Der Prozess der Datenerhebung
Contents
- 1 5. Der Prozess der Datenerhebung
- 2 Inhaltsverzeichnis
- 3 Weitere Kapitel dieser Lernunterlage
- 4 5.1 Strategien der Datenerhebung
- 5 Inhalt
- 6 5.1.1 Formen der Beobachtung
- 7 5.1.2 Formen von Befragungen
- 7.1 5.1.2.1 Unterscheidungskriterien qualitativer Interviews
- 7.2 5.1.2.2 Beispiele für qualitative Interviewverfahren
- 7.3 5.1.2.3 Formen der Transkription von qualitativen Interviews
- 7.4 5.1.2.4 Literatur zum Thema Befragungen
- 8 5.1.3 Methodentriangulation
- 9 5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung
- 10 Inhalt
- 11 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
5. Der Prozess der Datenerhebung
Der Prozess der Datenerhebung kann sozialwissenschaftliche Verfahren, wie unterschiedliche Formen der Beobachtung[1], der Befragung[2], von Experimenten, aber auch nicht reaktive Verfahren umfassen.
Innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie ist die ethnographische Feldforschung[3] das methodische Kernstück der Datenerhebungsverfahren. Innerhalb der ethnographischen Feldforschung kommen im Sinne einer impliziten, flexiblen und am Feld orientierten Methodentriangualtion[4] unterschiedliche Erhebungsstrategien zum Einsatz, welche die teilnehmende Beobachtung, unterschiedliche Formen von Befragung, aber auch die Analyse und Dokumentation von schriftlichen Dokumenten und Artefakten umfasst.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.2
[4] Siehe Kapitel 5.1.3
Inhaltsverzeichnis
5. Der Prozess der Datenerhebung
- 5.1 Strategien der Datenerhebung
- 5.1.1 Formen der Beobachtung
- 5.1.2 Formen von Befragungen
- 5.1.2.1 Unterscheidungskriterien qualitativer Interviews
- Der_Prozess_der_Datenerhebung/Strategien#5.1.2.2 Beispiele für qualitative Interviewverfahren<5.1.2.2 Beispiele für qualitative Interviewverfahren
- 5.1.2.3 Formen der Transkription von qualitativen Interviews
- 5.1.2.4 Literatur zum Thema Befragungen
- 5.1.2.1 Unterscheidungskriterien qualitativer Interviews
- 5.1.3 Methodentriangulation
- 5.1.1 Formen der Beobachtung
- 5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung
- 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
- 5.2.2 Die praktische Umsetzung einer ethnographischen Feldforschung
- 5.2.2.1 Worin besteht die richtige Vorbereitung für eine Feldforschung?
- 5.2.2.1.1 Fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung
- 5.2.2.1.2 Praktisch-organisatorische Vorbereitung
- 5.2.2.1.3 Persönliche Vorbereitung: Selbstreflexion der ForscherIn
- 5.2.2.1.1 Fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung
- 5.2.2.1 Worin besteht die richtige Vorbereitung für eine Feldforschung?
- 5.2.3 Wie schreibt man Feldnotizen?
- 5.2.3.1 Headnotes und Fieldnotes
- 5.2.3.2 Von der ethnographischen Erfahrung zu den Feldnotizen
- 5.2.3.3 Feldnotizen als Daten
- 5.2.3.4 Fieldnotes als unterschiedliche Textsorten
- 5.2.3.4.1 Stichwortzettel
- 5.2.3.4.2 Ausgearbeitete fieldnotes
- 5.2.3.4.3 Organisation der fieldnotes
- 5.2.3.4.4 Transkripte
- 5.2.3.4.5 Spezialisierte Datensammlungen
- 5.2.3.4.6 Metadatendokumentation
- 5.2.3.4.7 Schriftliche Interaktionen aus dem Feld
- 5.2.3.4.8 Literatur
- 5.2.3.4.1 Stichwortzettel
- 5.2.3.5 Analyse der Fieldnotes
- 5.2.3.5.1 Das Lesen der Feldnotizen als Daten
- 5.2.3.5.2 Das Stellen von Fragen an die Fieldnotes
- 5.2.3.5.3 Das Kodieren der Feldnotizen
- 5.2.3.5.4 Das Verfassen von Memos
- 5.2.3.5.1 Das Lesen der Feldnotizen als Daten
- 5.2.4 Literatur
- 5.2.3.1 Headnotes und Fieldnotes
- 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
Weitere Kapitel dieser Lernunterlage
1. Was ist ein Forschungsprojekt?
2. Arten des Schlussfolgerns
3. Sampling
4. Daten und Artefakte
5.1 Strategien der Datenerhebung
Die Strategien der Datenerhebung in der qualitativen Sozialforschung beruhen im Normalfall auf spezifischen und gezielten Anwendungen von Verfahren, die wir tagtäglich einsetzen, um uns in unserer sozialen Umwelt zu orientieren und zurechtzufinden sowie Informationen über sie in Erfahrung zu bringen. Solche Strategien sind zum Beispiel Beobachten, Befragen, Diskutieren, gezieltes Lesen und Experimentieren.
Im Gegensatz zum Alltag werden in der empirischen Sozialforschung solche Verfahren einerseits bewusst und gezielt eingesetzt, andererseits wurden innerhalb der Bereiche von Beobachtung, Befragung, Gruppendiskussion[1], Experiment und Textanalyse unterschiedliche methodische Strategien entwickelt und normiert.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.1.2
Inhalt
5. Der Prozess der Datenerhebung
- 5.1 Strategien der Datenerhebung
- 5.1.1 Formen der Beobachtung
- 5.1.2 Formen von Befragungen
- 5.1.2.1 Unterscheidungskriterien qualitativer Interviews
- Der_Prozess_der_Datenerhebung/Strategien#5.1.2.2 Beispiele für qualitative Interviewverfahren<5.1.2.2 Beispiele für qualitative Interviewverfahren
- 5.1.2.3 Formen der Transkription von qualitativen Interviews
- 5.1.2.4 Literatur zum Thema Befragungen
- 5.1.2.1 Unterscheidungskriterien qualitativer Interviews
- 5.1.3 Methodentriangulation
- 5.1.1 Formen der Beobachtung
5.1.1 Formen der Beobachtung
Die Beobachtung ist ein Akt der Kenntnisnahme eines Phänomens und des Sicherns von Eindrücken und Kenntnissen für wissenschaftliche oder andere Zwecke. Diese Kenntnisnahme kann auf Basis aller menschlichen Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken) erfolgen, aber auch mittels technischer Hilfsmittel wie Photographie, Audio- und Videoaufzeichnungen.
Es können unterschiedliche Formen der Beobachtung unterschieden werden:
- standardisierte vs. nicht standardisierte Beobachtung
- offene vs. verdeckte Beobachtung
- teilnehmende vs. nicht teilnehmende Beobachtung
- direkte vs. indirekte Beobachtung
5.1.1.1 Standardisierte Formen der Beobachtung
Wie auch bei anderen Datenerhebungsverfahren (z.B. Befragung[1]) kann Beobachtung sowohl standardisiert, wie nicht standardisiert durchgeführt werden.
Bei einer standardisierten Beobachtung werden im Vorfeld der Beobachtung die relevanten Indikatoren und Kriterien festgelegt und diese in Form von Beobachtungsbögen (z.B. Beobachtungsbogen zur Erstellung eines Entwicklungsprofils von Kindern[2]), die bei der Datenerhebung zum Einsatz kommen, verschriftlicht. Standardisierte Beobachtung kommt vor allem im Rahmen der quantitativen Forschung zum Einsatz.
Innerhalb der ethnographischen Methoden kommen hingegen zumeist nicht standardisierte Formen der Beobachtung zum Einsatz.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2
[2] https://www.datenschutzzentrum.de/uploads/kita/beobachtungsbogen.pdf
5.1.1.1.1 Nicht standardisierte Formen der Beobachtung
Nicht standardisierte Formen der Beobachtung finden im natürlichen Kontext der alltagsweltlichen Ereignisse ohne Einschränkung durch vorgefertigte Kategorien, Indikatoren oder spezifisch inszenierte Beobachtungsarrangements wie bei standardisierter Beobachtung, Experimenten oder Labor-Studien statt.
Im Rahmen der ethnographischen Feldforschung[1] werden nicht standardisierte Formen der Beobachtung dazu eingesetzt, um die lebensweltlichen Konzepte, Erfahrungen und Strategien von AkteurInnen im Feld kennen und nachvollziehen zu lernen und deskriptiv dokumentieren[2] zu können.
Obwohl diese Form der Beobachtung offen und nicht standardisiert ist, so ändert sich im Laufe der Feldforschung das Ausmaß der Fokussierung der Beobachtung.
So unterscheiden etwa Adler und Adler (1998: 87)
- Anfangsbeobachtungen
- fokussierte Beobachtungen
- und selektive Beobachtungen.
Die Anfangsbeobachtung ist primär deskriptiv, unfokussiert und generell orientiert. Sie orientiert sich an allgemeinen Fragestellungen und der/die ForscherIn versucht sich in dieser Phase eine erste Grundorientierung im Feld zu verschaffen.
Wenn man mit dem Feld vertrauter ist und zentrale soziale Gruppen und/oder Personen identifiziert hat, geht man im Normalfall zu einer fokussierten Beobachtung über. Das heißt, um bestimmte Phänomene besser zu verstehen richtet man die Aufmerksamkeit auf einen begrenzteren Ausschnitt des Feldes um ein tieferes Verständnis von diesem zu erlangen. Im Bezug auf eine bestimmte Gruppe von Personen kann dies bedeuten, dass man im Detail verstehen und beschreiben will, wie sie sich verhalten, Räumlichkeiten nützen, Gefühle ausdrücken, welche Strukturen sie im Umgang miteinander ausbilden, wie sie die Welt wahrnehmen und ihr gegenüber handeln etc.
Auf Basis solcher Beobachtungen werden sich Grundannahmen des/der ForscherIn verändern, er/sie wird neue Hypothesen für das Verständnis des Feldes generieren, welche schließlich in selektiven Beobachtungen genauer überprüft und verfeinert werden. Die Selektivität dieser Beobachtung besteht also in ihrem Bezug auf expliziten Annahmen und Hypothesen[3] und nicht unbedingt in einer noch engeren Fokussierung auf begrenzte Teilausschnitte des Feldes.
In dieser Phase kann es vielmehr auch darum gehen, Annahmen über Beziehungen zwischen einzelnen Teilbereichen des Feldes ethnographisch zu überprüfen und dokumentieren.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.3
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-49.html
5.1.1.2 Teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtung
Die Unterscheidung zwischen teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung bezieht sich auf die Rolle des/der ForscherIn im Feld und das Ausmaß seiner/ihrer Involviertheit in die dort stattfindenden Aktivitäten. Diese Unterscheidung ist nicht als dichotome Differenz zu verstehen, vielmehr handelt es sich um ein Kontinuum, dessen Endpunkte einerseits die reine Beobachtung und andererseits die völlige Teilnahme darstellen.
Als ForscherIn kann man also unterschiedliche Beobachtungsrollen einnehmen und diese im Laufe der Feldforschung auch verändern. Üblicherweise wechseln sich im Verlauf einer Feldforschung Phasen der intensiven Teilnahme mit solchen der distanzierteren Beobachtung der Vorkommnisse im Feld ab.
5.1.1.2.1 Beobachtungsrollen
Üblicherweise nimmt man im Laufe einer Feldforschung zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Rollen ein:
- völlige Teilnahme
- teilnehmende Beobachtung
- beobachtende Teilnahme
- nicht teilnehmende Beobachtung
Gerade aus diesem Rollenwechsel zwischen distanzierter Betrachtung und Reflexion und dem Aufgehen im Feld als lokale/r AkteurIn (going native) entsteht ein umfassendes und vielschichtiges Bild des untersuchten Feldes.
Aus der Sicht ethnographischer Feldforschung sind Beobachtungen, die ausschließlich auf nicht teilnehmender Beobachtung oder auf völliger Teilnahme beruhen, problematisch.
Ausschließlich nicht teilnehmende Beobachtung bedeutet keinerlei direkten Kontakt, emotionale Beziehungen und persönliche Auseinandersetzungen mit den Personen im Feld einzugehen. Dies hat im Normalfall ein Festhalten an eigenen Beobachtungskategorien zur Folge, wobei Chancen für deren interaktive Überprüfung und Revidierung in direkter Auseinandersetzung mit den Personen im Feld ungenutzt bleiben.
Im Gegensatz dazu birgt die völlige Teilnahme ohne Wechsel in andere Rollen die Gefahr in sich, dass es zwar zu intensivem direktem Kontakt, emotionalen Beziehungen und persönlichen Auseinadersetzungen kommt, diese aber über die Ebene oft nicht weiter reflektierter, persönlicher Erfahrungen nicht hinaus gehen. Eine dauerhafte völlige Teilnahme ohne systematische (Selbst-)Beobachtung schließt auch aus, dass es zu einer Transformation von gemachten Erfahrungen in analysierbare Daten kommt. Damit wäre eine zentrale Grundlage der ethnographischen Feldforschung als Datenerhebungsstrategie nicht gewährleistet.
5.1.1.3 Direkte und indirekte Beobachtung
Während sich die Unterscheidung von teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung[1] auf das Ausmaß der Involviertheit des/der ForscherIn im Feld bezieht, geht es bei der Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Beobachtung um die Frage, ob der/die ForscherIn während der Beobachtung auch für die Beobachteten wahrnehmbar und präsent ist. Bei indirekter Beobachtung ist eine solche wahrnehmbare Präsenz nicht gegeben. Dies ist z.B. in Laborversuchen der Fall oder aber bei Beobachtungen via Audio- bzw. Videoübertragungen bzw. von - Aufzeichnungen. Im Normalfall ist eine indirekte also eine nicht teilnehmende Beobachtung.
Im Rahmen ethnographischer Feldforschung haben wir es im Normalfall mit direkten Beobachtungen zu tun.
Unter Bedingungen neuer technischer Möglichkeiten und Kommunikationsmedien besteht die Möglichkeit, dass sich dieses Verhältnis im Rahmen der Cyber- und Media Anthropology auch anders gestaltet.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1.2
5.1.1.4 Offene und verdeckte Beobachtung
Die Unterscheidung zwischen offener und verdeckter Beobachtung bezieht sich auf die Offenlegung der Rolle des/der ForscherIn. Bei verdeckter Beobachtung sind die Beobachteten nicht über die Forschungstätigkeit aufgeklärt. In wieweit verdeckte Beobachtung legitim ist, ist eine forschungsethische Frage und hängt vom Untersuchungsgegenstand ab. Wenn man sich z.B. der ethnographischen Erforschung öffentlicher Plätze widmet, wird und kann die Beobachtung nicht durchgehend offen erfolgen. Als sensible/r ForscherIn sollte man sich aber bewusst sein, dass die Grenze zwischen öffentlich und privat kulturell unterschiedlich gezogen wird und innerhalb öffentlicher Räume auch private bzw. intime "Bereichsblasen" (Lofland 1994) geschaffen werden.
Jenseits der Unterscheidung von offener und verdeckter Beobachtung stellt sich insbesondere im Rahmen der ethnographischen Feldforschung die Frage der Informationspolitik gegenüber den Beforschten, deren Zustimmung und Möglichkeiten zur Mitbestimmung, das heißt zur Partizipation und aktiven Mitgestaltung des Forschungsprozesses.
5.1.1.5 Literatur
Lofland, L. (1994) Observations and observers conflict: Field research in the public realm. In S. Cahill & l. Lofland (Hg.), The community of the streets. Greenwich, CT: JAI.
Adler, Patricia A. und Peter Adler (1998) Observational Techniques. In: Denzin, Norman K. & Yvonna S. Lincoln (Hg.): Handbook of Qualitative Research. Sage: London, S. 377-392.
5.1.2 Formen von Befragungen
Grundlage einer Befragung ist mittels sprachlicher Interventionen (mündlich bzw. schriftlich) Reaktionen bei den Interviewten auszulösen, mit dem Ziel, bestimmte inhaltlich thematische Angaben und Informationen zu gewinnen.
In der sozialwissenschaftlichen Methodenliteratur wird eine enorme Vielfalt unterschiedlicher Befragungstechniken bzw. Interviewarten[1] unterschieden. Zentrale Dimensionen, die diesen verschiedenen Befragungsarten zu Grunde liegen, sind:
- Art und Ausmaß der Standardisierung[2]
- Stil der Kommunikation [3]
- Einzel- vs. Gruppeninterview[4]
- Form und Medium[5] der Kommunikation
- Zielsetzung[6] des Interviews
Die meisten der in der Literatur unterschiedenen Interviewarten beziehen sich zumindest auf eine der genannten Dimensionen. So verweisen Begriffe wie offenes, teilstandardisiertes oder standardisiertes Interview auf die erste der oben genannten Dimensionen. Die Unterscheidung von harten, neutralen und weichen Interviews bezieht sich auf den Stil der Kommunikation, während sich z.B. mündliche, schriftliche, postalische, telefonische und face-to-face Interviews auf die Form und das verwendete Medium der Kommunikation beziehen. Die Zielsetzungen von Befragungen können sich auf die quantitative Feststellung empirischer Varianz oder das verstehende Nachvollziehen lebensweltlicher Zusammenhänge beziehen. Etliche Interviewarten definieren sich nicht nur in Bezug auf eine dieser Dimensionen, sondern kombinieren spezifische Ausprägungen dieser Dimensionen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.1.2
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[6] Siehe Kapitel 5.1.2.1.6
5.1.2.1 Unterscheidungskriterien qualitativer Interviews
Qualitative Interviews können nach verschiedenen Kriterien unterschieden werden. Dazu zählen insbesondere:
- das Ausmaß der Standardisierung (Strukturierung),
- die Frage ob eine oder mehrere Personen gleichzeitig interviewt werden (Einzel- vs. Gruppeninterview),
- ob die Befragung mündlich und face-to-face oder technisch vermittelt und schriftlich durchgeführt wird (Form und Medium der Kommunikation),
- Stil der Kommunikation,
- die Frageform und
- die Zielsetzung des Interviews.
5.1.2.1.1 Strukturierung
Befragungen können in unterschiedlichem Ausmaß strukturiert sein. So kann man aus der Sicht des/der InterviewerIn
- informelle Gespräche
- nichtstrukturierte
- teilsturkturierte
- und vollstrukturierte Interviews unterscheiden.
Je weniger eine Befragung von dem/der InterviewerIn vorstrukturiert ist, desto mehr Strukturierungsmöglichkeiten werden im Zuge der Befragung dem/der Interviewten eingeräumt.
An einem Ende des Kontinuums befinden sich vollstrukturierte schriftliche Fragebögen mit geschlossenen Fragen, das heißt vorgegebenen Antwortkategorien. Der Freiheit des/der Interviewten eigene Ideen, Themen oder Ansichten einzubringen und über diese in eigenen Kategorien zu berichten wird hier kein Platz eingeräumt. Diese Art der vollstandardisierten Befragung kommt in groß angelegten Untersuchungen im Rahmen der quantitativen Sozialforschung zum Einsatz.
Am anderen Ende des Kontinuums befinden sich informelle Interviews bzw. Gespräche[1], die sich völlig unstrukturiert und zufällig in unterschiedlichen sozialen Feldern ergeben. Dafür werden in der Literatur unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet. Bernard (2002: 204) spricht vom informellen Interviewen, Lamnek (2005) vom rezeptiven Interview[2] und Girtler (2001) vom ero-epischen Gespräch[3]. Da diese Gespräche in keinem speziell vereinbarten Rahmen (Zeitpunkt, Ort des Interviews) stattfinden und die GesprächspartnerInnen die Situation nicht immer als Forschungssituation wahrnehmen, handelt es sich um ungeplant stattfindende Gespräche im Zuge der ethnographischen Feldforschung. Eine Strategie, informelle freundschaftliche Gespräche in formelle Interviews zu transformieren, stellt das ethnographische Interview[4] nach Spradley (1979) dar.
Im Gegensatz zu diesen ungeplanten Befragungen, empfiehlt es sich, bei geplanten und vereinbarten Befragungen von Interviews zu sprechen. Diese können in unterschiedlichem Ausmaß und nach unterschiedlichen Kriterien strukturiert sein. Das betrifft das Ausmaß der Fokussierung auf einen bestimmten Themenbereich, die Anzahl im Vorfeld explizierter Fragen, die Abfolge dieser Fragen und die Offenheit bzw. Geschlossenheit der Antwortmöglichkeiten. Bei unstrukturierten offenen und/oder narrativen Interviews[5] beschränkt sich die Standardisierung auf die Festlegung eines Themas und die Formulierung eines Eingangsstatements, welches den/die Interviewte/n auffordert zu erzählen. Im weiteren Interviewverlauf werden von dem/der InterviewerIn Interventionen gesetzt, die den Fortgang des Erzählflusses unterstützen, zu weiteren Spezifizierungen auffordern, etc. Es ist aber der/die Interviewte, welcheR die Strukturierung der Erzählung vornimmt.
Bei teilstrukturierten Interviews bedient man sich eines Interviewleitfadens, der die Fragen, nicht aber die Antwortmöglichkeiten vorgibt. Auch beim Einsatz eines Interviewleitfadens kann in unterschiedlichem Ausmaß strukturiert bzw. unstrukturiert erfolgen. In seiner unstrukturiertesten Anwendungsweise stellt der Leitfaden nur einen Pool von Fragen zur Verfügung, die nach Möglichkeit gestellt werden sollen. In einer strukturierteren Form müssen zumindest alle Fragen des Leitfadens gestellt werden und in der strukturiertesten Form müssen nicht nur alle Fragen des Leitfadens gestellt werden, sondern auch eine vom Leitfaden vorgegebene Abfolge der Fragen muss eingehalten werden.
In der qualitativen Sozialforschung kommen Fragen mit bereits im Vorfeld definierten Antwortkategorien kaum zum Einsatz.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.2
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.2.4
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3
5.1.2.1.2 Einzel- vs. Gruppeninterviews/Diskussionen
Mittels qualitativer Befragungen können sowohl Einzelpersonen wie auch Gruppen untersucht werden. In Feldforschungssituationen ist diese Trennung nicht immer leicht herzustellen. Wenn man ganz gezielt Einzelinterviews führen will, sollte man gewährleisten, dass diese außerhalb des üblichen sozialen Umfeldes (Familie, Freunde, etc.) stattfinden. Gründe, die für ein solches Vorgehen sprechen, können sein:
- dass man die persönliche Meinung eines/r Befragten jenseits eines sozialen Gruppendrucks erkunden will.
- Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn man bestimmte Personengruppen (Frauen, Jugendliche, Kinder,...) befragen will, denen auf Grund existierender soziokultureller Hierarchien die Kompetenz abgesprochen wird, zu einem bestimmten Thema ihre Meinung zu äußern.
Gegen eine streng individualisierte Befragung spricht jedoch, dass der natürliche lebensweltliche soziale Kontext, der selbst eine reichhaltige Informationsquelle darstellt, verloren geht. Bei Gruppenbefragungen werden immer auch die soziale Dynamik und die sozialen Beziehungen innerhalb der Gruppe unabhängig vom spezifischen Thema der Befragung sichtbar. Es ist auch zu beachten, dass sich Meinungen, Einstellungen und Orientierungen oft erst situativ innerhalb des von dem/der ForscherIn initiierten Gruppendiskussionskontextes herausbilden. Die Kultur- und Sozialanthropologie versucht Gruppeninterviews und Gruppendiskussionen zumeist innerhalb natürlich vorkommender sozialer Gebilde (Vereine, Kooperativen, Familien, Freundeskreisen, etc.) durchzuführen und damit die kollektiv verankerten Orientierungen dieser Gruppe zu ergründen. Im Gegensatz dazu stehen Verfahren, die solche Gruppen nach bestimmten vorher festgelegten Kriterien zusammensetzen, wie dies etwa bei Fokusgruppen[1] der Fall ist.
Verweise:
[1] http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/591
5.1.2.1.3 Form und Medium der Befragung
Die Form der Befragung kann schriftlich oder mündlich erfolgen und sich dabei unterschiedlicher Medien bedienen.
Mündliche Befragungen können in face-to-face Interaktionen durchgeführt werden, es kann sich aber auch um technisch vermittelte Befragungen wie Telefoninterviews oder Interviews via Internet und Webcams handeln. Das heißt, qualitative mündliche Befragungen beruhen auf räumlicher oder virtueller Kopräsenz, die eine unmittelbare gegenseitige Wahrnehmbarkeit des/der Interviewten und des/der InterviewerIn ermöglichen.
Nicht- oder teilstrukturierte schriftliche Befragungen können innerhalb der qualitativen Sozialforschung sowohl asynchron z.B. in Form von Briefen, e-Mails, oder Diskussionsforen, wie auch synchron in Form von Chats zum Einsatz kommen.
5.1.2.1.4 Stil der Kommunikation
Man kann Interviews auch nach dem Stil der Kommunikation, also nach dem Interviewerverhalten unterscheiden.
Lamnek (2005: 343f) unterscheidet etwa
- weiche,
- harte
- und neutrale Interviews
und stellt gleichzeitig fest, dass die in der qualitativen Sozialforschung anwendbare Methode „nur die weichen bis neutralen Interviews“ umfasst. Während das neutrale Interview „den unpersönlich-sachlichen Charakter der Befragung, die Einmaligkeit der Kommunikation und die soziale Distanz zwischen den Befragungspartnern betont“ (Koolwijk 1994: 17 zit. nach Lamnek 2005: 344), versucht das weiche Interview „das sympathisierende Verständnis für die spezielle Situation des Befragten zum Ausdruck zu bringen“ (ebd.: 343) und ein Vertrauensverhältnis zum/zur Befragten zu entwickeln (siehe auch Bernard 1998: 346).
5.1.2.1.5 Frageformen
Während in der quantitativen Sozialforschung vorwiegend geschlossene Fragen mit vorgegebenen Antwortkategorien Verwendung finden, ist der Interviewverlauf innerhalb der qualitativen Sozialforschung durch die Verwendung offener Fragen charakterisiert. Offene Fragen geben keine Antwortmöglichkeiten vor und lassen dem/der Befragten größeren Spielraum mittels eigener Formulierungen, Fakten und illustrativen Beispielen die für ihn/sie relevanten Bedeutungszusammenhänge darzustellen. Bei offenen, unstrukturierten Befragungen, die wie z.B. das narrative Interview[1] darauf abzielen, Erzählungen zu generieren, beschränken sich die Interventionen des/der InterviewerIn auf so genannte erzählungsgenerierende Einstiegsfragen und auf Interesse und Aufmerksamkeit signalisierende Äußerungen, die den Erzählfluss stimulieren und aufrechterhalten, aber auch weitere Explikationen anregen sollen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3
5.1.2.1.6 Zielsetzung
Während in der quantitativen Sozialforschung das Ziel der Befragung die Feststellung der Häufigkeit empirischer Ausprägungen an Hand vordefinierter Indikatoren und Fragestellungen ist, wird in der qualitativen Forschung das Ziel verfolgt, die Lebenswelten, Sichtweisen und die emischen Kategorien der Interviewten verstehend zu erschließen.
5.1.2.2 Beispiele für qualitative Interviewverfahren
In der sozialwissenschaftlichen und insbesondere soziologischen Methodenliteratur findet sich ein Wildwuchs unterschiedlicher Interviewarten, von denen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit exemplarisch einige genannt werden sollen:
- ExpertInneninterview[1]
- ethnographisches Interview
- diskursives Interview
- episodisches Interview
- evaluatives Interview
- fokussiertes Interview
- problemzentriertes Interview[2]
- narratives Interview[3]
- biografisches Interview
- informatorisches Interview
- analytisches Interview
- diagnostisches Interview
- klinisches Interview
- Struktur- oder Dilemmainterview
- rezeptives Interview[4]
- assoziatives Interview
- ero-episches Gespräch[5]
- Tiefeninterview
- ermittelndes Interview
- freies Interview
- gelenktes Interview
- halbstandardisiertes Interview[6]
- hartes Interview[7]
- individuelles Interview
- neutrales Interview[8]
- offenes Interview[9]
- persönliches Interview
- postalisches Interview
- schriftliches Interview[10]
- standardisiertes Interview[11]
- strukturiertes Interview[12]
- unstrukturiertes Interview[13]
- telefonisches Interview[14]
- weiches Interview[15]
- zentriertes Interview
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.2
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.1
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.2
[6] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[7] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[8] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[9] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[10] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[11] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[12] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[13] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[14] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[15] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
5.1.2.2.1 Biographische Interviews
Literaturhinweise:
Fischer-Rosenthal, Wolfram und Gabriele Rosenthal (1997) Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentation. In: Hitzler, R.; Honer, A. (Hg.) Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen, S. 133-165.
Fischer-Rosenthal, Wolfram und Gabriele Rosenthal (1997) Warum Biographieforschung und wie man sie macht. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie17, S. 405-427.
Schütze, Fritz (1983) Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 3, S. 283-293.
5.1.2.2.2 Formen informeller Gespräche
Hauptkriterium informeller Interviews bzw. Gespräche ist, dass sie sich zufällig in unterschiedlichen sozialen Feldern ergeben. Sie zeichnen sich durch eine weitgehende Unstrukturiertheit von Seiten des/der InterviewerIn aus. Es sind vielmehr die Befragten, die den zentralen Beitrag zur Strukturierung des Gesprächs leisten.
Formen informeller Interviews unterscheiden sich insbesondere durch das Ausmaß der Beteiligung und des aktiven Beitrags des/der Forschers/in am Gespräch. Während sich beim rezeptiven Interview der/die InterviewerIn als SprecherIn weitgehend zurücknimmt und zuhört, hat er/sie beim ero-epischen Gespräch eine aktive Rolle inne und bringt seine/ihre eigene Geschichte und Meinung ins Gespräch mit ein. Das Konzept des ero-epischen Gesprächs geht davon aus, dass man seine Rolle als FeldforscherIn[1] im Feld bereits definiert und explizit gemacht hat, weshalb diese im Rahmen des Gesprächs thematisiert werden kann, aber nicht zum Thema werden muss. Das rezeptive Interview kann hingegen auch verdeckt eingesetzt werden.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1.2.1
5.1.2.2.2.1 Das rezeptive Interview
Das rezeptive Interview (nach Kleining 1988) zeichnet sich, wie der Name bereits impliziert, dadurch aus, dass die interviewende Person vornehmlich als ZuhörerIn auftritt und sich als FragestellerIn vollkommen zurück nimmt. Somit kann es in seiner einseitigen Kommunikationsbeziehung als eine Extremform der qualitativen Befragung betrachtet werden, da es durch seine Befragtenzentriertheit neben den Antwortmöglichkeiten sogar die Themenwahl den befragten Personen überlässt und somit vollkommen von deren Lebenswelt determiniert ist.
Voraussetzung für diese Form des einseitigen Gesprächs ist ein lockeres und nicht autoritäres Klima zwischen ForscherIn und befragter Person, da ohne diese eine asymmetrische Kommunikation, in der "der/die Interviewte" einfach erzählt und der/die InterviewerIn nur zuhört, unwahrscheinlich ist.
Der Intervieweinstieg kann von der Auskunftsperson selbst übernommen werden, in dem sie von sich aus ein Gespräch beginnt oder aber die/der ForscherIn leitet durch eine sehr allgemeine, aber gleichzeitig gegenstandsorientierte Frage ein Gespräch ein, das sich in Folge in ein rezeptives Interview transformiert. Für beides gilt, dass sich die ForscherInnen zurücknehmen, verbal möglichst wenig eingreifen und den Erzählfluss durch aktives Zuhören (eine positiv bestärkende Mimik und Gestik) stimulieren. Vor allem sollte der Eindruck vermieden werden, dass die befragte Person „ausgehorcht“ (Lamnek 2005: 379) wird.
In seiner an Alltagskommunikation orientierter Form eignet sich das rezeptive Interview besonders für schwer zugängliche und tabuisierte Untersuchungsgegenstände und besitzt exploratives Potential.
Im Unterschied zu den meisten anderen Interviewtechniken werden die Personen im rezeptiven Interview nicht über Inhalt, Gegenstand und Form der Befragung aufgeklärt, was laut Kleining den Vorteil bringt, dass die Natürlichkeit des sozialen Feldes nicht verändert wird und somit die sonst gegebene Reaktivität und den Einfluss des/der Befragenden minimal gehalten werden können. Insofern wird es auch im Rahmen verdeckter Forschung [1] eingesetzt, die besondere ethische Probleme aufwirft.
Lamnek, Siegfried (2005) Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel. S. 373-382.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1.4
5.1.2.2.2.2 Das ero-epische Gespräch
Der Begriff des ero-epischen Gesprächs (nach Girtler) setzt sich aus den zwei altgriechischen Wörtern Erotema (Frage) bzw. erotemai (fragen, befragen, nachforschen) und Epos (Erzählung, Nachricht, Kunde, aber auch Götterspruch) zusammen.
Grundlegend für diese Art des Forschungsgesprächs ist, dass sich sowohl der/die Befragte als auch der/die ForscherIn öffnen und ins Gespräch einbringen. Dadurch, dass der/die ForscherIn auch von sich erzählt (z.B. über die Arbeitsweise, das Forschungsinteresse oder von eigenen Erlebnissen das Thema betreffend) wird einerseits eine lockere, vertraute und persönliche Gesprächsebene geschaffen und gleichzeitig der/die GesprächspartnerIn angeregt, von sich selbst zu erzählen. Die Fragen ergeben sich aus der Situation und werden nie im Vorhinein festgelegt. Zudem bringt der/die Fragende das Gegenüber nie in Zugzwang und unter Antwortdruck (wie es bei anderen Interviewarten wie z.B. dem narrativen Interview[1] der Fall ist), die Personen sollen von selbst zu erzählen beginnen, wobei sich der/die ForscherIn von dem/der GesprächspartnerIn leiten lässt. Problematisch ist, dass laut Girtler auch die Anwendung von Suggestivfragen erlaubt ist, was zu tendenziösen Forschungsergebnissen führen kann. Girtler hingegen betrachtet Suggestivfragen als oftmals sehr aufschlussreich, da sie zu weiteren bisher noch nicht gegebenen Informationen ermuntern können ("Suggestivfragen bzw. ähnliche das Gespräch diktierende Fragen sind auch dann zu empfehlen, wenn der Interviewer durch eine bewusst falsche Unterstellung den Interviewten zu weiteren Informationen anregen will." [Girtler 2001: 160]). Bedeutend ist jedoch, den/die Befragte/n als gleichwertige/n GesprächspartnerIn und ExpertenIn des Feldes anzusehen.
Girtler, Roland (2001) Methoden der Feldforschung. Böhlau: Wien, S. 147-168.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3
5.1.2.2.3 Formen formeller Interviews
Im Gegensatz zur Unstrukturierteheit und dem zufälligen Zustandekommen der informellen Gespräche zeichnen sich formelle Interviews durch eine bewusste Planung aus. Diese beginnt mit der Vereinbarung eines Interviewtermins bzw. der gemeinsamen Definition einer Interviewsituation. Sowohl InterviewerIn wie Interviewte/r sind sich also darüber im Klaren, dass es sich um ein Interview, das heißt eine Befragungssituation handelt, die sich von üblichen alltagsweltlichen Kommunikationsformen unterscheidet. Die Gestaltung dieser Befragungssituationen kann deutliche Unterschiede aufweisen, in Bezug auf
- die Strukturierung [1] des Interviews,
- die Anzahl der interviewten Personen[2],
- die eingesetzten Medien und die Form der Befragung[3],
- den Stil der Kommunikation[4],
- die Frageformen[5],
- und die Zielsetzungen[6].
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[6] Siehe Kapitel 5.1.2.1.6
5.1.2.2.3.1 Das ExpertInneninterview
Bei ExpertInneninterviews handelt es sich im Normalfall um Leitfaden gestützte, offene Interviews, das heißt, man versucht im Vorfeld eine Vorstrukturierung zentraler Fragestellungen und Themen vorzunehmen, um gegenüber den ExpertenInnen auch als kompetente/r GesprächspartnerIn auftreten zu können. Der Leitfaden wird in der Regel flexibel und nicht als standardisiertes Frageschema eingesetzt. Als InterviewerIn ist man offen für neue Themen und Inhalte, die durch den/die Interviewte/n eingebracht werden.
Die Unterscheidung zwischen ExpertInnen und Laien ist nicht immer eindeutig und einfach zu treffen, im Normalfall geht man davon aus, dass ExpertInnen über eine besondere Expertise und damit verbundenes Sonderwissen verfügen, welches oft an bestimmte sozial institutionalisierte Rollen (Berufe, DorfvorsteherIn, HeilerInnen etc.) gebunden ist. Zudem wird der/die ExpertIn nicht als Einzelfall, sondern als RepräsentantIn einer Gruppe bestimmter ExpertInnen betrachtet.
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem ExpertInneninterview als eigenständige Interviewform findet sich unter
http://www.qualitative-research.net/organizations/or-exp-d.htm[1].
Verweise:
[1] http://217.160.35.246/organizations/
5.1.2.2.3.2 Das problemzentrierte Interview
Im Gegensatz zum narrativen Interview[1], bei dem methodologisch streng induktiv vorgegangen wird (d.h. eine anfängliche konzeptuelle Festlegung durch den/die ForscherIn vermieden wird), zeichnet sich das problemzentrierte Interview durch einen Mittelweg aus. Das problemzentrierte Interview kombiniert induktives[2] und deduktives[3] Vorgehen, indem die ForscherInnen zwar mit einem theoretisch wissenschaftlichen Vorverständnis in die Befragung gehen, die Äußerungen der Befragten jedoch von grundlegender Bedeutung für die weitere Modifikation der Konzepte sind. Die ForscherInnen bleiben offen für die Bedeutungsstrukturierung des Problembereichs/der sozialen Lebenswelt durch die befragte Person und teilen ihr theoretisches Konzept im Interview nicht mit, da es nur vorläufig ist und die Interviewten nicht suggestiv beeinflussen soll.
Nach der einleitenden Eingrenzung des Problembereiches regen die InterviewerInnen durch ein Erzählbeispiel oder eine offene Frage die narrative Phase des Interviews an. Zentral für die ForscherInnen ist es, die Erzählsequenzen und Darstellungen der Befragten nachzuvollziehen und zu verstehen. Dies können sie auf drei verschiedene Arten tun:
- In Form einer Zurückspiegelung teilen die InterviewerInnen in eigenen Worten eine Interpretation der Ausführungen mit und bieten so den Befragten die Möglichkeit, die Interpretationen der ForscherInnen zu korrigieren und zu modifizieren
- die ForscherInnen können aber auch mittels Verständnisfragen Widersprüche oder ausweichende Aussagen thematisieren, oder aber
- die Befragten direkt mit den aufgetretenen Ungereimtheiten konfrontieren.
Abschließend kann der/die InterviewerIn mittels Ad-hoc-Fragen von den Befragten bisher noch nicht angesprochene Themenbereiche behandeln. Hierfür kann ein im Vorhinein festgelegter Leitfaden als Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen fungieren.
Am Beginn des problemzentrierten Interviews kann den zu befragenden Personen auch ein standardisierter Kurzfragebogen vorgelegt werden, um eine erste inhaltliche Auseinandersetzung mit den in der Befragung geplanten Problembereichen anzuregen und um den Einstieg in das Gespräch zu vereinfachen.
Literatur:
Lamnek, Siegfried (2005) Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel, S. 363-368.
Witzel, Andreas (2000) Das problemzentrierte Interview. In: Forum: Qualitative Sozialforschung 1(1).
http://www.qualitative- research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.htm[4]
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] Siehe Kapitel 2.2
[4] http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1132
5.1.2.2.3.3 Das narrative Interview
Im narrativen Interview wird von den Befragten eine Erzählung erwartet, in welcher einerseits die Orientierungsmuster ihres Handelns deutlich werden und zugleich rückblickend Interpretationen dieses Handelns erzeugt werden.
In vertrauter kollegial freundschaftlicher Atmosphäre und mit einem weichen bis neutralen[1] Interviewstil wird versucht, biographische Erzählungen der Befragten anzuregen, wobei der Detaillierungsgrad der Ausführungen vollkommen den interviewten Personen überlassen bleibt. Im Idealfall beginnen die ForscherInnen die Datenerhebung ohne ein im Vorhinein festgelegtes wissenschaftliches Konzept und entwickeln dieses induktiv[2] aus den Äußerungen der Befragten.
Nach einer Erklärungs- und Einleitungsphase, in der die Interviewten über Erwartungen der ForscherInnen in punkto Erzählrahmen, wichtige Dimensionen und Aspekte in der Geschichte aufgeklärt werden, soll eine möglichst offen formulierte Einstiegsfrage die befragten Personen zum zwanglosen Erzählen bewegen und ihnen genügend Raum für ihre Beschreibungen und Begründungen geben. Die Erzählphase kann durchaus von Pausen und Schweigen durchdrungen sein, den InterviewerInnen kommt die Rolle der aufmerksamen Zuhörenden zu, die versuchen den Erzählfluss durch Aufmerksamkeit bezeugende Äußerungen („hm, hm“) oder Gesten (Kopfnicken) zu unterstützen. Die Erzählphase gilt erst dann als beendet, wenn der/die Befragte selbst darauf hinweist. Falls erforderlich, können in einer Nachfragephase noch unklar gebliebene Fragen oder Widersprüchlichkeiten der Erzählung klargestellt werden und abschließend in einer Bilanzierungsphase direkt die Motivation und Intention der interviewten Personen angesprochen werden und der Sinn der Erzählung mit den Personen gemeinsam beleuchtet und diskutiert werden.
Literatur:
Lamnek, Siegfried (2005) Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel S. 357-361.
Zu den Narrativen Methoden im Allgemeinen, ihren theoretischen Perspektiven, methodischen Verfahren, der Oral history und zur Performanz von Narrationen siehe:
Atkinson, Paul und Sara Delamont (Hg.) (2005) Narrative methods. SAGE: London.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[2] Siehe Kapitel 2.1
5.1.2.2.4 Das ethnographische Interview
Das ethnographische Interview ist an die Feldforschungssituation angepasst und gibt methodische Anweisungen, wie freundliche Unterhaltungen und sich ergebende Gespräche im Feld zu Interviews gestaltet werden können. Ausgehend von einer informellen Gesprächssituation versucht man sowohl einen expliziten Zweck des Gespräches einzuführen, wie die GesprächspartnerInnen über das Ziel des Projektes zu informieren. Dazu gehören auch Informationen warum man welche Informationen aufzeichnet und wie man das Interview führt. Man macht im Zuge eines solchen Gesprächs auch die eigene Rolle als ForscherIn transparent. Im Gegensatz zu einer freundlichen Unterhaltung oder einem rezeptiven Interview[1] übernimmt im ethnographischen Interview allerdings der/die ForscherIn die Strukturierung des Gesprächs und stellt fast alle Fragen.
Ein Ziel des ethnographischen Interviews ist das sich im Zuge eines Gesprächs oft einstellende Gefühl eines (scheinbaren) gegenseitigen Verständnisses, durch den Einsatz von Wiederholungen und verschiedenen Fragearten, zu unterlaufen.
Durch den bewussten Einsatz von Wiederholungen (von Fragen und Aussagen des/der InformantIn), statt deren im normalen Gespräch üblichen Vermeidung. Ziel dieser Wiederholungen ist es, weitere Ausführungen und Explikationen anzuregen. Anstatt sich kurz zu halten, regt der/die EthnographIn die InformantInnen dazu an, möglichst ausführlich und detailreich zu erzählen. Die Interpretation des Gesagten wird somit nicht zu einem anderen Zeitpunkt und wie manche Interpretationsstrategien vorschlagen, von anderen Personen vorgenommen. Vielmehr wird diese in Auseinandersetzung mit den InformantInnen im Zuge des ethnographischen Interviews von diesen selbst vorgenommen.
Spradley unterscheidet drei zentrale Arten von Fragen:
- deskriptive Fragen
- strukturelle Fragen und
- Kontrastfragen.
Bei den deskriptiven Fragen ist es notwendig zumindest einen Bereich zu kennen, in dem der/die InformantIn routinemäßige Handlungen ausführt und sich diese beschreiben zu lassen.
Ziel von strukturellen Fragen ist es herauszufinden, wie der/die InformantIn sein/ihr Wissen in bestimmten kulturellen Bereichen (domains) organisiert.
Bei den Kontrastfragen geht es darum herauszufinden, was der/die InformantIn mit den verschiedenen Begrifflichkeiten meint, die er/sie in seiner/ihrer Sprache verwendet und wie sich diese von einander unterscheiden.
Literatur:
Spradley J. P. (1979) The ethnographic interview. Holt, Rinehart & Winston:New York.
Flick, Uwe (2002) Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Rowohlt: Reinbeck bei Hamburg.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.1
5.1.2.3 Formen der Transkription von qualitativen Interviews
Um qualitative Interviews analysieren zu können ist es notwendig, eine schriftliche Transkription der Interviews anzufertigen. Hierfür existieren unterschiedlich genaue Transkriptionssysteme (siehe dazu Dittmar 2004; Kowal u. O´Connell 2003), ohne dass sich ein verbindlicher Standard durchgesetzt hätte. Dies liegt vor allem auch daran, dass unterschiedliche textanalytische Verfahren verschiedene Transkriptionsstandards erfordern. Somit ist vor dem Hintergrund der jeweiligen Analysemethode zu entscheiden, welche Form der Transkription gewählt werden sollte. Insgesamt ist ein pragmatisches Vorgehen ratsam und sollte der Genauigkeitsgrad der Transkription (Länge der Pausen, Tonfall, Tonstärke, nonverbale Aspekte der Kommunikation, Interaktion zwischen InterviewerIn und interviewter Person etc.) über das notwendige Maß des Forschungsinteresses und der Analysemethode nicht hinausgehen. Froschauer & Lueger (2003: 223) führen einige einfache und pragmatische Richtlinien für die Gesprächstranskription an. Dazu gehören:
- die Zeilennummerierung
- die Kodierung der GesprächsteilnehmerInnen z.B. für InterviewerInnen I1, I2...; für Befragte B1, B2,...)
- Pausen (pro Sekunde ein Punkt) = . .. . (oder Zeitangabe)
- Nichtverbale Äußerungen wie Lachen oder Husten in runder Klammer angeben = (B1 lacht)
- situationsspezifische Geräusche in spitzer Klammer angeben = >Telefon läutet<
- Hörersignale bzw. gesprächsgenerierende Beiträge als normalen Text angeben = mhm, äh
- Auffällige Betonung unterstreichen = etwa so
- Unverständliches als Punkte in Klammer, wobei jeder Punkt eine Sekunde markiert = (.. .)
- Vermuteter Wortlaut bei schlechtverständlichen Stellen in Klammer schreiben = (etwa so)
- sehr gedehnte Sprechweise mit Leerzeichen zwischen den Buchstaben = e t w a s o
Ein weiterer Hinweis dieser AutorInnen, die Interviews möglichst exakt unter Beibehaltung sprachlicher Besonderheiten ohne Annäherung an die Schriftsprache vorzunehmen, macht auf die besondere Situation und Problematik von Transkriptionen innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie aufmerksam. Denn in der Kultur- und Sozialanthropologie "A transcription always raises questions about translation." (Clifford 1990: 58). Sehr oft werden Interviews in einer Sprache durchgeführt, die nicht die Muttersprache des/r InterviewerIn ist und in der zumeist auch die Forschungsergebnisse nicht publiziert werden. Die Fähigkeit, Interviews zu führen und vor allem auch die kulturspezifischen Nuancen von Aussagen der InterviewpartnerInnen zu verstehen, hängt also von der Sprachkompetenz des/der ForscherIn ab. Oft wird insbesondere in der Anfangsphase der Feldforschung auch mit ausgewählten mehrsprachigen InformantInnen und ÜbersetzerInnen gearbeitet. Bei der Transkription stellt sich die Frage, ob die Interviews in der Sprache, in der sie geführt wurden, transkribiert werden, oder ob Übersetzungen angefertigt werden.
Bei ausreichenden Sprachkenntnissen[1], deren Erwerb oft eine zentrale Aufgabe zu Beginn der Feldforschung ist, sollten - insofern es sich um eine Schriftsprache handelt - die Transkriptionen in der Originalsprache vorgenommen werden. Schwieriger gestaltet sich die Transkription von Befragungen und Erzählungen in Sprachen, die keine Schriftsprachen sind. Hier gilt es, in einem ersten Schritt ausfindig zu machen, ob lokale Notationssysteme entwickelt wurden, auf die man zurückgreifen kann oder ob man eine phonetische Transkription[2] der Texte vornimmt, was aber nur im Bereich der linguistischen Anthropologie und ethnolinguistischer Arbeiten absolut notwendig ist.
Mittlerweile stehen auch unterschiedliche Softwareprogramme zur Transkription von Sprachaufnahmen zur Verfügung. Eine hilfreiche Freeware zur Segmentierung und Transkription von aufgenommenen Interviews ist z.B. der Transcriber[3].
Literatur:
Dittmar, Norbert (2004) Transkription. Ein Leitfaden mit Aufgaben für Studenten, Forscher und Laien. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5
[2] http://www.langsci.ucl.ac.uk/ipa/
[3] http://trans.sourceforge.net/en/presentation.php
5.1.2.4 Literatur zum Thema Befragungen
http://www.qualitative-research.net/organizations/or-exp-d.htm[1].
Bernard, H. Russell (2002) Interviewing: Unstructured and Semistructured In: ders. Research Methods in Anthropology. Altamira Press: Walnut Creek, CA, S. 210-250.
Bogner, Alexander (Hg.) (2005) Das Experteninterview. Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.
Fontana, Andrea und James H. Frey (1994) Interviewing. In: Denzin, Norman K. & Yvonna S. Lincoln (Hg.) Handbook of Qualitative Research. Sage: London, S. 361-376.
Froschauer, Ulrike und Manfred Lueger (2003) Das qualitative Interview. WUV UTB: Wien.
Flick, Uwe (2002) Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Rowohlt: Reinbeck bei Hamburg.
Girtler, Roland (2001) Methoden der Feldforschung. Böhlau: Wien, S. 147-211; 168.
Lamnek, Siegfried (2005) Qualitatives Interview. In: ders.Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel, S. 329-402.
Levy, Robert I. und Douglas W. Hollan (1998) Person-centered Interviewing and Observation. In: Bernard, H. Russell (Hg.) Handbook of Methods in Cultural Anthropology. Altamira Press: Walnut Creek, CA, S.333-364.
Spradley J. P. (1979) The ethnographic interview. Holt, Rinehart & Winston: New York .
Witzel, Andreas (2000) Das problemzentrierte Interview. In: Forum: Qualitative Sozialforschung 1(1).
http://www.qualitative- research.net/fqs- texte/1-00/1-00witzel-d.htm[2]
Verweise:
[1] http://217.160.35.246/organizations/
[2] http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1132
5.1.3 Methodentriangulation
Unter Methodentriangulation versteht man den bewussten Einsatz unterschiedlicher Erhebungsverfahren[1] (Beobachtung[2], Befragung[3], Experiment, etc.) im Rahmen eines Forschungsprojektes, was in der englischsprachigen Literatur auch als mixed methods approach bezeichnet wird.
Literatur:
Flick, Uwe (2004) Triangulation. Eine Einführung. Verlag für Sozialwissenschaft: Opladen.
Verweise:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/quantitative/quantitative-2.html
[2] Siehe Kapitel 5.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.1.2
5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung
Eine ethnographische Untersuchung zielt in der Regel darauf ab, Menschen über einen längeren Zeitraum in ihrem alltäglichen Leben zu beforschen. Das heißt, der/die EthnographIn bzw. FeldforscherIn nimmt physisch mit der Gesamtheit seiner/ihrer Person über einen längeren Zeitraum an ausgewählten Lebenswelten teil, mit dem Ziel, Daten zu erheben und Beschreibungen anzufertigen, die als Grundlage für spätere Analysen dienen.
Ethnographische Feldforschung ist, wie andere sozialwissenschaftliche Verfahren (z.B. Fragenbogenerhebung, teilstrukturierte Interviews,...), eine Methode der Datenerhebung, die sich aber in zumindest zwei Bereichen grundlegend von anderen Verfahren unterscheidet. Diese ergeben sich daraus, dass Methoden nicht nur Verfahren der Datenerhebung sind, sondern auch Verfahren der In-Beziehung-Setzung zum Feld. Das heißt, Methoden legen bestimmte Formen der Interaktion mit dem Untersuchungsfeld nahe. Ethnographische Feldforschung zeichnet sich durch eine besonders intensive und langfristige, über die reine Datenerhebung hinausgehende In-Beziehung-Setzung zum Untersuchungsfeld aus. Dies ist ein zentrales Qualitätskriterium ethnographischer Forschung. Ethnographische Feldforschung ist somit nicht nur ein Verfahren der Datenerhebung, sondern vor allem auch ein Verfahren zur Generierung von Erfahrungen und Erlebnissen, welche den/die FeldforscherIn zunehmend zu einem Teil des Feldes machen.
Ein zentrales Moment des Feldforschungsprozesses besteht darin, diese Erfahrungen und Erlebnisse durch das systematische Anlegen und Ausarbeiten von Feldnotizen[1] in Daten zu transformieren. Im Gegensatz zu anderen Methoden determiniert bei der ethnographischen Feldforschung das Feld selbst in einem viel größeren Ausmaß den Einsatz und die Anwendbarkeit von Forschungsstrategien und Methoden.
Insgesamt bedarf ethnographische Feldforschung einer gezielten Vorbereitung[2], welche unter anderem den Erwerb von sachlichem[3] und regionalem Know-How[4] und sprachlich-kommunikativen Kompetenzen[5] umfasst. Am Beginn der Feldforschung steht die Herausforderung, einen Zugang zum Feld zu finden, die Definition der eigenen Rolle[6] in Auseinandersetzung mit dem Feld vorzunehmen und die Zusammenarbeit mit InformantInnen auf eine tragfähige Basis zu stellen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.4
[4] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.3
[5] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5
[6] Siehe Kapitel 5.1.1.2.1
Inhalt
- 5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung
- 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
- 5.2.2 Die praktische Umsetzung einer ethnographischen Feldforschung
- 5.2.2.1 Worin besteht die richtige Vorbereitung für eine Feldforschung?
- 5.2.2.1.1 Fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung
- 5.2.2.1.2 Praktisch-organisatorische Vorbereitung
- 5.2.2.1.3 Persönliche Vorbereitung: Selbstreflexion der ForscherIn
- 5.2.2.1.1 Fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung
- 5.2.2.1 Worin besteht die richtige Vorbereitung für eine Feldforschung?
- 5.2.3 Wie schreibt man Feldnotizen?
- 5.2.3.1 Headnotes und Fieldnotes
- 5.2.3.2 Von der ethnographischen Erfahrung zu den Feldnotizen
- 5.2.3.3 Feldnotizen als Daten
- 5.2.3.4 Fieldnotes als unterschiedliche Textsorten
- 5.2.3.4.1 Stichwortzettel
- 5.2.3.4.2 Ausgearbeitete fieldnotes
- 5.2.3.4.3 Organisation der fieldnotes
- 5.2.3.4.4 Transkripte
- 5.2.3.4.5 Spezialisierte Datensammlungen
- 5.2.3.4.6 Metadatendokumentation
- 5.2.3.4.7 Schriftliche Interaktionen aus dem Feld
- 5.2.3.4.8 Literatur
- 5.2.3.4.1 Stichwortzettel
- 5.2.3.5 Analyse der Fieldnotes
- 5.2.3.5.1 Das Lesen der Feldnotizen als Daten
- 5.2.3.5.2 Das Stellen von Fragen an die Fieldnotes
- 5.2.3.5.3 Das Kodieren der Feldnotizen
- 5.2.3.5.4 Das Verfassen von Memos
- 5.2.3.5.1 Das Lesen der Feldnotizen als Daten
- 5.2.4 Literatur
- 5.2.3.1 Headnotes und Fieldnotes
- 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
Das Forschungsdesign einer Ethnographie wird bestimmt durch:
- das Forschungsziel,
- die theoretischen Grundannahmen,
- die methodische Ausrichtung und ihre entsprechenden Techniken
- sowie die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen im Forschungs- wie Ursprungsland der EthnographIn.
Unterschiedliche Forschungsdesigns klassischer Ethnographien werden an folgenden Beispielen deutlich.
5.2.1.1 Historischer Partikularismus - Franz Boas
Der historische Partikularismus wurde Ende des 19. Jahrhundert von Franz Boas[1] im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode (comparative method) entwickelt.
Er forderte bei der historischen Rekonstruktion von Kulturen die Beschränkung auf eine bestimmte Kultur bzw. auf ein Kulturareal. (Theoretische Grundannahmen des historischen Partikularismus[2])
Boas forderte ein induktives Vorgehen in der Kulturanthropologie; allgemeine Schlussfolgerungen seien nur auf Grund ausreichend gesammelten Feldforschungsmaterials zulässig. (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[3])
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3
5.2.1.1.1 Franz Boas
Franz Boas (1858 - 1942) wurde in Deutschland geboren und naturwissenschaftlich ausgebildet (Physik, Geographie und Mathematik).
Schon bei seinen ersten (geographischen) Forschungen 1883 bei den Inuit auf Baffin Island und ab 1886 bei den NW-Küstenindianern British Columbia's (hauptsächlich den Kwakiutl) erkennt Boas, dass kulturelle Faktoren eine wesentlichere Rolle spielen als geographische.
Er habilitiert bei A. Bastian in Berlin und geht ab 1887 in die USA. Dort unterrichtet er ab 1896 an der Columbia University in New York und wird zur dominanten Figur in der amerikanischen Anthropologie und patriarchalischer Lehrer mehrerer SchülerInnengenerationen, welche ihm an Bedeutung und Prominenz kaum nachstehen (Benedict, Kroeber, Sapir, Herskovits, Lowie, Radin, Wissler, Mead u.v.a.).
<img height="289" border="0" align="bottom" width="207" alt="Franz Boas" src="images/qualitative-54_1.jpg" />
Boas vertritt die so genannte four-field-anthropology. Darunter ist eine allgemeine Anthropologie bestehend aus Rasse/physische Anthropologie, Sprache, Kultur und Archäologie zu verstehen, wobei jeder dieser Teilbereiche getrennt und mit jeweils anderen Methoden zu studieren ist. (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[1])
Im Rahmen der Kulturanthropologie wendet er sich gegen die spekulativen Erkenntnisse der Evolutionisten und fordert eine Beschränkung der historischen Rekonstruktion auf eine bestimmte Kultur bzw. ein Kulturareal.
Unter Boas wird das intensive Sammeln von ethnographischem Material durch die Feldforschung zur unerlässlichen Basis der Kulturanthropologie; erst bei ausreichender Datenlage und unter gebotener Vorsicht können Generalisierungen ins Auge gefasst werden. (Theoretische Grundlagen des historischen Partikularismus[2])
Boas war Begründer der American Anthropological Association und gab die Zeitschrift American Anthropologist heraus.
Seine bedeutendsten Werke sind The Central Eskimo (1888), The Social Organization and Secret Societies of the Kwakiutl Indians (1897), The Mind of Primitive Man (1911), Primitive Art (1927), Anthropology and Modern Life (1928), Race, Language and Culture (1940), Race and Democratic Society (1945).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
5.2.1.1.2 Theoretische Grundannahmen des historischen Partikularismus
Die Grundzüge des historischen Partikularismus nach Franz Boas[1] bestanden aus folgenden theoretischen Grundannahmen:
- Im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode sind nur auf eine bestimmte Kultur oder ein Kulturareal (culture area) begrenzte historische Rekonstruktionen zu vertreten.
- Jede Kultur besteht aus Kulturelementen, welche durch Diffusion von anderen Kulturen übertragen wurden.
- Jedes durch Diffusion übernommene Kulturelement wird überformt, um in die neue Kultur zu passen.
- Dieser Prozess verläuft aber nie vollständig, so dass Kultur immer nur ein lose organisiertes Gebilde und kein eng geknüpftes System darstellt.
- Das soziale Leben wird bestimmt von Sitten und Gebräuchen (nicht von Rationalität und Nützlichkeit).
- Jede Kultur ist einzigartig, da sie das Resultat von diffusionistischen Prozessen und lokalen Bedürfnissen darstellt.
- Wenn jede Kultur einzigartig ist, können keine allgemeinen Urteile über eine bestimmte Kultur gefällt werden; sie kann nur aus dem kulturellen Kontext, in dem sie situiert ist, verstanden werden.
- Betonung der emischen Analyse (Perspektive der AkteurInnen einer Kultur) gegenüber der etischen (Perspektive der ForscherInnen von außen); bedeutend sind die Werte, Normen und Emotionen der untersuchten Kultur.
- Deshalb können auch nur schwer Verallgemeinerungen zwischen Kulturen getroffen werden; wenn, dann nur mit Vorsicht und bei ausreichender Datenlage.
- Betonung der Feldforschung, um möglichst viele Daten zu sammeln.
- Induktives Vorgehen; ohne vorgefasste Theorien in die Feldforschungssituation; wenn allgemeine Erklärungen erfolgten, dann nur auf Grund einer großen Menge an gesammelten Daten (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[2]).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3
5.2.1.1.3 Methoden und Techniken des historischen Partikularismus
- Im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode beschränkt Franz Boas[1] die historische Rekonstruktion auf eine bestimmte Kultur bzw. ein Kulturareal.
- Die Feldforschung wird betont, um möglichst viele empirische Daten zu sammeln und Spekulationen zu vermeiden (positivistisch).
- Im Sinne eines induktiven Vorgehens geht Boas ohne vorgefasste Theorien in die Feldforschungssituation und trifft nur bei ausreichendem Datenmaterial sehr vorsichtig formulierte generalisierende Aussagen.
- Boas vertritt die sog. four-field-anthropology. Darunter ist eine allgemeine Anthropologie bestehend aus Rasse/physische Anthropologie, Sprache, Kultur und Archäologie zu verstehen, wobei jeder dieser Teilbereiche getrennt und mit jeweils anderen Methoden zu studieren ist.
- Kultur wird von ihm bzw. seinen SchülerInnen nach Verbreitungsmerkmalen (Diffusion) von Kulturelementen und nach holistischen Mustern (patterns) untersucht
- Boas nimmt eine Vielzahl an indigenen Texten (Mythen, Erzählungen, Erinnerungen an die Vergangenheit u.a.) in der Originalsprache auf, versehen mit interlinearer englischer Übersetzung durch InformantInnen oder DolmetscherInnen.
- Boas' wichtigster Mitarbeiter wird George Hunt, ein Mann von schottischer und Tlingit Herkunft, der in einem Kwakiutl-Dorf herangewachsen und der Kwakwala-Sprache mächtig war. Er wird von Boas in der richtigen Aufnahme der Texte und ihrer Transkription unterwiesen, in einigen der publizierten Texte fungiert er auch als Co-Autor. Der Kontakt von Boas zu Hunt bleibt auch nach dieser Zusammenarbeit über mehr als 30 Jahre aufrecht.
- Weitere von Boas angewandte Techniken sind (teilnehmende) Beobachtung, Aufnahme von Lebensgeschichten (life histories), unstrukturierte Interviews.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
5.2.1.2 Funktionalismus - Bronislaw Malinowski
Bronislaw Malinowski[1] gilt als Begründer der modernen ethnographischen Datenerhebung.
Entgegen den spekulativen Rekonstruktionen der armchair-anthropologists wird durch ihn das Sammeln von first-hand Daten im Feld zum gültigen Standard und die von Malinowski programmierte participant observation zu „der“ Methode der Kultur- und Sozialanthropologie (Methoden und Techniken des Funktionalismus[2]).
Der (strukturale) Funktionalismus als theoretische Strömung wird ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts (1922) zur zentralen Ausrichtung innerhalb der britischen Sozialanthropologie. Während Malinowski's Kulturtheorie bereits gegen Ende der 1930er Jahre abgelehnt wird, behält der strukturale Funktionalismus von Radcliffe-Brown bis in die 1960er Jahre seine Bedeutung.
Von naturwissenschaftlichen Vorstellungen geleitet geht der Funktionalismus von der Beziehung (Funktion) einzelner Teile innerhalb einer übergeordneten Ganzheit bzw. zu dieser aus (Organismusanalogie). (Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus[3])
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2
5.2.1.2.1 Bronislaw Malinowski
Bronislaw Malinowski (1884 - 1942) zählt gemeinsam mit A. R. Radcliffe-Brown zu den Begründern der britischen Sozialanthropologie. Sein Bekanntheitsgrad reicht weit über das Fach hinaus, so greift u.a. S. Freud auf Malinowskis Arbeiten zurück.
Malinowski gilt als der Initiator der modernen ethnographischen Datenerhebung und des Funktionalismus als theoretische Strömung innerhalb der Sozialanthropologie. (Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus[1])
<img height="364" border="0" align="bottom" width="276" alt="Bronislaw Malinowski" src="images/qualitative-58_1.jpg" />
Er studiert zunächst Mathematik, Physik und Philosophie in seiner Geburtsstadt Krakau, danach in Leipzig bei W. Wundt Psychologie und schließlich in London Anthropologie bei E. Westermarck und C. G. Seligman.
1914 findet seine erste Feldforschung bei den Mailu (Australien) statt, gefolgt von mehrmonatigen Aufenthalten auf den Trobriand Inseln (PNG). Mit Ausbruch des 1. Weltkrieges wird Malinowski auf Grund seiner polnischen Nationalität (Polen war zu diesem Zeitpunkt der K&K Monarchie Österreich-Ungarn eingegliedert) zum Staatsfeind, der zwar nicht ausreisen, aber seinen Forschungen frei nachgehen darf.
Dieser unfreiwillig verlängerte Aufenthalt legt den Grundstein für den Mythos Malinowski: Er entwickelt die sog. participant observation (teilnehmende Beobachtung), welche ein über einen längeren Zeitraum hinweg intensives Zusammenleben mit der untersuchten Bevölkerung vorsieht. (Methoden und Techniken des Funktionalismus[2])
Später unternimmt Malinowski kürzere Feldforschungen in verschiedene Gebieten Afrikas (meist im Rahmen von Besuchen seiner forschenden StudentInnen) und in Mexiko.
Von 1923 bis 1938 unterrichtet Malinowski an der London School of Economics (ab 1927 als Professor) und wird zum charismatischen Lehrer bedeutender VertreterInnen der Sozialanthropologie (z.B. Firth, Evans-Pritchard, Nadel, Meyer-Fortes, Schapera, Richards, Kaberry u.v.a.). Ab 1939 bis zu seinem Tode lehrt er in Yale, New Haven, in den Vereinigten Staaten.
Seine bedeutendsten Werke sind Argonauts of the Western Pacific (1922), Crime and Custom in Savage Society (1926), Sex and Repression in Savage Society (1927), The Sexual Life of Savages in North-Western Melanesia (1929), Coral Gardens and Their Magic (1935), A Scientific Theory of Culture (1944), Freedom and Civilization (1944), Magic, Science and Religion (1948), A Diary in the Strict Sense of the Term (1967).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
5.2.1.2.2 Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus
Die Grundzüge des (strukturalen) Funktionalismus sind:
- Wie die Theoretischen Grundannahmen des historischen Partikularismus[1] richtete sich der Funktionalismus gegen die spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und die vergleichenden Methode der armchair-anthropologists.
- Entgegen den Annahmen von Franz Boas[2] ist der Funktionalismus ahistorisch eingestellt, da die historische Perspektive nur bei Vorhandensein exakter schriftlicher Belege angestrebt werden kann.
- Organismusanalogie: die Gesellschaft wird mit einem biologischen Organismus verglichen, in dem die einzelnen Organe zusammenwirken müssen (Funktion), um den Erhalt des gesamten Körpers (Struktur) sicherzustellen.
- Gesellschaften bzw. ihre Teile zielen nach Ordnung (Equilibrium) und verlaufen nach bestimmten Mustern; der harmonische Zustand ist relativ stabil, Konflikte tendieren zu einem neuerlichen Equilibriumszustand.
- Das soziale Leben ist empirisch mittels ethnographischer Datenerhebung fassbar und für wissenschaftliche Analysen geeignet (Methoden und Techniken des Funktionalismus[3]).
- Ziel ist das Herausfinden von Gesetz- bzw. Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens im naturwissenschaftlichen Sinne.
- Im Mittelpunkt der Forschungen stehen die sog. Institutionen als Kristallisationspunkte (nach Durkheim); die Kulturtheorie von Bronislaw Malinowski[4] leitet die wesentlichen Institutionen als Kulturreaktionen auf menschliche Grundbedürfnisse ab
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
[4] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
5.2.1.2.3 Methoden und Techniken des Funktionalismus
Bronislaw Malinowski[1] gilt als Begründer der modernen ethnographischen Datenerhebung.
Gemäß den theoretischen Grundannahmen des Funktionalismus[2] wird in der britischen Sozialanthropologie die empirische Datengewinnung zum Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Analysen über das soziale Leben.
Jede/r Forscher/in hatte zunächst möglichst viel Material über ein bestimmtes Areal oder eine Ethnie zusammenzutragen (induktives Vorgehen), woraus eine Vielzahl an bemerkenswerten "Stammesmonographien" resultierte.
Als Feldforschungsgebiete dienten die ehemaligen britischen Kolonien in den Überseegebieten.
Obwohl Malinowski seinen eigenen Ansprüchen über die Qualität einer Ethnographie nicht immer gerecht werden konnte (vgl. seine Tagebuchnotizen in A Diary in the Strict Sense of the Word, 1967 posthum ohne Zustimmung publiziert), gelten diese auch heute noch als Standard.
Malinowski's Richtlinien für ethnographische Erhebungen lauteten:
- Feldaufenthalt über einen längeren Zeitraum hinweg (zumindest für ein Jahr, um den gesamten Jahreszyklus dokumentieren zu können);
- planmäßiger Abbruch aller Kontakte des/r Forschers/in zur eigenen Kultur;
- Erlernen der "Eingeborenensprache";
- zum Kernstück wird die sog. participant observation (teilnehmende Beobachtung), die zu einem weitgehenden Einleben und Verstehen der fremden Kultur durch den/die ForscherIn führen soll ("We have to become They");
- Ziel ist die vollständige Integration des/der Forschers/in in die untersuchte Kultur; die Anwesenheit des/der Ethnographen/in muss so selbstverständlich sein, dass er/sie nicht mehr als störend empfunden wird;
- die Person des/der Forschers/in wird zum Messinstrument im Feld (im naturwissenschaftlichen Sinn);
Trotz dieser hohen Ansprüche war auch Malinowski auf die Mitarbeit von InformantInnen und DolmetscherInnen angewiesen.
Neben der teilnehmenden Beobachtung führte er (üblicherweise unstrukturierte) Interviews, sammelte Genealogien und Lebensgeschichten (life histories).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2
5.2.1.3 Human Relations Area Files (HRAF) - George P. Murdock
Die Human Relations Area Files (HRAF) sind eine Datenbank, in welcher systematisch geordnetes ethnographisches Datenmaterial von rund 400 Kulturen für weitere statistische Auswertungen zur Verfügung steht. (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF[1])
Die HRAF wurden 1949 von George P. Murdock[2] gegründet und gingen aus dem 1937 entwickelten Cross-Cultural Survey hervor.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.3.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3.1
5.2.1.3.1 George P. Murdock
George Peter Murdock (1897 - 1985) war ein amerikanischer Anthropologe, der zum Schülerkreis von Franz Boas[1] zählte. Im Gegensatz zu seinem Lehrer versuchte er die vergleichende Methode (comparative method) wieder in die Anthropologie einzuführen und diese als nomothetische Wissenschaft zu etablieren.
Murdock lehrte in Yale und Pittsburgh. 1937 richtete er in Yale den Cross-Cultural Survey als Datenbank für ethnographisches Material ein, aus welchem 1949 die Human Relations Area Files (HRAF) hervorgingen. (Human Relations Area Files (HRAF) - George P. Murdock[2], Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF[3])
1962 gründete Murdock die Zeitschrift Ethnology mit dem Ziel, die ethnographische Datenproduktion und -kommunikation zu steigern.
Ebenso förderte er ethnographische Datenerhebungen im Pazifik und entwickelte ein Programm, das vom Office of Naval Research unterstützt wurde.
Seine bedeutendsten Werke sind Our Primitive Contemporaries (1934), Social Structure (1949), Outline of South American Cultures (1951), Outline of World Cultures (1954), Africa: Its People and Their Cultural History (1959), Culture and Society (1965), Atlas of World Cultures (1981).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.3.2
5.2.1.3.2 Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF
Im Gegensatz zu seinem Lehrer Franz Boas[1] bemühte sich George P. Murdock[2] um eine Wiedereinführung der vergleichenden Methode (comparative method) im Sinne von Morgan und Tylor in die Anthropologie und um deren Ausrichtung als nomothetische Wissenschaft.
Zu diesem Zweck entwickelte er 1937 zunächst den Cross-Cultural Survey, aus welchem 1949 die Human Relations Area Files (HRAF) hervorgingen. Bei beiden handelt es sich um eine Datenbank, in der systematisch (nach einem ethnographischen Index) gesammeltes Material von rund 400 Kulturen bereitgestellt ist.
Das Datenmaterial sollte anderen ForscherInnen für statistische Auswertungen zur Verfügung stehen, um Verteilungen von Kulturmerkmalen und historische Beziehungen für bestimmte Kulturareale oder für ähnliche Kulturtypen zu konstruieren.
In seinem bekanntesten Werk, Social Structure (1949), untersucht Murdock ein Sample von 250 repräsentativen Gesellschaften z.B. nach dem Zusammenhang von Deszendenzregeln und postmaritalen Heiratsregelungen. So kann er bereits früher vermutete Zusammenhänge zwischen patrilinearer Deszendenz und virilokaler Residenz bzw. zwischen matrilinearer Deszendenz und uxori-lokaler oder viri-avunculokaler Residenz mittels präziser Korrelationen bestätigen. Diese Muster setzt er wiederum statistisch zu anderen Mustern (z.B. Subsistenzformen oder Verwandtschaftsterminologien) in Beziehung, um (multi-)evolutionshistorische Entwicklungen aufzuzeigen.
Die Files bieten eine wertvolle Basis für vergleichende quantifizierende Untersuchungen in der Kultur- und Sozialanthropologie.
Ihre Vorteile liegen in:
- Zugriffsmöglichkeit für alle Subskribenten (Institutionen, WissenschaftlerInnen) auf Xerox oder Mikrofiche-Basis; neuere Teile sind unter eHRAF[3] abrufbar.
- identes Ausgangsmaterial für vergleichende Studien, u.a. basierend auf einem einheitlichen Kodeschema, dem so genannten Outline of Cultural Materials (Inhaltsverzeichnis[4]).
- umfangreiches Datenmaterial
- Qualität und Tiefe der Informationen gingen bereits in der Initialphase über das bisherige Niveau hinaus, da nach einem ethnographischen Index gesammelt wurde
- das Anwachsen der Files war mit der zunehmenden Bereitschaft von EthnographInnen verbunden, auch quantifizierende Methoden in ihre Forschungen miteinzubeziehen
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3.1
[3] http://www.library.illinois.edu/edx/hrafgui.htm
[4] http://www.library.illinois.edu/edx/hraf_ocm.pdf
5.2.1.4 Interpretative Anthropologie - Clifford Geertz
Der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz[1] vergleicht die Feldforschungssituation mit einem literarischen Text, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als erklären kann (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[2]).
Die in den 1970er Jahren formulierte interpretative Anthropologie leitete das Postmoderne Denken in der Kulturanthropologie ein und führte zu einer Betonung von Schreiben und Text, Bedeutung (meaning) und Interpretation im Gegensatz zu Struktur und Kausalität.
Geertz richtet sein Augenmerk weg von generalisierenden Aussagen auf die tiefe Durchdringung einzelner Fälle (thick description oder dichte Beschreibung[3]).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1
5.2.1.4.1 Clifford Geertz
Clifford Geertz (1926 - 2006) war ein bedeutender amerikanischer Kulturanthropologe, der über sein Fach hinaus Beachtung erlangte und Einfluss auf Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte, Geographie, Ökologie, Politikwissenschaft u.a. nahm.
Ausgebildet in Harvard unterrichtete er zunächst in Berkeley und Chicago, ab 1970 bis zu seinem Tode (als Emeritus) an der School of Social Science at the Institute for Advanced Study an der Universität von Princeton, N.Y..
Seine Themenschwerpunkte waren u.a. Kultur (allgemein), Religion (speziell der Islam), ökonomische Entwicklungen, traditionelle politische Strukturen, Dorf- und Familienleben.
Geertz führte intensive ethnographische Forschungen auf Java, Bali und in Marokko durch.
Er vergleicht die Feldforschungssituation mit einem literarischen Text, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als erklären kann. Den Höhepunkt seines Schaffens erreicht Geertz in den 1970er und 80er Jahren mit der Begründung der interpretativen Anthropologie. (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[1])
Er richtet sein Augenmerk weg von generalisierenden Aussagen auf die tiefe Durchdringung einzelner Fälle (thick description oder dichte Beschreibung[2]).
Seine bedeutendsten Werke sind The Religion of Java (1960), Agricultural Involution (1963), Islam Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia (1968), The Interpretation of Cultures: Selected Essays (1973, 2000), Negara: The Theatre State in Nineteenth Century Bali (1980), Works and Lives: The Anthropologist as Author (1988), The Politics of Culture, Asian Identities in a Splintered World (2002).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1
5.2.1.4.2 Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie
Ausgangspunkt für Clifford Geertz[1] bildet die symbolische Anthropologie, wonach jede Kultur eine relativ autonome Ganzheit, ein System von Bedeutungen darstellt, welches der/die Anthropologe/in durch dekodieren und interpretieren erschließen kann.
In seinem Werk The Interpretation of Cultures (1973) vergleicht Geertz die ethnographische Analyse mit der Durchdringung eines literarischen Dokumentes, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als schlüssig erklären kann. (deshalb die Bezeichnung interpretative Anthropologie).
Die in einer Ethnographie dargestellte Kultur ist als ein Zusammenbau verschiedener Texte zu verstehen:
- der Interpretationen der untersuchten Personen über Phänomene ihrer Lebenswelt in Zeit und Raum; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen erster Ordnung
- der Interpretationen der InformantInnen über Phänomene der Lebenswelt in Zeit und Raum; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen erster oder zweiter Ordnung
- der Interpretationen der EthnographInnen über Phänomene von Lebenswelten, die von deren intellektuellem Hintergrund in Zeit und Raum geleitet werden; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen zweiter oder dritter Ordnung.
Die Zusammenführung und Überlagerung dieser einzelnen Interpretationen nennt Geertz thick description oder dichte Beschreibung[2].
Dichte Beschreibungen sind nach Geertz keine „einfachen Beschreibungen“, sondern eine Kombination von Beschreibung und Interpretation.
Den Ausdruck thick description übernimmt Geertz vom Sprachphilosophen Gilbert Ryle, der damit eine schnelle Augenlidbewegung in einer Runde von Knaben beschreibt: nur das interpretative, schnelle Erfassen der Gesamtsituation lässt Wesentliches von Irrelevantem unterscheiden. Ebenso verfährt der/die EthnographIn bei der Zusammenführung aller verfügbaren Interpretationen.
Der tiefen, mikroskopisch genauen Durchdringung einzelner Fälle (dichtes Beschreiben) gibt Geertz den Vorzug gegenüber generalisierenden Aussagen.
Wesentliche Bedeutung für die Präsentation der Ethnographie kommt dem Akt und der Art des Schreibens zu, durch den die dichten Beschreibungen zum Ausdruck kommen. Ethnographische Schriften sind nach Geertz Fiktionen, weil sie etwas künstlich Geschaffenes sind, müssen aber nicht unbedingt falsch sein. Geertz vertritt die Ansicht, dass auch Interpretationen wissenschaftlich sein können.
Die interpretative Anthropologie leitete das Postmoderne Denken in der Kulturanthropologie ein und führte zu einer Betonung von Schreiben und Text, Bedeutung (meaning) und Interpretation im Gegensatz zu Struktur und Kausalität.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1
5.2.1.4.2.1 Beispiel für eine dichte Beschreibung
Textprobe für eine "dichte Beschreibung" nach Clifford Geertz[1] (siehe auch Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[2]):
"Der Kampf.
Hahnenkämpfe (tetadjen; sabungan) werden in einem Ring abgehalten, der ungefähr fünfzig Fuß im Quadrat mißt. Gewöhnlich beginnen sie am späteren Nachmittag und dauern drei oder vier Stunden bis zum Sonnenuntergang. Was den allgemeinen Ablauf betrifft, so sind die Kämpfe völlig gleich: es gibt keinen Hauptkampf, keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Kämpfen, keine formalen Unterschiede nach Größen, und ein jeder wird völlig ad hoc arrangiert. Sobald ein Kampf zuende ist und die emotionalen Trümmer beiseite geräumt sind - die Wetten ausbezahlt, die Flüche ausgesprochen und die toten Hähne in Besitz genommen -, begeben sich sieben, acht, vielleicht ein Dutzend Männer unauffällig mit ihren Hähnen in den Ring, um dort einen passenden Gegner für sie zu finden. Dieser Vorgang, der selten weniger als zehn Minuten dauert, oft sogar länger, findet in einer sehr scheuen, verstohlenen, oft sogar verheimlichenden Weise statt. Die nicht unmittelbar Beteiligten schenken dem Ganzen eine allenfalls versteckte, beiläufige Beachtung; diejenigen, die - zu ihrer Verlegenheit - beteiligt sind, tun irgendwie so, als geschähe das alles überhaupt nicht.
Wenn ein Paar zusammengestellt ist, ziehen sich die anderen Aspiranten mit derselben betonten Gleichgültigkeit zurück. Dann legt man den ausgewählten Hähnen ihre Sporen (tadji) an - rasiermesserscharfe, spitze Stahldolche von vier oder fünf Zoll Länge ...
Sind die Sporen angelegt, werden die Hähne in der Mitte des Ringes von den Hahnenführern (die nicht immer identisch mit den Besitzern sind) einander gegenüber in Stellung gebracht. Eine Kokosmuß, in die ein kleines Loch gebohrt ist, wird in einen Eimer mit Wasser geworfen, in dem sie etwa nach einundzwanzig Sekunden untergeht, eine Zeitspanne, die tjeng genannt wird und deren Anfang und Ende durch das Schlagen eines Schlitzgongs angezeigt wird. Während dieser einundzwanzig Sekunden ist es den Führern (pengangkeb) nicht gestattet, ihre Hähne zu berühren. Wenn es, was zuweilen geschieht, in dieser Zeit zu keinem Kampf zwischen den Tieren gekommen ist, nimmt man sie wieder an sich, sträubt ihre Federn, zieht an ihnen, sticht sie und ärgert sie noch auf andere Weise, und setzt sie dann zurück in die Mitte des Ringes, wo der Vorgang von neuem beginnt. Manchmal weigern sie sich selbst dann noch zu kämpfen, oder einer rennt ständig davon; in solch einem Falle werden sie zusammen unter einen Korbkäfig gesteckt, was sie dann für gewöhnlich zum Kämpfen bringt.
In den meisten Fällen jedoch fliegen die Hähne beinahe sofort aufeinander los, in einer flügelschlagenden, kopfstoßenden und um sich tretenden Explosion tierischer Wut, so rein, so absolut und auf ihre Weise so schön, dass sie fast abstrakt zu nennen wäre, ein platonischer Begriff des Hasses."
in: Geertz, Clifford (1983) "Deep Play": Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: ders. Dichte Beschreibung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (orig. engl. 1973), S. 214-216
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
5.2.1.5 Anthropology at Home
Anthropology at Home oder auto-anthropology (nach Edward Ardener) bedeutet ethnographische Forschung, die im Heimatgebiet der EthnographInnen durchgeführt wird.
Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden (siehe Vor- und Nachteile der Anthropology at Home[1]), der sich aus den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen[2] des Forschungskontextes ableitet.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.5.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.5.1
5.2.1.5.1 Gesellschaftspolitische Voraussetzungen von Anthropology at Home
Im Gegensatz zur sog. exotischen Anthropologie, welche ihre Forschungsgebiete vornehmlich in Überseeländern suchte, betreibt die Anthropology at Home[1] ihre Untersuchungen im Heimatgebiet der EthnographInnen.
Trotz einzelner Studien führte die mainstream Kultur- und Sozialanthropologie bis zu Beginn der 1970er Jahre ihre Erhebungen vorwiegend in Überseegebieten durch.
Einreisebeschränkungen in viele der ehemaligen (kolonialen) Forschungsländer, bei gleichzeitigem rasantem Ansteigen an ausgebildeten AnthropologInnen führten vermehrt dazu, den ethnographischen Blick weg von exotischen Gebieten auf die eigene Kultur/Subkulturen zu richten. Zudem begannen immer mehr indigene, an westlichen Universitäten ausgebildete Kultur- und SozialanthropologInnen, ihre eigenen Heimatgebiete zu erforschen.
Stanley R. Barrett unterscheidet nach den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der Forschungsbedingungen unterschiedliche Typen von Anthropology at Home:
- Insider Anthropology wird von EthnographInnen betrieben, die aus den das Forschungsgebiet dominierenden Gruppen stammen.
- Native Anthropology wird von EthnographInnen betrieben, die aus Minderheiten-Gruppen im Forschungsgebiet stammen.
- Indigenous Anthropology wird von so genannten „3.Welt-AnthropologInnen“ betrieben, die Forschung in ihrem Heimatland betreiben.
Bei dieser Dreiteilung von Barrett wird deutlich, dass sich die Differenz zwischen Insider und Native Anthropology innerhalb der Indigenous Anthropology der 3.Welt-AnthropologInnen wiederholt.
Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden (siehe Vor- und Nachteile der Anthropology at Home[2]).
Literatur:
Barrett, Stanley R. (1996) Anthropology. A Student´s Guide to Theory and Method. Toronto: University of Toronto Press
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.5
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.5.2
5.2.1.5.2 Vor- und Nachteile der Antrhopology at Home
Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden, der sich aus den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen des Forschungskontextes ableitet.
Im Rahmen der Anthropology at Home können bei ethnographischen Untersuchungen sowohl qualitative wie quantitative Methoden herangezogen werden.
Die Vorteile für Anthropology at Home sind:
- Wegfall langer Anreisen und erheblicher Reisekosten,
- linguistische Kompetenz,
- kein bedingungsloses Angewiesensein auf InformantInnen,
- als Insider leichteres Verständnis der kulturellen Problematik,
- sowie größere Kapazität, kulturelle Nuancen von non-verbalen und verbalen Daten wahrzunehmen.
Die Nachteile für Anthropology at Home sind:
- Auf Grund der Vertrautheit werden viele Dinge des Alltagslebens von den ForscherInnen nicht hinterfragt und analysiert.
- Zu geringe soziale Distanz zur untersuchten Gruppe kann einem unparteiischen Verhalten der ForscherInnen entgegenstehen.
- Fehler im Verhalten der EthnographInnen werden nicht toleriert, da erwartet wird, dass die sozialen Regeln bekannt sind.