Difference between revisions of "Theoriegeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie/Geertz"

From Eksa
Jump to: navigation, search
(Created page with "'''Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Symbolische_Anthropologie#2.6 Symbolische Anthropologie und konkurrierende Ansätze| Vorheriges Kapitel: 2.6 Symboli...")
(No difference)

Revision as of 12:44, 19 August 2020

Vorheriges Kapitel: 2.6 Symbolische Anthropologie und konkurrierende Ansätze

2.7 Clifford Geertz und die Folgen

verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter

Foto: "Stack of containers", Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0d/Stack_of_containers.JPG)


In The Interpretation of Cultures (1973) propagierte Clifford Geertz[1], dass es Aufgabe der Anthropologie sei, kulturelle Phänomene im Kontext eines kulturellen Systems zu beschreiben und interpretierend (also hermeneutisch[2]) zu deuten. Wir könnten, so Geertz, immer nur subjektiv interpretieren, da wir selbst ja auch in kulturelle Zusammenhänge eingebunden seien. Interpretieren heiße demnach aus einem kulturellen Zusammenhang in einen anderen zu übersetzen. Dies sei ein mehrstufiger Vorgang, an dem unsere InformantInnen beteiligt seien: Sie interpretieren ihre kulturelle Realität für uns, und wir interpretieren und systematisieren ihre Interpretationen.

Seine Sicht von Kultur[3] formulierte Geertz so: "Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretative in search of meaning" (Geertz 1973: 5). Diese vielzitierte Passage ist natürlich keine Definition, sondern eine wenig präzise, aber typisch Geertz'sche suggestive Metapher. Die Reichweite seines Denkens ging weit über die KSA hinaus und wirkt vielfach bis heute fort. Dieser Einfluss ist nicht immer vorteilhaft, auch wenn seine anti-positivistische Grundhaltung zu begrüßen ist. Seine Rezeption hat entscheidend zur breiten Etablierung eines fragwürdigen Kulturbegriffes beigetragen, den man in öffentlichen Diskursen sowie gelegentlich in anderen Disziplinen antreffen kann.

Geertz versteht Kultur als autonomes, in sich homogenes Bedeutungssystem, in dem alle Menschen die gleichen kulturellen Annahmen teilen. Dieses Verständnis impliziert klare und eindeutige kulturelle Grenzen, die einzelne Kulturen voneinander trennen und über die hinweg kulturelle Übersetzung stattfindet, auch wenn Geertz dies nicht so formuliert. Aus dem heutigen Fachverständnis ist die verbreitete Annahme eindeutiger kultureller Grenzen - das sogenannte "Container-Modell"[4], das u.a. aus einer verflachten Übernahme Geertz'scher Ideen von Kultur resultiert - sehr problematisch. Die heutige KSA versteht Kultur nicht als homogen und harmonisch integriert; ebenso wenig kann man sie als eindeutig abgrenzbar betrachten.

Wichtig und produktiv ist das hermeneutische Konzept der "thick description" (ins Deutsche übersetzt als "dichte Beschreibung"[5]), mit dem Geertz die ethnographische Arbeit charakterisiert. Damit meint er das sorgfältige und vielschichtige interpretierende Beschreiben empirisch beobachtbarer Handlungsabläufe, das Sinngebungen und Bedeutungszuschreibungen offenlegt. Beschreibung und Interpretation sind darin untrennbar verbunden (Geertz 1973; 1987).

Die darauf aufbauende Auffassung, Ethnographien seien in ihrem konstruierten Charakter grundsätzlich nicht von literarischen Werken zu unterscheiden (Geertz 1988), wurde von anderen zur sogenannten "postmodernen" oder "literarischen Wende" (literary turn) der 1980er Jahre weiterentwickelt (Clifford und Marcus 1986; Marcus und Fischer 1986). Auch wenn die postmoderne Kritik bald als exzessiv beurteilt wurde, hat sie das Selbstverständnis des Faches mit ihrer Forderung nach Reflexivität - also nach der kritischen Einbeziehung der Rolle der/des AnthropologIn in der ethnographischen Konstruktion von Realität - doch entscheidend verändert. Mit der Überwindung übermäßig idealistischer postmoderner Positionen erfolgte seit den 1990er Jahren eine Hinwendung der KSA zu Perspektiven auf Globalisierung und Transnationalismus, die gemeinsam mit der methodischen Entsprechung der multi-sited ethnography[6] das Fach bis heute bestimmen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[2] Siehe Kapitel 1.4.1
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] Siehe Kapitel 1.1.5
[5] Siehe Kapitel 5.3 der Lernunterlage Einführung in die Empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[6] Siehe Kapitel 1.3.1



Nächstes Kapitel: 2.8 Literatur


↑ Nach oben