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Revision as of 13:39, 19 August 2020
Vorheriges Kapitel: 3.3 Kolonialismus
Contents
- 1 3.4 Globalisierung
- 1.1 Inhalt
- 1.2 3.4.1 Gegenwärtige Phase der Globalisierung
- 1.3 3.4.2 Thesen über und Perspektiven auf Globalisierung
- 1.4 3.4.3 Globalismus, Globalität und Globalisierung
- 1.5 3.4.4 Transnationalismus und Transnationalisierung
- 1.6 3.4.5 Dimensionen und Faktoren der Globalisierung
- 1.7 3.4.6 Anthropologie der Globalisierung
- 1.7.1 3.4.6.1 Das Globale und das Lokale
- 1.7.2 3.4.6.2 Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien
- 1.7.3 3.4.6.3 Globalisierung und kultur- und sozialanthropologische Methodologie
- 1.7.4 3.4.6.4 Globalisierung und Kultur
- 1.7.5 3.4.6.5 Kulturelle Globalisierung und die Kultur- und Sozialanthropologie
- 1.7.6 3.4.6.6 Homogenisierung und Heterogenisierung
- 1.7.7 3.4.6.7 Globale kulturelle Landschaften und (Handlungs)Räume
- 1.8 3.4.7 Literatur
3.4 Globalisierung
verfasst von Philipp Budka
Es gibt in der Kultur- und Sozialanthropologie eine Vielzahl an Definitionen für "Globalisierung" und unterschiedliche Konzepte, um globale und globalisierende Prozesse und Phänomene zu beschreiben und zu untersuchen (vgl. z.B. Eriksen 2003, 2007, Friedman 1994, Hannerz 1996, Hauser-Schäublin und Braukämper 2002, Inda und Rosaldo 2002b). In der Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology (Barnard und Spencer 1996: 607) wird Globalisierung knapp als die Tendenz zunehmender globaler Verflechtungen in Kultur, Ökonomie und sozialem Leben beschrieben. Im Lexikon der Globalisierung (Kreff, Knoll und Gingrich 2011) findet sich eine detaillierte Begriffsbestimmung:
"Globalisierung bezeichnet weltweite Verflechtungs-, Austausch- und Abhängigkeitsprozesse. Kommunikations- und Transportmittel sind dabei besonders bedeutsam für die weltumspannenden Ströme von Finanzkapital, Waren, Technologien, Menschen und Ideen. Globalisierung hat nicht nur vereinheitlichende Wirkung, sondern geht auch mit kreativen Aneignungen oder Widerstand einher und reproduziert alte und bringt neue Unterschiede hervor. Daß diese Verflechtungen und Auswirkungen weltweit im wissenschaftlichen und im Alltagsleben spürbar und bewußt sind, ist - im Unterschied zu früheren überlokalen Interaktionen - ein wesentliches Merkmal der gegenwärtigen Phase der Globalisierung." (Knoll, Gingrich und Kreff 2011: 126)
Jonathan Xavier Inda[1] und Renato Rosaldo [2] (2002a: 2) argumentieren, dass sich der Begriff "Globalisierung" vor allem auf die Intensivierung globaler Vernetzungen bezieht, was eine Welt voller Bewegung und Vermischung, Kontakten und Verbindungen sowie kultureller Interaktionen und Austausch ermöglicht. Die Mobilität von Menschen, Kapital, Bildern und Ideen und ihre Verbindungen sind charakteristisch für die globalisierte Welt. In dieser vernetzen Welt in Bewegung erfahren wir eine zunehmende Komprimierung von Zeit und Raum. Die Intensivierung und die Beschleunigung dieser Raum-Zeit Komprimierung im ökonomischen und sozialen Leben sind für viele Globalisierungstheoretiker die zentralen Aspekte von Globalisierung[3] (vgl. Inda und Rosalda 2002a: 6 und z.B. Giddens 1990, Harvey 1989, Kearney 1995).
Inhalt
- 3.4.1 Gegenwärtige Phase der Globalisierung
- 3.4.2 Thesen über und Perspektiven auf Globalisierung
- 3.4.3 Globalismus, Globalität und Globalisierung
- 3.4.4 Transnationalismus und Transnationalisierung
- 3.4.5 Dimensionen und Faktoren der Globalisierung
- 3.4.6 Anthropologie der Globalisierung
- 3.4.6.1 Das Globale und das Lokale
- 3.4.6.2 Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien
- 3.4.6.3 Globalisierung und kultur- und sozialanthropologische Methodologie
- 3.4.6.4 Globalisierung und Kultur
- 3.4.6.5 Kulturelle Globalisierung und die Kultur- und Sozialanthropologie
- 3.4.6.6 Homogenisierung und Heterogenisierung
- 3.4.6.7 Globale kulturelle Landschaften und (Handlungs)Räume
- 3.4.6.1 Das Globale und das Lokale
- 3.4.7 Literatur
Verweise:
[1] http://www.lls.illinois.edu/people/jxinda
[2] https://web.archive.org/web/20120707115338/http://anthropology.as.nyu.edu/object/RenatoRosaldo.html
[3] Siehe Kapitel 3.4.1.1
3.4.1 Gegenwärtige Phase der Globalisierung
Da es sich bei Globalisierung um einen fortlaufenden Prozess handelt, der eine lange Geschichte hat (vgl. z.B. Wolf 1986), macht es laut einiger Kultur- und SozialanthropologInnen Sinn von einer gegenwärtigen oder aktuellen Phase der Globalisierung zu sprechen (vgl. z.B. Eriksen 2007, Knoll, Kreff und Gingrich 2011, Lewellen 2002). Ted C. Lewellen[1] (2002: 7f.) versteht unter der gegenwärtigen Globalisierung einerseits die zunehmenden Ströme von Waren, Finanzen, Kultur, Ideen und Menschen, die durch Kommunikations- und Transporttechnologien sowie durch die weltweite Verbreitung des neoliberalen Kapitalismus ermöglicht werden. Anderseits ist Globalisierung auch gegenwärtig durch die lokale und regionale Anpassung an diese Ströme sowie durch Widerstand gegen sie gekennzeichnet.
In Zeiten gegenwärtiger Globalisierungsprozesse befasst sich die Kultur- und Sozialanthropologie besonders mit überlokalen und transkulturellen Strömungen sowie mit globalen und transnationalen "Landschaften" und "Räumen" (Knoll, Kreff und Gingrich 2011, vgl. auch Appadurai 1996). Globalisierung wird einerseits mit Finanzmärkten und der Expansion des Neoliberalismus assoziiert, die in Zusammenhang mit Konsumtion und Kommodifizierung sämtliche Lebensbereiche durchdringen und so auch für den Einzelnen spürbar sind. Multinationale und globale Firmen sowie der Welthandel beeinflussen das Arbeitsleben und formen neue Arbeitswelten. Andererseits zeigt sich Globalisierung auch in einem politisch-ideologischen Spannungsverhältnis, in dem "von unten" zivilgesellschaftliche Bewegungen überlokalen Herrschaftsformen "von oben" entgegenwirken (vgl. Knoll, Kreff und Gingrich 2011).
Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Ted_C._Lewellen
3.4.1.1 Aspekte und Elemente der gegenwärtigen Globalisierung
Auch wenn Globalisierung kein neues Phänomen ist[1] und sich über hunderte Jahre prozessual entwickelt[2] hat, finden sich sehr wohl neue Aspekte in der gegenwärtige Phase der Globalisierung:
1. Die globale Verbreitung und Dominanz des neoliberalen Kapitalismus (vgl. Lewellen 2002, Eriksen 2007).
2. Lokalisierung, Regionalisierung und Globalisierung bilden zusammen ein System, das enger miteinander verbunden ist als jemals zuvor. Das bedeutet anders ausgedrückt, dass die "Präsenz des Globalen" von mehr und mehr Menschen direkt und in ihrem spezifischen lokalen Kontext erfahren wird (vgl. Lewellen 2002).
3. Die Entwicklung und globale Verbreitung von neuen Kommunikationstechnologien wie dem Internet[3] (vgl. Eriksen 2007).
Nach Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a) setzt sich Globalisierung aus vier charakteristischen Elementen zusammen:
1. Die Beschleunigung der Ströme[4] von Menschen, Waren, Ideen, Finanzen, etc.
2. Die Intensivierung der Interaktionsmodi, die die Welt vernetzen.
3. Die Ausdehnung von soziokulturellen, politischen und ökonomischen Praktiken über (nationalstaatliche) Grenzen hinweg[5].
4. Die Verknüpfung des Lokalen mit dem Globalen[6] und umgekehrt: "... while everyone might continue to live local lives, their phenomenal worlds have to some extend become global as distant events come to have an impact on local spaces, and local developments come to have global repercussions" (Inda und Rosaldo 2002a: 9).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6.2
[2] Siehe Kapitel 1.1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 3.8.6
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.7
[5] Siehe Kapitel 3.4.4
[6] Siehe Kapitel 3.4.6.1
3.4.2 Thesen über und Perspektiven auf Globalisierung
Ted C. Lewellen (2002: 9ff.) identifiziert drei wissenschaftliche Thesen über die "Natur der Globalisierung", die sich maßgeblich voneinander unterscheiden:
1. Die skeptische These argumentiert, dass Globalisierung gar nicht existiere oder stark übertrieben dargestellt und behandelt werde. So waren beispielsweise die Migrationsbewegungen im 19. Jahrhundert teilweise größer als heutzutage. Außerdem wird argumentiert, dass die Bildung von ökonomischen und politischen Allianzen und Bündnissen viel eher als Regionalisierung denn als Globalisierung verstanden werden kann. Außerdem ist dieser These zufolge die Stärkung von ethnischen Gruppen und Bewegungen eher das Resultat von Lokalisierungsprozessen.
2. Die zweite These lässt sich als evolutionär beschreiben und versteht Globalisierung als ein Faktum, das sich zwar in Stärke und Intensität verändert hat, nicht jedoch in seiner Art. Prozesse der Globalisierung haben sich so gesehen über Jahrhunderte entwickelt und dabei die Welt und ihre Strukturen nicht auf eine revolutionäre Art und Weise verändert.
3. Die These der "Hyperglobalisierung" schließlich meint, dass wir heute etwas komplett Neues erfahren und deswegen in einer neuen Ära leben. Globalisierung unterscheidet sich in dieser Sichtweise grundlegend von allem bisher Dagewesenen. Es wird angenommen, sie werde die Menschheit und das menschliche Leben fundamental verändern: "Globalization represents not a smooth evolutionary sequence but a rupture with the past, [...] a new era" (Lewellen 2002: 10).
Eine ähnliche Unterscheidung in der perspektivischen Sicht auf Globalisierung nimmt auch Michael Burawoy[1] (2000) vor. Ihm zufolge lassen sich Globalisierungstheoretiker und die von ihnen vertretenen Behauptungen ebenfalls drei Perspektiven oder Kategorien zuordnen, die sich teilweise mit den von Lewellen (2002) identifizierten Thesen decken:
1. Die Skeptiker (sceptics) behaupten, dass Globalisierung und die Diskurse zu diesem Thema künstliche aufgebauscht werden.
2. Die Radikalen (radicals) argumentieren, dass Globalisierung einen dramatischen Wandel für alle Aspekte des menschlichen Lebens bedeutet.
3. Die Perspektivalisten (perspectivalists) nehmen an, dass Menschen Vorstellungen zu Globalisierung nach ihren eigenen globalen Lokalitäten kreieren.
Verweise:
[1] http://burawoy.berkeley.edu/index.htm
3.4.3 Globalismus, Globalität und Globalisierung
Der Soziologe Ulrich Beck[1] (1997) unterscheidet "Globalismus", "Globalität" und "Globalisierung" voneinander. Er beabsichtigt damit Orthodoxien aufzubrechen, die im Zuge der Entwicklung und Etablierung der Nationalstaaten[2] in der, wie er es nennt "Ersten Moderne", entstanden sind (vgl. Beck 1997: 26). Diese "Erste Moderne" ist charakterisiert durch institutionelle Unterscheidungen, beispielsweise zwischen Politik und Ökonomie sowie durch die Vorstellung von geschlossenen, territorial gebundenen Einheiten wie Nationalstaaten.
Während Globalismus die Ideologie der Weltmarktherrschaft - des Neoliberalismus - und die damit verbundene Ablöse politischer durch ökonomische Ideologien meint, lässt sich unter Globalität die Tatsache verstehen, "dass wir (längst) in einer Weltgesellschaft leben", in der die Vorstellung von geschlossenen Territorien fiktiv ist (ebd.: 28). Globalisierung schließlich meint "die Prozesse, in deren Folge die Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden" (ebd.). Globalisierung in diesem Sinn ermöglicht also die globale Vernetzung transnationaler AkteurInnen sowie die Schaffung neuer Verbindungen und Räume.
Diese Globalisierungsprozesse konstituieren was Beck (1997: 29) die "Zweite Moderne" nennt. Wesentlich dabei sind kulturelle Faktoren[3], die aufgrund der Konzentration auf die ökonomischen Aspekte des Globalismus im öffentlichen Diskurs zumeist unterrepräsentiert sind (vgl. z.B. Appadurai 1996, Hannerz 1996). Doch gerade die "Erforschung der kulturellen Globalisierung aus einer ethnologischen Perspektive zeigt andere Chancen und Risiken als die der wirtschaftlichen Dimension" (Breidenbach und Zukrigl 2000: 234).
Verweise:
[1] https://web.archive.org/web/20150711072957/http://www.ulrichbeck.net-build.net/index.php?page=person
[2] Siehe Kapitel 3.6 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.4
3.4.4 Transnationalismus und Transnationalisierung
Grundsätzlich sind Globalisierung[1] und Transnationalismus oder Transnationalisierung eng miteinander verbunden. Transnationale Prozesse, Phänomene und Praktiken sind Bestandteile dessen, was zumeist als Globalisierung verstanden wird (vgl. Eriksen 2007). Das Überschreiten von nationalstaatlichen Grenzen sowie der Erhalt und die Etablierung von sozialen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen sind hier die wesentlichen Aspekte: "Transnationalisierung bezeichnet grenzüberschreitende Praktiken, Prozesse und Vorstellungen, durch die auch über größere Distanzen hinweg Beziehungen eingegangen werden und sich verstetigen" (Knecht 2011: 389). In der kultur- und sozialanthropologischen Analyse von Transnationalisierung geht es vor allem um konkrete Abhängigkeitsverhältnisse und spezifische Verflechtungen, die durch transnationale Prozesse, wie Migration, entstehen.
Für Michael Kearney[2] (1995) ist Transnationalismus zu allererst im Nationalstaat verankert sowie weiters im Überschreiten nationaler Grenzen. Das Paradebeispiel für einen transnationalen Prozess sind Migrationsbewegungen über die Grenzen eines oder mehrerer Nationalstaaten hinweg. Entscheidend sind hier einerseits die nationalstaatliche Ebene und die dort herrschenden soziokulturellen, politischen und ökonomischen Verhältnisse. Andererseits ist das Überwinden von nationalstaatlichen Grenzen für den Prozess der transnationalen Migration kennzeichnend.
Wie beispielsweise ethnographische Studien[3] zeigen, sind Nationalstaaten auch unter dem Einfluss globaler und transnationaler Kräfte und Verbindungen noch immer mächtig (vgl. z.B. Burawoy 2000a, Burawoy et al. 2000). Andererseits emanzipieren sich Imaginationen und Vorstellungen über globale Phänomene und Prozesse zusehends vom Einfluss der Nationalstaaten und der Nationalstaatlichkeit (vgl. z.B. Appadurai 1996).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.1.1
[2] https://anthropology.ucr.edu/people/faculty/emeritus/kearney/index.html
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
3.4.5 Dimensionen und Faktoren der Globalisierung
Nach Thomas Hylland Eriksen[1] (2007: 8-9) beinhaltet Globalisierung folgende Dimensionen, Faktoren oder Merkmale:
1. "Entwurzelung" (disembedding), die Delokalisierung beinhaltet und meint, dass das soziale Leben in der Globalisierung durch die schnelle Bewegung von Menschen, Gütern und Ideen seinem lokalen, räumlich fixierten Kontext entzogen wird.
2. Beschleunigung (acceleration) durch neue Transport- und Kommunikationsmittel.
3. Standardisierung (standardization), beispielsweise durch Englisch als lingua franca oder eine zunehmende Zahl an internationalen Vereinbarungen.
4. Verflechtung (interconnectedness) von Menschen durch Netzwerke, die zunehmend dichter und größer werden.
5. Bewegung (movement) von Menschen, beispielsweise bei Migrationsprozessen oder im Tourismus.
6. (Ver)Mischen (mixing) von kulturellen und anderen Merkmalen des sozialen Lebens.
7. Verletzlichkeit (vulnerability) meint die Schwächung und manchmal das Auflösen von Grenzen durch Ströme von Menschen, Finanzen und Waren.
8. "Wiedereinbettung" (re-embedding) ist die Reaktion auf Tendenzen der "Entwurzelung" in Globalisierungsprozessen. Dabei werden lokale Zusammenhänge erneut verstärkt.
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hylland_Eriksen
3.4.5.1 "Entwurzelung"
Diese Dimension der Globalisierung lässt sich als "Herausheben von sozialen Beziehungen" aus einem lokalen Kontext von Interaktionen verstehen. Als ein wichtiges Merkmal von Globalisierung bezieht es sich auf den zunehmend abstrakteren Charakter von Kommunikation und Objekten. Unter den "Entwurzelungsmechanismen" in der modernen Gesellschaft finden sich unter anderem Zeit, Geld, Schreiben sowie standardisierte Maße und Maßeinheiten. Moderne, digitale Kommunikationstechnologien[1] gewährleisten die Effektivität der "Entwurzelungsmechanismen" in transnationalen und globalen Systemen. Manche Kritiker sehen in der "Entwurzelung" sozialer Beziehungen auch die Gefahr der Fragmentierung und der Entfremdung (vgl. Eriksen 2007: 31).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.8.6
3.4.5.2 Beschleunigung
Beschleunigung erscheint als Raum-Zeit-Komprimierung[1] aufgrund von ökonomischem und technologischem Wandel. Dabei sind Technologien, die Kommunikation beschleunigen, nicht gleichmäßig über den Globus verteilt, was zur Exklusion vieler Menschen führt. Die Gründe für die Beschleunigung in Kommunikation, Produktion und Konsumtion liegen einerseits in der "Logik des kapitalistischen Wachstums" und andererseits in der Verfügbarkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien. Beschleunigte Kommunikation führt weiters auch zu Wissen über entfernte und ehemals unbekannte Orte in weiten Teilen der Welt (vgl. Eriksen 2007: 49).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4
3.4.5.3 Standardisierung
Die Standardisierung zielt darauf ab Standards zu implementieren, die Ereignisse und Objekte vergleichbar machen. Das wiederum ermöglicht Kommunikation und Übersetzung. Dabei werden auch lokal einzigartige Merkmale zerstört. In manchen Fällen, beispielsweise in der Sprache, koexistieren internationale Standards mit lokalen Eigenheiten. Viele der Spannungen und Konflikte, die aus Globalisierungsprozessen resultieren, basieren auf dem Kontrast zwischen universalisierenden Standardisierungen und lokalen Alternativen[1] oder lokalem Widerstand (vgl. Eriksen 2007: 68).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6.1
3.4.5.4 Verflechtung
Verflechtung oder Vernetzung ist der zentrale Aspekt der "Netzwerkgesellschaft" (network society) im Sinne von Manuel Castells[1] (2003). Im "transnationalen Informationskapitalismus", der sich massiv von früheren Weltordnungen[2] unterscheidet, wechseln soziale Organisationen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft von einer relativ stabilen Hierarchie zu einer "flüssigeren" Netzwerkstruktur. Handel, Kommunikation und Bewegungen vernetzen die Welt zusehends und das hat politische, ökonomische und kulturelle Konsequenzen (vgl. Eriksen 2007: 89).
Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Manuel_Castells
[2] Siehe Kapitel 3.4.2
3.4.5.5 Bewegung
Globalisierung beinhaltet die beschleunigte und intensivierte Bewegung von Menschen[1], Objekten und Ideen, nicht nur von Norden nach Süden oder vom Zentrum zur Peripherie sondern in alle Richtungen. Allerdings tendieren Bewegungen auch dazu bestehende globale Machtdiskrepanzen zu reflektieren und zu reproduzieren. Vor hundert Jahren etwa gab es viel größere Migrationsbewegungen als heutzutage. Heute beinhaltet Migration transnationale[2] Verbindungen und Beziehungen. Menschliche Mobilität in einem globalen Kontext setzt sich zusammen aus: Migration, Geschäftsreisen, Mobilität von StudentInnen und ForscherInnen, Verbrechen, etc. (vgl. Eriksen 2007: 105).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6.7
[2] Siehe Kapitel 3.4.4
3.4.5.6 (Ver)Mischen
Das kulturelle Vermischen durch Globalisierungsprozesse nimmt unterschiedlichste Formen an und ist immer auch ein Indikator für die Machtverhältnisse zwischen Menschengruppen. Dabei verhindert Vermischung nicht die Etablierung von Gruppenidentifikation und die Bildung kollektiver Identitäten. Und kulturelles Vermischen produziert nicht Homogenität sondern neue Konfigurationen von Diversität[1]. Kultur an sich war nie "rein" oder "begrenzt". Eine Erkenntnis, die wiederum Theorien zu Kreolisierung und Hybridisierung - so diese von "reinen" oder "begrenzten" Kulturen ausgehen, die gemeinsam etwas Neues formen - in Frage stellt. Die kulturelle Diffusion, die mit Globalisierung in Verbindung gebracht wird, kann dabei nicht als "Verwestlichung" bezeichnet werden, sondern vielmehr als kulturelle Glokalisierung[2] (vgl. Eriksen 2007: 122).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] Siehe Kapitel 1.3.4 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
3.4.5.7 Verletzlichkeit
Risiken und die Risikoumwelt werden von Globalisierungsprozessen[1] aufgrund steigender Abhängigkeiten und daraus folgenden Verletzlichkeiten verändert. Beispiele für globale Risiken wären Klimawandel[2] oder Terrorismus. Transnationale und globale Risiken resultieren häufig in neuen politischen Zwangslagen, da diese für Spannungen zwischen (öffentlicher) Sicherheit und persönlichen Rechten führen (vgl. Eriksen 2007: 139).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.1
[2] Siehe Kapitel 3.5.7
3.4.5.8 "Wiedereinbettung"
Die "entwurzelnden" Kräfte der Globalisierung werden durch "wiedereinbettende" Projekte ergänzt, die darauf abzielen ein Gefühl der Kontinuität, der Sicherheit und des Vertrauens wieder herzustellen. Unter den Widerstandsphänomen, die sich gegen Globalisierung stellen, befinden sich identitätspolitische Projekte, wie religiöse, ethnische oder nationalistische Politik, die allerdings verstärkt von globalisierten Ressourcen wie internationalen Nichtregierungsorganisationen[1] und Computernetzwerken[2] abhängig sind. Weltweit gibt es unterschiedlichste Formen von "wiedereinbettenden" und widerständigen Tendenzen, etwa unter indigenen Gruppen oder migrantischen Bewegungen (vgl. Eriksen 2007: 154).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.3
[2] Siehe Kapitel 3.8.6
3.4.6 Anthropologie der Globalisierung
Globalisierung hat sich zu einem der wichtigsten Themen in der Kultur- und Sozialanthropologie[1] entwickelt. Indem Globalisierung traditionelle Schlüsselthemen der Kultur- und Sozialanthropologie, wie Lokalkulturen, rurale Gemeinschaften sowie Jäger- und Sammlergesellschaften, verändert und deren (scheinbare) Begrenztheit in Frage stellt, öffnet sie der Wissenschaft neue Arbeitsfelder (vgl. Lewellen 2002).
Auch wenn Globalisierung ein wichtiges Forschungsthema[2] für und in der Kultur- und Sozialanthropologie ist, wird sie sich, zumindest nach Ted C. Lewellen (2002), jedoch nicht zum dominierenden Paradigma in der Wissenschaft entwickeln. Die eigentliche Bedeutung von Globalisierung für die Kultur- und Sozialanthropologie liegt vielmehr darin, dass sie einen alternativen Verständniszugang ermöglicht und so Zugang zu Themenfeldern öffnet, die vormals ignoriert wurden. So stellt Globalisierung für die Kultur- und Sozialanthropologie eine weitere Analyseebene für unterschiedlichste soziokulturelle Phänomene dar.
In einer Anthropologie der Globalisierung lassen sich laut Lewellen (2002: 33- 37) und Michael Kearney (1995: 550) unter anderem folgende Forschungsfelder und Schlüsselthemen identifizieren:
- Entwicklung
- Identität und Kultur[3]
- Bildung von Gemeinschaften
- Migration und Diaspora (und damit verbunden Prozesse der Deterritorialisierung)
- (die Beziehungen von) global-lokal[4]
- Gender
- Verbreitung von Krankheiten und Epidemien (z.B. HIV/AIDS)
- globale und globalisierte Städte[5]
- transnationale religiöse Bewegungen[6]
- Tourismus
- Medien[7]
- Politik
Die Kultur- und Sozialanthropologie[8] hat eine Menge zum Studium der Globalisierung beizutragen. Zumeist aus einer Mikro-Perspektive befasst sich die Disziplin mit dem, was Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a: 5) als "situated and conjunctural nature of globalization" benennen. Eine Anthropologie der Globalisierung fokussiert dabei auf menschliche Handlungsweisen, Alltagspraktiken und die Mediatisierung von Globalisierungsprozessen durch Menschen in bestimmten Lokalitäten. Gleichzeitig muss die Kultur- und Sozialanthropologie aber auch großräumige Prozesse, wie die globalen Ströme von Menschen und Waren, berücksichtigen, um diese mit ethnographischen Untersuchungen[9] zu verbinden, und so letztlich zu verstehen wie Menschen mit diesen globalen Prozessen kulturell spezifisch umgehen (vgl. ebd.).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 1.1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.1
[5] Siehe Kapitel 1.3.1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[6] Siehe Kapitel 3.1.2
[7] Siehe Kapitel 3.8.1
[8] Siehe Kapitel 1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[9] Siehe Kapitel 1.3.1
3.4.6.1 Das Globale und das Lokale
Michael Kearney (1995) zufolge bezieht sich Globalisierung auf die sozialen, ökonomischen, kulturellen und demographischen Prozesse, die sowohl innerhalb von Nationalstaaten[1] stattfinden als auch deren Grenzen überschreiten. In diesem Kontext die Aufmerksamkeit alleine auf lokale Prozesse und Identitäten zu richten, bedeutet laut Kearney ein unvollständiges Verständnis des Lokalen.
Globalisierung lässt sich auch als Intensivierung von globalen Beziehungen verstehen, durch die distanzierte Lokalitäten miteinander verbunden werden (vgl. Giddens 1990). Das Verhältnis und die Verbindung zwischen dem Lokalen und dem Globalen sind hier entscheidend. Wir leben in einer geschrumpften Welt von Kontakten, Spannungen, Vergleichen, Kommunikation und Bewegung, die nicht (mehr) von Distanzen eingeschränkt ist. Gleichzeitig aber finden weiterhin Aktivitäten statt, die keine Auswirkung außerhalb des Lokalen haben. So würde eine weitere simple Definition von Globalisierung nach Eriksen (2007: 16) alle gegenwärtigen Prozesse[2] meinen, die Distanz (zwischen sozialen Lokalitäten) irrelevant machen.
Moderne Kommunikationsmedien[3] tragen entscheidend zur Komprimierung von Zeit und Raum bei, beispielsweise durch Live-Berichterstattung oder Online- Spiele. Anthony Giddens (1990) argumentiert, dass durch neue Kommunikations- und Transporttechnologien Menschen in der Lage sind, ihr soziales Leben von lokalen Face-to-Face Interaktionen zu entfernten globalen Begegnungen zu erweitern. Moderne Lokalitäten sind so der Rahmen für distanzierte soziale Beziehungen, in denen Raum und Zeit gedehnt werden (Inda und Rosaldo 2002: 8). Das Lokale und das Globale sind also miteinander verbunden (vgl. beispielsweise Appadurai 1996, Robertson 1992, 1995).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.4
[2] Siehe Kapitel 1.1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 3.8.1
3.4.6.2 Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien
Bestimmte Globalisierungstendenzen und -prozesse, wie die Vernetzung von Menschen und (Handels-) Gütern durch Transportmittel und -wege, die die ganze Welt umspannen, gab es bereits zu Kolonialzeiten[1]. Globalisierung als globales oder transnationales System von Interaktionen, beispielsweise als Handelssystem, ist also nichts komplett Neues (vgl. z.B. Wolf 1986). So ist etwa schon das 19. Jahrhundert durch eine Zunahme des internationalen Handels durch industrielle Entwicklung, koloniale Expansion und technologischen Wandel beziehungsweise Fortschritt (z.B. Dampfschiff und Telegraphen) gekennzeichnet (vgl. Eriksen 2007). In der historischen und anthropologischen Untersuchung des Phänomens Globalisierung erweist es sich also als hilfreich etwa zwischen präkolonialen, kolonialen und postkolonialen Globalisierungsphasen in der menschlichen Geschichte zu unterscheiden (vgl. z.B. Knoll, Kreff und Gingrich 2011). Was sich über die Jahrhunderte verändert hat, ist, dass sich heute viele Menschen der Tatsache bewusst sind, dass sie in einer globalisierten Welt leben (vgl. z.B. Beck 1997, Inda und Rosaldo 2002a).
Eric Wolf[2] (1986) und Peter Worsley[3] (1984) untersuchten Globalisierung aus einer globalen und anthropologischen Perspektive als weltweites System[4] von ökonomischen und kulturellen Verbindungen (vgl. Lewellen 2002). Die Völker ohne Geschichte (Wolf 1986) und The Three Worlds (Worsley 1984) können als bahnbrechende Studien bezeichnet werden, die zur frühen sozialanthropologischen Analyse von Globalisierung[5] aus einer globalen Perspektive beitrugen. Beiden gelang es den oftmals limitierten lokalen Kontext, der für viele anthropologischen und ethnographischen Projekte typisch war und teilweise noch immer ist, um globale Dimensionen von wirtschaftlichen und soziokulturellen Verbindungen und Verflechtungen zu erweitern. Besonders Wolfs Arbeit bedeutete so auch einen Schritt weg von der anthropologischen bzw. ethnographischen Untersuchung "isolierter" Lokalkulturen hin zur kultur- und sozialanthropologischen Studie globaler Prozesse und Beziehungen.
Im 20. Jahrhundert lassen sich laut Thomas Hylland Eriksen (2007) drei wesentliche Faktoren identifizieren, die die Debatte und letztlich auch die (kultur- und sozialanthropologische) Forschung zu Globalisierung anstießen: (1) der Kalte Krieg[6], (2) das Internet[7] und (3) Identitätspolitik[8].
"These three dimensions of globalization -- increased trade and transnational economic activity, faster and denser communication networks, increased tensions between (and within) cultural groups due to intensified mutual exposure -- do not suggest that the world has been fundamentally transformed after the late 1980s but that the driving forces of both economic, political and cultural dynamics are transnational -- and that this is now widely acknowledged." (Eriksen 2007: 4)
Die treibenden Kräfte hinter ökonomischen, politischen und kulturellen Dynamiken sind also transnationaler Natur[9]. Und dieser (neue) Umstand wird nun mehrheitlich anerkannt. Globalisierung beinhaltet somit transnationale Verbindungen und Beziehungen sowie das Faktum, dass die Menschen auf unserem Planeten sich dieser Prozesse immer stärker bewusst werden.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.3
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Eric_Wolf
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Peter_Worsley
[4] Siehe Kapitel 3.3.3
[5] Siehe Kapitel 1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Kalter_Krieg
[7] Siehe Kapitel 3.8.6.4
[8] Siehe Kapitel 1.1.7
[9] Siehe Kapitel 3.4.4
3.4.6.3 Globalisierung und kultur- und sozialanthropologische Methodologie
Globalisierung zwingt die Kultur- und Sozialanthropologie ihre methodologischen Werkzeuge, wie ethnographische Feldforschung[1] und teilnehmende Beobachtung[2], zu überdenken und manchmal neu zu definieren. Menschen befinden sich zunehmend in Bewegung und Kultur- und SozialanthropologInnen müssen ihnen folgen, um weiterhin an ihrem Lebensalltag teilnehmen zu können. Manche Gemeinschaften existieren nur für kurze Zeit und AnthropologInnen müssen ihren Zugang zu und ihre Anwesenheit in diesen fluktuierenden Vergemeinschaftungsformen adaptieren und beständig neu entwerfen. Anthropologische Globalisierungsstudien fördern dementsprechend auch andere Forschungsfelder und - themen: "The subjects of anthropological globalization studies are less likely to be communities or cultures than translocalities, border zones, migrations, diasporas, commodity chains, transnational corporations, foreign aid agencies, tourists, refugees, cyberspace, the influences of television and other communication media, the international processes of science, or commercialized art." (Lewellen 2002: 57)
Die Anthropologie der Globalisierung produziert ihre Theorien großteils über ethnographische Feldforschung (vgl. Lewellen 2002). Diese epistemologische und methodische Herangehensweise ist ein entscheidendes Merkmal der Kultur- und Sozialanthropologie und macht diese, durch die Etablierung eines eigenen, spezifischen Zuganges, zu einem potentiellen Vorreiter in der wissenschaftlichen Analyse von Globalisierungsprozessen[3] (vgl. z.B. Burawoy et al. 2000, Eriksen 2003). So stellt etwa Michael Burawoy (2000) fest, dass es ohne die Ethnographien zu globalen Kräften, Verbindungen und Imaginationen unmöglich sei zu verstehen, wie Globalisierung aufrechterhalten und reproduziert sowie herausgefordert und transformiert wird.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] Siehe Kapitel 1.3.2
[3] Siehe Kapitel 1.1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
3.4.6.4 Globalisierung und Kultur
Globalisierung lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven untersuchen, aus einer politischen, ökonomische, historischen oder (sozio)kulturellen. Obwohl die Kultur- und Sozialanthropologie all diese verschiedenen Sichtweisen wahrnimmt, sind es im Besonderen das Kulturelle[1] sowie die soziokulturellen Dynamiken und Phänomene der Globalisierung, die von Interesse für die Disziplin sind.
Das Konzept und die Idee der "Kultur"[2] wird durch die Beschäftigung mit Globalisierungsphänomenen noch abstrakter und amorpher, da Globalisierung die Nützlichkeit des Kulturkonzepts als Kategorie der Einschließung sowie als Identifikation von Andersartigkeit in Frage stellt (vgl. Lewellen 2002: 50). Obwohl Konsum[3] und Konsumdenken[4] nach Ted C. Lewellen (2002) die dominierenden kulturellen Kräfte der Globalisierung sind, bedeutet das nicht, dass eine homogene "Weltkultur" oder "Globalkultur" entsteht. Es bedeutet vielmehr, dass eine fragile und oftmals oberflächliche Globalkultur nur durch unterschiedliche lokale Kulturen und deren Interaktion untereinander existieren kann.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.8
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] Siehe die Lernunterlage Konsumption
[[Konsum_in_Zeiten_der_Globalitaet/Homogen-Heterogen#4.1 Globaler Konsum: Weltweite Einheitlichkeit versus lokale Differenzierung?|[4] Siehe Kapitel 4.1 der Lernunterlage "Konsumption"]
3.4.6.4.1 "Globalkultur" oder die kulturellen Aspekte von Globalisierung
Erweitert man den, oftmals von ökonomischen und politischen Themen[1] dominierten, Globalisierungsdiskurs um die kulturelle Dimension, offenbart sich sowohl die Komplexität der Thematik als auch die Notwendigkeit ihrer kritischen Analyse. Joana Breidenbach[2] und Ina Zukrigl (2000: 35ff.) untermauern in diesem Sinne die Bedeutung von Kultur für das Verständnis von Globalisierungsprozessen durch neun Thesen:
1. Durch Globalisierung differenziert sich die Welt (vgl. Appadurai 1996).
2. Menschen interpretieren globale Waren und Ideen höchst unterschiedlich.
3. Weltweite Einflüsse lassen sich nicht auf US-amerikanischen Kulturimperialismus[3] reduzieren.
4. Geographische Räume verlieren zunehmend an Bedeutung.
5. Die Ausdifferenzierung der Welt erfolgt über ein globales Referenzsystem. Diese Ebene wird als "Globalkultur" bezeichnet und besteht aus einer Reihe universeller Konzepte, wie Demokratie, Menschenrechte und Feminismus.
6. Die Globalkultur ist keine Kulturschmelze[4].
7. Die Globalkultur ist von ungleichen Machtverhältnissen geprägt.
8. Die Globalkultur ist authentisch. Waren, Ideen und Institutionen sind in dem Maße authentisch, wie sie von Menschen erfolgreich für ihre eigenen kulturellen Projekte angeeignet werden können.
9. Die Globalkultur verändert sich ständig.
Wie diese Thesen verdeutlichen, sind kulturelle[5] Aspekt im Verständnis von Globalisierungsprozessen, -phänomenen und -praktiken wichtig. Konsequenterweise sind hier die Sozial- und Kulturwissenschaften, wie die Kultur- und Sozialanthropologie, gefordert als SpezialistInnen für soziokulturelle Phänomene kritische Analysen und Studien zu produzieren.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.3
[2] http://www.joanabreidenbach.de/
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.6
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.6
[5] Siehe Kapitel 1.1.8
3.4.6.5 Kulturelle Globalisierung und die Kultur- und Sozialanthropologie
In der Kultur- und Sozialanthropologie wurde das Konzept der "Kultur"[1] oftmals an die Idee eines festgelegten Territoriums oder einer starren Lokalität gebunden (vgl. z.B. Gupta und Ferguson 1997, Inda und Rosaldo 2002a). Ein Volk[2], eine ethnische Gruppe[3] oder eine "Kultur" wurden zumeist als verwurzelt in einem bestimmten Gebiet verstanden. In Zeiten zunehmender Globalisierung[4] hat sich diese Sichtweise allerdings fundamental verändert. Kultur wird nun nicht mehr vorwiegend als mit einer bestimmten Örtlichkeit verbunden gesehen. Kultur[5] wird vielmehr als dynamisch und mobil wahrgenommen. Und die anthropologische Beschäftigung mit Globalisierung hat hier einen wesentlich Beitrag geleistet, wie etwa Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a: 11) meinen: "... globalization has radically pulled culture apart from place."
Das bedeutet andererseits nicht, dass Kultur irgendwo, ohne Verankerung, herumschwebt. Es bedeutet vielmehr, dass Kultur im Globalisierungskontext[6] als "deterritorialisiert" verstanden wird, nur darauf wartend wieder in einen neuen Raum-Zeit Kontext eingefügt zu werden. Dieser Vorgang wird auch als "Reterritorialisierung" bezeichnet und meint die "Relokalisierung" von Kultur in einer spezifischen kulturellen Umgebung. Kultur hat also auch in Zeiten zunehmender Globalisierung einen territorialen Bezug, allerdings einen eher instabilen (vgl. Inda und Rosaldo 2002a: 12).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.1.1
[3] Siehe Kapitel 1.1.2
[4] Siehe Kapitel 3.4.1
[5] Siehe Kapitel 7.1 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[6] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
3.4.6.6 Homogenisierung und Heterogenisierung
Ideen zur "Homogenisierung" und "Verwestlichung", besonders der kulturellen Welt, werden öfters mit Globalisierung in Zusammenhang gebracht (z.B. Ritzer 2004). Aus einer anthropologischen und ethnographischen Perspektive schaffen es diese Ideen, die eine globale Dominanz der "westlichen" Welt und einen einseitigen Strom vom Zentrum in die Peripherie implizieren, allerdings nicht tatsächliche Lebensumstände und Situationen zu erklären und zu verstehen. Denn wie beispielsweise Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a: 25) argumentieren, gestalten sich Globalisierungsprozesse[1] als viel komplexer (vgl. auch Appadurai 1996). Es gibt kein kulturelles "Machtzentrum" in der Welt, sondern viele unterschiedliche Einflüsse, die sich gegenseitig befruchten. Globalisierung resultiert in miteinander verbundenen und verwobenen kulturellen Räumen, in welchen unterschiedliche Ströme von Bedeutungen und Ideen produziert, interpretiert und ausgetauscht werden. Globalisierung ist somit kein "westliches" oder euro-amerikanischen Phänomen oder Projekt sondern ein tatsächlich globales (vgl. Inda und Rosaldo 2002a: 26).
Globalisierung ist kein unidirektionaler Prozess (vgl. Eriksen 2007: 9). Er hat kein Ende und keinen intrinsischen Zweck und ist weder unbestritten, widerspruchsfrei noch allgegenwärtig. Globalisierung, auch wenn von ökonomischen und technologischen Prozessen angetrieben, ist multidimensional. Globalisierung[2] beinhaltet Prozesse der Homogenisierung[3] und der Heterogenisierung. Das bedeutet Globalisierung macht uns einander gleichzeitig ähnlicher und unterschiedlicher: "... globalization does not entail the production of global uniformity or homogeneity. Rather it can be seen as a way of organizing heterogeneity. ... The local continues to thrive, although it must increasingly be seen as glocal, that is enmeshed in transnational processes" (Eriksen 2007: 10).
Globalisierung macht es leichter uns miteinander über kulturelle Grenzen[4] hinweg auszutauschen. Aber Globalisierungsprozesse schaffen auch neue Spannungen zwischen Gruppen, die früher stärker voneinander isoliert gelebt haben. Globalisierung erzeugt so auch ein neues Bedürfnis danach Einzigartigkeit und historische Verbundenheit aufzuzeigen und gegenüber Anderen abzugrenzen (vgl. Eriksen 2007: 13). Dabei steht Globalisierung nicht stellvertretend für "Verwestlichung" oder Neoimperialismus, denn unterschiedliche Prozesse bewegen sich nicht nur von Norden nach Süden sondern auch von Süden nach Norden.
Es ist auch eine Tatsache, dass nicht alle Menschen weltweit gleichberechtigt an Globalisierungsprozessen, wie der globalen Vernetzung durch Transport- und Kommunikationstechnologien, partizipieren. Es gibt viele Menschen, die von diesen Prozessen ausgeschlossen sind oder diese lediglich von den Rändern der Gesellschaften mitverfolgen. Auch diese Nicht-Teilhabe ist ein wichtiger Aspekt der Globalisierung. Anthony Giddens (1991), beispielsweise, erinnert uns diesbezüglich daran, dass auch die Moderne Differenzen, Exklusion und Marginalisierung produziert.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[2] Siehe Kapitel 3.4.1.1
[3] Siehe Kapitel 7.1 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.4
3.4.6.7 Globale kulturelle Landschaften und (Handlungs)Räume
Einen prominenten kultur- und sozialanthropologischen Beitrag zur Globalisierungsdebatte liefert Arjun Appadurai[1] (1996: 33) mit seinem Konzept der landscapes[2] ("Landschaften"), die auch als "dimensions of global cultural flows" verstanden werden können. Insgesamt unterscheidet Appadurai fünf solcher Dimensionen, die helfen sollen die Trennungen (disjunctures) zwischen Ökonomie, Kultur und Politik zu untersuchen: (1) ethnoscapes, (2) mediascapes, (3) technoscapes, (4) financescapes und (5) ideoscapes. Das Suffix "scape" unterstreicht dabei die flexible, dynamische, unregelmäßige und extrem perspektivische Gestaltung dieser Konstrukte. Diese Landschaften sind die Bausteine von "imaginierten" oder "vorgestellten" Welten: "... worlds that are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe" (Appadurai 1996: 33).
Ethnoscapes, die die Grundlage für alle weiteren "scapes" bilden, können als deterritorialisierte "Räume" - in diesem Zusammenhang ist der Begriff "Raum" nicht an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden - verstanden werden, die sich durch global beständig wechselnde Ströme von Personen und ethnischen Gruppen konstituieren. Financescapes meinen die globalisierten Finanzwelten und die so entstehenden "Räume". Ideoscapes wiederum beziehen sich auf komplexe ideelle Landschaften, die sich heute besonders schnell bewegen und immer wieder neue regionale Grenzen überschreiten und sprengen. Technoscapes und mediascapes bezeichnen Landschaften, die durch transnationale Medien und globale Technologieverbreitung entstehen.
In Anlehnung an Benedict Andersons (1998) "vorgestellte Gemeinschaften", die als Vorstellungen in unseren Köpfen einflussreiche Konstrukte wie jenes der Nation hervorbringen können, spricht Appadurai von "imagined worlds", die sich durch die unterschiedlichen landscapes und die historisch kontextualisierten Imaginationen von Personen und Gruppen, die diese weltweit formen, konstituieren. Dabei sind Imaginationen als soziale Praktiken zu verstehen, die zentral für transnationale kulturelle Prozesse und die neue globale Ordnung sind: "The image, the imagined, the imaginary - these are all terms that direct us to something critical and new in global cultural processes: the imagination as social practice." (Appadurai 1996: 31)
In dem disjunktiven und instabilen Zusammenspiel von ideologischen, technologischen und medialen Landschaften, die staatliche Grenzen überschreiten und durchbrechen, und in Zusammenhang mit staatlichen Bestrebungen "die Nationalitätsvorstellung zu monopolisieren" hat sich Ethnizität[3] als eine treibende Kraft entwickelt, die zusehends an Bedeutung gewinnt (Kreff 2003: 136). Die Konzepte der "landscapes" sowie der "imagined worlds" bieten einen theoretischen Rahmen, transnationale Bewegungen von Menschen[4], Ideologien, Technologien und Medien zu verstehen und zu analysieren, ohne dabei die kulturelle Dimension zu vernachlässigen.
Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Arjun_Appadurai
[2] Siehe Kapitel 7.1.2 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[3] Siehe Kapitel 1.1.2
[4] Siehe Kapitel 2 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
3.4.7 Literatur
Anderson, Benedict 1998: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin: Ullstein.
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3.4.7.1 Weiterführende Literatur
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