Was ist Kultur- und Sozialanthropologie/Was untersucht Kultur- und Sozialanthropologie

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Vorheriges Kapitel: 1 Was ist Kultur- und Sozialanthropologie?

1.1 Was untersucht Kultur- und Sozialanthropologie?

verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter
Die heute für unser Fach an der Universität Wien[1] gebräuchliche Bezeichnung "Kultur- und Sozialanthropologie" (KSA) wurde erst 1999 eingeführt. Sie ersetzte im Namen des Instituts[2] - zunächst in Kombination mit dem vor allem in Deutschland gebräuchlichen Begriff Ethnologie, dann alleine - die frühere Bezeichnung Völkerkunde. Die Studienrichtung Völkerkunde konnte erst 2004 in Kultur- und Sozialanthropologie umbenannt werden. Diese Namenswechsel stehen in engem Zusammenhang mit bestimmten Veränderungen von Perspektiven und Positionen in der Disziplin.

Inhalt



Verweise:
[1] http://www.univie.ac.at
[2] http://ksa.univie.ac.at/institut/geschichte/


1.1.1 Die Kunde von den Völkern?


Dass man im gesamten deutschen Sprachraum vom Begriff der Völkerkunde allmählich abrückte und ihn durch Ethnologie ersetzte, hatte vor allem mit den spezifisch deutschsprachigen (also nicht internationalen) Konnotationen dieses Begriffes zu tun. Sowohl Völkerkunde als auch Ethnologie implizieren einen konkreten und sehr ähnlichen Gegenstand des Faches: Völker bzw. Ethnien[1]. Da "Ethnie" vom griechischen ethnos kommt, was in etwa "Volk" bedeutet, handelt es sich im Prinzip um bedeutungsgleiche Begriffe. Sie sind aber insofern unterschiedlich, als gerade in der deutschen Sprache der Begriff "Volk" mit einem ganz spezifischen, historisch bedingten Sinngehalt behaftet ist. Im 19. Jahrhundert entstanden im deutschen Sprachraum Konzeptionen von Volkstum, die mit Ideen wie "Volksgemeinschaft" und "Volkscharakter" verbunden waren. Dahinter stand die spezifisch deutsche Vorstellung von schicksalhafter Volkszugehörigkeit beruhend auf gemeinsamer biologischer Abstammung. Diese Vorstellung wurde im Nationalsozialismus[2] weiterentwickelt zum Konzept der völkischen Blutsgemeinschaft, deren Reinerhaltung die Diskriminierung, Abwertung, Verfolgung und Ermordung von Anderen legitimierte.

In vielen anderen Sprachen gibt es einen analogen Volksbegriff nicht. Im Englischen etwa spricht man von "people", was im Prinzip nicht viel mehr heißt als "die Leute". Es gibt hier keinen Begriff, der auf ähnliche Weise historisch aufgeladen ist wie "Volk" im Deutschen. Der Begriff Ethnie ist insofern neutraler, als er eher von einem subjektiven Identitätsgefühl auf der Basis von gemeinsamer Kultur[3] und Sprache (also erlernten Dimensionen) ausgeht statt von (biologisch) ererbter Zugehörigkeit. Er ist auch nicht so historisch belastet wie der deutsche Volksbegriff.

Das Abrücken von der Fachbezeichnung Völkerkunde steht also in diesem großen historischen Zusammenhang. Das erklärt aber noch nicht, warum man in Wien[4] der etwas unhandlichen Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie den Vorrang vor "Ethnologie" gab.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.2
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialismus
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] http://ksa.univie.ac.at/institut/geschichte/

1.1.2 Die Lehre von den Ethnien?

Bis in die 1980er Jahre verstand sich die Völkerkunde/Ethnologie als die wissenschaftliche Erforschung eines klar definierten Gegenstandes. Sie war die Wissenschaft von den außereuropäischen, nicht industrialisierten oder, wie es manchmal hieß, den schriftlosen "Völkern"[1] bzw. Ethnien. Um nachvollziehen zu können, weshalb der Begriff der Ethnologie als "Lehre von den Ethnien" heute nicht mehr als treffend betrachtet wird, bedarf es einer Auseinandersetzung mit den Begriffen "Kultur"[2] und "Gesellschaft"[3].

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.1
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] Siehe Kapitel 1.1.3

1.1.3 Was ist Gesellschaft?


Der Begriff Gesellschaft wird einerseits als Abstraktion für den Bereich des Gesellschaftlichen, des Sozialen, der sozialen Beziehungen gebraucht. Andererseits verwenden wir ihn im Plural aber auch für konkrete Gemeinschaften[1]. Von "Gesellschaften" zu sprechen, impliziert die Vorstellung erkennbar voneinander getrennter Kollektive von Menschen. Diese Vorstellung ist im Prinzip zulässig, solange man Gesellschaft nicht als konkrete, "naturgegebene" Realität annimmt, sondern als eine Summe sozialer Interaktionen[2], die wir durch unseren analytischen Blick isolieren.

Für den britischen Funktionalismus[3] war Gesellschaft ein funktional integriertes Ganzes, in dem die einzelnen sozialen Institutionen jeweils ihren Beitrag zum Fortbestand der Gesellschaft leisteten. (Radcliffe-Brown[4] beschrieb dies mit der Analogie zwischen einer Gesellschaft und einem biologischen Organismus) Ein solches Verständnis ist aus heutiger Sicht sehr problematisch, weil es Gesellschaften notwendigerweise als konkrete und nach außen klar abgegrenzte empirische Einheiten auffasst. Die KSA hat sich seit langem von einem derartigen Verständnis verabschiedet.

Ziemlich lebendig ist dagegen (wenn auch weniger in der KSA als in anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen) ein oft unreflektiertes Verständnis, in dem davon ausgegangen wird, dass "Gesellschaft" als Untersuchungseinheit deckungsgleich mit "Nationalstaat"[5] ist. Soziale Phänomene müssen demnach geradezu naturgemäß im Rahmen nationalstaatlicher Grenzen untersucht werden. Diese Vorgangsweise wurde * nicht zufällig auch von anthropologischer Seite (Wimmer und Glick Schiller 2002) - als "methodologischer Nationalismus" kritisiert. Die unkritische Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat ist aus verschiedenen Gründen fragwürdig, unter anderem weil "Gesellschaft" eine Abstraktion darstellt, aber keine konkrete, empirisch greifbare Realität mit klar identifizierbaren und eindeutigen Grenzen benennt.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinschaft
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Interaktion
[3] Siehe Kapitel 2.4
[4] Siehe Kapitel 2.4.1
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalstaat

1.1.4 "Kulturen" und Kultur

Foto: Mehrsprachiges Straßenschild in Issime bzw. Eischeme (2010), Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7c/Eischeme2.jpg?uselang=de)

Kultur ist ebenso sehr eine Abstraktion wie Gesellschaft[1]. Kultur ist daher ebenso wenig wie Gesellschaft in konkrete, klare Grenzen zu fassen. In der Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie wurden zahlreiche Versuche unternommen, den Begriff Kultur zu definieren. Aus diesen Versuchen entstanden seit dem 19. Jahrhundert unterschiedliche Konzepte, Theorien und Paradigmen, die auf diverse Kriterien zurückgriffen, mit deren Hilfe Grenzziehungen versucht wurden, wie beispielsweise Sprache, Ethnizität[2], Geographie oder gemeinsame Abstammung.

Die skandinavischen Anthropologinnen Kirsten Hastrup und Karen Fog Olwig beschäftigten sich in den 1990er Jahren intensiv mit verschiedenen Kultur- Begriffen und unterscheiden zwei Gruppen von Zugängen (Hastrup und Fog Olwig 1997: 1-3). Die eine Gruppe umfasst "monolokale Kultur-Konzepte": Kulturen werden hier primär als einmalige und voneinander getrennte Einheiten verstanden, die an bestimmten Orten oder in spezifischen Regionen lokalisiert sind. Eine solche Verortung von Kultur etabliert auch den Rahmen für ein bestimmtes Verständnis von kultureller Differenz. Ein klassisches Beispiel für diesen Zugang bildet das funktionalistische Kulturkonzept Malinowskis (vgl. Kapitel 2.4).

Die zweite Gruppe umfasst "translokale Kultur-Konzepte": Diese betrachten Kultur nicht als geschlossene Einheit, sondern unterstreichen ihre Einbettung in größere Zusammenhänge. Ein Beispiel für einen solchen Zugang stellen die Arbeiten von Eric Wolf[3] dar: "Unsere Menschenwelt stellt eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar, und Untersuchungen, die diese Totalität zerstückeln, ohne sie wieder zusammenzusetzen, verfälschen die Realität" (Wolf 1986: 17). Translokale Kultur-Konzepte bilden auch einen wesentlichen Aspekt der Analyse von Kultur unter Konditionen der Globalisierung[4], so z.B. bei Appadurai[5] (1996) oder Eriksen[6] (2007).

Werden "Kulturen" als abgegrenzte und in sich geschlossene Einheiten gedacht, so könnte man in Analogie zum "methodologischen Nationalismus" von einem "methodologischen Kulturalismus[7] " sprechen, der ebenso kritikwürdig ist. Der Begriff des "methodologischen Kulturalismus" ist im Gegensatz zum "methodologischen Nationalismus" kein etablierter; er hat z.B. in philosophischen Fachdiskursen eine ganz andere Bedeutung als hier. Die Vorstellung von der Kultur als einem nach außen abgeschlossenen Rahmen für menschliche Interaktion und Sinngebung, die mit der Idee der eindeutigen Unterscheidbarkeit von "Kulturen" zusammenhängt, ist eine Sichtweise, die zumindest bis in die 1970er Jahre eine große Rolle in unserem Fach gespielt hat. Vereinfacht gesagt, nimmt diese Sichtweise an, dass "Kulturen" jeweils mit abgegrenzten Gruppen von Personen identifiziert werden können, dass es daher klare kulturelle Grenzen zwischen verschiedenen Gruppen gibt, dass die verschiedenen Gruppen jeweils in sich homogen sind, und dass Personen einer Kultur eindeutig zugeordnet werden können. Diese alte Vorstellung von Kultur, die gelegentlich als das Container- Modell von Kultur bezeichnet wird, war lange einflussreich. Sie steht in der Tradition von Franz Boas[8] und wird oft mit dem Werk von Clifford Geertz[9] assoziiert (vgl. Geertz 1973). Sie ist heute jedoch überholt (vgl. Eriksen 2010: 3 f.). Von "Kulturen" im Plural zu sprechen, wie dies im Alltagsdiskurs[10] (und teilweise auch immer noch im Fachdiskurs) getan wird, ist daher im heutigen Verständnis unseres Faches nicht mehr zulässig.

"Kulturen" sind nicht als eindeutig gegeneinander abgegrenzt zu verstehen, weil unterschiedliche Aspekte von Kultur (etwa Sprache, Traditionen, Religion, Herkunft und Abstammung, gemeinsame Geschichte) nicht notwendigerweise deckungsgleich sind. Wenn sie es überhaupt erlauben, Diversität[11] durch Grenzziehungen zu gliedern, so sind diese Grenzen vielfach nicht dieselben: religiöse und sprachliche Identität z.B. decken sich nicht. Sicherlich gibt es im Hinblick auf bestimmte kulturelle Aspekte manchmal mehr oder weniger klare Grenzen, so z.B. im Falle von Sprachgruppen. Aber selbst hier ist die Abgrenzung in der empirischen Realität oft nicht so eindeutig, wie wir sie zu denken gewohnt sind, weil unser Verständnis von Sprache von der vereinheitlichen Institution Schule geprägt ist, die durch nationalstaatliche Grenzen bestimmt ist und diese festigt. Phänomene wie Mehrsprachigkeit und sprachliche Inhomogenität stellen die Eindeutigkeit solcher Grenzen vielfach in Frage. Entscheidend ist also, dass an unterschiedlichen Aspekten von Kultur ansetzende Grenzziehungen nicht notwendigerweise übereinstimmen (auch wenn der moderne Nationalstaat mit seinen Institutionen die Tendenz hat, diese unterschiedlichen Aspekte von Kultur innerhalb seiner Grenzen zu homogenisieren).

Entscheidend ist auch, dass Kultur nicht so in sich homogen ist, wie man früher annahm. Sie ist "vielschichtig", d.h. sie setzt sich an jedem gegebenen Ort aus unterschiedlichen Elementen und Ebenen zusammen, die sich aus lokalen und globalen kulturellen Interaktionen ergeben und historisch gewachsen sind. Sie ist daher nicht notwendigerweise in sich harmonisch, sondern enthält widersprüchliche Elemente. In der heutigen Auffassung unseres Faches ist Kultur also weder homogen noch eindeutig abgrenzbar, wenngleich öffentliche Diskurse dies nach wie vor gerne annehmen. Kultur mag Unterschiede schaffen, sie zieht aber keine eindeutigen Grenzen.

Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass kulturelle Phänomene nicht als Grenzen wahrgenommen werden oder empirisch beobachtbare Grenzen hervorbringen können. Es gibt zweifellos kulturelle Grenzen; sie sind aber nicht so beschaffen, dass sie Gruppen von Menschen eindeutig identifizieren und dass wir von diesen Gruppen als "Kulturen" sprechen können.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Ethnizit%C3%A4t
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Eric_Wolf
[4] Siehe Kapitel 3.4
[5] Siehe Kapitel 3.4.6.7
[6] Siehe Kapitel 3.4.5
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturalismus
[8] Siehe Kapitel 2.3
[9] Siehe Kapitel 2.7
[10] Siehe Kapitel 1.1.5
[11] Siehe Kapitel 1.2.1

1.1.5 Exkurs: "Kultur" im öffentlichen Diskurs

Foto: Wahlplakat der FPÖ zur Nationalratswahl 2006, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/me_maya/245611256/)

Wenn im öffentlichen Diskurs heute von Kultur gesprochen wird, ist oft von kultureller Differenz die Rede. Aus anthropologischer Sicht könnte das zwar erfreulich sein, weil damit scheinbar die zentrale Perspektive unseres Faches aufgegriffen wird (gegenüber anderen Begriffsverwendungen, in denen Kultur z.B. für bestimmte gesellschaftlich hoch bewertete künstlerische Äußerungen steht). Tatsächlich gibt dieser Umstand aber kaum Grund zur Befriedigung, da die Art und Weise, wie der Begriff "Kultur"[1] gewöhnlich gebraucht wird, aus zwei Gründen problematisch ist.

  • Erstens wird im öffentlichen Diskurs meist eine Vorstellung von Kultur reproduziert, die in unserem Fach früher vertreten wurde, die aber heute weitgehend überwunden ist. Es handelt sich dabei um das früher einflussreiche Container-Modell von Kultur[2], dem wir heute kritisch gegenüberstehen.
  • Zweitens wird "Kultur" häufig als erklärende Variable von Zusammenhängen herangezogen. Demnach verhalten sich Menschen auf bestimmte Weise, weil sie einer konkreten Kultur angehören. Wenn Menschen mit unterschiedlichem "kulturellen Hintergrund" Probleme miteinander haben, wird von Medien und in öffentlichen Debatten regelmäßig ihre kulturelle Differenz als Ursache der Konflikte identifiziert. Aus Sicht der heutigen Kultur- und Sozialanthropologie kann aber Kultur für sich genommen nichts erklären. Kultur ist nicht mehr und nicht weniger als der variable Kontext, der Zusammenhang, in dem wir konkrete Phänomene untersuchen. Mit dem öffentlichen Diskurs über Kultur als kollektive Identität werden zudem nicht selten andere, bessere Erklärungsansätze verdeckt. Wenn z.B. Probleme in kulturell heterogenen Stadtteilen der kulturellen Differenz in die Schuhe geschoben werden, wird damit verschleiert, dass solche Probleme sehr häufig vor allem mit ausgeprägten sozialen Unterschieden zu tun haben. Diese Tatsache wird aber verdeckt, indem Kultur (oder ethnische Zugehörigkeit, die auf Kultur verweist) als alleiniges erklärendes Prinzip herangezogen wird.



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 2.7


1.1.6 Der verlorene Gegenstand unseres Faches

Foto: Perspektivenwechsel der KSA infolge globaler Vernetzungsprozesse, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/humanrights/4967385477/)

"Kultur"[1] und "Gesellschaft"[2] sind in erster Linie Abstraktionen und entstammen in ihrer Gegenüberstellung einem Akt analytischer Unterscheidung. Sie stellen keine konkreten "Dinge" dar, die in der empirischen Realität klar voneinander getrennt sind. Vielmehr geht es um unterschiedliche analytische Blickwinkel auf dieselben empirischen Zusammenhänge.

Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass der Kultur- und Sozialanthropologie der einst klar definierte Untersuchungsgegenstand - die Ethnien[3], Gesellschaften oder Kulturen, vorzugsweise die fernen außerhalb der modernen euro- amerikanischen Welt - zunehmend abhanden gekommen sind. Zum einen wegen der veränderten Perspektiven des Faches, zum anderen und mehr noch wegen der Veränderungen der Welt um uns, mit der wir uns befassen.

Die ältere ethnologische Perspektive auf Kultur und Gesellschaft, die in gewissem Ausmaß auf der schon immer illusionären Annahme eindeutig abgegrenzter Untersuchungseinheiten aufgebaut hat, ist vor dem Hintergrund der globalen Vernetzungen der Gegenwart[4] noch offenkundiger unzureichend, um aktuelle Phänomene wie die weltweiten Flüsse von Waren und Finanzen, Migrationsströme und dergleichen zu erfassen.

Die Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie für unser Fach trägt diesen perspektivischen und empirischen Veränderungen Rechnung. Wenn aber KSA nicht mehr die Erforschung der fernen Kulturen und Gesellschaften - der Ethnien - ist, was ist dann aus heutiger Sicht der Gegenstand des Faches?


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] Siehe Kapitel 1.1.2
[4] Siehe Kapitel 3.4.1


1.1.7 KSA als Lehre von den kulturellen und sozialen Aspekten des Menschseins

Abbildung: Die physische Anthropologie beschäftigt sich im Gegensatz zur KSA mit den biologischen Aspekten des Menschseins, Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dc/Drawing_of_the_bones_forming_the_skeleton..JPG)

Die Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie besteht aus drei Begriffen mit spezifischen Bedeutungen. Was ist unter diesen namensgebenden Komponenten der Disziplin zu verstehen?

Anthropologie setzt sich aus den griechischen Worten anthropos und logos zusammen und bedeutet somit "die Lehre vom Menschen". Die Anthropologie[1] ist also grundlegend definiert als eine Wissenschaft, die sich mit dem Menschen auseinandersetzt.

Es gibt eine Reihe von Fächern, in denen der Mensch jeweils im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Die Medizin z.B. beschäftigt sich ebenfalls mit dem Menschen, allerdings mit ganz anderen Zielsetzungen und Anliegen als die Kultur- und Sozialanthropologie. (Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch Berührungspunkte zwischen diesen beiden Fächern gibt. So gibt es in der KSA etwa die Subdisziplin der Medizinanthropologie[2], eine Forschungsrichtung mit starkem Praxisbezug, in der medizinische Themenfelder aus anthropologischer Perspektive betrachtet werden.) Ein anderes Beispiel ist die Physische Anthropologie[3], der es in erster Linie um die biologischen Aspekte des Menschen geht. Die KSA unterscheidet sich, wie der Name schon sagt, von anderen am Menschen interessierten Disziplinen dadurch, dass sie die kulturellen und sozialen Aspekte des Menschseins in den Vordergrund stellt. Sie interessiert sich heute nicht für Kulturen und Gesellschaften, sondern versteht Kultur und Gesellschaft als Abstraktionen. Es geht ihr also um "das Kulturelle"[4] und "das Soziale"[5] - Bereiche menschlicher kollektiver Existenz, die der abstrahierende Blick abgrenzt und voneinander isoliert.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Anthropologie
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Medizinethnologie
[3] http://www.anthropology.at/
[4] Siehe Kapitel 1.1.8
[5] Siehe Kapitel 1.1.9


1.1.8 Was ist "das Kulturelle"?

Abbildung: Was ist "das Kulturelle"?, M. Reitter nach [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Brain_in_a_vat_%28de%29.png)

Der Begriff Kultur[1] leitet sich vom lateinischen cultura her, das eigentlich "Anbau" (wie in kultivieren, Agrikultur) bedeutet. Das Wort hat aber in den europäischen Sprachen einen sehr viel weiteren Sinn bekommen und wird in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, die nur zum Teil für uns relevant sind. Nach Thomas Hylland Eriksen[2] bezieht sich Kultur im anthropologischen Sinn auf die "acquired, cognitive and symbolic aspects of [human] existence" (Eriksen 2010: 4). Was ist damit gemeint?

"Acquired" bedeutet soviel wie "erworben" im Gegensatz zu "ererbt". Sehr vereinfacht: Das Verhalten von Tieren ist im Großen und Ganzen instinktgeleitet, d.h. ererbt und daher biologischer und nicht kultureller Art. Der Mensch ist zweifellos auch ein Naturgeschöpf mit biologischer Seinsgrundlage. Diese biologische Grundlage ist etwas Universales; in den rein biologischen Aspekten des menschlichen Lebens sind dementsprechend überall die gleichen Muster zu beobachten. Es gibt aber offenkundig auch große Unterschiede menschlicher Lebensformen in Raum und Zeit.
Solche Unterschiede sind nicht aus einer universalen biologischen Grundlage heraus zu erklären. Sie sind kultureller Art und daher erworben. Im Gegensatz zu den universalen Verhaltensmustern, die uns angeboren sind, haben wir es bei den kulturellen Aspekten menschlichen Handelns mit Erlerntem zu tun. Kultur ist insofern erlernt, als sie von einer Person an die nächste weitergegeben wird. Sie ist kollektiv, weil diese Lernprozesse nicht nur individuell erfolgen, sondern in größere soziale und historische Zusammenhänge eingebunden sind. Kultur ist schließlich partikular, weil die Formen kulturellen Handelns sich in Raum und Zeit unterschiedlich entwickeln. Der Begriff des Handelns ist hier angemessener als jener des Verhaltens, weil er auf den sinngeleiteten Charakter menschlichen Tuns verweist.

Kultur hat aber nicht nur mit Handeln, sondern auch mit Denken, also mit gedachten Zusammenhängen, Sinngebungen und Bewertungen zu tun. Diese Bereiche von Kultur sind nicht allein aus dem beobachtbaren Handeln zu erschließen; sie können nur aus der Art und Weise verstanden werden, wie Menschen über sie sprechen oder sie erklären. Die Beobachtung menschlichen Handelns und das Kommunizieren, vor allem das Sprechen, mit Menschen sind daher die zentralen Instrumente methodischer Datengewinnung in der KSA[3].

Ein in der Geschichte des Faches zunächst eher untergeordneter Aspekt, der erst in den letzten Jahrzehnten stärker in den Vordergrund getreten ist, sind die impliziten Sinnzusammenhänge menschlichen Denkens, über die nicht explizit gesprochen wird, aber auch unterschiedliche Formen von sinnlicher Erfahrung, die nicht unmittelbar mit Sprache und Denken zu tun haben. In den Bereich des Kulturellen gehören auch die Produkte kulturellen Handelns, auf die wir uns mit Begriffen wie materielle Kultur[4] und visuelle Kultur[5] beziehen. Zusammenfassend lassen sich die wichtigsten Aspekte des Kulturellen jedoch mit den Begriffen des Handelns und Denkens benennen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] http://hyllanderiksen.net/
[3] Siehe Kapitel 1.3
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Materielle_Kultur
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Visual_culture

1.1.9 Was ist "das Soziale"?

Abbildung: Was ist "das Soziale"?, Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b9/Anti-capitalism_color.gif)

Der Begriff sozial kommt vom lateinischen societas, das man mit "Gesellschaft"[1] übersetzen kann. Das Soziale ist nicht etwas grundlegend anderes als das Kulturelle[2]. Beide Bereiche haben mit Aspekten menschlichen Lebens in Kollektiven zu tun, die sich zu einem guten Teil überlappen. Kultur und Gesellschaft werden analytisch - im Blick auf verschiedene Aspekte kollektiven menschlichen Handelns, Denkens und Interagierens - unterschieden, beziehen sich aber zum Großteil auf dieselben empirischen Zusammenhänge.

Steht beim Blick auf das Kulturelle das erlernte Handeln und Denken und dessen Einbettung in Sinnzusammenhänge im Vordergrund, so geht es beim Sozialen vor allem um die Interaktion von Menschen, um die Art, wie das Handeln von Menschen sich auf Andere auswirkt. Wenn soziale Interaktionen[3] mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattfinden und Formen erkennen lassen, die über den beobachteten Augenblick hinaus bestehen, so kann man diese mit einem weiteren abstrahierenden Begriff als Struktur bezeichnen. Das Soziale hat also immer auch mit Strukturen zu tun, mit bestimmten Zusammenhängen, in die Menschen eingebettet sind und die ihnen Handlungsmöglichkeiten vorgeben oder verschließen. Im Bereich des sozialen Handelns herrscht daher nicht in jedem Moment Freiheit. Vielmehr gibt es strukturell vorgegebene Möglichkeiten und Zwänge. Zudem beeinflussen sich Personen in ihrem Handeln wechselseitig, das Tun des Einen hat Auswirkungen auf Andere und umgekehrt. Wie das Kulturelle sind auch soziale Strukturen in historische Zusammenhänge eingebettet. Kulturelles und Soziales bedingen sich gegenseitig:Kulturelle Konzeptionen und Werte wirken auf soziales Handeln ein und lenken es; soziale Interaktionen ihrerseits wirken auf Kultur ein und prägen und verändern sie.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Interaktion

1.1.10 Warum Kultur- und Sozialanthropologie?


In den verschiedenen national geprägten Fachtraditionen gab und gibt es unterschiedliche Schwerpunkte und damit einhergehend auch unterschiedliche Bezeichnungen der Disziplin. So standen in der britischen Fachtradition[1] über lange Zeit in erster Linie die sozialen Zusammenhänge im Zentrum des Interesses. Dementsprechend lautete die Selbstbezeichnung dieser speziellen Ausprägung unseres Faches "Social Anthropology"[2]. In der US- amerikanischen Tradition[3] hingegen standen eher kulturelle Aspekte im Vordergrund, weshalb dort von "Cultural Anthropology"[4] die Rede war.

Diese unterschiedlichen Interessen sind ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend zusammengewachsen, was sich in neuen Etiketten wie etwa "Socio- cultural Anthropology" spiegelt. Die in Wien etablierte, etwas sperrige Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie[5] trägt diesen Entwicklungen Rechnung und steht für ein breites Fachverständnis, das beim Verstehen und Erklären menschlicher Lebenszusammenhänge weder dem Sozialen noch dem Kulturellen den Vorrang gibt, sondern beiden Aspekten gleiche Bedeutung zugesteht. Soziale und kulturelle Aspekte sind untrennbar miteinander verknüpft, beide sind notwendigerweise aneinander gebunden. Man kann das Soziale nicht ohne das Kulturelle denken und umgekehrt.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Social_anthropology
[3] Siehe Kapitel 2.3
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Cultural_anthropology
[5] http://ksa.univie.ac.at/



Nächstes Kapitel: 1.2 Was will Kultur- und Sozialanthropologie wissen?


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