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2. Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie
Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
Betriebsanthropologie/ Unternehmensanthropologie/ Organisationsanthropologie sind keineswegs neue Tätigkeitsfelder. Sie gehen bis in die formative Phase der modernen Sozial- und Kulturanthropologie Ende der 1920er Jahre zurück. Allerdings war dieser Forschungsbereich immer etwas abseits vom Mainstream des Faches und vor 1980 auf wenige, jedoch durchaus prestigeträchtige Universitäten beschränkt.
- USA: Harvard University und University of Chicago; zentrale Person: William Lloyd Warner[1].
- Großbritannien: Department of Social Anthropology and Sociology at Manchester University; zentrale Person: Max Gluckman[2].
Die Entwicklung der Organisationsanthropologie durchlief mehrere Phasen: Die erste Phase ist von William Lloyd Warner (Hawthorne Experimente, Human Relations Bewegung, Industrial Anthropology) geprägt; die zweite Phase von Max Gluckman (Manchester Shop Floor Studies). Der Beginn der dritten und bis heute andauernden Phase der Organisationsanthropologie wird mit etwa 1980 angesetzt. Die „Renaissance“ der Organisationsanthropologie ab 1980 hängt mit der Erweiterung des analytischen Blicks der Anthropologie und mit der Diskussion rund um „Unternehmenskultur“ genauso zusammen wie mit der pragmatischen Frage nach Möglichkeiten, anthropologisches Können auch abseits akademischer Karrieren einzusetzen.
Erste Beiträge im deutschsprachigen Raum
Im deutschsprachigen Raum hat man sich an den Völkerkundeinstituten vor 1990 wenig mit Phänomenen moderner Organisationen oder der Arbeitswelt beschäftigt. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der stärkeren Abgrenzung zwischen den Wissenschaftsdisziplinen Volkskunde, Völkerkunde und Soziologie.
Seit Ende der 1980er Jahre arbeiten auch im deutschsprachigen Raum Kultur- und SozialanthropologInnen ethnographisch in Betrieben und Organisationen. Wenn diese aus dem disziplinären Umfeld der Völkerkunde kommen, dann verorten sie sich selbst in der angloamerikanischen Tradition (z.B. Sabine Helmers, Andreas Novak[3]). Kommen sie aus dem Bereich der Volkskunde (z.B. Irene Götz, Andreas Wittel oder Heike Wieschiolek), dann stellt die volkskundliche Erforschung von Arbeit und Arbeitskulturen das theoretische Bezugsfeld dar (vgl. Götz/Wittel 2000).
Erste Beiträge befassten sich mit den Unterschieden zwischen Stammesgesellschaften und Unternehmen bzw. zwischen „Stammeskulturen“ und „Unternehmenskulturen“ (Hauschild 1988; Janata 1988; Thiel 1988). Richard Rottenburg beteiligte sich 1988 an Kurzzeitstudien in Berliner und ostdeutschen Unternehmen (Rottenburg 1991; Rottenburg/Brand/Merkens 1988; 1989). Auch Birgit Müller (1991; 1993), Rolf-Dieter Reineke (1991) und Heike Wieschiolek (1996) befassten sich mit Organisationen in Ost- und Westdeutschland im Kontext des wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses (vgl. Helmers 1993; Novak 1994).
Sabine Helmers (1990; 1993a) setzte sich mit dem Beitrag der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschungauseinander und veröffentlichte einen Sammelband unter dem Titel "Ethnologie der Arbeitswelt" (1993b), in dem u.a. ein Artikel von Irene Götz über Filialarbeiterinnen einer Großbäckerei erschien (Götz 1993). 1994 publizierte Andreas Novak mit „Die Zentrale“ seine Dissertation über ein deutsches Einzelhandelsunternehmen.
Ein früheres Ausnahmewerk, auf das häufig Bezug genommen wird und das sich selbst "Soziographie" nennt, ist die 1933 erstmals erschienene Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel.
Literatur:
Gamst, Frederick C., and Sabine Helmers
1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit. Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25- 41.
Götz, Irene
1993 Die Arbeitswelt von Filialverkäuferinnen. Aspekte der Unternehmenskultur einer Großbäckerei. In: Sabine Helmers (ed.), Ethnologie der Arbeitswelt. Beispiele aus europäischen und außereuropäischen Feldern.; pp. 69-104. Bonn: Holos Verlag
Hauschild, Thomas
1988 Unternehmenskultur und "Corporate Identity". Diskussionsbeitrag eines Ethnologen. In: Uta Brandes et al. (eds.), Unternehmenskultur und Stammeskultur. Metaphysische Aspekte des Kalküls; pp. 47-53. Darmstadt
Helmers, Sabine
1990 Theoretische und methodische Beiträge der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschung. WZB Berlin FS II: 90- 106.
1993a Beiträge der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschung. In: Meinolf Dierkes et al. (eds.), Unternehmenskultur in Theorie und Praxis; Konzepte aus Ökonomie, Psychologie und Ethnologie; pp. 147-187. Frankfurt am Main: Campus
1993b Ethnologie der Arbeitswelt. Beispiele aus europäischen und außereuropäischen Feldern. Bonn: Holos Verlag
Janata, Alfred
1988 Kult gleich Kultur? In: Uta Brandes et al. (eds.), Unternehmenskultur und Stammeskultur. Metaphysische Aspekte des Kalküls; pp. 55-61. Darmstadt
Müller, Birgit
1991 Einbruch der Marktwirtschaft in die Alltäglichkeit von zwei Betrieben in der DDR (Sozialanthropologische Arbeitspapiere. Institut für Ethnologie der FU Berlin, 37)
1993 The Wall in the Heads. East-West German Stereotypes and the Problems of Transition in Three Enterprises in East Berlin. Anthropological Journal on European Culture 2.
Novak, Andreas
1994 Die Zentrale. Ethnologische Aspekte einer Unternehmenskultur. Bonn: Holos
Reineke, Rolf-Dieter
1991 Anpassung west- und ostdeutscher Unternehmenskulturen: Eine konzeptionelle Analyse. In: G. Aßmann et al. (eds.), Deutsch-deutsche Unternehmen. Ein unternehmenskulturelles Anpassungsproblem. Stuttgart
Rottenburg, Richard
1991 "Der Sozialismus braucht den ganzen Menschen". Zum Verhältnis vertraglicher und nichtvertraglicher Beziehungen in einem VEB. Zeitschrift für Soziologie 20: 305-322.
Rottenburg, Richard, R. Brand, and H. Merkens
1988 "Mit den Augen stehlen": Lernen am Bau. Berichte aus der Arbeit des Instituts für Allgem. und Vergl. Erziehungswissenschaft, Abt. empirische Erziehungswissenschaft der FU Berlin, Nr. 5
1989 Auf dem Weg in die neue Zukunft: Zur Sozialisation der Auszubildenden in die Unternehmenskultur eines Telekommunikationsunternehmens. Berichte aus der Arbeit des Instituts für Allgem. und Vergl. Erziehungswissenschaft, Abt. empirische Erziehungswissenschaft der FU Berlin, Nr. 6
Thiel, Josef Franz
1988 Unternehmenskulturen und Stammeskulturen. In: Uta Brandes et al. (eds.), Unternehmenskultur und Stammeskultur. Metaphysische Aspekte des Kalküls; pp. 75-79. Darmstadt
Wieschiolek, Heike
1996 Handschlag und Hierarchie. Beobachtungen in einem mecklenburgischen Betrieb. In: W. Kokot and D. Dracklé (eds.), Ethnologie Europas. Grenzen, Konflikte, Identitäten; pp. 155- 178. Berlin: Reimer Verlag
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] Siehe Kapitel 2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.5
Inhaltsverzeichnis
2 Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie
- 2.1 Formative Phase in den USA
- 2.2 Manchester Shop Floor Studies
- 2.3 1960 bis 1980: "Es tut sich wenig" im Feld der Organisationsanthropologie
- 2.4 Anthropologie und Organisationsforschung in den 1980er Jahren
- 2.5 Entwicklungen und Forschungsstränge der Organisationsanthropologie ab 1980
Weitere Kapitel dieser Lernunterlage
1 "Organisations- und Betriebsanthropologie": Annäherungen und Abgrenzungen
3 Ausgewähltes aus anderen Disziplinen und der Praxis
4 Staatliche Organisationen und Non-Profit-Organisationen
5 Profit-Organisationen: Ausgewählte Studien
6 Ethnographische Feldforschung in Organisationen
7. Bildquellen und Lizenzen
Nächstes Kapitel: 2.1 Formative Phase in den USA