Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw Kultur- und Sozialanthropologie/KSA Felder

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Vorheriges Kapitel: 1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung

1.3 Kultur- und sozialanthropologische Forschungsfelder

verfasst von Hermann Mückler
Der vordringende Mensch, H. Mückler

Es geht um Globalisierung von Kulturen bzw. des Kulturellen. Unser Fach, welches sich grundsätzlich mit lebensweltlichen Prozessen befasst, die direkt oder indirekt auf die prägenden demographischen, politischen und technologischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zurückgehen, hat hier zu analysieren und Antworten zu geben. Es beobachtet beispielsweise Veränderungen der Sozialstrukturen in bäuerlichen Gesellschaften im Gefolge der grünen Revolution in der Landwirtschaft sowie der Abwanderung in die Städte[1], beschäftigt sich mit den politischen, sozialen und kulturellen Langzeitwirkungen des Kolonialismus in Form von verschiedenen Spielarten von Post- und Neokolonialismus, mit regionalen und transnationalen Migrationsströmen[2] sowie mit der zunehmenden Dominanz urbaner Lebensformen und der dort anzutreffenden Auffächerung in neue soziokulturelle Aggregatszustände. Neue Formen der Ethnizität, der Religiosität, der familiären Solidarität, der sozialen Organisation des Zugangs zu Arbeit, zu Wohnraum usw. stehen in engem Zusammenhang mit diesen gesellschaftlichen Prozessen, in denen auch der Faktor Demographie eine entscheidende Rolle spielt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5
[2] Siehe Kapitel 2.4

Inhalt

1.3.1 Mega-Cities und rurale Entvölkerung

Die kulturelle Distanz zwischen ruralen und urbanen Gebieten ist in der Gegenwart größer geworden. Insbesondere sogenannte Mega-Cities sind Orte der kulturellen Globalisierung geworden, während ländliche Regionen häufig kulturell verarmen (vgl. Feldbauer et.al. 1997). Da die Arbeitsmigration[1] vor allem von jungen Männern und Frauen unternommen wird, fehlt es den ländlichen Gebieten weltweit an unternehmerischer und kultureller Dynamik. So sind in der Westukraine, in Moldawien, aber auch in Teilen Rumäniens zahlreiche Dörfer buchstäblich nur mehr von Kindern und alten Leuten bewohnt, weil der überwiegende Teil der männlichen und weiblichen Dorfangehörigen mittleren Alters in Süd- und Westeuropa arbeitet und nur sporadisch heimkehrt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5.1


1.3.2 Subkulturforschung

Städte sind heute durch ihre vielfältigen Spielarten der Selbstorganisation der einzelnen ethnischen und sozialen Gruppen, ein Spielfeld für die Untersuchung zahlreicher Gruppen geworden, die Subkulturen gebildet haben. Der Ethnologe und Stadtanthropologe Ulf Hannerz[1], der sich selbst mit den Afroamerikanern im Ghetto von Washington auseinandergesetzt hat, hatte in seinem Buch Exploring the City (Hannerz 1980) festgestellt, dass sich die Urban-Anthropologie zwar seit ihrer Entstehung intensiv mit Subkulturen befaßte, dass aber die kulturelle Komplexität, dessen Ausdruck Subkulturen waren, dabei selbst nicht ernsthaft analysiert wurde. Subkulturen wurden wie unvollständige, abhängige Varianten von traditionellen Kulturen verstanden, denen bei aller zugestandenen Veränderung eine vermeintliche Homogenität erhalten blieb.

Hannerz postulierte, dass die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie für ihre Forschungen in Städten einen neuen Kulturbegriff[2] zu definieren habe. Die Konzepte, die er für die Analyse der kulturellen Komplexität in Großstädten entwickelte, übertrug er sukzessive auf das Studium globaler kultureller Prozesse. Hannerz’ Kulturbegriff führte das Problem der Repräsentativität ein und will verstehen, wie Gesellschaften kulturelle Diversität organisieren. Hannerz tritt hier für einen sozialanthropologischen Kulturbegriff ein, der sich deutlich von der kulturanthropologischen Sicht unterscheidet, wonach Kultur dasjenige sei, das die Mitglieder einer Gesellschaft teilen, unabhängig davon, welche soziale Positionen diese einnehmen.

Verweise:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Ulf_Hannerz
[2] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen PoWi


1.3.3 Postkoloniale Studien

Ein anderer Ethnologe, der sich schwerpunktmäßig mit Postkolonialismus auseinandersetzte, der aus Bombay stammende Arjun Appadurai[1], kam zu ähnlichen Konzeptualisierungen von Kultur im Kontext der Globalisierung. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die europäische Kolonialherrschaft die ehemaligen kolonialen Gesellschaften und ihre Traditionen nachhaltig verändert haben, folgerten Vertreter der Post Colonial Studies, dass Gesellschaften und Kulturen heute nicht mehr unabhängig von globalen Prozessen[2] verstanden werden können.

Appadurai gehört zu jener ersten Generation postkolonialer Eliten, die in den westlichen Metropolen Sozialwissenschaften studiert hatten und er zählt - wie auch Edward Said[3]], Stuart Hall[4] und Homi K. Bhabha[5] - zu den Begründern eines Diskurses, der mit seiner Kritik an westlichen Universalismusansprüchen die Sozial- und Kulturwissenschaften in eine neue Richtung einer dezidiert postkolonialen und globalen Perspektive bewegt hat (Appadurai 1986).

Inhaltlich wendet sich Appadurai gegen die als hegemonial und provinziell empfundene Modernisierungstheorie, die nicht mehr in der Lage sei, die heutigen Prozesse der sozialen und kulturellen Globalisierung zu erfassen. Die Globalisierung habe, so sein Vorwurf, die Modernisierungsprozesse allzu lange innerhalb des Rahmens von Nationalstaaten[6] untersucht, wo sie lokalisiert blieben und wo ihre verschiedenen Dimensionen (Wirtschaft, Technik, Medien, Kultur) aufeinander bezogen blieben. Heute haben sich die verschiedenen Dimensionen der Modernisierung entnationalisiert und verallgemeinert, globalisiert, und bringen dabei Entwicklungen hervor, die neu und unvorhergesehen sind (vgl. Appadurai 1998). Appadurai spricht hier von einer relativen Autonomie, Eigenständigkeit und Eigenlogik einer "glokalen" Kultur-Ökonomie.

Verweise:
[1] http://www.arjunappadurai.org/
[2] Siehe Kapitel 1.2
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Said
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Stuart_Hall_%28Soziologe%29
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Homi_K._Bhabha
[6] Siehe Kapitel 3


1.3.4 Eine "Neue Unübersichtlichkeit"

Mit der Globalisierung sind viele Gewissheiten, feste Orientierungspunkte und gewohnte Auf- und Zuteilungen hinfällig geworden. Jürgen Habermas[1] hat diesbezüglich von der "Neuen Unübersichtlichkeit"[2] gesprochen, und Zygmunt Bauman[3] vom "Ende der Eindeutigkeit". Roland Robertson, der den Begriff der "Glokalisierung" in Zusammenhang mit der Verknüpfung von Globalem und Lokalem erfunden hat (vgl. Robertson 1992) meinte damit in etwa, dass dies zwei Seiten einer Medaille insofern seien, als das Lokale als Aspekt des Globalen verstanden werden muss und Globalisierung das Aufeinandertreffen lokaler Kulturen bedeutet, die dann inhaltlich neu bestimmt werden müssen.

Mit dieser neuen Unordnung sind aber bei vielen auch Ängste entstanden, begründete und unbegründete Bedrohungsszenarien haben sich entwickeln und darauf aufbauend konfrontative Erklärungsansätze Fuß fassen können. Samuel Huntingtons[4] Bestseller Clash of Civilizations ist dafür das beste Beispiel, dass es zu einer Renaissance des Realismus, der Geopolitik, der Geokultur und der Geoökonomie, also des Insistierens auf Nation, Territorium und Ethnizität gekommen ist. Die bei Huntington (1996) formulierten scheinbaren Wechselwirkungen der von ihm postulierten Kulturräume scheinen unausweichlich einer Konfrontation zuzusteuern. Kritisches Hinterfragen und die Ablehnung eindimensionaler Erklärungsansätze sind schon deshalb vonnöten, um der publizistischen Breitenwirkung solcher Werke entgegen zu wirken und damit eine mögliche Dynamik im Sinne einer "self-fullfilling prophecy" zu verhindern.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Habermas
[2] Siehe Kapitel 3.1 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (KSA)
[3] Siehe Kapitel 1.2.1
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Phillips_Huntington


1.3.5 "Creolization Paradigm"

Aus der Dialektik der Globalisierung entwickeln sich heute hybride Formen der Konsumkultur, die mit dem Begriff "creolization paradigm" zusammen gefasst werden können. Das Wort "Kreolisierung", ursprünglich aus der Sprachwissenschaft kommend, bezeichnet dabei den Prozess, bei dem es zu einer Rekontextualisierung von Gütern kommt, die aus anderen kulturellen Kontexten stammen. Der Gegenbegriff wäre das "homogenization paradigm", also die globale Ausbreitung einheitlicher Konsummuster und gleichzeitig auftretender lokaler Adaptionsleistungen in verschiedenen Gesellschaften, die sich jedoch, wie bereits eben angemerkt, bisher nicht als generalisierender Trend beobachten lassen. Mit Formen von Aneignungen und Inkorporationen hat sich die Ethnologie intensiv auseinandergesetzt und dabei sowohl die Gesamtheit der Phänomene betrachtet, als auch Teilaspekte, beispielsweise die unterschiedlichen geschlechterspezifischen Betroffenheitsszenarien bestimmter Entwicklungen in der Konsumgüter- und Arbeitswelt sowie Migrationsdynamiken[1] und die Rolle der Nationalstaaten[2] untersucht.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2
[2] Siehe Kapitel 3


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