Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw Kultur- und Sozialanthropologie/Prozessuale Entwicklungen

From Eksa
Jump to: navigation, search

Vorheriges Kapitel: 1.1 Zugänge der Kultur- und Sozialanthropologie

1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung

verfasst von Hermann Mückler

Globalisierung ist ein Prozess, der von Dynamik, Wechselwirkungen und Determiniertheit geprägt ist. Eine Entwicklung wird als dynamisch bezeichnet, wenn laufend Veränderungen stattfinden, die - durch einen Zeitmaßstab und der Zeitdauer der Beobachtung des Phänomens definiert - als solche wahrgenommen werden, indem in ihren diachronisch wahrgenommenen Erscheinungsformen objektiv Unterschiede erkannt werden können. Wechselwirkungen ergeben sich aus der Verknüpfung von Einzelfaktoren und Elementen, die wiederum einander bedingen können und damit eine Determiniertheit generieren. Tatsächlich ist der Prozeß der Globalisierung nur durch eine methoden- und theoriepluralistische Annäherung [1] möglich und führt zu komplexen und multikausalen Erklärungsansätzen.

Verweise:
[1] Siehe die Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften

Inhalt

1.2.1 Globalisierung und Fragmentierung

Während es insbesondere im Medien- und Telekommunikationssektor sowie in der Finanzwelt, aber auch in der Welt der Moden und Geschmäcker scheinbar einen Trend zu Vereinheitlichung, Verschmelzung und einem Aufgehen in größeren, einheitlicheren Entitäten gab, entwickelte sich gleichzeitig parallel dazu ein Trend zur Fragmentierung, der sich beispielsweise in der Zunahme ethno-nationalistischer Konflikte, dem Zerfall von Staaten[1], aber auch in der Krise der Finanzen, dem Abbau des Sozialstaates, der Zementierung der Zwei-Drittel-Gesellschaft und der Dichotomie von globalisiertem Reichtum und lokalisierter Armut - eine Dualität, die von Zygmunt Bauman[2] in mehreren Werken (z.B. Bauman 1998) thematisiert wurde - manifestiert. Globalisierung führt also gleichzeitig zu Vereinheitlichung und Fragmentierung.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Zygmunt_Bauman


1.2.1.1 Reich-Arm-Dichotomie

Der Politikwissenschafter Ulrich Menzel[1] hat bereits in den 1990er Jahren diesen Umständen Aufmerksamkeit geschenkt, und auf deren Ursachen und Entwicklungen Bezug genommen (Menzel 1998). Baumans Kritik war und ist, dass mit der Globalisierung Privilegien und Reichtum neu verteilt werden. Es entsteht die Gruppe der "Reichen", die globalisiert sind, nicht mehr an den Ort gebunden und keine Zeit mehr haben, auf der anderen Seite die "Armen", die räumlich gebunden sind und nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Die "Reichen" sind aber nun, im Gegenzug zu früher, nicht mehr auf die "Armen" angewiesen. Die alten Reichen brauchten früher die Armen, um reich zu werden und reich zu bleiben.

Nach Bauman existiert zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlieren weder eine Einheit noch eine Abhängigkeit, eine Form der Entsolidarisierung wird sichtbar, die völlig neue soziale Probleme und Herausforderungen für die Erhaltung der Gemeinwesen und des sozialen Friedens mit sich bringt. Diese Entkoppelung und Fragmentierung[2] hat im Gefüge der Gesellschaften fatale Konsequenzen für deren Zusammenhalt. Neben der Tertiarisierung und Virtualisierung der Ökonomie kommt es zu einem Prekariat ganzer Bevölkerungsschichten, mit allen daraus ableitbaren Folgekonsequenzen, wie Massenarbeitslosigkeit, Sozialdumping, Verslumung ganzer Stadtteile[3], Anstieg der Gewaltkriminalität und Elendswanderung[4].

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Menzel
[2] Siehe Kapitel 1.2.1
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
[4] Siehe Kapitel 2.5.1


1.2.1.2 Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft

Die, ebenfalls durch globale Prozesse bewirkte, Ent- Industrialisierung in Europa, die neue Fokussierung auf Dienstleistungsberufe, insbesondere im FIRE-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate) führt zu einem Auseinaderklaffen der sozialen Schere. Diese Reich-Arm-Dichotomie[1] muss nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern kann auch, global gesehen, zwischen Staaten[2] ihren Ausdruck finden. Die Marginalisierung peripher gelegener Gebiete, die geographisch von potentiellen Märkten zu weit entfernt sind oder nur ungenügende Ressourcen haben, sodass sie für die Ressourcenausbeutung durch Industriestaaten uninteressant sind, zeigt sich an Gebieten wie beispielsweise Ozeanien, dessen kleine Inselstaaten hier als besonders benachteiligt gesehen werden müssen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1.1
[2] Siehe Kapitel 3


1.2.2 Dynamik der zyklischen Expansion und Kontraktion

Der akkumulierende Mensch

Beim Prozess der Globalisierung handelt es sich nicht notwendigerweise um einen unumkehrbaren gerichteten Prozess, der nur in eine Richtung stetig voranschreitet. Vielmehr gab es auch in der Vergangenheit[1] immer wieder Phasen, in denen es zu einer Verlangsamung oder zu einem Stillstand gesellschaftlicher Entwicklungen kam, ja sogar zu Umkehrtrends, die in unserem Fall als Deglobalisierung bezeichnet werden müßten.

Peter Feldbauer[2] und andere Autoren (Feldbauer et.al. 2009) haben anhand der Darstellung historischer Fallbeispiele auf diese mögliche Entwicklungsrichtung hingewiesen. Mir persönlich scheinen diese Gedanken, die bisher in der Öffentlichkeit nicht ausreichend diskutiert werden, jedoch das Potential alternativer Entwicklungen grundsätzlich beinhalten, als bedenkens- und beachtenswert. Erste Anzeichen in dieser Richtung sind für mich unübersehbar. So folgte dem Wettlauf um die Zusammenlegung von Großkonzernen zu immer größeren "Weltunternehmen" der Katzenjammer der Schwierigkeit, unterschiedliche Unternehmenskulturen einfach zu verschmelzen. Das Experiment von Daimler-Chrysler, welches von Daimler-Benz nach Milliardenverlusten beendet wurde, zeigt dies exemplarisch. Zwischenzeitig entflechten auch andere Großkonzerne still und heimlich ihre unüberschaubar gewordenen Firmenkonglomerate und ein "small is beautiful" regt sich zaghaft in unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen. Aufblähungen wechseln sich offensichtlich, zumindest in einigen Bereichen, mit Reduktionen ab.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] https://wirtschaftsgeschichte.univie.ac.at/menschen/emeritierte-und-im-ruhestand-befindliche/feldbauer-peter/

1.2.2.1 Re-Lokalisierung

Autoren wie der Kanadier Jeff Rubin[1] (2009), der als Ökonom und Wirtschaftsberater Jahrzehnte lang die Ölförderung und -industrie beobachtet hat, sagt nicht nur die Abnahme der Erdölförderung aufgrund abnehmender Ressourcen voraus (der "peak-oil-point" ist bald oder bereits erreicht), sondern sieht mit den steigenden Energiepreisen ein Ende der Globalisierung, zumindest in bestimmten Produktionsbereichen. Bei extrem gestiegenen Erdölpreisen wird es sinnlos, Textilien billig in Fernost produzieren zu lassen, denn der Kostenvorteil durch niedrige Lohnkosten in Asien werden durch die signifikant sich erhöhenden Transportkosten mehr als aufgehoben.

Wenn das ein- und zutrifft, dann wird sich unsere Wirtschaft ein weiteres Mal fundamental verändern. Das weitgespannte logistische Netz vieler westlicher Industrien wird in Teilbereichen an Bedeutung und Intensität verlieren, der Stellenwert von Import und Export wird sich neu definieren. Als Folgewirkung könnte eine Renaissance der heimischen Produktionswirtschaft bevorstehen, lokale Produkte könnten wieder konkurrenzfähig werden und dadurch stärker wieder unsere Märkte prägen. Die heutige Dienstleistungsgesellschaft würde sich wieder, in Teilbereichen, in eine Produktionsgesellschaft wandeln, was nicht zuletzt Auswirkungen und Handlungsbedarf für den Ausbildungsbereich mit sich bringt.

Verweise:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Jeff_Rubin


1.2.2.2 Neue Themen für die Kultur- und Sozialanthropologie

Was uns als Kultur- und SozialanthropologInnen wichtig zu sein hat, ist die Tatsache, dass jede dieser Veränderungen, in welche Richtung auch immer, das Individuum und dessen Stellung sowie dessen Beziehungen in der Gesellschaft betreffen, diese neu definieren und gravierenden Adaptionsbedarf bei jedem Einzelnen notwendig machen. Die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere die Sichtbarmachung persönlicher Betroffenheitsszenarien[1] ist die Aufgabe künftiger Kultur- und SozialanthropologInnen[2], denn diese sind verbunden mit der Veränderung von Verortungen und Identitäten. So haben manche global zu beobachtende Phänomene, dazu gehört auch der Klimawandel und die dadurch verursachte bzw. prognostizierte territoriale Instabilität (Wüstenbildung, Überflutungen, Unbewohnbarkeit von Küstengebieten, Veränderung der Fertilität eines Landstrichs, etc.), eine Veränderung der geotopologischen Identität mit sich gebracht. Was das für Rückwirkungen auf das Sozialverhalten haben wird, ist dabei offen und untersuchenswert.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
[2] Siehe Kapitel 1.3


1.2.3 Globalisierung und Grenzen

Die beobachteten scheinbaren Grenzauflösungen, nicht nur im Warenverkehr, im Zuge der Globalisierung sind fast überall nur Grenzverschiebungen. Die Beweggründe mancher Grenzkonstituierung wurden nicht eliminiert, sondern haben sich verändert und verschoben. Ausschließungsgründe, beispielsweise bei der Handhabung der Immigrationsfrage[1], wurden inhaltlich kaum gelöst, dafür verschob sich räumlich die Exekution der Zurückweisung von unerwünschten Einwanderungswilligen. Fragen der Rückwirkung auf die inneren Strukturen der Gesellschaft solcher Dynamiken können hier von Kultur- und SozialanthropologInnen gerade auch mit dem Wissen um die verschiedenen Spielarten der Selbstorganisation von sozialen Gruppen und der Rolle der "Spielregeln" komparativ angegangen werden, da beispielsweise das Wesen der Grenzkonstitution ein interessantes Thema darstellt.

Die Metapher der Grenze ist auf viele soziale Sachverhalte anwendbar, wenn man davon ausgeht, dass jede Gruppe eine Grenze aufweist, die Personen innerhalb und außerhalb der Gruppe trennt. Setzt man sich mit der Grenze als definierenden Faktor auseinander, so sind vier Eigenschaften zu berücksichtigen: Kriterien der Eingrenzung, der Ausgrenzung, der Separation und der Kommunalität. In der Auseinandersetzung mit Globalisierung kommt sowohl der Beschäftigung mit den Elementen "Grenzkonstitution" und "Grenzübergang" eine zentrale Rolle zu als auch dem Konzept der "offenen" bzw. "geschlossenen Gesellschaften", wobei letztgenannte Metaphern in Verbindung mit Migration[2] überwiegend in Bezug auf die Außengrenzen nationalstaatlich verfasster Gesellschaften[3] Anwendung finden, sowie auf die Bereitschaft gesellschaftlicher Institutionen, Rahmenbedingungen für eine Integration von Migranten und Migrantinnen zu schaffen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
[2] Siehe Kapitel 2
[3] Siehe Kapitel 3.4


Nächstes Kapitel: 1.3 Kultur- und sozialanthropologische Forschungsfelder


↑ Nach oben