Theoriegeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie/UK Funktionalismus

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Vorheriges Kapitel: 2.3 Franz Boas und der US-amerikanische Kulturrelativismus

2.4 Der britische Funktionalismus

verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter

Foto: "Resting Fiaker coachmen in Vienna, Austria" (2003), Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4e/Fiaker_Wien.jpg)


Während Franz Boas[1] als Alternative zum Evolutionismus[2] eine historisch- idealistische Haltung vertrat und die KSA so in eine Richtung lenkte, die stark durch das deutsche Konzept der Geisteswissenschaften geprägt war, formulierten die beiden großen Vertreter der ersten Generation des britischen Funktionalismus, Bronislaw Malinowski[3] und A. R. Radcliffe-Brown[4], eine andersgeartete Gegenposition zum klassischen Evolutionismus, den sie ebenso explizit ablehnten.

Sie nahmen eine dezidiert ahistorische Haltung ein, die sich - vor allem bei Radcliffe-Brown - stark an das Vorbild der Naturwissenschaften anlehnte. Wenn Thomas Hylland Eriksen (2010: 16) den Abschnitt zum Funktionalismus unter die Überschrift "The Two British Schools" stellt, so bezieht er sich damit auf die Gegensätze zwischen diesen beiden Gründervätern, die sich vom jeweils anderen und dessen Positionen ausdrücklich distanzierten. Wichtiger als die unterschiedlichen Akzente sind aber die Übereinstimmungen, die den Funktionalismus britischer Prägung charakterisieren. Er ging in beiden Spielarten davon aus, dass das Soziale ein integriertes System darstellte, in dem alle Elemente zusammenspielten und untrennbar miteinander verbunden waren. Es konnte daher auch nur im holistischen Blick auf das Ganze untersucht werden. Soziale Kohäsion und Gleichgewicht im System stellten in dieser Sicht den Normalzustand dar; Ungleichgewicht und Wandel waren dementsprechend schwer erklärbar (etwa aufgrund von Einwirkung von außerhalb).

Mit dieser Grundannahme verbunden war eine ebenso grundlegende synchrone Perspektive, die nach den Wechselbeziehungen zwischen gleichzeitig beobachtbaren Institutionen und Praktiken fragte und nicht (wie die diachrone Perspektive) nach ihren Veränderungen in der Zeit. Für den Funktionalismus konnte eine Institution nur aus der Rolle erklärt werden, die sie im sozialen Ganzen der Gegenwart spielte, also aus ihrer Funktion. Aus ihrem historischen Werden - für das es ohnehin in den "primitiven" Gesellschaften meist keine verlässlichen Quellen gab - konnte sie nicht erklärt werden. Für den Evolutionismus hingegen erklärten sich alle sozialen Institutionen aus ihren Ursprüngen und ihrer allmählichen Entwicklung in der Zeit. Der Funktionalismus dagegen betrachtete die Vergangenheit als irrelevant, sie konnte nichts erklären.

Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Varianten des britischen Funktionalismus war die strikt induktive, empiristische Haltung, mit der Malinowski und Radcliffe- Brown an die Ethnographie herangingen. In ihr wurzelt auch das von Malinowski[5] entwickelte Konzept der Feldforschung als participant observation[6].

Der Gegensatz zwischen synchroner und diachroner Perspektive wird besonders deutlich in der Kritik Malinowskis (1975: 68-71) am evolutionistischen Konzept der "survivals" - laut Tylor Kulturelemente, die irgendwie nicht in den Zustand ihrer Gesellschaft passten, weil sie Überreste eines älteren Zustandes darstellten (vgl. Kapitel 2.1.2). Für Malinowski war diese Idee absurd: Eine Pferdekutsche sei in einer modernen Großstadt neben dem Auto irgendwie ein Fremdkörper. War sie deshalb ein survival? Nein, denn sie sei nicht einfach als das erstarrt, was sie früher einmal gewesen war. Sie hatte vielmehr ihre Funktion verändert und sei nun sehr wohl harmonisch und funktionell integriert: "Solch eine überlebte Art der Fortbewegung dient heute einer rückwärtsgerichteten Gefühlsregung ... ; häufig, so bin ich geneigt zu argwöhnen, tritt sie in Funktion, wenn der Insasse leicht angetrunken oder sonst romantisch gestimmt ist" (Malinowski 1975: 69).

Funktionalistische Ansätze gab es nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen nationalen Traditionen sowie in anderen Fächern (etwa in der Soziologie). Am konsequentesten wurden sie aber in der britischen Tradition vertreten; hier hatten sie auch den größten Einfluss. Gemeinsam prägten Malinowski und Radcliffe-Brown ab 1920 die britische "Social Anthropology". Ihr Einfluss hielt, ähnlich wie jener von Boas in den USA, über ihre unmittelbaren Schüler hinaus an, auch wenn man in den 1950er Jahren allmählich begann vom Funktionalismus abzurücken.

Inhalt



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] Siehe Kapitel 2.4.2
[4] Siehe Kapitel 2.4.1
[5] Siehe Kapitel 2.4.2
[6] Siehe Kapitel 1.3.2


2.4.1 A. R. Radcliffe-Brown

Foto: Alfred Radcliffe-Brown, Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d1/Alfred_Radcliffe-Brown.jpg)

Alfred Reginald Radcliffe-Brown[1] (1881-1955) war eindeutig der strengere und konsistentere Theoretiker unter den Begründern des britischen Funktionalismus[2]. Die logische Klarheit seiner Formulierungen machte allerdings die Grenzen seiner theoretischen Leitideen auch deutlicher sichtbar. Die holistische Auffassung von der Gesellschaft als ein funktionales Ganzes drückte er in seiner berühmten Organismus-Analogie aus. Gesellschaft setzte sich für ihn so wie ein lebender Organismus aus bestimmten Elementen zusammen, die in einer Struktur angeordnet seien: Das Leben eines Organismus werde durch das Funktionieren seiner Elemente aufrechterhalten. Analog dazu beruhe die Kontinuität einer sozialen Struktur auf der Funktion ihrer Elemente. So wie die Organe durch ihre Funktion das Leben des Gesamtorganismus sicherstellten, leisteten soziale Institutionen durch ihre Funktion einen notwendigen Beitrag zur sozialen Kontinuität (Radcliffe-Brown 1951 [1935]: 178ff.).

Ein solches Verständnis von Struktur und Funktion beruht auf einer strikt synchronen und ahistorischen Betrachtung. Die Tatsache, dass alles Soziale und Kulturelle in historische Prozesse eingebunden ist und sich in diesen Prozessen verändert, hat darin keinen Platz. Darin besteht die vielleicht größte Schwäche des funktionalistischen Ansatzes Radcliffe-Browns.

Die Organismus-Analogie verweist darauf, dass Radcliffe-Browns wissenschaftliches Leitbild jenes der Naturwissenschaften war. Die KSA war für ihn eine Naturwissenschaft des Sozialen, die nach der Formulierung allgemein gültiger Gesetzmäßigkeiten strebte - ein hoher Anspruch, mit dem Radcliffe-Brown klar gescheitert ist.

Zu seinen wichtigsten Schülern zählten Edward E. Evans-Pritchard[3] und Meyer Fortes[4], beide zentrale Vertreter der zweiten Generation des britischen Funktionalismus. Sie wandten sich vom Leitbild der Naturwissenschaften ab. Evans-Pritchard (1950) sagte sich ab 1950 auch sehr deutlich von der ahistorischen Haltung des Funktionalismus los.


Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Radcliffe-Brown
[2] Siehe Kapitel 2.4
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/E._E._Evans-Pritchard
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Meyer_Fortes


2.4.2 Bronislaw Malinowski

Foto: Bronislaw Malinowski mit einer Gruppe TrobrianderInnen (ca. 1918), Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/69/Bronis%C5%82aw_Malinowski_among_Trobriand_tribe.jpg)

Bronislaw Malinowski[1] (1884-1942), geboren in Krakau und ab 1910 in London, war als Theoretiker weit weniger ergiebig. Sein Funktionsbegriff war weniger konsistent als jener Radcliffe-Browns. Er betonte zwar auch die holistische Perspektive und das funktionale Zusammenspiel von sozialen Praktiken und Institutionen in einem Gesamtsystem. Während aber für Radcliffe-Brown[2] die Funktion jedes Elements in seinem Beitrag zur Aufrechterhaltung der Gesamtstruktur lag, leitete Malinowski die Funktion aus der Befriedigung der individuellen menschlichen Bedürfnisse ab, die für ihn in der Biologie wurzelten. Daraus folgte eine erhöhte Aufmerksamkeit für den individuellen Akteur; auch das Kulturelle spielt bei ihm eine viel wichtigere Rolle als bei Radcliffe-Brown, bei dem es ziemlich im Hintergrund steht.

Wenn auch kein brillanter Theoretiker, so war Malinowski doch ein sehr inspirierender und charismatischer Lehrer, der (zum Teil gemeinsam mit Radcliffe- Brown) eine ganze Generation von AnthropologInnen prägte. Er war auch ein großer Feldforscher[3], der subtile ethnographische Beschreibungen lieferte. Seine besondere Bedeutung liegt vor allem in der Vorbildwirkung seiner Ethnographie[4], die er ab 1914 auf den (heute zu Papua-Neuguinea gehörenden) Trobriand-Inseln durchführte. Er gilt als Begründer der Methode der teilnehmenden Beobachtung[5], eines zentralen Konzeptes der modernen anthropologischen Feldforschung (vgl. Kapitel 1.3.2). Diese Zuschreibung ist nicht unberechtigt, trägt jedoch auch deutliche mythische Züge (vgl. Kuper 1996: 9f.). Thomas Hylland Eriksen (2010: 17) zeigt, dass es auch vor Malinowski bereits Beispiele für ähnlich intensive Ethnographie gibt. Malinowski schrieb allerdings die Anforderungen für einen solchen Zugang fest und etablierte die participant observation damit als verbindliches Modell für die Datenerhebung in der KSA.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[2] Siehe Kapitel 2.4.1
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Argonauts_of_the_Western_Pacific
[5] Siehe Kapitel 1.3.2



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