Themenbereiche der KSA/Ritual

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Vorheriges Kapitel: 3.1 Religion

3.2 Ritual

verfasst von Elke Mader

Foto: Chinesische Neujahrsfeier 2011, Seattle, USA, Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Seattle_-_Chinese_New_Year_2011_-%0A_74.jpg)


"Ob Taufen oder Hochzeitsfeiern, Jugendweihen, Pilgerfahrten oder Preisverleihungen - auch in modernen Gesellschaften schwinden Rituale nicht. Stattdessen entstehen überall neue Ritualisierungen mit atemberaubender Dynamik." ( Axel Michaels[1] 2002)


Rituale sind spezifische Formen des performativen und symbolischen Handelns, die mit vielen Bereichen des Lebens verbunden sind. Sie sind prozessual, transformativ und dynamisch, aber auch durch eine beständige Wiederholung von Handlungsabläufen gekennzeichnet. Sie wirken auf Menschen ein und werden von ihnen aktiv gestaltet, sie repräsentieren und bestärken soziale, kulturelle oder politische Ordnungen oder stellen sie in Frage. Ihre Inhalte sind ebenso vielfältig wie ihre Ausdrucksmittel und es ist müßig nach einer essentialistischen Definition zu suchen, die festlegen will, was zu allen Zeiten und in allen Kulturen unter Ritual zu verstehen ist.

Inhalt



Verweise:
[1] http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/ruca3_2002/michaels.html


3.2.1 Forschungskontexte und Begriffe

Foto: Schamane, Sibirien, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/sashapo/7537235938/)

Mit Fragen nach Form, Funktion und Wirkungsmacht von Ritualen[1] beschäftigt sich eine Reihe von Fachdisziplinen. In den 1980er-Jahren formierten sich die "Ritual Studies" als inter- und transdisziplinäres Forschungsfeld, das systematisch die rituellen Aspekte verschiedener Aktivitäten untersucht. Die Ritualforschung der Gegenwart basiert auf einer breiten Tradition von Ansätzen, die sich mit verschiedenen Dimensionen von Ritualen und Ritualisierungen beschäftigen (vgl. auch Krieger und Belliger 1998, Michaels 1999). Unter Ritualisierungen versteht man (soziale) Prozesse, in denen etwas zum Ritual wird.

Viele Studien beschäftigen sich auch mit den Grenzen bzw. Verflechtungen zwischen Ritualen und anderen Handlungsfeldern, etwa in Zusammenhang mit Politik, Sport oder Performance. Dabei ist oft von den rituellen Dimensionen/Aspekten diverser Phänomene oder von deren Ritualisierung die Rede.


Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Ritual


3.2.1.1 Genres ritueller Handlungen


Foto: Kalendarisches Ritual: Krampuslauf, Salzburg (2012), E. Mader


Die große Vielfalt an rituellen Aktivitäten animierte viele ForscherInnen dazu, Rituale in unterschiedliche Kategorien einzuteilen. Solche Kategorisierungen erfolgen häufig aus spezifischen theoretischen Perspektiven und reflektieren unterschiedliche Forschungsinteressen.

Catherine Bell[1] (1997) unterscheidet sechs grundlegende Genres ritueller Handlungen:

  • Übergangsrituale[2] ("rites de passage"): Hochzeit, Begräbnis, Namensgebung, Promotion, Initiation in soziale oder religiöse Gruppen ...
  • Jahreszeitenrituale/kalendarische Rituale: diverse Feiertage (religiös und profan) im Jahreszyklus - z.B. Neujahr, Sonnenwende, Geburtstage, Nationalfeiertage ...
  • Tausch- und Vereinigungsrituale: religiöser Kontext - Interaktionsformen zwischen Menschen/Götter/Geistern: Opfergaben, (Blick)kontakt mit Bildnissen/Personen, Vereinigung mit Göttern/Geistern ...
  • Rituale und Leid ("rituals of affliction"): bewirken und/oder entfernen Leid/Unglück/Krankheit; Heilrituale, Reinigungsrituale ...
  • Feste, Feiern, Fasten: involvieren große Teile einer Gemeinschaft in kollektives rituelles Handeln, gemeinsames Essen bzw. Nicht-Essen: Weihnachten, Potlach[3], Ramadan, Karneval, Holi ...
  • Politische Rituale: "Dramaturgie der Macht" - konstruieren, zeigen oder verstärken Macht und/oder politische Institutionen bzw. stellen sie in Frage: Krönung, Amtseinweihung, Demonstration, Militärparade ...


Die Genres ritueller Handlungen von Catherine Bell bilden keine umfassenden oder einander ausschließenden Kategorien, sondern stellen jeweils unterschiedliche Aspekte von Ritualen in den Vordergrund. Sie verweisen einerseits auf die Vielfalt von Formen und Kontexten, andererseits auf einige grundlegende Gemeinsamkeiten von ritueller Praxis.


Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Catherine_Bell_%28religious_studies_scholar%29
[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[3] Siehe Kapitel 4.2.2 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie


3.2.1.2 Grenzen und Grenzüberschreitungen


Foto: Ritualisierung nationaler Grenzen/Identitäten: Fußball WM 2006, München, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/uwehermann/173505493/)


Zwischen verschiedenen Formen von Ritualen bestehen oft fließende Übergänge, ebenso fluktuiert die Zuordnung von Ritualen zu Konzepten wie profan oder sakral, öffentlich oder privat, individuell oder kollektiv. Rituale integrieren oft soziale, religiöse[1] und symbolische Aspekte und werden unter anderem in Zusammenhang mit sozialen Organisationsformen, als Systeme von Symbolen und Repräsentationen oder als spirituelle und religiöse Erfahrung untersucht.

Neue Tendenzen in der Ritualforschung beschäftigen sich auch verstärkt mit "boundary questions": Zum einen geht es dabei um die Funktion von Ritualen in Zusammenhang mit der Konstruktion von Unterschieden und deren Markierung, zum anderen um die Überbrückung und Überschreitung von sozialen, kulturellen[2], kognitiven aber auch fachlichen Grenzen (vgl. Grimes 2006:12). Weiters rücken auch die "Ränder des Rituals" (Oppitz 2007) in das Zentrum von Studien: Dazu zählen Handlungen und Vorstellungen, die rund um rituelle Ereignisse zu finden und auf verschiedenen Ebenen mit diesen vernetzt sind.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1
[2] Siehe Kapitel 1.1.8


3.2.1.3 Ritualdynamik


Foto: Politisches Ritual: Präsidentenwahl USA 2012, Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Obamas_and_Bidens_celebrate_re-%0Aelection.jpg)


"In a world of fast-paced globalization[1] and market-driven economies, ritual seems awkwardly out of place, a clumsy, tradition-laden cultural activity" - schreibt Ronald Grimes[2] (2006: IX), jedoch gerade neue Orte und Verortungen des Rituals prägen die Ritualforschung der Gegenwart.


Während ältere Studien Rituale oft als statisch interpretierten, steht heute die Ritualdynamik im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (vgl. Michaels 2007:6). Dazu zählen auch die vielfältigen Interaktionen von Ritualen mit Medien[3], Sport, Politik oder Umwelt. Ein dementsprechendes rituelles Gefüge umgibt zum Beispiel den Fußballsport als besonderen Feld, auf dem diverse Grenzen und Grenzüberschreitungen inszeniert und verhandelt werden und dessen rituell/performative Dimension unter anderem mit der Ritualisierung von Geschlecht[4] verwoben ist (u.a. als "Spektakel" und "Arena" von Männlichkeit, vgl. Kreisky und Spitaler 2006).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4
[2] http://ronaldlgrimes.twohornedbull.ca/
[3] Siehe Kapitel 3.2.5
[4] Siehe Kapitel 3.9.7


3.2.1.4 Ritualtransfer


  • Foto: Diwali-Feier der indischen Gemeinschaft im Einkaufszentrum "Lugner City" in Wien, E. Mader
  • Abbildung: Ritualkontext, E. Mader


Einen wesentlichen Aspekt von Ritualdynamik[1] bildet der Ritualtransfer (vgl. Radde-Antweiler 2006). Darunter verstehen die AutorInnen die Verlagerung (Transfer) eines Rituals von einem Kontext in einen anderen.

Im Zuge solcher Dynamiken können zwei Arten von Veränderungen unterschieden werden, die häufig miteinander verflochten sind.

  • Die Veränderung des Ritualkontexts als Resultat des Transfers
  • Eine Veränderung des Rituals als Reaktion auf die Kontextveränderung



Ritualveränderungen müssen aber nicht zwingend auf einer Kontextveränderung beruhen, sondern können auch aus internen Ritualdynamiken entstehen (vgl. Gaida[2] 2009).

Beispiele für Ritualtransfer sind vielfältig:

  • regionaler und transkultureller Ritualtransfer. Dazu zählen sowohl Praktiken in Zusammenhang mit Missionierung und Kolonialismus als auch neue Wege der Zirkulation von Ritualen im Zuge der Globalisierung[3] (vgl. u.a. Grünwedel 2008 für den sibirischen Schamanismus[4]). Der Transfer von ritueller Praxis steht auch in enger Beziehung mit Migration und Transnationalismus[5] (vgl. u.a. Mader 2006).
  • Repräsentation und Erweiterung von Ritualen in/durch Medien[6].



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.2.1.3
[2] http://webreligion.wordpress.com/2009/06/12/das-konzept-ritualtransfer/
[3] Siehe Kapitel 3.4
[4] Siehe Kapitel 3.1.5
[5] Siehe Kapitel 3.4.4
[6] Siehe Kapitel 3.2.5

3.2.2 Ritual und Religion

Foto: Vereinigungsritual: Interaktion mit Ahnen und Göttern im Vodun, Egunguns in Cové, Benin, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/deepblue66/4337651781/in/photostream/)
Foto: Vereinigungsritual: Interaktion mit Ahnen und Göttern im Vodun, Egunguns in Cové, Benin, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/deepblue66/4337651781/in/photostream/)

Religiöse Rituale standen zu Beginn der Ritualforschung im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt und stellen bis heute ein wichtiges Forschungsfeld dar. Rituale bilden symbolische und performative Elemente von Religionen[1]. Sie stellen häufig eine Kontaktzone mit dem Göttlichen dar und gehen Hand in Hand mit spirituellen Erfahrungen der Beteiligten. Rituelle Interaktionen mit Göttern (Geistern, Heiligen etc.) umfassen in unterschiedlichen religiösen Kontexten eine große Vielfalt an Formen und Bedeutungen.

Religiöse Rituale werden oft an besonderen Orten gefeiert, die als heilig gelten und einen vom Alltag getrennten rituellen/religiösen Raum darstellen. Dazu zählen Kirchen, Tempel oder bestimmte Orte in der Natur. Geleitet werden sie häufig von religiösen SpezialistInnen, die unter anderem über besonderes Wissen über rituelle Abläufe, Ritualobjekte etc. verfügen.

Forschungen zu verschiedenen Dimensionen religiöser Rituale bilden auch einen wichtigen Aspekt der Anthropologie der Religion[2] (Religionsethnologie).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1
[2] Siehe Kapitel 3.1


3.2.3 Rituale und Gesellschaft

Foto: Maibaum, München, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/14646075@N03/3492531892/)

Rituale sind eng mit sozialen Strukturen und Prozessen verbunden. Sie haben große Bedeutung für Konstruktion, Gestaltung und Bestand von sozialen Gruppen und das Erlangen von Status in einer Gemeinschaft. Studien zum Verhältnis von Ritualen und Gesellschaft[1] im Rahmen der Kultur- und Sozialanthropologie thematisieren zum Beispiel:

  • Lebensabschnitte und Status (Übergangsrituale)
  • Macht, Herrschaft, Widerstand
  • Gender[2]
  • Wertvorstellungen
  • Identitäten


Wichtige Grundlagen dieser Forschungsrichtung stammen von Émile Durkheim[3] (1912/1981). So betont Durkheim, dass eine Gesellschaft eine moralische Gemeinschaft darstellt, welche die Solidarität zwischen den Menschen durch Riten kreiert und fördert. Rituale haben belebende Kraft für das soziale Leben und implizieren Handlungsweisen und Verhaltensregeln, die es dem Menschen ermöglichen, aus dem Alltag heraus in einen speziellen Zustand zu gelangen. Auf diese Art und Weise schaffen Rituale soziale Beziehungen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 3.9
[3] Siehe Kapitel 3.1.2.1


3.2.3.1 Übergangsrituale


Foto: Knabeninitiation in Malawi, Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Initiation_ritual_of_boys_in_Malawi.jpg)


Eine wesentliche Komponente in rituellen Prozessen bildet der Übergang von einer sozialen Gruppe in eine andere bzw. von einem sozialen Status in einen anderen. Diese Thematik steht im Mittelpunkt des Werks Les rites de passage (Übergangsriten) von Arnold van Gennep[1] (1909/1986): Er geht davon aus, dass Lebenskrisen durch Rituale leichter bewältigt werden können, und unterscheidet verschiedene Formen von Übergangsriten, zum Beispiel Heirat oder Initiation.

Auf Basis eines breit angelegten transkulturellen Vergleiches stellt van Gennep fest, dass zwar Zweck und Ausformung solcher Rituale variieren, sie jedoch eine gemeinsame Verlaufsstruktur aufweisen. Er erkennt ein Schema der Übergangsriten, das drei Hauptphasen umfasst, nämlich (1) Separation/Trennung, (2) Schwellenzustand/Übergang und (3) Inkorporation/Wiedereingliederung. Diese Struktur lässt sich bei allen Gesellschaften erkennen, wird aber immer wieder anders gewichtet. Besonders intensiv beschäftigt sich van Gennep mit der mittleren Phase, also den Dimensionen des Übergangs, die er wiederum in drei Abschnitte unterteilt: preliminal, liminal, postliminal (vgl. auch Förster 2003, Stohrer 2008).

Victor Turner[2] (1987) erweitert das Strukturschema der Übergangsriten von van Gennep. Mittels der Integration soziologischer und symbolistischer Ansätze untersucht er den rituellen Prozess und seine soziale Bedeutung, insbesondere die sozialen Merkmale der Schwellenphase sowie das Verhältnis von Struktur und Anti- Struktur. Weiters erkannte er früh die kreativen und dynamischen Dimensionen von Ritualen sowie ihr Naheverhältnis zu anderen Formen von Performanz.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_van_Gennep
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Turner


3.2.3.1.1 Soziale Dramen


Foto: Zulu Frauen und Mädchen bei einem Fest, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/waltercallens/6559744165/in/photostream/)


In der Folge von Émile Durkheim, der die Bedeutung von Ritualen für gesellschaftliche Solidarität hervorhebt, betont der britische Sozialanthropologe Max Gluckman[1] ihren Stellenwert im Rahmen des Umgangs mit Spannungen und Konflikten. Für Gluckmann sind Rituale primär Ausdruck sozialer Spannungen: Im Rahmen der performativen Handlungen zeigen sie oft dramatisch Konfliktlinien auf und stellen erst am Ende wieder soziale Einigkeit her.

In "Ritualen der Rebellion" wird der Status quo sozialer Hierarchien auf den Kopf gestellt, die normalen Regeln von Ordnung und Autorität werden ausgesetzt. Als Beispiel führt Gluckman unter anderem Agrarriten der Zulu in Südafrika an, in denen die Gender-Hierarchien umgekehrt werden: Die Frauen kleiden sich im Ritual als Männer und führen all jene Handlungen durch, die im Alltag den Männern vorbehalten sind. Diese temporäre Inversion der patriarchalen Gesellschaftsordnung trägt dazu bei, ihr Konfliktpotential einzuschränken. Das Ziel von "Ritualen der Rebellion" besteht laut Gluckmann darin, Konflikte zum Ausdruck zu bringen und dadurch das soziale Gleichgewicht zu erhalten (vgl. Bell 1997: 38-39).

Victor Turner analysiert das Verhältnis von Ritual und Gesellschaft als Dynamik zwischen Struktur und Anti-Struktur: Er geht dabei von zwei Modellen menschlicher Sozialbeziehungen aus

  • "Societas" - Gesellschaft als strukturiertes und hierarchisch gegliedertes System
  • "Communitas"[2] - relativ undifferenzierte Gemeinschaft, Gemeinschaft Gleicher, Antistruktur



Communitas entwickelt sich zwischen rituellen Subjekten während der liminalen Phase, die Turner als Phase der Strukturlosigkeit oder Anti-Struktur bezeichnet. Sie ist durch Erfahrungen der Gleichheit und außeralltägliche Beziehungen gekennzeichnet.

Bestimmte Rituale analysiert Turner als "liminuide Riten" bzw. "soziale Dramen": Sie bieten die Möglichkeit, über all das, was als selbstverständliche, alltägliche Struktur erscheint, neu nachzudenken und stehen in Zusammenhang mit Kritik an bzw. Protest gegen soziale, kulturelle oder politische Verhältnisse (vgl. Turner 1969, Förster 2003).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2.1 der Lernunterlage "Einführung in die Organisations- und Betriebsanthropologie"
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Communitas


3.2.4 Rituale und Symbole

Foto: Austreiben "böser Geister" nach Neujahr (Teil eines größeren Komplexes von kalendarischen Riten am Balkan), Kukeri, Bulgarien, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/aliarda/8469405588/)

Rituale sind eine aktive Form der Kommunikation und der Konstruktion von Bedeutung. Sie beruhen auf der Fähigkeit, komprimierte Symbole aufzunehmen und zu interpretieren.

Stanley Tambiah[1] (1985: 128) schreibt: "Ritual is a culturally constructed system of symbolic communication. It is constituted of patterned and ordered sequences of words and acts, often expressed in multiple media, whose content and arrangement are characterized in varying degree by formality (conventionality), stereotypy (rigidity), condensation (fusion) and redundancy (repetition)."


Verweise:
[1] http://www.nasonline.org/publications/biographical-memoirs/memoir-pdfs/tambiah-stanley.pdf


3.2.4.1 Im Wald der Symbole


Foto: Buddhistisches Ritual, Tharlam Gompa, Boudha, Kathmandu, Nepal, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/wonderlane/3310701832/)


"The symbol is the smallest unit of ritual which still retains the specific properties of ritual behavior; it is a ‚storage unit' filled with a vast amount of information." (Turner 1968a: 1-2)


Victor Turner[1] widmet sich (u.a. in seinem Buch A Forest of Symbols) verschiedenen Dimensionen der symbolischen Bedeutung von Ritualen. Er betont, dass rituelle Praktiken mehrere Bedeutungsebenen umfassen, die von vielstimmigen und vieldeutigen Symbolen (multivocality) zum Ausdruck gebracht werden. "Multivocality endows ceremonies, even those of the simplest form, with multiple levels of meaning, with referents from cosmology to social relations. Turner essentially portrays ritual as a set of symbolic actions and displays of symbolic objects that represent the premises, core values, and norms of a particular culture." (Baer[2] 2007)

Symbole weisen auch vielfältige Formen auf: Es kann sich dabei um Objekte, Handlungen, Worte, Beziehungen, Ereignisse, Gesten oder räumliche Einheiten handeln (vgl. Turner 1967:19).

Durch Symbole werden in Ritualen gesellschaftliche Werte und Bedeutungen "gelagert": "Rituals are storehouses of meaningful symbols by which information is revealed and regarded as authoritative, as dealing with the crucial values of the community" (Turner 1968a: 2). Diese Werte und Symbole sind jedoch immer wieder Veränderungen unterworfen und repräsentieren verschiedene AkteurInnen und Interessen.


Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Victor_Turner
[2] http://hirr.hartsem.edu/ency/Symbols.htm


3.2.4.2 Körpersymbole



Die Symbolik von Ritualen bildet auch einen Schwerpunkt der Arbeiten von Mary Douglas[1] (u.a. 1974/1993), wobei der Zusammenhang von Ritualen und Reinheitsvorstellungen im Mittelpunkt ihrer Analyse steht. Letztere analysiert sie als Konstrukte, welche die hierarchische oder symmetrische Ordnung des sozialen Systems widerspiegeln.

Der Glaube an gefährliche Verunreinigungen definiert in diesem Prozess eine Reihe von sozialen Regeln, der Körper fungiert als ein Symbol für die Gesellschaft[2], er ist nichts "Natürliches", sondern ein Ausdrucksmedium für Soziales - so etwa im hinduistischen Kastensystem. Die Körpertheorien von Douglas haben besonderen Einfluss auf die Untersuchung von (Initiations-)Ritualen in Hinblick auf die Konstruktion von Gender[3], Tabus und Reinheit, zum Beispiel in Zusammenhang mit der Menstruation.


Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Douglas
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] Siehe Kapitel 3.9


3.2.5 Rituale und Medien


"Not long ago the terms 'ritual' and 'media' would have been regarded as labels for seperate cultural domains - the one sacred, the other one secular ... Now, media often validate rites.The presences of the camera announces: 'This is an important event.' Today both notions, ritual and media, are understood quite differently, and connections between them are remarked upon with growing frequency in scholarly writing." (Grimes 2006: 3-4)


Das Verhältnis von Ritualen und Medien stellt ein relativ neues Forschungsfeld dar: Es reflektiert die ständig zunehmende Bedeutung von Medien[1] in der gegenwärtigen globalisierten Lebenswelt[2] sowie Veränderungen des Ritualbegriffs und der Ritualforschung (vgl. Ritualdynamik[3] oder Ritualtransfer[4]).

Die komplexen Beziehungen zwischen Medien und Ritualen umfassen verschiedene Kontexte und Verknüpfungen und werden vor allem in Hinblick auf zwei Aspekte untersucht:

  • Rituale in Medien
  • Medien als Rituale


Dabei können zwei Typen von Verflechtungen zwischen Ritualen und Medien unterschieden werden, bei denen entweder die Repräsentation oder die Interaktion im Vordergrund steht.

Repräsentation:

  • Medien "beschreiben" Rituale
  • Medien bestätigen Rituale
  • Medien vermitteln zwischen Ritualen und anderen Lebensbereichen


Interaktion:

  • Medien ermöglichen die Teilnahme an Ritualen über räumliche Distanzen hinweg
  • Medien stellen den Raum dar, in dem Rituale praktiziert werden (z.B. Internet[5])
  • Medien bilden Gegenstand und Kontext von Ritualen



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.8
[2] Siehe Kapitel 3.4.1
[3] Siehe Kapitel 3.2.1.3
[4] Siehe Kapitel 3.2.1.4
[5] Siehe Kapitel 3.8.6.4


3.2.5.1 "Rite out of Place" oder die Medialisierung von Ritualen


Foto: Olympische Spiele, London (2012), Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rio_takeover.jpg)


Ronald Grimes[1] (2006) analysiert eine Vielfalt von Möglichkeiten, wie Rituale fotografiert, gefilmt und medialisiert werden - und dadurch an neue Orte und in andere Kontexte gelangen. Diese reichen von der wissenschaftlichen visuellen Dokumentation (z.B. im ethnographischen Film) bis zur "mediated ritual fantasy": Spielfilme, Videospiele und virtuelle Welten erfinden Rituale, die oft eine Collage aus Elementen diverser ritueller Traditionen darstellen.

Die mediale (Re)präsentation von Ritualen bildet eine besondere Form des Ritualtransfers[2]. Grimes bezeichnet diesen Prozess als "reframing": So erhalten etwa Rituale im Spielfilm als Teile der Handlung und der Erzählung eine neue Bedeutung.

Besonderen Stellenwert nehmen durch Medien erweiterte Rituale ein: TV- Übertragungen oder Youtube-Videos[3] von rituellen Ereignissen (z.B. im Rahmen des Sports) führen zu einer Entgrenzung der Teilnahme an solchen Events und schaffen neue Dimensionen des rituellen Raums in Zusammenhang mit verschiedenen Aspekten von Globalisierung[4].


Verweise:
[1] http://ronaldlgrimes.twohornedbull.ca/
[2] Siehe Kapitel 3.2.1.4
[3] http://www.youtube.com/
[4] Siehe Kapitel 3.4

3.2.6 Literatur


Baer, Hans A. 2007: Symbols.[1] In: William H. Swatos (Hg.): Encyclopedia of Religion. Web Version. [Zugriff: 19.04.2013]

Bell, Catherine 1997: Ritual. Perspectives and Dimensions. Oxford, New York: Oxford University Press.

Durkheim, Émile 1912/1981: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Douglas, Mary 1974/1993: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Förster, Till 2003: Victor Turners Ritualtheorie.[2] Eine ethnologische Lektüre. In: Theologische Literaturzeitung 128.7-8: 703-716. [Zugriff: 19.04.2013]

Gaida, Anne-Kathrin 2009: Das Konzept "Ritualtransfer".[3] [Zugriff: 19.04.2013]

Gennep, Arnold van 1909: Les rites de passage. Paris: Nourry [dt. Übergangsriten. Frankfurt/M.: Campus, 1986].

Grimes, Ronald 2006: Rite out of Place. Ritual, Media, and the Arts. Oxford, New York: Oxford University Press.

Grünwedel, Heiko 2008: Schamanenbiografien zwischen Sibirien und Deutschland.[4] Gegenwärtige Wanderbewegungen von Ritualen im Raum des Dazwischen. In: journal-ethnologie.de. [Zugriff: 19.04.2013]

Krieger, David und Andrea Belliger 1998: Einführung. In: dies. (Hg.): Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag: 7-35.

Mader, Elke 2007: Encounters with Otavalo. Ritual, Identities, and the Internet. In: Muršic, Rajko und Jaka Repic (Hg.): Places of Encounter. In memoriam Borut Brumen. Ljubljana: Zupanjceva knjiznica: 221-239.

Michaels, Axel 1999: „Le rituel pour le rituel" oder wie sinnlos sind Rituale? In: Caduff, Corina und Johanna Pfaff-Czarnecka (Hg.): Rituale heute. Theorien - Kontroversen - Entwürfe. Berlin: Reimer: 23-48.

Michaels, Axel 2002: Wozu Rituale gut sind.[5] In: Ruperto Carola 3/2002 [Zugriff: 19.04.2013].

Michaels, Axel 2007: Vorwort. In: ders. (Hg.): Die neue Kraft der Rituale. Heidelberg: Universitätsverlag Winter: 5-9.

Oppitz, Michael 2007: An den Rändern des Rituals. In: Michaels, Axel (Hg.): Die neue Kraft der Rituale. Heidelberg: Universitätsverlag Winter: 261-290.

Radde-Antweiler, Kerstin (Hg.) 2006: Heidelberg Journal of Religions. Special Issue on Rituals on the Internet.[6] [Zugriff: 19.04.2013]

Stohrer, Ulrike 2008: Väter der Ritualtheorie.[7] Arnold van Gennep und die Übergangsriten und Victor Turners Begriff der "Liminalität". In: journal- ethnologie.de. [Zugriff: 19.04.2013]

Tambiah, Stanley 1985: Culture, Thought and Social Action: An Anthropological Perspective. Cambridge, London: Harvard University Press.

Turner, Victor 1967: The Forest of Symbols. Ithaca: Cornell University Press.

Turner, Victor 1969: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. Ithaca: Cornell University Press.

Turner, Victor 1987: The Anthropology of Performance. New York: PAJ Publications.


Verweise:
[1] http://hirr.hartsem.edu/ency/Symbols.htm
[2] https://web.archive.org/web/20130903074227/http://www.unibas-ethno.ch/redakteure/foerster/dokumente/Turner2.pdf
[3] http://webreligion.wordpress.com/2009/06/12/das-konzept-ritualtransfer/
[4] http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2008/Rituale_heute/Schamanenbiografien_zwischen_Sibirien_und_Deutschland/index.phtml
[5] http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/ruca3_2002/michaels.html
[6] http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/ojs/index.php/religions/issue/view/151
[7] http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2008/Ethnologische_Theorien/Vaeter_der_Ritualtheorie/index.phtml



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