  • Einen Sonderfall der Abweichung oder Devianz stellt der Skandal dar. Der Skandal und die Folgen können als Indikator für die Geltungskraft einer Norm interpretiert werden.
  • Einen Spezialfall sozialer Normen stellen Rechtsnormen dar.
  • Soziale Normen können in Spannung zueinander stehen. Normenkonflikte treten dort auf, wo konkurrierende Ansprüche an das soziale Verhalten und Handeln gestellt werden (z.B. religiöse Asylpflicht in Konflikt mit staatlichem Asylrecht).
  • Im Zuge der sozialen Weitergabe (Sozialisation) werden soziale Normen habitualisiert und internalisiert.
  • Soziale Ordnung ist nur möglich, wenn auf die intersubjektive Geltung sozialer Normen vertraut werden kann (Erwartungs- und Ereignisfahrplan).
  • Paniksituationen oder Extremereignisse stellen Grenzfälle der Geltung normativ geregelter Interaktionen dar: normative Regelung von Ausnahmesituationen ("Katastrophenfall").
  • Soziale Normen regulieren das zwischenmenschliche Verhalten und entlasten es von chronischen Augenblicksimprovisationen (vgl. dazu auch den Terminus Institution[2]).
  • Soziale Normen sorgen für faktische Typisierungen von Verpflichtungen bzw. Berechtigungen.
  • Jede Gesellschaft kennt unterschiedliche Geltungsbereiche für Normen: Allgemeine Normen (die für alle Mitglieder gelten) und Partikulare Normen (die nur für Teilkategorien von Personen gelten).
  • Soziale Normen begrenzen die individuelle Bewegungsfreiheit und ermöglichen zugleich den Handlungsspielraum der Menschen.
  • Soziale Normgefüge zeugen von der Wirklichkeit im Sinne von Wirksamkeit von Gesellschaft.
  • Der Grad der Verbindlichkeit sozialer Normierung kann beschrieben werden als Abstufung zwischen Kann-, Soll- und Muss-Vorschriften.
  • Der Grad der Verbindlichkeit sozialer Normierung kann weiters beschrieben werden als Modalität positiver bzw. negatorischer Normregulierung: Gebot und Verbot.
  • Interaktionen steuernde und regelnde soziale Normen sind zurückgebunden an Werte und Interessen.


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.5.2
[2] Siehe Kapitel 3.2.1


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