Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw Kultur- und Sozialanthropologie/Zugaenge der KSA

From Eksa
Jump to: navigation, search

Vorheriges Kapitel: 1 Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie

1.1 Zugänge der Kultur- und Sozialanthropologie

verfasst von Hermann Mückler

In der Gegenwart ist der grundsätzliche Zugang und Anspruch, den das Fach mit seinen Untersuchungen in der Ferne verband, ein anderer geworden. Hier kann Bruno Latour[1] (1995) zitiert werden, der meinte, dass, indem die Ethnologie den Exotismus opferte (indem sie sich der modernen Welt im hier und heute hinwandte, das verloren hat, was gerade die Originalität ihrer Forschungen ausmachte). In den "Tropen", welche hier als Synonym für die außereuropäische Welt, das traditionelle Forschungsgebiet der Ethnologie steht, hatte die Anthropologin der Anthropologe sich nämlich nicht mit dem Studium der Randbereiche dieser anderen Kulturen begnügt, sondern war angetreten, deren Zentrum zu rekonstruieren. Die Ethnologie hat versucht, bei der Untersuchung anderer Kulturen deren Glaubenssystem, deren Techniken, ihre Ethnowissenschaften, ihr Machtmechanismen, ihre Ökonomien, usw. zusammen zu erforschen und zu einer interpretativen Gesamtschau zu kommen.

Die meisten klassischen Monographien unseres Faches zeugen von diesem Anspruch, der nicht immer erfolgreich eingelöst, aber immer wieder versucht worden ist. Bei der Untersuchung von Themen in der eigenen Gesellschaft[2], welche durch andere Mechanismen, die uns scheinbar komplexer erscheinen, organisiert ist und weil es sich um die "moderne" Welt handelt, wird dieser Anspruch häufig aufgegeben. Latour kritisierte die fehlende Symmetrie des Gesamten (nämlich auch in der eigenen Gesellschaft "ganzheitlich" zu forschen) als Problem und Ursache für die Desorientiertheit, aber auch mangelnde Sichtbarkeit des Faches gegenüber anderen Wissenschaften, wie der Soziologie, der Geschichte oder der Psychologie. Die Globalisierung vieler Themen hat für das Fach der Ethnologie bei der Hinwendung zu neuen Themen eher eine Fragmentierung und Partikularisierung bewirkt, als eine Beibehaltung traditioneller Herangehensweisen und Stärken.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Latour
[2] Siehe Kapitel 2.4.2.1

Inhalt

1.1.1 Auflösung von Dichotomien, Entgrenzung

Neben den mit der Globalisierung einhergehenden veränderten räumlichen Bedingungen begegnen wir heute der Auflösung der Dichotomien' und dem Annehmen des Faktums, dass 'das Fremde[1] hier und heute unmittelbar Teil auch der eigenen Kultur geworden ist, während sogenannte "eigene" kulturelle Werte im entferntesten Winkel der Welt ihre Entsprechung finden können und von uns dort als vertraut wiedererkannt werden. Grenzen haben sich verschoben. Die Trennschärfe muss darunter nicht zwangsläufig leiden, aber sie unterliegt heute neuen und anderen Beobachtungs- und Bewertungsparametern, als noch vor einer Generation. Im Zuge der Globalisierung sind neue, transnationale[2] und entnationalisierte soziale Räume[3] entstanden, sodass es heute Fachwissenschafter nicht mehr mit vermeintlich abgrenzbaren überschaubaren kleinen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entitäten zu tun haben, sondern diese sich mit den weltweiten Verflechtungen und der Einbindung ihrer Untersuchungsgruppen in die Prozesse der Globalisierung auseinanderzusetzen haben.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.4 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (KSA)
[2] Siehe Kapitel 3.6.5.2
[3] Siehe Kapitel 1.2.3


1.1.2 Schlagworte der Globalisierung

Die heutige ethnologische Forschung setzt sich vermehrt mit den Divergenzen und Differenzen jener Prozesse, aber auch mit dem Verschmelzen, der Amalgamierung von globalen und lokalen Elementen auseinander. Dabei verschwindet das Lokale nicht, sondern tritt in eine neue Beziehung zum Globalen und gebiert unter Umständen etwas Neues. In diesem Zusammenhang wurde auf die Begriffe Uniformierung, Lokalisierung, Indigenisierung und als Verbindungsglied zwischen den beiden Polen Globalisierung und Lokalisierung, die sogenannte "Glokalisierung"[1], fokussiert, und neue Begrifflichkeiten für das Entstehen neuer "Aggregatszustände" und Wechselbeziehungen erfunden: Hybridisierung, McDonaldisierung, Corollarisation, Melange-Effekt, Mimikry, Kreolisierung[2], Transnationale Netzwerke, Synkretisierung, usw.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.4
[2] Siehe Kapitel 1.3.5


1.1.3 Begriffsdefinition

Eine genauere Beleuchtung des Verhältnisses der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie zu Globalisierungsprozessen[1] setzt eine Begriffsbestimmung voraus, die grundsätzlich, je nach dem Blickwinkel und Fokus, unterschiedlich ausfallen muss. Allgemein kann man Globalisierung als Bezeichnung für den Prozess einer zunehmenden internationalen Verflechtung in allen Lebensbereichen, insbesondere der Wirtschaft, Kommunikation[2], Politik, Kultur und Umwelt verstehen. Dieser Verflechtung sind alle Individuen, Gruppen, Gesellschaften und Institutionen und somit auch Staaten[3] unterworfen. Die Konsequenzen mögen für alle Genannten regional und inhaltlich unterschiedlich sein, in ihren grundsätzlichen Auslösern können jedoch Gemeinsamkeiten erkannt und ausdifferenziert werden. Globalisierung kann man aber nicht nur an exponentiell gestiegenen Verflechtungen festmachen, sondern auch an der Intensität, Geschwindigkeit und Beschleunigung diesbezüglicher Prozesse. Themenbezüglich kann man eine Globalisierung der Wirtschaft von jener der Politik unterscheiden, die der Kultur[4] von jener der Umwelt differenzieren.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2
[2] Siehe die Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten: Globalisierung in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
[3] Siehe Kapitel 3
[4] Siehe Kapitel 1.3


1.1.4 Historische Formen von Globalisierung

Immer wieder wurde die Frage nach dem Beginn, einem hypothetisch angenommenen Anfang, der Globalisierung gestellt. Generell neigen die Sozialwissenschaften dazu, jene vielfältigen Prozesse, die unter dem Stichwort Globalisierung zusammen gefasst werden, zu historisieren, d.h. sie nicht als neuartige Phänomene des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts zu begreifen. Diese Prozesse werden statt dessen meist in eine historisch weit zurückreichende "Traditions"-Linie gestellt, deren Beginn sich mit unterschiedlichen Phasen, Epochen und technologischen Sprüngen korrelieren lassen.

Manche wählen das 16. Jahrhundert und die Entwicklung im Zeitalter des Merkantilismus als Initialzündung, manche gehen zeitlich noch weiter zurück und verweisen auf antike Handelswege und - dynamiken, welche die damals bekannte Ökumene umfassten, und datieren Frühformen der Globalisierung (wenn auch in anderen Größenordnungen, Intensitäten und mit anderen Geschwindigkeits- und Zeitparametern) bis ins 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung.

In der Geschichte werden bezüglich einer Fokussierung auf historische und rezente Globalisierungsformen im Rahmen der sogenannten "connected histories", die Subbereiche "cultural history", "global history", "transnational history" und "entangled history" zusammen gefasst und vor dem Hintergrund eines "shifts" von globalgeschichtlichen und transnationalen hin zu einer transregionalen Herangehensweise beleuchtet. Dabei können, historisch und rezent Phasen und Dominanzbereiche definiert werden, wie z.B. die sogenannte "Anglobalisierung", also die federführende Rolle angelsächsischer Länder in manchen Prozessen und insbesondere die Geschichte der USA im Kontext seiner globalen Positionierung.


1.1.5 Beschleunigung in der jüngsten Vergangenheit

Der mobile Mensch, H. Mückler

Ohne das "ab wann?" endgültig klären zu können, kann eine Richtungsänderung und ein nochmaliger Sprung in der Beschleunigung ab dem Zeitpunkt des Jahres 1989 festgestellt werden, dem Jahr des Falls der Berliner Mauer[1]. Mit Sicherheit hat die Ausbreitung des westlichen marktwirtschaftlichen kapitalistischen Systems auf die Länder des ehemaligen Ostblocks eine zusätzliche Dynamisierung im Bereich wirtschaftlicher Durchdringung und eine Beschleunigung von Verflechtungen im Warenverkehr gebracht (natürlich haben auch die hohen Wachstumsraten in den Staaten Südost- und Ostasiens vor der Asienkrise einen ebenso großen Effekt für diese Dynamisierung und den Zugewinn an Geschwindigkeit in diesem Prozess der 1990er Jahre).

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Mauer

1.1.6 Eine neue globale "awareness" entsteht

Im Jahr 1989 fanden in Paris, London und Amsterdam die ersten Konferenzen statt, die den globalen Zustand des Planeten zu analysieren versuchten. Auch wenn es davor schon vereinzelt ähnliche Initiativen gab (z.B. den Club of Rome in den 1970er Jahren), so markierte 1989 eine neue Form der "awareness", die manche mit dem Anfang vom Ende des kapitalistischen Systems, wie wir es heute kennen, gleichsetzen. Die unbegrenzte ressourcenbezogene Eroberung und totale Beherrschung der Natur wurde durch die schrittweise Erkenntnis der Unmöglichkeit, den eingeschlagenen Weg ohne signifikante Kurskorrekturen in allen Lebensbereichen weitergehen zu können, ersetzt. Der drohende Kollaps des Weltklimas, das Kippen der Meere, die Verknappung zentraler Ressourcen und die drohende Unbewohnbarkeit riesiger Flächen durch Verwüstung, Versalzung, Überflutung etc. bei einem Beibehalten des eingeschlagenen Weges einer nicht nachhaltigen Ressourcennutzung, zwingt den Menschen ein Umdenken auf.

Es handelt sich um Probleme und Herausforderungen, die nicht an nationalen Grenzen[1] Halt machen und damit nicht eingrenzbar und von isoliert agierenden politischen und sozialen Gemeinwesen bewältigt werden können. Zaghaft, und aus heutiger Sicht noch immer absolut ungenügend, setzt sich aber schrittweise eine völlig neue Denk- und Handlungsweise durch, die hier dem Verschwinden der Möglichkeit unbegrenzter Ressourcenausbeutung und Beherrschung der Natur, Rechnung zu tragen versucht.

Auch das ist Globalisierung: dass man erkannte bzw. langsam aber stetig wachsend zu erkennen beginnt, dass viele Dinge nur im Zusammenspiel aller bekämpft und verändert werden können; dass die Erkenntnis reift(e), dass gewisse Dinge alle in ähnlicher Weise treffen. Globalisierung kann und muss so unter dem Gesichtspunkt der Änderung von Denk- und Handlungsweisen betrachtet werden.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.3


Nächstes Kapitel: 1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung


↑ Nach oben