Was ist Kultur- und Sozialanthropologie/Was kann Kultur- und Sozialanthropologie wissen

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Vorheriges Kapitel: 1.3 Methoden: Wie gelangt Kultur- und Sozialanthropologie zu ihrem Wissen?

1.4 Was kann Kultur- und Sozialanthropologie wissen?

verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter
Die Kultur- und Sozialanthropologie zählt zu den empirischen Sozialwissenschaften[1]. Unter Empirie versteht man Wissen, das aus Erfahrung - also aus der systematischen Beobachtung der Welt - gewonnen wird. Viele andere Wissenschaften, wie etwa die Naturwissenschaften, arbeiten ebenfalls empirisch. Beispiele für nicht-empirische Wissenschaften wären Philosophie, Theologie, Mathematik oder Rechtswissenschaften. Aber auch nicht-empirische Disziplinen können empirische Teilbereiche haben, wie etwa die überwiegend normativ orientierten Rechtswissenschaften, die sich teilweise auch mit der Umsetzung von Recht in der sozialen Realität beschäftigen.

Diese Grenze ist also nicht immer eindeutig zu ziehen: Empirische und nicht- empirische Aspekte vermischen sich in verschiedenen Wissenschaften oft miteinander. Ähnliches gilt auch für die KSA. Anthropologisches Wissen wird nicht allein aus der Erfahrung gewonnen. Es bezieht sich zwar immer auf die reale, empirisch erfahrbare Welt. Es geht aber nicht nur vom beobachtbaren Erfahrungswissen aus. Ethnographische Daten setzen ganz entscheidend auch eine Interpretation des Erfahrenen voraus. Dieser Prozess des Wissenserwerbs durch Interpretation wird mit dem wissenschaftstheoretischen Begriff der Hermeneutik beschrieben.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.2 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften


Inhalt



1.4.1 Hermeneutik und die Interpretation kultureller Zusammenhänge

Hermeneutik kommt vom griechischen Verb hermeneuo, d.h. etwa "erklären", "übersetzen", "auslegen" (im Sinne von interpretieren). In der Wissenschaftstheorie[1] bezieht sich Hermeneutik auf die Deutung und Interpretation von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen. Die KSA hat wesentliche hermeneutische Aspekte, die nicht strikt empirisch sind, weil sie nicht allein vom Beobachtbaren ausgehen, sondern versuchen, den Sinn, der hinter dem beobachtbaren Handeln von Menschen steht, zu deuten.

Der Begriff der Hermeneutik[2] stammt vor allem aus sprach- und literaturwissenschaftlichen Kontexten, in denen es um das Auslegen und Interpretieren von Texten geht. In der KSA hat ein analoges Verständnis von Kultur als "Text"[3] eine große Rolle gespielt. Am deutlichsten ausgeprägt war diese Analogie in der sogenannten "postmodernen" Kulturanthropologie der 1980er Jahre, als behauptet wurde, Kultur funktioniere wie Text und müsse demnach wie Text gelesen und interpretiert werden. Wenn auch die Gleichsetzung von Kultur mit Text heute nicht mehr so radikal vertreten wird, so lassen sich gewisse Analogien zwischen der Interpretation kultureller Zusammenhänge und der Textdeutung nicht bestreiten. Der Hauptgrund dafür liegt in der grundlegenden Ähnlichkeit der Realitäten[4], mit denen sich das Fach beschäftigt, mit den Instrumenten, die es zu ihrer Darstellung und Erklärung verwendet: Da wie dort geht es um Denkmodelle, die letztlich kulturell geprägt sind.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie
[2] Siehe Kapitel 2.3.1 der Lernunterlage Einführung in die Empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 2.7
[4] Siehe Kapitel 1.1.7


1.4.2 Interpretation und Objektivität


Die Kultur- und Sozialanthropologie arbeitet nicht nur empirisch, sondern auch hermeneutisch-interpretierend. Kann Interpretation jemals objektiv sein oder ist sie notwendigerweise subjektiv? Und wenn sie subjektiv ist, kann sie dann eigentlich Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben? Ist dieser Anspruch notwendigerweise mit dem Anspruch auf Objektivität verbunden?

Die Antwort auf die Frage, ob objektive Beschreibung und Erklärung in der KSA möglich ist, hat viel zu tun mit Art und Beschaffenheit der konkreten Realitäten, für die man sich gerade interessiert. Die mathematischen Prinzipien der Erbteilung etwa, die in einer bestimmten Gruppe zur Anwendung kommen, lassen sich recht gut objektivierend betrachten. Sie können unabhängig von der persönlichen Sichtweise beschrieben werden. Aber schon dort, wo erklärt werden soll, warum bei einer konkreten Teilung z.B. von Ackerland auf eine bestimmte Weise entschieden wird, die mit den abstrakten Regeln im Einklang steht, aber nicht zur Gänze durch diese determiniert wird, ist das nicht mehr möglich: Hier muss (im Dialog mit unseren Forschungssubjekten) interpretiert werden.

Objektivität[1] ist in Teilbereichen des Wissens, das die KSA anstrebt, also durchaus möglich. Aber gewöhnlich ist sie gerade dort, wo es für unser Fach interessant wird, nicht mehr möglich. Überall dort, wo es um sinngeleitetes Handeln geht, kann ich als BeobachterIn nicht von der Tatsache abstrahieren, dass ich selbst in Sinnzusammenhänge eingebettet bin und mir solche Zusammenhänge interpretierend erklären kann. Objektiv ist eine Aussage dann, wenn sie sich - unabhängig von der jeweiligen Person, die dies versucht - direkt an der Realität überprüfen lässt. In der KSA ist dies in den meisten Zusammenhängen nicht möglich, weil zwischen der Realität und unseren Aussagen noch eine Zwischenebene liegt: jene des sinngeleiteten Verstehens, die sich nur der Interpretation erschließt, nicht aber der objektiven Beschreibung.

Die Gegenposition zu dieser Sicht, die davon ausgeht, dass ein direkter Zugang zu sozialen und kulturellen Realitäten möglich und unproblematisch ist, wird wissenschaftstheoretisch als Positivismus bezeichnet. In der Geschichte der KSA sind immer wieder auch positivistische Theorieansätze vertreten worden, so etwa durch Radcliffe-Brown[2]. In der Gegenwart werden solche Perspektiven aber nur von wenigen VetreterInnen des Faches eingenommen; die Mehrheit der AnthropologInnen steht positivistischen Ansätzen[3] kritisch gegenüber.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.15 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften
[2] Siehe Kapitel 2.4.1
[3] Siehe Kapitel 2.2 der Lernunterlage Einführung in die Empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie


1.4.3 Hindernisse für Objektivität in der Kultur- und Sozialanthropologie


Wenn wesentliche Zusammenhänge, für die sich die KSA interessiert, nur interpretierend erschlossen werden können, so ergibt sich daraus notwendigerweise, dass Objektivität kein realistisches Ziel für ihre Beschreibung und Erklärung sein kann, weil sie nicht erreicht werden kann. Für einen sinnvollen Anspruch auf Objektivität gibt es vor allem zwei große Hindernisse.

  • Das erste Hindernis ergibt sich aus der außerordentlichen Komplexität sozialer und kultureller Zusammenhänge. Menschliches Handeln und Denken ist einer unüberschaubaren Fülle an Einflüssen, äußeren Rahmenbedingungen und kausalen Wechselwirkungen unterworfen. Soziales Handeln ist zwar durchaus in kausale Zusammenhänge[1] eingebunden, an denen ein positivistisches Wissenschaftsverständnis ansetzt. Das Problem besteht aber darin, dass wir diese Zusammenhänge nicht in Isolation betrachten können. Wenn wir einen Zusammenhang zwischen zwei Beobachtungen zu erkennen glauben - und ihn vielleicht sogar statistisch bestätigen können - so heißt das noch lange nicht, dass dieser Zusammenhang kausaler Art sein muss. Vielleicht braucht es ja spezifische Rahmenbedingungen, die uns wegen ihrer Komplexität nicht klar sind, oder von uns nicht beachtete zusätzliche Faktoren, damit der beobachtete Zusammenhang zum Tragen kommt. Aufgrund dieser Komplexität unseres empirischen Feldes hat sich auch die Suche nach objektiven sozialen Gesetzmäßigkeiten als wenig ergiebig erwiesen. Es hat in der Geschichte des Faches immer wieder Versuche gegeben, solche Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Im Großen und Ganzen sind diese jedoch gescheitert, weil die behaupteten Gesetzmäßigkeiten entweder banal und somit uninteressant waren, oder weil sie im Fall weniger banaler Aussagen durch zusätzliche empirische Fallbeispiele meist relativ schnell widerlegt wurden.
  • Das zweite Hindernis ist die Notwendigkeit der Interpretation[2]. Menschliches Handeln ist nicht nur sinngeleitet, es steht auch mit objektiven Bedürfnissen und Interessen sowie kausalen Wechselwirkungen in Zusammenhang. Es ist aber immer auch sinngeleitet. Zumindest diese Sinnzusammenhänge lassen sich grundsätzlich nicht objektiv beschreiben. Sie müssen vielmehr interpretierend gedeutet werden, d.h. in das eigene Sinnsystem übersetzt werden. Natürlich lässt sich das eigene Verständnis im ethnographischen Kommunikationsprozess erweitern und über die eigenen kulturellen Prägungen hinaus entwickeln. Wäre das nicht möglich, so dürften wir den Anspruch, andere kulturelle Zusammenhänge verstehen zu können, gar nicht erheben. Ein solches Verständnis lässt sich jedoch nie objektivieren. Die Interpretation von Sinn bleibt notwendigerweise subjektiv.



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.11 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften
[2] Siehe Kapitel 1.4.2

1.4.4 Validität


Kultur- und Sozialanthropologie als interpretierende Wissenschaft kann nicht objektiv sein. Das bedeutet, die Richtigkeit der allermeisten wissenschaftlichen Aussagen kann nicht an ihrer objektiven Übereinstimmung mit der Realität gemessen werden. Wenn dem so ist, welches Kriterium bleibt uns, um Aussagen zu bewerten? Ist alles gleich richtig, dürfen wir hemmungslos subjektiv sein? Ist ein anthropologischer Text - wie dies im Zuge der sogenannten "literarischen Wende" in den 1980er Jahren behauptet wurde - nichts grundlegend Anderes als ein literarisches Werk (vgl. Clifford & Marcus 1986)?

Gegenwärtig nehmen die meisten VertreterInnen des Faches keine so radikale Position ein. Für die Mehrheit der AnthropologInnen können wissenschaftliche Aussagen nicht direkt anhand der Realität als wahr oder falsch bewertet werden. Was zählt, das ist, ob sie die Realität auf eine Weise wiedergeben, die als gültig akzeptiert werden kann. Es geht nicht um Objektivität als Bewertungskriterium, sondern um Validität, also Gültigkeit.

Wie aber bemessen wir die Validität von Aussagen, die nicht einfach als wahr oder falsch beurteilt werden können? Sie wird in einem diskursiven sozialen Prozess festgelegt, und zwar durch die Zustimmung der Scientific Community[1], jenes diskursiven Raumes, in dem Wissenschaft stattfindet. Die Scientific Community besteht aus den VertreterInnen der eigenen Disziplin, aber auch aus interessierten Angehörigen anderer Disziplinen. Sie rezipieren die Ergebnisse unserer Forschung und bilden sich eine Meinung dazu. Sie greifen unsere Aussagen auf, bestätigen, modifizieren, kritisieren oder bestreiten sie - all dies in der Regel unter Beachtung ihres Bezugs zur dargestellten Realität. In diesem sozialen Prozess bildet sich Zustimmung oder Ablehnung heraus. Dies ist letztlich der einzige Maßstab für die Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen, den wir in einem Fach wie dem unseren besitzen (das Gesagte trifft aber nach Meinung vieler WissenschaftstheoretikerInnen auf Wissenschaft insgesamt zu). Die wissenschaftlichen Aussagen, die wir als AnthropologInnen machen können, sind also nicht objektiv wahr in dem Sinn, dass ihre Richtigkeit direkt an der Realität gemessen werden kann. Sie können aber sehr wohl intersubjektiv wahr sein: dann nämlich, wenn die Scientific Community zu dem Schluss kommt, dass sie die Realität auf gültige Weise wiedergeben.


Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Scientific_community


1.4.5 Der provisorische Charakter wissenschaftlichen Wissens

Abbildung: Flammarions Holzstich; Wissenschaftliches Wissen ist zu keinem Zeitpunkt endgültig, Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dd/FlammarionWoodcut.jpg)

Wissenschaftliches Wissen wird in einem diskursiven sozialen Prozess gefestigt. Es ist daher nicht absolut, sondern relativ, nicht endgültig, sondern revidierbar. In den Wissenschaften ist es quasi alltägliche Realität, dass Forschungsergebnisse, die einmal als gültig angenommen wurden, verworfen oder modifiziert werden, und dass theoretische Positionen kritisiert oder verworfen werden. Der soziale Prozess der "Validierung" von Wissen ist also in historische Zusammenhänge eingebunden.

Der notwendige Wandel von gültigem Wissen bedeutet aber nicht, dass frühere Einsichten und Perspektiven für uns irrelevant sind oder dass sich in 30 Jahren niemand mehr für das interessieren wird, was heute geschrieben wird. Auch wenn dies hinter dem Innovationsdiskurs, mit dem WissenschaftlerInnen ihre Aktualität, die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschung und ihren Anspruch auf finanzielle Mittel legitimieren, manchmal in den Hintergrund tritt, beschäftigen wir uns auch heute noch intensiv mit dem, was vor Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten geschrieben wurde. Diese Auseinandersetzung ist manchmal vor allem historisch motiviert. Wenn wir heute z.B. Lewis Henry Morgan[1] lesen, so kann es sein, dass wir in theoriengeschichtlicher Perspektive verstehen wollen, aus welchem Blickwinkel er zu welchen Ergebnissen kam, ohne nach deren heutiger Gültigkeit zu fragen. Ebenso können wir aber bei ihm - wie bei anderen AutorInnen der Vergangenheit - Datenmaterial finden, das uns, sofern es kritisch rezipiert wird, durchaus nützlich sein kann. Auch die theoretischen Konzepte, mit denen frühere VertreterInnen des Faches an ihr Material herangingen, können weiterhin von Interesse sein, selbst wenn wir aus heutiger Sicht und mit veränderten Interessen ihre Schwachstellen deutlicher erkennen können, als das den damaligen ZeitgenossInnen möglich war.

Umgekehrt gilt: Alles anthropologische Wissen, das zum jetzigen Zeitpunkt anerkannt ist, ist mit größter Wahrscheinlichkeit nur vorläufig gültig. Somit ist es nicht nur unser Recht, sondern sogar unsere Pflicht, wissenschaftliche Aussagen und Perspektiven kritisch zu rezipieren und uns zu fragen, ob wir ihnen folgen können oder nicht. Dabei geht es um zweierlei: zum einen um die Plausibilität der empirischen Daten[2], zum anderen um die Begrifflichkeiten, Ideen und angenommenen Zusammenhänge, mittels welcher diese Daten organisiert und in einen erklärenden Zusammenhang gebracht werden - also um die Theorien.

Das große Feld anthropologischer Debatten betrifft immer wieder auch empirische Aussagen, vor allem aber die konkurrierenden und in Entwicklung begriffenen theoretischen Ansätze. Eine Theorie "ist eine Menge logisch miteinander verknüpfter Aussagen, die einen bestimmten Ausschnitt der Welt erklären" ( Halbmayer[3]). Der Begriff "Theorie" wird aber auch in einem weiteren Sinn verwendet für die Summe unserer logisch möglichst konsistenten Annahmen über die Welt und über bestimmte Zusammenhänge in ihr, die es uns erlauben, unsere Beobachtungen zu strukturieren und zu systematisieren und aus ihnen erklärende Theorien im engeren Sinn abzuleiten. Theoretische Perspektiven sind in der KSA generell in höherem Ausmaß umstritten als empirische Beobachtungen. Eine kritische Rezeption wissenschaftlicher Aussagen bedeutet auch den Versuch, jene Ideen, Modelle und Ansätze zu erkennen und zu hinterfragen, mit denen in einem konkreten wissenschaftlichen Text operiert wird. Da diese theoretischen Werkzeuge vielfach zumindest teilweise implizit bleiben, ist auch dieser Versuch nicht selten ein interpretierender Vorgang.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] Siehe Kapitel 2.1 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften
[3] Siehe Kapitel 2.6 der Lernunterlage Einführung in die Empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie



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