Was ist Kultur- und Sozialanthropologie/Was will Kultur- und Sozialanthropologie wissen

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Vorheriges Kapitel: 1.1 Was untersucht Kultur- und Sozialanthropologie?

1.2 Was will Kultur- und Sozialanthropologie wissen?

verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter
Die Kultur- und Sozialanthropologie untersucht die kulturellen[1] und sozialen[2] Aspekte menschlichen Handelns, Denkens und Interagierens. Sie tut dies jedoch nicht allein: Viele kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen haben (mit unterschiedlichen Schwerpunkten) denselben Anspruch. Sie beschäftigen sich oft mit sehr ähnlichen oder den gleichen Themen und Fragestellungen. Zentrale aktuelle Themen der KSA wie etwa Migration[3] werden auch von Soziologie und Kulturgeographie und von anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächern untersucht. Wenn das so ist, was ist dann das spezifisch Kultur- und Sozialanthropologische an unserer Auseinandersetzung mit solchen Themen? Warum beanspruchen wir einen Status als eigenständiges Fach, statt uns mit anderen Fächern zusammenzutun, die ja die gleichen empirischen Phänomene und Zusammenhänge beforschen?

Inhalt



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.8
[2] Siehe Kapitel 1.1.9
[3] Siehe Kapitel 2 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie


1.2.1 Die Prämisse der Diversität

Foto: Markt in Ghardaia, Algerien (1970), Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/cc/Ghardaia_Dromedar.jpg)

Kultur- und Sozialanthropologie[1] definiert sich heute nicht mehr wie früher über einen bestimmten Ausschnitt der empirischen Welt, der ihren Gegenstand bildet. Was sie von thematisch verwandten Disziplinen unterscheidet, die sich teilweise mit den gleichen empirischen Zusammenhängen befassen, das ist zum einen die spezifische Perspektive des Faches[2], die auf einer zentralen zugrundeliegenden Prämisse oder Annahme basiert. Zum anderen ist es ein spezifischer methodischer Zugang zur Datenerhebung[3] .

Thomas Hylland Eriksen zitiert den Anthropologen Michael Carrithers mit den Worten: "... the central problem of anthropology is the diversity of human social life" (Eriksen 2010: 5). Er selbst beschreibt das wissenschaftliche Programm unseres Faches folgendermaßen: "Anthropology tries to account for the social and cultural variation in the world, but a crucial part of the anthropological project also consists in conceptualizing and understanding similarities between social systems and human relationships" (Eriksen 2010: 1). In anderen Worten: KSA versucht, soziale und kulturelle Zusammenhänge zu verstehen und zu erklären und zwar unter der Annahme ihrer Vielgestaltigkeit, Diversität und Variabilität, aber auch in Anerkennung der grundlegenden Gemeinsamkeiten, die hinter den unterschiedlichen Erscheinungsformen stehen (vgl. Hannerz 2010).

Diese Annahme der Diversität ist die unserem Fach ureigene Perspektive, die sie von anderen Fächern unterscheidet (auch wenn sie von diesen zunehmend aufgegriffen wird). In anderen Disziplinen wird oft unkritisch und unhinterfragt angenommen, dass die sozialen und kulturellen Verhältnisse, in denen wir selbst leben, die Norm oder das Ziel für menschliches Zusammenleben insgesamt darstellen. Manchmal wird die Verschiedenartigkeit soziokultureller Zusammenhänge einfach übersehen; manchmal wird sie (oft unausgesprochen) als irrelevant abgetan. In wieder anderen Fällen wird davon ausgegangen, dass die anderswo zu beobachtenden Verhältnisse eigentlich so sein sollten oder so werden sollen wie bei uns. In Bezug auf unterschiedliche politische Systeme findet man nicht selten die implizite Annahme oder die explizite Aussage, die politische Ordnung einer parlamentarischen Demokratie sei für alle Gesellschaften die angemessene und richtige. Als politischem Werturteil mag man dem möglicherweise zustimmen; ausgehend von der Prämisse der Diversität sind wir als Kultur- und SozialanthropologInnen aber überzeugt, dass eine solche ethnozentrische Annahme[4] einem Verständnis der andersgearteten politischen Strukturen nur im Weg steht. Die letztlich provinzielle Orientierung an den eigenen vertrauten Verhältnissen wird als erkenntnisbehindernd zurückgewiesen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1
[2] Siehe Kapitel 1.1
[3] Siehe Kapitel 1.3
[4] Siehe Kapitel 1.2.4


1.2.2 Das Ziel wertfreien Verstehens

Ausgehend von der Prämisse der Diversität[1] und der wissenschaftshistorischen Erfahrung der forschenden Auseinandersetzung mit kultureller Diversität rechnet die Kultur- und Sozialanthropologie damit, an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten, aber auch im Inneren einer konkreten Gesellschaft, kulturelle Unterschiede anzutreffen. Sie versucht, der Begegnung mit dem aus der Sicht der eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Prägung Fremden gegenüber offen zu sein. Sie versucht vor allem, die Wahrnehmung des Fremden nicht normativ aufzuladen, d.h. "Anderes" nicht voreilig nach eigenen Maßstäben zu bewerten.

Das bedeutet allerdings nicht, dass wir alles, was wir sehen, gutheißen und verteidigen müssen. Wir haben gute Gründe, gewisse Praktiken abzulehnen und zu bekämpfen - z.B. Genitalverstümmelungen[2], die an Kindern durchgeführt werden, an Menschen also, die nicht imstande sind, ihre Zustimmung dazu zu geben oder zu verweigern. Eine wertende Stellungnahme zu solchen Praktiken ist nicht prinzipiell unzulässig. Wir wissen auch, dass wir jenen Gesellschaften, in denen sie vorkommen, mit dieser Ablehnung keine externe Sichtweise aufzwingen, gibt es doch auch in diesen Gesellschaften Menschen, die sich dafür engagieren, diese Praktiken zum Verschwinden zu bringen. Aber als AnthropologInnen gehen wir davon aus, dass wir solche Phänomene und ihre Bedeutung für die handelnden Menschen besser verstehen können, wenn wir sie in ihrer eigenen Logik betrachten und unsere eigene Bewertung vorläufig zurückstellen.

Es ist also eine Grundannahme der KSA, dass vorschnelles Bewerten, das in der Regel von den eigenen kulturellen Annahmen und Werten bestimmt ist, einem tieferen Verständnis im Weg steht. Diese Annahme verbietet uns aber nicht, die empirischen Phänomene, die wir erforschen, in einem zweiten Schritt aufgrund unserer humanitären und moralischen Werte und unserer politischen Überzeugungen zu bewerten und gegebenenfalls auch auf sie Einfluss zu nehmen. Im Gegenteil: Wenn wir Praktiken wie Genitalverstümmelungen bekämpfen wollen, dann können wir das nur sinnvoll tun, wenn wir sie zuvor verstanden haben.

Das wissenschaftliche Ziel des möglichst wertfreien Verstehens und Erklärens kultureller und sozialer Zusammenhänge ist grundsätzlich von ihrer persönlichen subjektiven Beurteilung und Bewertung zu unterscheiden. Die eine Haltung ist aber nicht besser oder legitimer als die andere. Wir haben nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, zu den Verhältnissen, die wir beforschen, auch humanitär und politisch verantwortungsvoll Stellung zu nehmen. Solche ethischen Stellungnahmen können nur kulturell geprägt sein. Im Erkenntnisprozess müssen wir uns aber bemühen, unsere eigenen kulturell[3] geprägten Haltungen so gut wie möglich aufzudecken und zu hinterfragen, um auf diese Weise zu vermeiden, dass sie das Ziel wissenschaftlichen Verstehens behindern.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Weibliche_Genitalverst%C3%BCmmelung
[3] Siehe Kapitel 1.1.8


1.2.3 Zum Widerspruch von Prämisse und Ziel

Abbildung: Kulturfreiheit ist nie gänzlich möglich, M. Reitter

Die Kultur- und Sozialanthropologie geht grundsätzlich davon aus, dass Menschen in ihrer Wahrnehmung, in ihren Werten und in ihrem Handeln entscheidend durch kulturelle - also erlernte und nicht angeborene - Faktoren geprägt sind. Diese kulturellen Zusammenhänge sind partikular und variabel: Sie sind unterschiedlich für Menschen an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Positionen in einer Gesellschaft[1]. Was bedeutet das für das anthropologische Forschungsvorhaben?

Andere anthropologisch zu verstehen bedeutet, sie über kulturelle[2] Unterschiede und kulturelle Grenzen hinweg zu verstehen. Wenn uns das gelingen soll, dann müssen wir versuchen, das, was uns selbst kulturell prägt, in einem selbstreflexiven Prozess zu erkennen und zu hinterfragen. Die eigenen kulturellen Annahmen stellen in der Regel keine geeigneten Werkzeuge dar, um eine andere kulturelle Realität zu erfassen. Wir können aber aus der eigenen kulturellen Prägung nicht gänzlich heraustreten und uns völlig "kulturfrei" machen. Es besteht also ein grundsätzlich nicht auflösbarer Widerspruch zwischen der Annahme der Diversität[3] auf der einen und dem Ziel des wertfreien Verstehens auf der anderen Seite. Es bleibt aber dennoch unser primäres Ziel, so weit wie möglich von den eigenen kulturellen Prägungen zu abstrahieren, im Bewusstsein, dass wir dieses Ziel nicht zur Gänze erreichen können. Im konkreten Forschungsprozess müssen wir uns kontinuierlich bemühen, uns diesem Ziel anzunähern, so gut es geht. Die absolute Kulturfreiheit aber ist bestenfalls eine Illusion.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
[3] Siehe Kapitel 1.2.1

1.2.4 Ethnozentrismus

Abbildung: Ethnozentrismus, M. Reitter

"Ethnozentrismus" ist für die Kultur- und Sozialanthropologie ein zentraler Begriff. Er wurde bereits 1907 von dem amerikanischen Anthropologen und Soziologen William Graham Sumner[1] geprägt: "Ethnocentrism is the technical name for [the] view of things in which one's own group is the center of everything, and all others are scaled and rated with reference to it" (Sumner 1906: 13).

Für Thomas Hylland Eriksen[2] bedeutet Ethnozentrismus in erster Linie, die Handlungen und Meinungen Anderer durch die eigene kulturell geprägte Brille zu betrachten und zu bewerten (vgl. Eriksen 2010: 7 f.), wobei es ihm vor allem um den bewertenden Aspekt geht. Dies ist ein wichtiger Punkt, da auch wissenschaftliche Erklärungen von Zusammenhängen oft implizite Bewertungen enthalten. Trotzdem bleibt dieses Argument gegen den Ethnozentrismus letzten Endes ein moralisierendes: Es ist falsch, Andere abzuwerten, wenn sie nicht den eigenen kulturellen Maßstäben entsprechen.

Wenn man von Ethnozentrismus als empirischem[3] Phänomen spricht, dann steht dieser wertende Aspekt sicherlich im Vordergrund: Die Wahrnehmung von Andersartigkeit, von kultureller Differenz, wird oft in negativ wertender Weise artikuliert und mit der Forderung nach Anpassung der Anderen an die eigenen Werte, Gewohnheiten und Maßstäbe verbunden.

In der KSA ist aber der epistemologische Aspekt von Ethnozentrismus entscheidender. Es mag nicht allzu schwer sein, die Haltung eines explizit wertenden Ethnozentrismus zu vermeiden; damit ist aber noch lange nicht sichergestellt, dass unsere kulturellen Vorannahmen ohne störenden Einfluss auf unsere Erkenntnisfähigkeit bleiben. In der ethnographischen Auseinandersetzung[4] mit kultureller Diversität[5] manifestiert sich das zentrale erkenntnistheoretische Problem des Ethnozentrismus in der Frage, ob und wie die eigene kulturell geprägte Weltsicht mit ihren Denk- und Erklärungsansätzen geeignet ist, die Realität der Anderen zu erfassen. Sind wir uns unserer eigenen kulturellen Annahmen ausreichend bewusst, um zu vermeiden, dass sie unsere Wahrnehmung anderer kultureller Sichtweisen und Praktiken verzerren? Sind unsere Erkenntnisinstrumente so beschaffen, dass sie nicht letztlich nur unsere eigenen Annahmen auf Andere projizieren und somit unsere Erkenntnis behindern?


Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/William_Graham_Sumner
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hylland_Eriksen
[3] Siehe Kapitel 2 der Lernunterlage Einführung in die Empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie

[4] Siehe Kapitel 1.3.1
[5] Siehe Kapitel 1.2.1

1.2.5 Ethnozentrismus und das "anthropologische Projekt"

Foto: Abstammung und Heirat als universelle Grundlage von Verwandtschaft?, Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0a/Cambodia_wedding.jpg)

In dem anthropologischen Projekt, von dem Thomas Hylland Eriksen (2010: 1; vgl. Kapitel 1.2.1) spricht, ist es von zentraler Bedeutung, die eigenen Instrumente der Wahrnehmung und Interpretation der empirischen Welt ständig kritisch zu hinterfragen. Diese Art der Reflexion etablierter Erkenntnismittel im Hinblick auf die Frage, ob sie tatsächlich leisten, was von ihnen erwartet wird, hat in der Geschichte unseres Faches immer schon eine große Rolle gespielt. Diese Frage spricht zwar ein Grundproblem jeder Erkenntnistheorie[1] an; im anthropologischen Zusammenhang ist sie aber von besonderer Dringlichkeit, weil der Gegenstand, den wir beforschen - kulturell geprägte Haltungen und Praktiken sowie kulturelle Weltsicht ganz allgemein - eine grundlegende Ähnlichkeit mit den Erkenntnisinstrumenten hat, mit denen wir ihn zu erfassen versuchen. Unsere wissenschaftlichen Instrumente, mit denen wir Verstehen über kulturelle Grenzen hinweg erreichen wollen, sind eben nicht per se kulturell neutral. Wenn wir sie naiv und unreflektiert dafür halten, dann gehen wir in die Falle des Ethnozentrismus. Hinterfragen und überprüfen wir unsere theoretischen Perspektiven, Modelle und Begriffe dagegen kritisch, dann können wir implizit ethnozentrische Annahmen aufdecken und korrigieren.

Dieser Prozess ist so etwas wie ein roter Faden, der sich durch die gesamte Theoriengeschichte des Faches zieht. Ein gutes Beispiel bietet das Forschungsfeld der Verwandtschaftsanthropologie, das bereits in der Frühzeit der KSA durch die Arbeiten von Lewis Henry Morgan[2] und seinen Zeitgenossen etabliert wurde. Seit damals und bis in die 1970er Jahre hinein wurde - auch wenn die theoretischen Konzepte in dieser langen Zeit heftig debattiert und vielfach modifiziert wurden - mehrheitlich davon ausgegangen, dass trotz der auffälligen beobachtbaren Variabilität verwandtschaftlicher Beziehungen die Grundlage von Verwandtschaft letzten Endes überall die selbe sei: nämlich die genealogischen Beziehungen von Abstammung und Heirat.

Ab den 1970ern tauchte die These auf, dass diese scheinbar kulturell neutrale genealogische Perspektive auf einem durch und durch eurozentrischen Vorurteil beruhe. David Schneider[3] (1984) zeigte an einem konkreten Fallbeispiel, dass es völlig andersgeartete kulturelle Auffassungen von Beziehungen "verwandtschaftlicher" Art gab, die keinerlei genealogische Grundlage hatten. Davon ausgehend behauptete er, Verwandtschaft im genealogischen Sinn gebe es überhaupt nur in Europa und im modernen Amerika. Wenn wir glaubten, anderswo solche Verwandtschaftsbeziehungen wahrzunehmen, so sei dies nichts als eine Illusion, in der wir unsere eigenen kulturellen Annahmen reproduzierten. Diese Kritik, grundsätzlich berechtigt, aber in ihrer Radikalität sicher übertrieben, führte zu einem tiefgreifenden Umdenken in der Verwandtschaftsanthropologie und zu neuen theoretischen Konzepten, die mit der Übertragung scheinbar selbstverständlicher Annahmen auf andere kulturelle Zusammenhänge kritischer und reflektierter umgehen.

Dieses kontinuierliche Hinterfragen der Instrumente, mit denen wir die Lebenswelten Anderer zu erfassen versuchen, macht letztlich das anthropologische Projekt aus. In der KSA führt dies, ausgehend von der Annahme kultureller Diversität[4], zu zwei eng miteinander verbundenen Grundhaltungen, die wir "methodologischen Skeptizismus"[5] und "methodologischen Relativismus"[6] nennen können.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Erkenntnistheorie
[2] Siehe Kapitel 2.1.1
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/David_M._Schneider
[4] Siehe Kapitel 1.2.1
[5] Siehe Kapitel 1.2.6
[6] Siehe Kapitel 1.2.7


1.2.6 Methodologischer Skeptizismus

Abbildung: Methodologischer Skeptizismus, M. Reitter

Methodologischer Skeptizismus bedeutet einfach, dass wir den eigenen Erkenntnisinstrumenten skeptisch gegenüber stehen, weil sie möglicherweise ethnozentrische Annahmen[1] enthalten. Wir dürfen ihnen nicht blind vertrauen, sondern müssen sie ständig darauf hin überprüfen, ob sie der spezifischen kulturellen Realität, die wir mit ihnen erfassen wollen, angemessen sind. Mit Erkenntnisinstrumenten sind begriffliche Kategorien, Klassifikationsschemata, Methoden und Theorien gemeint, mit denen wir operieren und die unsere Wahrnehmung lenken. Sie sind insofern Instrumente, als sie festlegen, welche Elemente der empirischen Welt wir sehen, was wir für wichtig halten und was wir als unwichtig beiseite lassen. Sie weisen den Phänomenen, die wir wahrnehmen, Relevanz zu und bringen sie in ordnende und erklärende Zusammenhänge.

Die Frage, ob diese Instrumente wirklich geeignet sind, um eine möglicherweise ganz anders geartete Sicht auf die Welt als die unsere zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären, ist so etwas wie die zentrale Grundfrage in der kultur- und sozialanthropologischen Forschung. Wenn wir unkritisch davon ausgehen, dass Andere ihre Welt so sehen wie wir, dann können wir die Diversität, die uns interessiert, nicht verstehen, weil wir sie von vornherein nicht zulassen. Der methodologische Skeptizismus ist also eine reflexiv-kritische Haltung mit dem Ziel, unsere methodisch-theoretische toolbox so weit wie möglich vom epistemologischen Ethnozentrismus zu befreien. Entscheidend ist, dass diese Haltung kontinuierlich in den Forschungsprozess eingreift: Die Einsichten, die ich mir im Feld[2] erarbeitet habe, tragen laufend dazu bei, meinen Zugang zu diesem Feld zu modifizieren und zu adaptieren.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.4
[2] Siehe Kapitel 1.3.1


1.2.7 Methodologischer Relativismus

Abbildung: Methodologischer Relativismus, M. Reitter

Relativismus bezeichnet im Prinzip eine philosophisch- erkenntnistheoretische Position, nach der das, was man wissen kann, nie absolut ist. Die Realität sieht nicht für jedeN BetrachterIn in jeder Situation gleich aus, sondern ist von der betrachtenden Person, vom jeweiligen Blickwinkel abhängig. Für den Relativismus kann es dementsprechend keine absolute, sondern nur relative Wahrheit geben.

In der Kultur- und Sozialanthropologie wird eine solche Position im sogenannten "harten" Kulturrelativismus[1] eingenommen, der im Prinzip nichts wesentlich anderes sagt, wenn er die Relativität von Positionen auf Kultur zurückführt. Menschen sind in unterschiedliche kulturelle Zusammenhänge eingebunden und betrachten die Realität daher aus unterschiedlichen Perspektiven. Jede Kultur[2] hat ihre eigene innere Logik; es gibt keine gemeinsame Perspektive, die für alle Menschen in allen kulturellen Zusammenhängen gleichermaßen gültig ist. Menschen leben in unterschiedlichen kulturellen Welten, von denen sich jede ihre eigene Wirklichkeit konstruiert. Für den "harten" Kulturrelativismus gibt es keine "transkulturellen" Wahrheiten, im Extremfall nicht einmal die Möglichkeit, aus der Perspektive einer Kultur in jene einer anderen zu "übersetzen".

Die Haltung des methodologischen Relativismus geht nicht so weit. Sie nimmt nicht notwendigerweise die Existenz inkompatibler kultureller Welten an. Sie sagt vielmehr, wir können nicht voraussetzen, dass die Anderen, deren Welt wir verstehen wollen, diese auf ähnliche Weise sehen wie wir. Gehen wir also zunächst davon aus, dass ihre Welt anders ist, und versuchen wir, sie in ihrer eigenen Logik zu verstehen. Dieser Relativismus ist deswegen methodologisch, weil er von Diversität als methodischer Annahme ausgeht. Die Möglichkeit, sich transkulturell auf eine Wirklichkeit zu einigen, schließt das nicht aus.

Wir riskieren es, unsere Sicht der Welt, in der Andere leben, zu verzerren, wenn wir naiv davon ausgehen, dass diese der unseren gleichgeartet ist und dass unsere Perspektiven und Werte den besten Zugang zu ihr bieten. Der notwendige Relativismus dieser Haltung ist also ein methodologischer Zwischenschritt, der am Ende des Erkenntnisprozesses, anders als der eigentliche "harte" Kulturrelativismus, durchaus zu Aussagen führen kann, die Anspruch auf überkulturelle oder sogar universale Gültigkeit erheben (vgl. Eriksen 2010: 8 f.).


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturrelativismus
[2] Siehe Kapitel 1.1.4


1.2.8 Relativismus und Universalismus

Eine erkenntnistheoretische Gegenposition zum Relativismus ist der Universalismus, der eine gemeinsame übersubjektive Wirklichkeit annimmt.Während die meisten Kultur- und SozialanthropologInnen auf der methodologischen Ebene eine relativistische Haltung einnehmen dürften, ist auf der Ebene erkenntnistheoretischer Positionen das ganze Spektrum zwischen den beiden Extremen von Kulturrelativismus und Universalismus zu finden.

Während der "harte" Kulturrelativismus von der als unüberbrückbar gedachten kulturellen Differenz ausgeht, steht für den Universalismus die grundlegende Einheit menschlicher sozialer und kultureller Erscheinungsformen im Vordergrund (Eriksen 2010: 5 f.). Universalistische Positionen in der Kultur- und Sozialanthropologie gehen davon aus, dass alle menschlichen Gesellschaften[1] wesentliche Aspekte von Gesellschaft und Kultur[2] miteinander teilen. Diese Annahme ist letztlich auch die Voraussetzung dafür, dass man sie überhaupt gemeinsam und vergleichend betrachten kann. Wenn wir von Kultur sprechen, wird meistens zuerst an kulturelle Differenz gedacht. Dahinter steht aber durchaus auch ein universalistisches Verständnis des Menschen als eines Wesens, das auch in den unterschiedlichsten Kontexten eine entscheidende Ähnlichkeit aufweist: nämlich die grundsätzliche Kulturfähigkeit. Mit dem Begriff der Kultur geht also der Blick auf die kulturelle Diversität ebenso einher wie jener auf die Ähnlichkeit, welche die partikularen kulturellen Erscheinungsformen letztlich miteinander verbindet. Eine KSA, die nicht ins Extrem des "harten" Kulturrelativismus verfällt, ist also grundsätzlich immer an Unterschieden und Gemeinsamkeiten interessiert. Sie hütet sich aber gleichzeitig vor der naiven ethnozentrischen[3] Projektion, die den eigenen Vorstellungen universale Gültigkeit zuschreibt, weil sie ihre Kulturgebundenheit nicht sieht.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] Siehe Kapitel 1.2.4


1.2.9 Exkurs: Homogenisierung, kulturelle Diversität und "Anthropology at Home"

Dass Menschen in anderen kulturellen und sozialen Zusammenhängen leben als wir, erscheint uns im Fall der überschaubaren nicht industrialisierten Gesellschaften, mit denen sich die KSA früher in erster Linie beschäftigte, ziemlich evident. Heute kann man aber durchaus in die Ferne reisen, ohne auf so offensichtliche Weise mit Diversität[1] konfrontiert zu sein.

Die Annahme weltweit zunehmender Ähnlichkeit kultureller Lebensweisen und sozialer Organisationsformen ist verbreitet und scheint naheliegend. Kann man aber aus Beobachtungen wie jener, dass die Einkaufsstraßen in den globalen und konsumorientierten Städten vielerorts gleich aussehen und man in diesen Straßen die gleichen Geschäfte der gleichen Handelsketten, möglicherweise sogar mit den gleichen Produkten findet, wirklich auf eine solche Angleichung schließen?

Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Thesen, die davon ausgehen, dass im Zuge solcher Entwicklungen die Bedeutung kultureller Unterschiede schwindet und dass unter dem Einfluss von Industrialisierung und Globalisierung[2] Gesellschaften und Lebensverhältnisse einander immer ähnlicher werden. In den Sozialwissenschaften werden diese unter dem Begriff der "Homogenisierungsthese"[3] zusammengefasst. Viele AnthropologInnen, aber auch VertreterInnen anderer Sozialwissenschaften haben diese Annahmen jedoch als zu oberflächlich zurückgewiesen: Globale Einflüsse, Vorbilder, Waren und Informationen werden nicht einfach übernommen, sondern lokal interpretiert[4], transformiert und angeeignet. In diesen Prozessen, die mit Begriffen wie Glocalization[5] (Robertson 1995) und Creolization[6] (Hannerz 1992) beschrieben werden, bilden sich neue Formen von Diversität.

Aus anthropologischer Perspektive verbergen sich hinter der scheinbar zunehmenden kulturellen Ähnlichkeit also weiterhin Unterschiede, die man erst bei genauerem Hinsehen erkennen kann. Die Einsichten in die Existenz radikaler kultureller Diversität, die wir aus Begegnungen mit Menschen am Amazonas oder in der Kalahari gewonnen haben, haben auch den Blick für die vielleicht subtilere Diversität jener Realität geschärft, die oberflächlich betrachtet ähnlich aussieht wie die eigene.

Dieses subtilere Verständnis von Diversität hat auch dazu geführt, dass Kultur- und SozialanthropologInnen heute ihre eigenen Herkunftsgesellschaften als ebenso legitimes Forschungsfeld betrachten wie die fernen "exotischen" Lebenswelten, mit denen sich das Fach traditionell beschäftigt hat. Die sogenannte "Anthropology at Home"[7] findet unter der Prämisse der Diversität und unter Anwendung ethnographischer Methoden[8] auch in der scheinbar vertrauten Nähe ein reiches Forschungsfeld.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] Siehe Kapitel 3.4.2
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.6
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.1
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Glocalization
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Creolization
[7] Siehe Kapitel 5.2.1.5 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[8] Siehe Kapitel 5.2 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie



Nächstes Kapitel: 1.3 Methoden: Wie gelangt Kultur- und Sozialanthropologie zu ihrem Wissen?


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