Themenbereiche der KSA/Mythen

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Vorheriges Kapitel: 3.6 Ökonomische Anthropologie

3.7 Anthropologie der Mythen

verfasst von Elke Mader

Foto: Darstellung des Ramayana (Rama und Sita) in einem Themenpark in Tamil Nadu, Indien, Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ramayana_poonga_Rama_%26_Sita.jpg)


Mythen sind Geschichten, sie sind eine spezifische Dimension narrativer Kultur, deren vielstimmiger Diskurs in einem breiten Spektrum von Definitionen, Analysen und Interpretationen reflektiert wird. Sie sind ein Genre mit fließenden Übergangen zu anderen Erzählweisen, erklären Natur und Übernatürliches, berichten von Menschen, Göttern, Geistern und Dämonen, vom Ursprung der Dinge und von den Regeln des Zusammenlebens. Sie sind der Lebenswelt jener Menschen verbunden, die sie weitergeben und gestalten, zirkulieren jedoch auch aber über große Distanzen und kulturelle Kontexte hinweg. Mythen repräsentieren einerseits alte symbolische Traditionen, andererseits werden sie immer wieder an neue Kontexte und Erzählformen angepasst.

Die Inhalte von Mythen bilden auch einen integralen Bestandteil von Wissensgefügen und stellen eine Grundlage für Weltbilder[1], Religionen[2] und Rituale[3] dar. Sie erzählen auch über Gefühle, Wünsche oder Konflikte, die Menschen in verschiedenen Lebenswelten berühren und vermitteln Vorstellungen und Normen, die in diversen sozialen Gefügen zum Tragen kommen. Sie konstruieren einen imaginären und symbolischen Raum, der eng mit der Alltagswelt verwoben ist, und zeigen ein breites Spektrum von Bewertungen bestimmter Fähigkeiten, Ereignissen und Handlungen (vgl. Mader 2008).

Inhalt



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1.4
[2] Siehe Kapitel 3.1
[3] Siehe Kapitel 3.2


3.7.1 Theoretische Perspektiven und Forschungsgeschichte

Foto: Darstellung einer Mythe der Aborigines, Australien, Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wagyl.jpg)

Die Mythenforschung als akademische Forschungsrichtung stellt seit dem 19. Jahrhundert ein inter- und transdisziplinäres Feld dar und erstreckt sich heute auf eine große Bandbreite von Fachdisziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaften und darüber hinaus (Archäologie, Cultural Studies, Folklore Studies, Geschichte, Kognitionsforschung, Kultur- und Sozialanthropologie[1], Linguistik, Philologie, Philosophie, Psychologie, Theologie, Religionswissenschaft und andere mehr). Im Rahmen der Mythenforschung existieren auch verschiedene Gruppierungen von Fragestellungen, die oft aus den Perspektiven mehrerer Fachrichtungen untersucht werden.

Zum Beispiel konzentriert sich eine Gruppe von Fragestellungen auf Gemeinsamkeiten in Bezug auf menschliches Denken und Handeln: Die Schwerpunkte solcher Untersuchungen liegen unter anderem auf der Bedeutung von Mythen als Schlüssel zu psychischen und intellektuellen Prozesse oder auf ihrer Struktur und Symbolik. Andere Gruppen von Forschungsfragen konzentrieren sich auf die Untersuchung von Mythen in Zusammenhang mit der Beschreibung, Interpretation und Erklärung von gesellschaftlichen[2] Prozessen und Systemen von Repräsentationen. Mythen stellen in diesem Forschungsfeld einen Schlüssel zum Verständnis von religiösen, sozialen und politischen Gefügen dar. Sie werden als eine wichtige Dimension der Lebenswelt der Menschen in verschiedenen Gesellschaften, zu diversen Zeiten und an unterschiedlichen Orten analysiert.

Mythenforschung kann sich auf eine bestimmte (kulturelle) Gruppe konzentrieren oder vergleichende Studien umfassen. Wendy Doniger[3] (1998: 9f.) spricht in diesem Zusammenhang von "mikroskopischen" und "teleskopischen" Perspektiven auf Mythen, die einander ergänzen: "Through the microscope end of a myth, we can see the thousand details that each culture, indeed each version, uses to bring the story to life - what the people in the story are eating and wearing, what language they are speaking, and all the rest. ... But through the telescope end, we can see the unifying themes."

Definitionsversuche und theoretische Perspektiven[4] auf Mythen stehen in Zusammenhang mit der Forschungsgeschichte und der großen Bandbreite von Fragestellungen (vgl. Mader 2008).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Wendy_Doniger
[4] Siehe Kapitel 3 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung


3.7.2 Fallbeispiel: Mythen im Kino


Seit den Anfängen des Kinos besteht ein Naheverhältnis von Mythen und Filmen, das in den 1990er-Jahren verstärkt in den Mittelpunkt von Arbeiten aus dem Bereich der Kultur- und Sozialanthropologie[1] sowie der Film- und Kulturwissenschaften (film studies und cultural studies) gerückt ist.

Einige Fragestellungen an der Schnittstelle zwischen Mythenforschung und Filmstudien beschäftigen sich mit inhaltlichen Aspekten. Sie erkunden die mythischen Motive und Figuren im Kino und setzen sich mit dem Film als Repräsentationsform traditioneller und neuer mythischer Erzählstoffe auseinander.

Andere Studien thematisieren die Verflechtungen von Mythen, Ritual/Religion und Film in verschiedenen kulturellen[2] Kontexten oder vergleichen die Wirkungsweisen von Mythen und Filmen auf ihr Publikum in verschiedenen kulturellen Kontexten, etwa in Hinblick auf die Tradierung von Werten in sozialen und politischen Gefügen.

In einer Welt globaler Kulturströme[3] (cultural flows) tragen Filme auch zu einer weiten Verbreitung und einer verstärkten transkulturellen Rezeption mythischer Stoffe aus verschiedenen lokalen Traditionen bei (vgl. z.B. Kung Fu-Filme, Bollywood). So entstehen an der Schnittstelle von Mythen und globalen Medien[4] neue Formen von "mythscapes" besonderer Art, die sich wiederum mit anderen kulturellen Praktiken vermischen.

Einige ForscherInnen betrachten populäres Kino generell als Mythen der Gegenwart: Sie analysieren Filme mittels (erweiterter) Methoden der Mythenforschung, wobei strukturale sowie semiologische und semiotische Zugänge besonders großen Raum einnehmen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.4
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.7


3.7.2.1 "American Dreamtime" - Hollywood-Mythen und die Konstruktion von Bedeutung im populären Kino


Abbildung: Filmplakat "Star Wars", USA 1977, Regie: George Lucas


Lee Drummond[1] untersucht das populäre Kino in den USA aus der Perspektive einer semiotisch orientierten Mythenforschung. In dem Buch American Dreamtime (1996) widmet er sich mehreren Fragen, die sich AnthropologInnen im Kino eröffnen: Warum sind bestimmte Filme Blockbuster? Was fasziniert die Menschen an diesen Filmen? Welche Bilder und Vorstellungen kommen dabei zum Tragen?

Drummond versteht seine Auseinandersetzung mit dem Kino als Analyse der Praxis kultureller Produktion einer Gruppe von Menschen. Diese Gruppe sieht er als in einem Bedeutungssystem verankert, das eine Quelle kultureller Produktion (generative source of culture) darstellt und sich * wie Mythen - auf verschiedene Dimensionen eines sozialen und kulturellen Gefüges bezieht. Kultur stellt in diesem Zusammenhang einen Raum von Bedeutungen (semiospace) dar, der auch im Kino zum Ausdruck kommt. Drummond hebt diesbezüglich die Notwendigkeit hervor, Produktionen der Populärkultur in Industriegesellschaften mit derselben Ernsthaftigkeit zu erforschen wie andere Themenfelder, da sie eine Fülle von kulturellen Vorstellungen und Praktiken präsentieren und prägen.

Parallelen zwischen diesen populären Hollywood-Filmen und Mythen sind auf mehreren Ebenen zu erkennen. So drehen sich Mythen wie Filme um Achsen der Konstruktion von Bedeutung, die Drummond in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss[2] (z.B. 1964/1976) an Gegensatzpaaren festmacht. Drummond unterscheidet drei zentrale Achsen in Film-Mythen: Die erste umfasst Beziehungen zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Mensch und Artefakt oder Maschine, die zweite erstreckt sich vom Wir bzw. dem Eigenen zum Sie bzw. dem/den Anderen, und die dritte spannt sich zwischen Leben und Tod. Diese Achsen durchziehen Hollywood-Mythen in verschiedenen Genres sowie in diversen inhaltlichen Zusammenhängen. Sie sind nicht scharf voneinander getrennt, vielmehr zirkulieren verschiedene Elemente des komplexen Gefüges von Bedeutungen zwischen den drei Achsen und stellen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Bereichen von Dilemmas her.

Bei der Erkundung solcher Gegensätze und/oder Widersprüche im Rahmen von mythologischen Filmanalysen spielt der Begriff "schismogenesis" eine wichtige Rolle. Drummond übernimmt dieses Konzept von Gregory Bateson[3]: Es besagt, dass im Kern von Mythen und Ritualen[4] (gesellschaftliche und kognitive) Konflikte und Widersprüche liegen, die zwar nicht gelöst werden können, deren Repräsentation jedoch von großer Bedeutung für die kulturellen Prozesse ist. Einen Bereich solcher Dilemmas stellt die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt dar. Wie viele Mythen thematisiert auch ein guter Teil der untersuchten Hollywood- Filme Beziehungen des Menschen zur Natur - zum Beispiel zu Tieren - aber auch zur Umwelt der Industriegesellschaft, die durch Artefakte und Maschinen wesentlich mitgestaltet wird (z.B. Star Wars).


Verweise:
[1] http://www.peripheralstudies.org/
[2] Siehe Kapitel 2.5
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Gregory_Bateson
[4] Siehe Kapitel 3.2


3.7.2.2 Mythische Figuren und Motive im Kino - Pirates of the Caribbean


Abbildung: Filmplakat "Pirates of the Caribbean - On Stranger Tides", USA 2011, Regie: Rob Marshall
Abbildung: Filmplakat "Pirates of the Caribbean - On Stranger Tides", USA 2011, Regie: Rob Marshall

In der Filmreihe Pirates of the Caribbean kommen Verflechtungen von Mythen und Filmen unter anderem durch gemeinsame Inhaltselemente zum Ausdruck (vgl. Mader 2008: 184ff. und Mader 2011). Dazu zählen Kontinuitäten bei der Charakterisierung der HandlungsträgerInnen, wie sie an der Figur des Tricksters (Captain Jack Sparrow) besonders deutlich zu erkennen sind. Darüber hinaus äußern sie sich in einer Reihe von Motiven und Themen, die wichtige Elemente im Rahmen der Konstruktion von Bedeutung darstellen. Diese Vermischungsprozesse können als Intertextualität analysiert werden: Darunter versteht man das Verschieben von Inhaltselementen aus einem Zusammenhang (Text) in einen anderen. Dabei bleiben einige Aspekte ihrer Bedeutung erhalten, andere werden durch den neuen Zusammenhang verändert bzw. kommen neu dazu.

Pirates of the Caribbean bedient sich aus einem Baukasten, der aus verschiedenen mythischen Figuren sowie aus Motiven und Inhaltselementen aus Literatur und Film besteht. Darüber hinaus wurden Szenarien einer Grottenbahn gleichen Namens in Disney-Land eingebaut.

Narration und Konstruktion von Bedeutung im Rahmen der Filmreihe baut auf bekannten Schemata des Piratenfilms auf und vermischt diese intertextuell mit einer großen Bandbreite von Motiven und Figuren. Mythen des Wassers und der Seefahrt von der Antike bis in die Neuzeit, insbesondere aus der Entdeckungszeit mit ihren Schätzen, Wilden, Monstern und Paradiesen am Rand der (Neuen) Welt werden herangezogen. Der Fliegende Holländer und die Nymphe Kalypso[1] (die dem schiffbrüchigen Odysseus Unsterblichkeit verspricht und ihn sieben Jahre auf ihrer Insel gefangen hielt), Meerjungfrauen und Seeungeheuer, Zombies und Geister reichen einander die Hand und sind wesentliche Handlungsträger der Filme. Magische Objekte - z.B. der Kompass, der Jungbrunnen oder auch das Schiff "Black Pearl" - nehmen wichtige Funktionen der Erzählung ein. Das Motiv der verkehrten Welt, das in vielen Mythologien weltweit zu finden ist, wird im dritten Teil filmisch spektakulär umgesetzt.

Die Hauptfigur der Filmreihe ist Captain Jack Sparrow - ein Trickster. Der Trickster ist eine weit verbreitete mythische Figur und symbolisiert bestimmte Formen der Interaktion mit der Welt und der Gestaltung sozialer Beziehungen. Im Gegensatz zu Helden oder Schurken, die Gut und Böse deutlich kontrastieren, spielt er mit den Grenzen zwischen Gut und Böse und gilt als "mythische Verkörperung von Ambivalenz" (Hyde 1998: 7): Er erschafft und zerstört, trickst andere aus und wird selbst ausgetrickst.

Ein Prototyp dieser Figur in der europäischen Mythologie ist Odysseus, dessen Reisen und Erlebnisse auch mehrmals verfilmt wurden. Von seinem Vorfahren, dem göttlichen Hermes, erbte er eine Reihe von Fähigkeiten: So kann er perfekt lügen, tarnen und täuschen. Solche Kapazitäten sind auch im Kampf oder Krieg besonders nützlich, man denke an das trojanische Pferd. Trickster tauchen oft dort auf wo Eine/r oder Wenige gegen eine große Übermacht antreten, sie prägen viele indianische und afrikanische Mythen sowie Comic-Figuren. Viele Elemente dieser Figuren und ihrer Handlungsweisen werden in Captain Jack Sparrow vereinigt, der sich in Zukunft vielleicht noch durch weitere Teile der Filmreihe tricksen wird.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Kalypso_%28Mythologie%29


3.7.3 Literatur


Doniger, Wendy 1998: The Implied Spider. Politics & Theology in Myth. New York: Columbia University Press.

Drummond, Lee 1996: American Dreamtime. A Cultural Analysis of Popular Movies, and their Implications for a Science of Humanity. Maryland, Littlefield Adams Books.

Hyde, Lewis 1998: Trickster makes this world. Mischief, Myth, and Art. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Lévi-Strauss, Claude 1964/1976: Das Rohe und das Gekochte. Mythologica I. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Mader, Elke 2008: Anthropologie der Mythen. Wien: Facultas.

Mader, Elke 2011: Kino oder die Kunst, aus Mythen Blockbuster zu drehen. In: Erna Lackner (Hg.): Neue Mythen in Kultur und Wirtschaft. Innsbruck u.a.: StudienVerlag: 89-100.



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