Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung - Rituelle Körperhaltung & ekstatische Trance nach Felicitas Goodman
Contents
- 1 Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (KSA)
- 2 1 Das Fremde verstehen
- 3 1.1 Eurozentrismus: Europa und die Anderen
- 4 1.2 Deutungsmuster des Fremderlebens
- 5 1.3 Ordnungsschemata des Fremderlebens
- 6 2 Die Praxeologie Pierre Bourdieus
- 7 2.1 Kapitalformen
- 8 2.2 Zirkulation und Umwandlung von Kapitalformen
- 9 2.3 Praxis
- 10 3 Die Diskurstheorie von Jürgen Habermas
- 11 3.1 Moderne Orientierungslosigkeit und radikale Demokratie
- 12 3.2 Praktische und kommunikative Vernunft
- 13 3.3 Kommunikative Rationalität
- 14 3.4 Faktizität und Geltung
- 15 4 Bibliographie
Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (KSA)
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die hier vorliegende Lernunterlage dient zur Unterstützung der Vorlesung: "Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen" von Ao. Univ.-Prof. DDr. Werner Zips. Sie fokussiert auf drei Fragestellungen, die zentral für einen sozialanthropologischen Zugang zu Sozialwissenschaften sind:
- Wer sind die Anderen? Wer sind wir?
- Wie werden wir, was wir sind?
- Wie können wir zu einer Sprache finden, die unsere GesprächspartnerInnen nicht unterdrückt?
Auf die erste Frage antwortet Ortfried Schäffter mit seinen Modi des Fremdverstehens, für die zweite gibt uns Pierre Bourdieu mit seiner Praxeologie sehr brauchbare Werkzeuge in die Hand und die dritte hat Jürgen Habermas zu seiner spezifischen Form der Diskurstheorie inspiriert. Diese drei Ansätze werden in dieser Lernunterlage kurz dargestellt.
Kapitelübersicht
- 1.1 Eurozentrismus: Europa und die Anderen
- 1.2 Deutungsmuster des Fremderlebens
- 1.3 Ordnungsschemata des Fremderlebens
2 Die Praxeologie Pierre Bourdieus
1 Das Fremde verstehen
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf einen von Ortfried Schäffter 1991 herausgegebenen Sammelband mit dem Titel "Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung". In seinem einleitenden Beitrag (Modi des Fremderlebens[1] - Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit) untersucht Schäffter die verschiedenen inhaltlichen Erscheinungsformen von Fremderleben auf ihre strukturellen Voraussetzungen.
Diesen analytischen Zugang nimmt Schäffter vor dem sozialen Hintergrund einer immer problematischer werdenden Beziehungsgestaltung zwischen dem Eigenen und dem Fremden auf. Sein Ausgangspunkt ist das Spannungsverhältnis zwischen personaler, sozialer und kultureller Identität und dem von ihm Ausgegrenzten. Unter letzterem lässt sich das psychisch Verdrängte ebenso verstehen wie das räumlich Fremde, das Fremde des Alter Ego oder das Fremde als fremdartiger Objektbereich. Diese Grenzflächen zum Fremden haben sich emotional aufgeladen und seit dem Erscheinen des Buches (im Jahr 1991) hat sich dieser Prozess wohl noch verstärkt. Mit der Thematik lassen sich bei entsprechender Besetzung mittlerweile nicht nur demokratische Wahlen gewinnen oder verlieren, sondern unter Umständen sogar das gesamte politische System destabilisieren bzw. verändern.
Die Grenzflächen zum Fremden sind höchst ambivalent und bewegen sich zwischen Faszination und Bedrohung. Auch die immer stärkere globale Mobilität führt zur Auseinandersetzung mit dem konkreten Fremden in seiner ernüchternden Alltäglichkeit. So hat zum Beispiel die arabisch- islamische Kultur aus Tausendundeiner Nacht mit der gelebten Wirklichkeit während einer Urlaubsreise ebenso wenig zu tun wie mit der Begegnung mit Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung im eigenen Land.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2
Inhaltsverzeichnis
Weitere Kapitel dieser Lernunterlage
2 Die Praxeologie Pierre Bourdieus
3 Die Diskurstheorie von Jürgen Habermas
4 Bibliographie
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1.1 Eurozentrismus: Europa und die Anderen
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Aus analytisch-kritischer Sicht lässt sich zeigen, dass die europäischen Formen der Entdeckung von Fremdheit ihre arglose Selbstverständlichkeit verloren haben. Die Sozialwissenschaften unter Einschluss von Ethnolog/inn/en haben in den letzten Jahren der Beziehungsgestaltung an einer Entmystifizierung der romantischen Geschichte der großen Entdeckungen mit ihrer Suberzählung des kulturellen Kontaktes (die Geschichte der Begegnungen) mitgeschrieben. Daran werden die Modi des Fremderlebens[1] im Umgang mit eigener und fremder Andersartigkeit deutlich. Räumliche Expansion, geistige Vereinnahmung, Subsumtion in das eigene Weltbild und Unterordnung anderer Erfahrungswelten und Traditionen unter die Perspektivität unserer eigenen Geschichtsschreibung bestimmen die europäische Geistes- und Politikgeschichte. Aber der blinde, Jahrhunderte eingeübte Ethnozentrismus muss in einer immer begrenzter und ent-fremdeter werdenden Welt verknüpfter Lebenszusammenhänge und gegenseitiger Abhängigkeiten scheitern. Fremdheit lässt sich nicht mehr auf räumliche Distanz beschränken, da ehemals als ferne gedachte Lebenszusammenhänge in ein immer dichter werdendes Mosaik gepresst werden, in dem mentale und historische Distanzen überhaupt erst in Kontakt geraten. "Sie erscheint vielmehr als eine konfliktträchtige Zeitgenossenschaft von unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen, zwischen denen häufig eine unüberbrückbare Distanz liegt" (Schäffter 1991: 11).
Fremdheit ist daher als Beziehungsverhältnis zu verstehen, dass durch Nähe intensiviert wird. Dann erst erlangen Unterschiedlichkeiten soziale Bedeutung und bauen sich zu persönlichen, gruppenbezogenen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Reibungsflächen auf. Jedes autonome Sinnsystem (Person, soziale Gruppe, gesellschaftliche Institution oder kulturelle Einheit) verfügt über eine eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie sind einander in Bezug auf ihre Temporalität fremd und existieren in verschiedenen Eigenzeiten. Diese Eigenzeiten verschränken sich im gegenseitigen Kontakt zu einer Art "Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem". Wenn die Grenzen zu Kontaktflächen werden wird Fremdheit virulent. Sie kann nicht als Eigenschaft (wie früher in der Ethnologie die "schriftlosen Völker" oder "die Naturvölker") verstanden werden, sondern als Beziehungsmodus. Daher ist Fremdheit immer ein relationaler Begriff, der nach einer Mitberücksichtigung der eigenen Anteile verlangt.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2
Nächstes Kapitel: 1.2 Deutungsmuster des Fremderlebens
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1.2 Deutungsmuster des Fremderlebens
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die eigene Identität ruft die Fremdartigkeit des Anderen hervor, wobei differente Sinnwelten auch über unterschiedliche Konzepte und Wahrnehmungstraditionen von Fremdartigkeit verfügen. Es gibt keine universellen Modi des Fremderlebens, was zu problematischen Situationen und Verhaltensunsicherheit führt. Erfahrungsmodi oder Deutungsmuster des Fremderlebens beziehen sich auf soziale Bruchlinien und können völlig unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Darin können fünf grundsätzliche inhaltliche Ausformungen unterschieden werden:
- Das Fremde als das Auswärtige, indem die räumliche Trennungslinie das Innere, die Heimat und die Einheitssphäre betont.
- Das Fremde als Fremdartiges, wodurch die Anormalität, das Unpassende etc. im Gegensatz zum Normalen eines Sinnbezirkes besetzt wird.
- Das Fremde als das noch Unbekannte, das die Möglichkeit des Kennenlernens und gegenseitigen Vertrautmachens impliziert.
- Das Fremde als das letztlich Unerkennbare, als das für den Sinnbezirk transzendente - also nicht erfahrbare Außen.
- Das Fremde als das Unheimliche, worin die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmt, wenn das Heimische unheimlich wird.
Nächstes Kapitel: 1.3 Ordnungsschemata des Fremderlebens
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1.3 Ordnungsschemata des Fremderlebens
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die Modalitäten des Fremderlebens lassen sich auf Ordnungsschemata zurückführen, worunter soziale Wirklichkeitsdefinitionen zu verstehen sind (z. B. wer Asylant ist). Als Unterscheidungsmuster gliedern sie die Welt, machen sie verständlich und beherrschbar. Repressiv werden die Deutungsmuster dann, wenn sie sich als natürliche Ordnung verstehen und den dahinter liegenden Interessensstandpunkt zu objektivieren und zu verabsolutieren versuchen. Eine "Phänomenologie[1] von Fremdheit" stellt sich daher der Aufgabe, die Deutungsmuster von Fremdheit anhand von elementaren Ordnungsschemata systemspezifischer Innen/Außen- Beziehungen zu untersuchen. Schäffter (1991: 15) unterscheidet vier elementare Ordnungsschemata:
- Ordnungen transzendenter Ganzheit, in denen das Fremde als tragender Grund- und Resonanzboden von Eigenheit dient.
- Ordnungen perfekter Vollkommenheit, die das Fremde als Negation von Eigenheit betrachten.
- Ordnungskonzepte dynamischer Selbstveränderung, die das Fremde als Chance zur Ergänzung und Vervollständigung einschätzen.
- Konzeptionen komplementärer, sich wechselseitig ergänzender Ordnung, in denen Eigenheit und Fremdheit als Zusammenspiel sich wechselseitig hervorrufender Kontrastierungen begegnen.
Alle Erfahrungsmöglichkeiten stehen zwischen Faszination und Bedrohung.
Inhalt
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.1.1
1.3.1 Fremdheit als Resonanzboden
Das Fremde erscheint nach diesem Ordnungsmuster als abgetrennte Ursprünglichkeit. So werden Zivilisation und Wildnis ebenso wie Innen- und Außenwelt als Spannungsverhältnis auf der Grundlage basaler Gemeinsamkeit aufgefasst. Das Fremde ist danach das Ursprüngliche (bzw. ursprünglich Eigene; vgl. Morgan - Evolutionismus). Die Beziehung zum Fremden charakterisiert keinen Bruch, sondern eine existentielle Teilhabe – ein Gleichklang von Unterschiedlichem. Im Modus von Resonanz für das Innen/Außenverhältnis lässt sich Fremdheit über Affinität, Verständnis, Einfühlung, Solidarität, Liebe, Mitleid, Empathie als prinzipiell verstehbar einordnen. "Sieh, das Fremde ist wie Du!"
Das Fremde ging nach dieser Erfahrungsmöglichkeit aus einer ursprünglichen Ganzheit hervor und liefert nunmehr die Kontrastfläche für die eigene Identität. Faszination kann hier ebenso entstehen wie Bedrohung durch das Gefühl der Identitätsauflösung. Fremdheit[1] wird zur Schwellenerfahrung. Sie wird als Entdeckung und Wiedergewinnung des eigenen Ursprungs gedeutet. In der europäischen Tradition lassen sich als Beispiele Rousseau, Gauguin, aber auch die Beatles anführen. Gerade deutsche Dichter hatten noch um 1900 eine besondere Intuition im Umgang mit dem Fremden, auf der Grundlage einer conditio humana, die auf einer gemeinsamen anthropologischen Basis die grundsätzliche Verstehbarkeit aller menschlichen Ausdrucksformen beschworen. In der Wissenschaft wird diese Sicht von der interkulturellen Hermeneutik repräsentiert, die auf der angenommenen psycho-physischen Einheit der Menschheit ein gemeinsames Vorverständnis als Grundlage von Fremdverstehen auf der tieferen Basis des Allgemein Menschlichen postuliert.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1
1.3.2 Fremdheit als Gegenbild
Diese Ordnungsstruktur beruht auf innerer Kohärenz und führt zu Ausgrenzung des "Andersartigen", des "Artfremden". Das Fremde erhält den Charakter einer Negation der Eigenheit. ("Wien muss den Wienern Heimat bleiben; Wir machen ernst") – im Sinne gegenseitiger Unvereinbarkeit. Eine genau definierte Grenzlinie soll die Integrität der Eigenheit bewahren. Diese Integrität der eigenen Ordnung wird durch das Fremde bedroht. "Das Fremde ist das Unding, das Nicht- Eigene". Die angesprochene Ordnungsstruktur der Einheit und Integrität hat die Metaphorik von Reinheit, Unvermischtheit, innerer Stärke und Gesundheit, während das Fremdartige die Konnotation von Vermischung, Unreinheit, Gift und Schmutz erhält. Vor allem tritt dieses Ordnungsmuster hervor, wenn die innere Ordnung durch "Überfremdung" gefährdet erscheint. Es rechnet sich in selbst bewusster Eindeutigkeit ausschließlich einer Seite des dualen Verhältnisses zu. Jede Form von Fremderleben ruft konflikthafte Gegensätzlichkeit hervor. Das Fremde erscheint als der natürliche Feind.
Viele Beziehungsverhältnisse können nach diesem Ordnungsmuster gedeutet werden: beispielsweise Geschlechterbeziehungen: statt Empathie wie im ersten Deutungsmuster entsteht danach Geschlechterkampf. Brennende Asylantenheime oder zerfetzte Roma sind andere Beispiele dafür. Da das Fremde als unzulässige Alternative einer reduzierten Eigenheit verstanden wird, kommt es zu einer innerpsychischen interpersonalen oder interkulturellen Auseinandersetzung. Das Fremde kann nicht in seiner Eigenart belassen werden, sondern erhält als Unbewusstes, als Krankheit, Irrationalität oder Aberglauben einen zutiefst bedrohlichen Charakter. Wenn dann Reinheit zur Stagnation der Entwicklung führt, kann das Ausgegrenzte die Bedeutung einer positiven Alternative erhalten. Dann drehen sich die Vorzeichen um: das vereinseitigte Sinnsystem sucht wieder nach Vielfalt, Neuheit etc., verfängt sich aber in den Fesseln einer dualen Ordnungsstruktur. Es führt zu Mythen der Zivilisationskritik und Natürlichkeitssehnsucht mit ihren Idealisierungen vom Edlen Wilden usw. Wenn sich der Edle Wilde auf dem Globus nicht mehr finden lässt bleibt nur noch die Flucht in die Zeit: utopische Zukunftsromane ersetzen die erträumten Reiseberichte. Darin äußern sich neuerlich der Herrschaftscharakter und die Aggressivität einer assimilativen Vereinnahmung des Fremdkulturellen durch diesen Modus des Fremderlebens.
Nach einer Kritik von Duala-M‘bedy in seinem Buch "Xenologie - die Wissenschaft vom Fremden" (1997) benötigt die Europäische Kultur[1] den Mythos des Fremden, um sich selbst in den Griff zu bekommen. Abermals wird spiegelbildlich verkehrt ein vereinseitigtes und reduziertes Bild des Anderen produziert, um es als Kulturregulativ instrumentalisieren zu können. Von einem kulturpessimistischen Standpunkt aus sind die Anderen nicht unvergleichlich, sondern das, was wir nicht sind.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
1.3.3 Fremdheit als Ergänzung
Durch die steigende Komplexität eines Sinnsystems wird die duale Ordnung bedroht. Eine Person, Gruppe oder Kultur verfügt durch interne Differenzierung über eine Vielzahl unterschiedlicher Umwelten, über ein Spektrum interner Fremdartigkeit. Diese Ordnungsstruktur ist daher nicht eine Form der schützenden Abgrenzung, sondern der Versuch der Regelung von Prozessen der Verinnerlichung des Äußeren[1] und des Entäußern des Inneren. Charakterisiert wird sie durch ein Zusammenspiel von Aneignung von Fremdem mit struktureller Selbstveränderung. Das Fremde erhält für dieses dynamische Ordnungsgefüge die Funktion eines externen Spielraumes mit entwicklungsfördernden Impulsen und Lernanlässen. Nach dem Motto "Werde, wer Du bist!" ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. In einem Wechselspiel zwischen Assimilation (Angleichung) und Akkomodation (Aneignung) erscheint die Fremderfahrung als Selbsterfahrung (Esoterik, Ashrams etc.). Es entsteht Faszination durch die Verbindung von Informationsbedarf, Abwechslungsbedürfnis, Neugierde und Wissenstransfer.
Freilich wird durch das skizzierte expansive Selbstverständnis das Fremderleben auf die genannten Funktionen reduziert und es entsteht in der Folge ein Problem der Verarbeitungskapazität. Das wiederum kann dazu führen, dass die Faszination unvermittelt in eine Bedrohung umschlagen kann. Jede Selbstveränderung hat die Potenz der Bereicherung ebenso wie der System sprengenden Überforderung. Darin zeigt sich die tiefe Ambivalenz des Deutungsmusters (z.B. Kulturschock). Wenn die Verarbeitungskapazität gesprengt und als Selbstentfremdung erlebt wird, muss das expansive Deutungsmuster auf die Sicherheit des zweiten Typus zurückgreifen (z.B. interpersonale Beziehungen).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.1
1.3.4 Fremdheit als Komplementarität
Den bisher besprochenen Varianten des Fremderlebens ist gemeinsam, dass sie das Fremde nicht in seiner Besonderheit stehen lassen können. Die Auseinandersetzung ist darin nicht partnerschaftlich-dialogisch, sondern die Andersheit wird als Eben-doch-Eigenes vereinnahmt. Das beruht auf der Funktion des Fremden für die Konstitution der eigenen Identität.
Das vierte Ordnungsmuster nach dem von Schäffter vorgeschlagenen Modell (die Fremdheit als Komplementarität) unterscheidet sich von den bisher skizzierten Strukturen dahingehend, dass es auf einer wechselseitigen, sich gegenseitig hervorrufenden Fremdheit beruht. Es ist eine Ordnungsstruktur, die verschiedene Einzelperspektiven übergreift. Inneres und Äußeres werden nicht als separate Bereiche behandelt, indem sich Eigenes und Fremdes wechselseitig relativieren und bestimmen. Aus der Vielzahl eigenständiger Perspektiven und möglicher Interpretationen der Welt, ergibt sich ein Abgehen von einem unbestreitbaren Fundament im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Bezugssysteme; es entsteht ein Verzicht auf einen übergeordneten Bezugspunkt. Damit wird auch auf die Annahme einer universellen Rationalität und einer universell beobachtbaren empirischen Welt verzichtet. Das Wissen über die Welt bleibt nach diesem Ordnungsmuster unaufhebbar an lokale und soziale Konstitutionsprozesse gebunden. Für die Übersetzung und Verbindung zwischen lokalen Wissensbeständen gibt es keine (angenommene) Garantie mehr.
Die Erkenntnistheorie - so Schäffter (1991: 25) - wird beim komplementären Ordnungsmuster durch die Hermeneutik abgelöst. Die Ordnungsstrukturen sind damit nicht mehr ambivalent, sondern polyvalent; sie beziehen sich auf eine Praxis des Unterscheidens. Die Ordnung lebt vom permanenten Oszillieren (Pendeln) zwischen Positionen der Eigenheit und Fremdheit, die sich in wechselseitigem Kontakt hervorrufen. Es kann sich keine reine Innen- oder Außenwelt mehr etablieren, keine reine Eigen- oder Fremdwelt. Darin äußert sich eine komplementäre Ordnung wechselseitiger Fremdheit. Ab einem gewissen Moment ersetzt die Feststellung von „Nicht- Verstehbarkeit“ den Versuch der Akkomodation. Darin ist keine Verweigerung des Verstehens zu konstatieren, sondern die Anerkennung einer Grenzerfahrung - einer eigenen Grenzlinie der Erfahrungsmöglichkeit. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass externe Berichte nicht völlig aneignungsfähig sind und daher in ihrem Eigenwert zu respektieren. Solche Schwellenerfahrungen werden dann als Zwang zur radikalen Anerkennung von gegenseitiger Differenz aufgefasst - als Sensibilität für gegenseitige Fremdheit.
Die Ordnungsleistung bezieht sich daher auf die Praxis des Fremderlebens. Das Fremde wird als Ergebnis einer Unterscheidungspraxis in wechselseitiger Interaktion erkennbar, aber nicht endgültig bestimmbar. "Es kann nur noch beobachtet werden, wie der Beobachter die anderen Beobachter beim Beobachten des Beobachtens beobachtet" (ebd.: 27). Damit verbindet sich ein neues Verständnis von kulturhistorischer Distanz. Es zielt darauf ab, die Verwurzelung in unserer eigenen Kultur klar zu erkennen und unsere Abhängigkeit von den eigenen gesellschaftlichen Normen, die sich im Denken, Empfinden und Handeln zeigt. "Erst wenn wir bewusste Eurozentriker[1] sind, vermögen wir das Fremde unvoreingenommen (...) wahrzunehmen. (...) Der eigenen Perspektivität bewusst, könnten wir dann das Fremde als Fremdes belassen" (ebd.: 28). Das Fremde macht dann die blinden Flecken unserer eigenen Wahrnehmungsfähigkeit erkennbar. Im Resultat kommt es zu einer Erfahrung einer gegenseitigen Grenze. Dann - so hofft Schäffter - kann es vielleicht zu neuen Formen von Gemeinsamkeit kommen, die tragfähiger sind, als die Einfühlung in die vermeintlich universellen Grundlagen des Humanen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
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2 Die Praxeologie Pierre Bourdieus
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die kritische Auseinandersetzung mit Herrschaftssystemen und deren Reproduktion gehört zu den Forschungsinteressen der Politischen Anthropologie. In mehreren Publikationen, vor allem im "Entwurf einer Theorie der Praxis" hat Pierre Bourdieu (1979) eine Handlungstheorie vorgelegt, die das symbolische Kapital[1] der Handlungssubjekte analytisch auf dieselbe Stufe stellt wie deren ökonomisches Kapital[2], um sie so als Strategien in der Konkurrenz um die Stellung in der Sozialhierarchie deuten zu können. Beide Kapitalformen dienen den sozialen Gruppen als Mittel, mit deren Hilfe sie ihre gesellschaftliche Position verbessern können. Mit der Erweiterung des ökonomischen Kapitalbegriffes um das kulturelle[3] und soziale Kapital[4] gelang es Bourdieu (1983: 184), alle die Praxisformen in die soziologische bzw. ethnologische Analyse der Gesellschaft mit ein zu beziehen, die zwar objektiv ökonomischen Charakter tragen, aber als solche im sozialen Leben nicht erkennbar sind: "Eine allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft[5] muss sich deshalb bemühen, das Kapital und den Profit in allen ihren Erscheinungsformen zu erfassen und die Gesetze zu bestimmen, nach denen die verschiedenen Arten von Kapital (oder, was auf dasselbe herauskommt, die verschiedenen Arten von Macht) gegenseitig ineinander transformiert werden." Bourdieu unterscheidet in einer ersten Differenzierung kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital. Jede dieser Kapitalformen kann durch gesellschaftliche Anerkennung in symbolisches Kapital transformiert werden.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] Siehe Kapitel 2.1.2
[3] Siehe Kapitel 2.1.3
[4] Siehe Kapitel 2.1.4
[5] Siehe Kapitel 2.3
Inhaltsverzeichnis
Weitere Kapitel dieser Lernunterlage
1 Das Fremde verstehen
3 Die Diskurstheorie von Jürgen Habermas
4 Bibliographie
Nächstes Kapitel: 2.1 Kapitalformen
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2.1 Kapitalformen
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Bei der Analyse von Herrschaftsweisen gilt es – nach Bourdieu (1987: 222ff.) – die Dichotomie zwischen Ökonomischem und Nichtökonomischem über Bord zu werfen. So wird symbolisches Kapital durch die entsprechende Verwendung der anderen Kapitalarten geschaffen; diese sind ineinander konvertierbar. Symbolische Dankesbezeugungen, Widmungen, Achtungserweise, moralische Verpflichtungen können Gegenleistungen für die Erhöhung des ökonomischen Kapitals darstellen. Ehrverhalten ist danach Politik. Sozialleistungen des Staates oder die Anhäufung von Luxusgütern scheinen mit der Logik der Ausbeutung und mit faktischer Herrschaft nur oberflächlich betrachtet nichts mehr zu tun zu haben; sie sind aber nicht nur Kapital an Glaubwürdigkeit und gutem Geschmack, sondern können als "Einzahlungen auf der Bank der öffentlichen Meinung" gedeutet werden.
Inhalt
2.1.1 Symbolisches Kapital
Symbolisches Kapital wird durch Anerkennung erworben. Es kann bei jeder Gelegenheit vorgeführt werden. Sogar auf dem Markt, als dem Inbegriff eines Ortes des ökonomischen Austausches. Auch auf dem Markt gilt das Ehrenkapital und Ansehen als Kreditwürdigkeit und Vertrauenskapital. Dank des Vertrauens, das die Inhaber von symbolischem Kapital besitzen, können sie anstelle von Geld bloß ihr Gesicht, ihren Namen, ihre Ehre auf den Markt bringen. Symbolisches Kapital bringt damit Kredit, Vorschuss, Diskont. Seine Zurschaustellung ist einer der Mechanismen, die dafür sorgen, dass Kapital zu Kapital kommt[1]. An anderer Stelle meint Bourdieu (1992: 153) noch deutlicher: "Symbolische Macht ist die Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen." Sie muss sich auf den Besitz von symbolischem Kapital stützen; dieses bildet einen Kredit. Es ist die Macht, die Anerkennung durchsetzen zu können.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2.2
2.1.2 Ökonomisches Kapital
Unter ökonomischem Kapital subsumiert Bourdieu das unmittelbar und direkt in Geld konvertierbare Kapital, das sich besonders zur Institutionalisierung in Eigentumstiteln eignet. Kulturelles Kapital (z.B.: Bildung, Schriften, Gemälde etc.) ist nur unter bestimmten Vorraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar[1]; es wird häufig in Form von schulischen Titeln institutionalisiert. Das soziale Kapital besteht in sozialen Verpflichtungen oder "Beziehungen" (es verleiht im weitesten Sinn Kreditwürdigkeit) und ist grundsätzlich ebenfalls in ökonomisches Kapital konvertierbar; es kann vor allem in Adelstiteln institutionalisiert werden. Mit dieser Einsicht in die Logik des Kapitals (-einsatzes) und der Kapitalumwandlungsformen widerspricht Bourdieu (1983: 197) sowohl dem "Ökonomismus" (des orthodoxen Marxismus), der alle Kapitalformen für ökonomisch hält und daher die Wirksamkeit der anderen Kapitalformen (in der Lebenswelt) übersieht als auch dem "Semiologismus" des Strukturalismus, des symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie; diese Richtungen reduzieren die sozialen Austauschbeziehungen auf Kommunikationsphänomene und übersehen die ihnen innewohnenden (ökonomischen) Herrschaftsformen[2].
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
[2] Siehe Kapitel 2.2.1
2.1.3 Kulturelles Kapital
Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder Region hinterlässt beispielsweise Spuren in den Sprechweisen. Wer über eine bestimmte Kulturkompetenz (z.B.: Lesen, gute Rhetorik etc.) verfügt, hat einen Seltenheitswert, aus dem sich extra Profite ziehen lassen; er besitzt (inkorporiertes) Kulturkapital. Bei der Übertragung von Kulturkapital handelt es sich um die am besten verschleierte Form von erblicher Kapitalübertragung[1] (und damit einer Grundlage für Herrschaft und Macht). Durch Titel wird das inkorporierte Kulturkapital objektiviert und letztlich institutionalisiert. Es wird durch den Titel, zum Unterschied von einem Autodidakt, rechtlich garantiert (z.B.: akademischer Maler). Dieser Anerkennung durch ein Wort wohnt eine schöpferische Magie inne.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
2.1.4 Soziales Kapital
Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu (1983: 189) diejenigen Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen: "Der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, hängt demnach sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht." Für die Erhaltung bzw. den Ausbau der sozialen Beziehungen ist ständige Beziehungsarbeit in Form von Austauschakten erforderlich. Sozialkapital bewegt sich in der Logik des Kennens und Anerkennens und funktioniert daher immer als symbolisches Kapital. Die Verteilungsstruktur der verschiedenen Kapitalarten entspricht der Struktur der gesellschaftlichen Welt. Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, inkorporierter Form. Vor der Einsicht, dass diese Akkumulation Zeit benötigt, formuliert Bourdieu (1983: 183): "Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte."
Nächstes Kapitel: 2.2 Zirkulation und Umwandlung von Kapitalformen
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2.2 Zirkulation und Umwandlung von Kapitalformen
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die Zirkulation zwischen den verschiedenen Kapitalarten zwingt uns zur Aufgabe der Dichotomie von Ökonomischem und Nicht-Ökonomischem. Vielmehr sind die ökonomischen Praktiken als besonderer Fall einer allgemeinen Wissenschaft der Ökonomie praktischer Handlungen zu fassen. Nur diese ist in der Lage, auch die scheinbar interesselosen und zweckfreien Handlungen als gewinngerichtet (auf einen materiellen oder symbolischen Gewinn) zu begreifen. Als eine verschleierte Form von ökonomischem Kapital[1] beruht das symbolische Kapital[2] auf dem Gelingen dieser Verschleierung (Bourdieu 1979: 356f.). In Gesellschaften ohne self-regulating market (Karl Polanyi), ohne Unterrichtssystem und juristischen Apparat, setzen sich die Herrschaftsformen nur kraft ständig erneuerter und fortwährend angewandter Strategien[3] durch. Sie sind ja nicht den objektiven Strukturen[4] eingeschrieben. Im einen Fall sind die Herrschaftsbeziehungen durch objektive und institutionalisierte Mechanismen (die wie schulische, monetäre und ständische Titel den undurchdringlichen Charakter von Dingen aufweisen) abgesichert, im anderen Fall werden sie durch Interaktion gebildet, aufgelöst und wieder hergestellt. Der Unterschied zwischen den Herrschaftsformen liegt also im Objektivierungsgrad des akkumulierten gesellschaftlichen Kapitals. Für die Bedeutung des symbolischen Kapitals auf dem Markt in der Kabylie (Algerien) steht der Satz: "Er ist imstande mit dem gesamten Markt heimzukehren, obwohl er doch mit leeren Taschen davonzog." Das Vertrauen und die Beziehungen erlauben es, nur das Gesicht, den Namen, die Ehre als "Kapital" auf den Markt mitzunehmen (ebd.: 358-360).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.2
[2] Siehe Kapitel 2.1.1
[3] Siehe Kapitel 2.3.5
[4] Siehe Kapitel 2.3.3
Inhalt
2.2.1 Symbolisches Kapital und Herrschaft
Die theoretische Konstruktion der mechanischen Reziprozität bringt das Verfahren der organisierten und institutionell abgesicherten Verkennung zum Verschwinden. Ein Gutteil der symbolischen Arbeit wird aber dafür verwendet, die unabwendbaren Beziehungen der Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Arbeit in auf Wahl beruhende Reziprozitätsbeziehungen umzuwandeln. In die Arbeit der Reproduktion bestehender Beziehungen durch Feste, Zeremonien, Geschenkaustausch, Besuche, Höflichkeiten, Heiraten geht nicht nur die zur Erfüllung der Tauschfunktion erforderliche Arbeit, sondern auch die Arbeit zur Verschleierung dieser Funktion ein. Eine auf Treu und Glauben aufgebaute Ökonomie wendet hohe Kosten für die Verschleierung der ökonomischen Strukturen auf.
Das lässt der Vergleich mit der Ökonomie des unverschleierten Interesses erkennen. Ein in Paris aufgewachsener Maurer hatte 1955 in der Kabylie einen Skandal verursacht, als er die ihm während der Arbeit angebotenen Speisen abgelehnt und danach einen Spesenersatz für Essen verrechnet hatte. Damit hat er die soziale Alchimie, die den Lohn für die Arbeitszeit in eine huldvolle Gabe verwandeln möchte, bloßgestellt. So hat das Abschlussessen bei der Ernte oder dem Bau eines Hauses die Funktion, eine interessegeleitete Transaktion in einen edelmütigen Austausch zu transformieren (Bourdieu 1979: 335-338). "Man kann einfach nicht, es sei denn, man wollte jemand beleidigen, ein Geschäft auf der Basis von Treu und Glauben und unter Menschen guten Glaubens, und gar noch zwischen Verwandten, von einem Notar, einem Kadi oder selbst einem Zeugen beglaubigen lassen wollen" (ebd.: 339). Bei Heiratsverhandlungen treten in einer ersten Phase angesehene Verwandte oder Verbündete als Garanten auf, wobei das zur Schau gestellte symbolische Kapital[1] eine Waffe während der Verhandlungen und eine Sicherheit nach Einigung bietet (ebd.: 340).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
2.2.2 Symbolisches Kapital als Akkumulationsform
Das symbolische Kapital, das sich wie Prestige oder ein guter Ruf jederzeit in ökonomisches Kapital[1] verwandeln lässt, bildet eine kostbare Akkumulationsform, vor allem in Gesellschaften, wo es an unmittelbaren Akkumulationsmöglichkeiten für ökonomisches Kapital (aufgrund des schwach entwickelten Standes der Produktionsmittel) mangelt. Zudem wird die Konzentration materiellen Kapitals durch die fehlende kollektive Legitimation für die "Bereicherung" weiter gebremst. Daher muss das ökonomische Interesse verschleiert werden. Am besten lässt sich das durch die Umwandlung von ökonomischem in symbolisches Kapital[2] erreichen. In der auf Treu und Glauben beruhenden Wirtschaftsform in der Kabylie sind die beiden Kapitalformen (symbolisch und ökonomisch) derart ineinander verschränkt, dass ein guter Leumund die beste wenn nicht die einzige ökonomische Sicherheit bietet. Angesehene Verbündete können solchermaßen Gewinn abwerfen. Keine Gelegenheit wird ausgelassen, das symbolische Kapital zur Schau zu stellen, durch feierliche Umzüge der Verwandten und Verbündeten, in Brauteskorten, deren Wert sich nach der Zahl der Gewehre und der Stärke der abgefeuerten Salven zu Ehren der Brautleute bemisst, in blendenden Geschenken, endlich durch Zeugen und Garanten (bei Marktgeschäften und Heiratsverhandlungen).
Symbolisches Kapital stellt einen Kredit dar; seine regelmäßig überaus kostspielige Zurschaustellung wirkt als Mechanismus, warum Kapital zu Kapital kommt (vgl. Ghana: Saltpond, Ashanti). Diese symbolischen Gewinne, werden sie aufgerechnet, belegen die Rationalität von Verhaltensweisen, die der Ökonomismus als absurd abtut. Der Ankauf eines zweiten Ochsengespanns zu einem Zeitpunkt, wenn es nicht zur Aussaat gebraucht wird, verschafft der Familie aber möglicherweise eine Vermehrung an symbolischem Kapital für die Zeit der Eheverhandlungen. Demnach liegt den Verhaltensweisen der Ehre ein Interesse zugrunde, das als symbolisches Kapital an Ehre bzw. Kredit an Ehrenhaftigkeit besonders wertvoll und schutzwürdig ist (vgl. die Standesehre von Arzt und Rechtsanwalt) (ebd.: 348-353).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.2
[2] Siehe Kapitel 2.1.1
Vorheriges Kapitel: 2.2 Zirkulation und Umwandlung von Kapitalformen
2.3 Praxis
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Als eine Art teilnehmende BeobachterIn und DechiffreurIn steht die EthnologIn in der Gefahr, die gesellschaftlichen Praxisformen auf symbolische Tauschbeziehungen zu reduzieren und die gesellschaftlichen Beziehungen als Kommunikationsphänomene zu interpretieren. Sprache wird damit vom Handlungs- und Ausdrucksmittel zum bloßen Decodierungsinstrument. So wie ArchitektInnen häufig Städte für ZuschauerInnen und nicht BewohnerInnen entworfen haben, verhält sich die EthnologIn zum praktischen Handeln distanziert aus der BeobachterInnenrolle. Die Praxis sollte aber nicht wie in zahlreichen impliziten oder expliziten Theorien als Objekt behandelt, sondern als Praxis konstituiert werden. Führen wir den Faktor der Unsicherheit ein, lässt sich beispielweise von den beobachtbaren Ehrverhaltensweisen eine der Improvisierkunst des Ehrenmannes adäquatere Darstellung geben als durch aufwendige mechanische Modelle. In der Sprache der Regel und des Modells erscheint die praktische Beherrschung der Symbolik sozialer Interaktionen (wie Takt, Fingerspitzengefühl oder Ehrgefühl) ausgeblendet. Es gibt klare Korrelationen zwischen verwendeter Sprache und Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, Wohnsitz und Beruf; der Inhalt der Kommunikation wird durch die Beziehungsstruktur der Sprecher verändert. Bestimmte Situationen verlangen unter dem Druck der gesellschaftlich bestimmten objektiven Situation nach einer ganzen Sprache (Scherze, Ton, Akzent); die Art der Sprache und Ausdrucksformen in Gang, Haltung, Mimik ergibt sich durch den fortwährenden unbewussten Bezug auf die Struktur der sozialen Beziehungen zwischen den Individuen, auf ihre jeweiligen Positionen innerhalb der Hierarchien von Alter, Macht, Prestige und Bildung. Durch dieses permanente praktische Erkennen erfolgt die Anpassung der Praktiken und Expressionen an die Erwartungen und Reaktionen der anderen Handlungssubjekte (Bourdieu 1979: 140-146).
Inhalt
2.3.1 Drei Modi der theoretischen Erkenntis
Bourdieu unterscheidet drei Modi der theoretischen Erkenntnis, denen gemeinsam ist, in Gegensatz zum praktischen Erkenntnismodus zu stehen:
- den phänomenologischen (z.B. interaktionistische oder ethnomethodologische),
- den objektivistischen (z.B. strukturalistische Hermeneutik)
- und den praxeologischen.
Die phänomenologische Erkenntnis erklärt die Primärerfahrung mit der sozialen Welt und schließt nach Auffassung Bourdieus die Frage nach den Bedingungen ihrer eigenen Erkenntnis aus; die objektivistische erstellt die objektiven (ökonomischen oder linguistischen) Beziehungen, welche die Praxisformen und ihre Repräsentationen strukturieren - um den Preis des Bruches mit der primären praktischen Erfahrung. Die praxeologische Erkenntnisweise dagegen erforscht nicht nur das System objektiver Relationen, sondern die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen[1] und den strukturierten Dispositionen, die diese reproduzieren - kurz den doppelten Prozess der Verinnerlichung des Äußeren und der Veräußerlichung des Inneren (Interiorisierung der Exteriorität und Exteriorisierung der Interiorität) (ebd.: 146f.).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.3
2.3.1.1 Phänomenologie
Dem phänomenologischen Ansatz konzediert Bourdieu (1979: 149f.) seine Konstruktionen zweiten Grades, den account of accounts im Sinne Alfred Schütz‘ oder Garfinkel‘s, kritisiert aber den Anspruch, diese vorwissenschaftliche Repräsentation der sozialen Welt als Wissenschaft dieser sozialen Welt auszugeben. Denn - wie Habermas[1] sagen würde: damit wird alles ausgeblendet, was auf diese Lebenswelt und deren Repräsentation von außen einwirkt. Die Konstruktion objektiver Strukturen (Preiskurven, Bildungschancen, Gesetze des Heiratsmarktes) lässt erst die Mechanismen erkennen, durch welche die Beziehungen zwischen Strukturen[2] und Praktiken[3], respektive deren Repräsentationen gestaltet werden. Dadurch - so Bourdieu in seiner Kritik weiter - schließt der Interaktionismus den Einfluss der Strukturen auf die Interaktionen und deren Repräsentationen aus. Diese Richtung übernimmt damit die Spontantheorie des Handelns, die das Subjekt zum quasi freien, strategisch entscheidenden Subjekt erklärt und hebt die kleinbürgerliche Sicht gesellschaftlicher Beziehungen als freien Gestaltungsraum zu einer Theorie der sozialen Welt.
Das hat zur Konsequenz, die Wissenschaft von der Gesellschaft zu einer Bestandsaufnahme des krud Gegebenen, der herrschenden Ordnung zu reduzieren. Mit der bloßen Konzeptualisierung der (gemeinsamen) Alltagserfahrung geht die Reformulierung einer Repräsentation gesellschaftlicher Wirklichkeit einher, die in der Regel mit den Interessen einer bestimmten Gruppe im Einklang steht. In der Ethnologie lässt sich das an manchen herrschaftsunkritischen Darstellungen zeigen, die mitunter einen bestimmten (z.B. androzentrischen) Standpunkt privilegieren. Das hängt damit zusammen, dass herrschende Gesellschaftsgruppen auch die Macht zur Repräsentation innehaben. Was könnte dagegen eine Soziologie oder Anthropologie der Politik leisten, die sich um die Aufdeckung der erkenntnistheoretischen Mechanismen bemühte, die der Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung dienen?
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3
[2] Siehe Kapitel 2.3.3
[3] Siehe Kapitel 2.3
2.3.1.2 Objektivismus
Der Objektivismus nimmt die Praxis[1] negativ, das heißt als Ausübung/Ausführung wahr. Daraus ergibt sich die Alternative, sich mit deren Bestandsaufnahme zu begnügen, ohne die Frage nach den Erzeugungsprinzipien dieser Praxis zu stellen, oder den wissenschaftlichen Konstrukten wie Kultur, Struktur, Klasse, Produktionsweise etc. Subjekthaftigkeit zu geben, die sie wie Subjekte handeln und auf die Praxis Zwang ausüben lässt. Es ist naiv, zu glauben, dass die Praktiken quasi gehorsam Regeln befolgen. Regeln im Sinne eines Schemas oder Prinzips sind der Praxis aber insofern eingeschrieben, als sie innerhalb der Praxis der Handlungssubjekte in praktischem Zustand zur Anwendung kommen, ohne sich in deren Bewusstsein zu befinden. Die Theorie des Handelns auf eine einfache Ausübung des Modells zu reduzieren, schafft ein Missverständnis, denn die Sache der Logik ist nicht identisch mit der Logik der Sache: die objektive Bedeutung der Praxisformen entspricht nicht dem subjektiven Zweck des Handelns der Produzenten dieser Praxisformen. Den homo oeconomicus, der ständig nach rationalem Kalkül entscheidet, gibt es ebenso wenig wie Akteure, die bloße Rollen ausführen oder gemäß Modellen handeln (Bourdieu 1979: 158-164).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
2.3.1.3 Praxeologie
Der Strukturalismus hypostasiert die Systeme objektiver Beziehungen. Er verwandelt sie in präkonstruierte Totalitäten, jenseits der Geschichte des Individuums und der Geschichte der Gruppe. Um ihn zu überwinden, genügt es, vom opus operatum, den statistischen Regelmäßigkeiten bzw. der algebraischen Struktur, zum modus operandi, dem Erzeugungsprinzip dieser beobachteten Ordnung überzugehen. Die daraus folgende Theorie der Praxis, oder präziser die Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen, hat die Dialektik der Verinnnerlichung des Äußeren und der Veräußerlichung des Inneren zum Gegenstand: die für eine soziale Umgebung konstitutiven Strukturen erzeugen Habitusformen[1], d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen[2], die als strukturierende Strukturen wirken. Damit ist gemeint, dass die Habitusformen als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzipien von Praxisformen[3] und deren Repräsentationen funktionieren; sie sind objektiv "geregelt", ohne auf der gehorsamen Erfüllung von Regeln zu beruhen. Disposition drückt für Bourdieu (1979: 446) das aus, was der Begriff Habitus umfasst: zum einen das Resultat einer organisierenden Aktion, zum anderen eine Seinsweise, einen habituellen Zustand (vor allem des Körpers) und eine Tendenz oder Neigung. Die Habitusformen können bestimmten Zwecken angepasst sein, ohne dass die Handlungssubjekte diese Zwecke bewusst anvisieren müssen. Sie können weiters kollektiv abgestimmt sein, ohne eines Dirigenten zu bedürfen. Der Habitus erzeugt gewissermaßen Strategien[4], die es erlauben, neuartigen Situationen entgegenzutreten, weist aber durch seine vergangenen Bedingungen die Tendenz auf, die objektiven Strukturen zu reproduzieren (ebd.: 164-165).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.2
[2] Siehe Kapitel 2.3.3
[3] Siehe Kapitel 2.3
[4] Siehe Kapitel 2.3.5
2.3.2 Habitus
Der Habitus ist zur "Natur" gewordene Geschichte, die negiert wird, weil sie als Natur empfunden wird. Dieser Mensch der Vergangenheit, diese vergessene Geschichte bildet den unbewussten Teil unserer selbst. Durch die objektive Übereinstimmung der Habitusformen der Gruppen und Klassen stehen die Praxisformen und Praktiken objektiv in Einklang. Der Habitus ist das durch die primäre Sozialisation dem Individuum eingegebene immanente Gesetz, das wie ein gemeinsamer Code zumindest ein Minimum an Übereinstimmung innerhalb einer Gruppe bewirkt. Jedes Individuum ist gewollt oder nicht, bewusst oder nicht Produzent und Reproduzent eines bestimmten objektiven Sinns. Durch die Theorie des allen Klassen oder "Kulturen" eigenen Habitus wird die situationalistische Reduktion der Ethnomethodologie oder des Interaktionismus überwunden, indem die interpersonalen Beziehungen nicht losgelöst von den sozialen Faktoren und Beziehungen betrachtet werden. Denn die physischen Personen tragen ihre gegenwärtige wie vergangene Position innerhalb der Sozialstruktur in Gestalt der Habitusformen immer und überall mit sich herum. Die Übereinstimmung ästhetischer Geschmäcker oder ethischer Neigungen hat gesellschaftliche Bedingungen (Bourdieu 1979: 171- 182): "Kurz, der Habitus, dieses Produkt der Geschichte, erzeugt entsprechend den von der Geschichte erzeugten Schemata individuelle und kollektive Praxisformen - folglich Geschichte" (ebd.: 182).
Praxis[1] versteht Bourdieu (1987: 98) als den Ort der Dialektik von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen[2] und Habitusformen. Diese Habitusformen werden durch Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugt. "Sie sind Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen - strukturierte Strukturen, die als strukturierende Strukturen fungieren; d.h.: als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen. Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle Praktiken und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen..." (Bourdieu 1987: 101). Über den Habitus regiert die Struktur die Praxis; er erzeugt die vernünftigen Verhaltensweisen des Alltagsverstandes. "Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat" (ebd.: 105). Geschichte wird damit aus Geschichte erzeugt, wodurch Dauerhaftigkeit im Wandel gewährleistet wird.
Diese theoretische Sichtweise vom Habitus steht sowohl zu Annahmen der mechanischen Notwendigkeit von Praktiken als auch zur völligen Freiheit der Reflexion in Widerspruch; das praktische Handeln wird weder geschichtslosen Mechanismen noch trägheitslosen Subjekten rationalistischer Theorien überlassen. Praktiken von Mitgliedern einer Gruppe oder Klasse sind besser aufeinander abgestimmt, als die Handelnden selbst wissen. Der Habitus versucht sich selbst zu bestärken, indem er die Auswahl zwischen Orten, Ereignissen und Personen des Umgangs trifft; dadurch schützt sich der Habitus vor Krisen, indem er sich ein Milieu schafft, an das er vorangepasst ist.
Für Bourdieu sind die sozialen Akteure keine Epiphänomene der Strukturen; Handlungen bestehen nicht nur im Vollzug von Regeln. Sie sind keine geregelten Automaten, die mechanischen Gesetzen gehorchen. Noch in den kompliziertesten Handlungsverläufen setzen sie inkorporierte Prinzipien eines generativen Habitus ein: dieses System von Dispositionen wird durch Erfahrung erworben, ist folglich je nach Ort und Zeit variabel. Statt einer Verwandtschaftsregel - wie die Strukturalisten - erkennt Bourdieu eine Heiratsstrategie, allerdings ohne teleologische Gerichtetheit. Denn das Verhalten kann auf Ziele gerichtet sein, ohne bewusst durch sie geleitet zu werden. In den kollektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata der sozialen Gruppen können sich positionsbedingte Nutzenkalküle eingelagert haben, die nicht mehr individuell bewusst gehalten werden. Diese gruppenpezifischen Handlungsorientierungen nannte er Habitusformen; sie reichen über den individuellen Sinnhorizont hinaus (Honneth 1990: 169-170).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
[2] Siehe Kapitel 2.3.3
2.3.3 Struktur
Das Verhältnis zwischen Struktur und Praxis[1] ist nicht vergleichbar mit jenem zwischen Partitur und Ausführung. Ein solcher Objektivismus[2] konstruiert einen von Gesetzen der Naturgeschichte unterjochten Menschen. Haben die Strukturen als Erzeugnisse menschlicher Aktion die Macht, sich nach eigenen Gesetzen zu entwickeln und andere Strukturen zu determinieren? Anhand der Habitustheorie lässt sich diese Frage verneinen. Die Diskussion über das Verhältnis Kultur-Individuum in der amerikanischen Anthropologie erscheint deshalb so karikaturhaft weil sie anstatt einer dialektischen Sichtweise die "Basispersönlichkeit" als eine Art Miniausgabe der Kultur entwarf. Hingegen stellt der Habitus das Produkt der Einprägungs- und Aneignungsarbeit dar, die für die (individuelle) Reproduktion der Hervorbringungen der kollektiven Geschichte (Sprache, Wirtschaftsform etc) einer den gleichen Existenzbedingungen unterworfenen Gruppe erforderlich ist.
Die Erfahrungen der Mitglieder dieser Gruppe werden zwar niemals völlig identisch sein, aber die Aussichten mit bestimmten Situationen häufiger als Mitglieder anderer Gruppen konfrontiert zu sein, sind zweifellos größer (z.B. Beschäftigungsrate, Schulbildung, Einkommenskurven, Urlaubshäufigkeit und -ziele). Der Habitus ist keineswegs statisch, sondern bestimmt die Rezeption bestimmter Erfahrungen, wie beispielsweise der schulischen Erfahrung, wird dadurch verändert und liegt wieder der Strukturierung durch die Berufserfahrung oder den von der Kulturindustrie ausgesandten Botschaften zugrunde; und das von Restrukturierung zu Restrukturierung. Im persönlichen Stil zeigt sich der Habitus ebenso in seinem Verweis auf den gemeinsamen Stil durch die Unterscheidung. Die Systeme der individuellen Dispositionen können als strukturelle Varianten des Gruppen- oder Klassenhabitus gesehen werden. Der persönliche Stil ist daher nicht mehr als eine geregelte und zuweilen sogar kodifizierte Abweichung gegenüber dem Gruppenstil.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
[2] Siehe Kapitel 2.3.1.2
2.3.4 Hexis
Kinder schenken in allen Gesellschaften den Gesten und Haltungen der Erwachsenen Aufmerksamkeit; ob in Diskursen wie Sprichwörtern, Redewendungen, Liedern, Spielen, in den Objekten wie Werkzeuge, Haus oder Dorf oder in Praktiken[1] wie Ehrenduelle, Riten oder Gabentausch, das Material des Lernens bleibt stets das Produkt der Anwendung einer kleinen Anzahl zusammenhängender praktischer Prinzipien. Im Bereich der geschlechtlichen Arbeitsteilung werden die Schemata durch die Asymmetrie der Beziehungen zu Vater und Mutter verinnerlicht. Wie das Ethos oder der Geschmack ist auch die Hexis eine einverleibte permanente Disposition: die dauerhafte Art und Weise, sich zu geben, zu sprechen, zu gehen, zu fühlen und zu denken. Die gesamte Moral des Ehrverhaltens ist in der Hexis sowohl symbolisiert wie realisiert. So ist der Gang des Ehrenmannes entschieden und resolut, im Gegensatz zum zögerlichen unsicheren Schritt. Der männliche Mann bietet die Stirn und schaut seinem Gegenüber ins Gesicht; wachsam, weil ständig bedroht nimmt er alles in seiner Umgebung wahr, während ein in die Luft schauernder Blick einen unverantwortlichen Mann kennzeichnet (Bourdieu 1979: 189-192).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
2.3.5 Strategie
Um die faktischen Abweichungen zwischen dem tatsächlichen Verhalten der sozialen Akteure und den im Strukturalismus unterstellten Regeln erklären zu können, führte Bourdieu die Erklärungsvariable der kollektiven und gruppenspezifischen Handlungsstrategien ein, die in Form von habituellen[1] Dispositionen das Verhalten der Akteure steuern. Dadurch versuchen die Akteure unbewusst Ziele zu erreichen, die im strategischen Interesse ihrer jeweiligen Bezugsgruppe liegen. Aus theoretischer Sicht ging es ihm um eine Überwindung der Dichotomie zwischen Strukturalismus und Subjektphilosophie. Der Praxis handelnder Akteure sollte die vom Strukturalismus ausgeblendete aktive, schöpferische Dimension zurückgegeben werden, ohne die generativen Fähigkeiten der Dispositionen, als erworbene, gesellschaftlich konstituierte Habitusformen aufzugeben.
Habitus bezeichnet also das System erworbener Schemata von Anschauungs- und Wertungskategorien bzw. von Klassifizierungs- und Organisationsprinzipien des Handelns, das den sozialen Akteur beim praktischen Handeln nicht in idealistischer Weise völlig frei von gesellschaftlichen Verhältnissen erscheinen lässt. Allerdings scheint zwischen der kreativen, schöpferischen Dimension aller menschlichen Praxis[2] und der habitualisierten, sozial gesteuerten Bestimmung allen gesellschaftlichen Handelns eine unaufgelöste Spannung zu bestehen, wie Honneth (1985) argumentiert. Dieser Mangel erscheint mir nur durch eine kommunikationstheoretische Erweiterung des Ansatzes, im Sinne der Habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns[3] (Habermas1985) behebbar.
Dafür scheint auch die Einführung des Begriffes der Strategie in die Sozialtheorie Bourdieus zu sprechen. Methodisch äußert sich diese Sichtweise im empirischen Nachfragen der Gründe ihrer Praktiken bei den Handlungssubjekten. Dabei ergaben sich erhebliche Unterschiede beispielsweise für das Heiratsverhalten von Berbern in Algerien, die aus der wissenschaftlich objektivistischen Analyse (z.B. der Genealogie) nicht zu gewinnen gewesen wären. Jenes Primat der objektivistischen Analyse[4] gegenüber der Auffassung der Betroffenen erschien Bourdieu zunehmend als Ausdruck einer Berufsideologie. Um diesem Defizit zu begegnen, verwendet er den Begriff der Strategie. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass die sozialen Gruppen miteinander um gesellschaftliche Ehre kämpfen und die Handlungsstrategien, von denen sich die verschiedenen Sozialgruppen leiten lassen, auf den Erwerb von Prestige und Anerkennung gerichtet sind. In den Kämpfen um Anerkennung liegt eine fundamentale Dimension des sozialen Lebens, bei der es um die Akkumulation von symbolischem, d.h. auf Bekanntheit und Anerkennung begründetem Kapital geht.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.2
[2] Siehe Kapitel 2.3
[3] Siehe Kapitel 3
[4] Siehe Kapitel 2.3.1.2
2.3.6 Doxa
Die strenge Unterordnung unter kollektive Rhythmen beruht darauf, dass die Zeitformen und räumlichen Strukturen die Gruppe selbst strukturieren. Die Frauen gehen zum Brunnen wenn entweder keine Männer auf der Straße sind oder nehmen einen Weg, auf dem sich keine Männer befinden. Seine Aufgabe als Mann erfüllen, heißt der Sozialordnung und ihren Rhythmen zu folgen. In der Konformität und nicht in der Vereinzelung liegt eine fundamentale Tugend. Handlungen zur Unzeit sind suspekte Verhaltensweisen (z.B. lange schlafen). "Wer bis in die Mitte des Tages schläft, wird den suq verpassen." Sowohl Überstürzung als auch Langsamkeit sind gegen den kollektiven Rhythmus. Übereifer verwandelt die zirkuläre Zeit in eine lineare und die einfache Reproduktion in grenzenlose Akkumulation (Bourdieu 1979: 318- 324).
Jede herrschende Ordnung tendiert dazu, ihren spezifischen Willkürcharakter zu neutralisieren. Im Grenzfall erscheint die natürliche und soziale Welt als selbstverständlich; objektive Ordnung und subjektive Organisationsprinzipien fallen zusammen (wie bei den archaischen Gesellschaften). Die Willkür wird zugleich verkannt und damit auch anerkannt. Diese Erfahrung nennt Bourdieu "Doxa" und unterscheidet sie von der entweder orthodoxen oder heterodoxen Überzeugung: diese schließen eine Kenntnis und Anerkennung von unterschiedlichen oder antagonistischen Überzeugungen mit ein. Die Denk- und Wahrnehmungsschemata produzieren Objektivität, indem sie die Grenzen der Erkenntnis, die sie ermöglichen, unkenntlich machen. Über diesen Modus der Doxa realisieren sie das unmittelbare Verwachsensein mit der als natürlich erlebten und wie selbstverständlich vorgegebenen Welt der Überlieferung. Die von der sozialen Ordnung benachteiligten Kategorien, wie Frauen oder Jugendliche, müssen die Legitimität der herrschenden Ordnung anerkennen. Die Interessensgegensätze (etwa zwischen Geschlechtern) können sich nur in Handlungen und Diskursen ausdrücken, die sie im Akt des Auflehnens auch schon wieder annullieren. Die Taxonomien des mythisch- rituellen Systems legitimieren die Einheit in der Trennung, mithin die Hierarchie.
Dieses Feld der Doxa, des stillschweigend als selbstverständlich Wahrgenommenen, ist umso größer, je stabiler die objektiven Strukturen einer jeweiligen Gesellschaftsformation sind und je vollständiger sie sich in den Dispositionen der Handlungssubjekte reproduzieren. Wenn die objektiven und verinnerlichten Strukturen perfekt übereinstimmen, wird die kosmologische und politische Ordnung nicht als willkürlich wahrgenommen; vielmehr wird sie als fraglos und selbstverständlich vorgegebene, also als evidente und natürliche Ordnung verkannt und erkannt. Die Evidenz der Welt wird durch die Evidenz des institutionalisierten Diskurses über die Welt gleichsam verdoppelt. Zwischen das Kind und die Welt tritt die gesamte Gruppe als Vermittler. Sie vermittelt die Doxa mittels des gesamten Universums der rituellen Praktiken und Diskurse (der Redewendungen und Sprichwörter), die allesamt gemäß den Prinzipien des konformen Habitus[1] strukturiert sind. Im doxischen Verhältnis zur gesellschaftlichen Welt kommt das Verwachsensein zum Ausdruck - noch bevor die Frage nach der Legitimität auftritt. Denn diese Frage setzt Konkurrenz voraus, mithin den Konflikt zwischen Gruppen.
Die Doxa bildet jenes Ensemble von Thesen, die stillschweigend und jenseits des Fragens postuliert werden. Sie lassen sich nur aus der Retrospektive erkennen, wenn sie bereits fallengelassen wurden. Das Universum der Meinung als Universum konkurrierender Diskurse schafft die komplementäre Klasse zum Selbstverständlichen. Erst die Krise stellt die unmittelbare Anpassung der subjektiven an die objektiven Strukturen[2] zur Diskussion. Die Beherrschten müssen dafür aber über die materiellen und symbolischen Mittel verfügen, um die Definition der sozialen Welt zurückzuweisen (ebd.: 322-330).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.2
[2] Siehe Kapitel 2.3.3
2.3.6.1 Orthodoxie
Wenn die willkürlichen Prinzipien der geltenden Klassifikation in Erscheinung treten, wird die bewusste Systematisierung und Rationalisierung erst notwendig. Das kennzeichnet den Übergang von der Doxa zur Orthodoxie. Diese ist ein System von Euphemismen, das die häretischen Äußerungen als Blasphemien zurückweist. Der Bereich des Diskurses ist alles, was diskutiert wird, in Relation zur komplementären Klasse des Unformulierten, Undiskutierten, Ungeprüften. In diesem Sinn ist die Sprache das praktische Bewusstsein. Die Grenze zwischen dem Bereich der Doxa und des orthodoxen oder heterodoxen Diskurses ist die Grenze zwischen radikalster Verkennung und Bewusstwerdung. Sartre meinte, dass Worte Verheerungen anrichten, wenn sie einmal benennen, was vorher ohne Benennung gelebt worden war. Die Macht der Sprache liegt darin, unformulierte Erfahrungen zu objektivieren, d.h. öffentlich werden zu lassen. Jede Sprache ist eine autorisierte Sprache, ausgestattet mit der Autorität einer Gruppe, die sie hören lässt. Die häretische Macht des Zauberers, des Propheten oder politischen Führers, welcher der Gruppe verkündet, was sie hören will, beruht auf der dialektischen Beziehung zwischen der autorisierenden und autorisierten Sprache und der Gruppe, die sie und darin sich selbst autorisiert (z.B. Xenophobie - Ausländerfeindlichkeit).
2.3.7 Beispiel: Sexualität in der Kabylie
Bourdieu erkennt den Gegensatz zwischen männlicher zentrifugaler und weiblicher zentripedaler Orientierung auch in der Sexualität reflektiert. Wie in jeder von männlichen Werten beherrschten Gesellschaft (welche die Männer der Politik, der Geschichte und dem Krieg überantwortet und die Frauen dem Herd, dem Roman und der Psychologie), ist auch in der kabylischen Gesellschaft das männliche Verhältnis zur Sexualität durch Sublimation gekennzeichnet. Der Mann nimmt den weiblichen Orgasmus beim Geschlechtsakt weder bewusst wahr, noch kümmert er sich darum und sieht in der Wiederholung statt in der Fortsetzung den Beweis männlicher Stärke. Sein Streben nach der sexuellen Heldentat und seine Angst vor Impotenz setzen die öffentliche Blamage durch den "Tratsch" der Frauen voraus. Gleichwohl ist in der Kabylie selbst die weibliche Rede von den männlichen Kategorien der Virilität und Heldentat strukturiert. Diese zu Körpern gemachten Werte finden sich jenseits der Bewusstseinsprozesse einverleibt.
Eine ganze Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik werden durch so bedeutungslos erscheinende Befehle wie "halte dich gerade" oder "halte das Messer nicht in der linken Hand" eingeschärft. Die Institutionen und Gruppen geben den Konzessionen der Höflichkeit solche Bedeutung, weil sie auch politische Konzessionen beinhalten, nämlich den strukturellen Ausschluss der Auflehnung gegen die herrschende Ordnung[1]. Die Institutionen bestehen auf den symbolischen Beiträgen der Unterworfenen (wie Übergangsriten, Höflichkeitszeremonien - z.B. persönliche Einladungsschreiben); es sind Nichtigkeiten, deren Erfüllung nichts kostet und die so natürlich einklagbar scheinen ("das wäre doch das wenigste gewesen"). Ihre Unterlassung kommt einer Weigerung oder Herausforderung gleich (Bourdieu 1979: 195-201). "Die praktische Beherrschung dessen, was Höflichkeitsregel genannt wird, und vor allem die Kunst, jede der verfügbaren Formulierungen (etwa am Ende eines Briefes) den verschiedenen Klassen möglicher Empfänger oder Hörer anzupassen, setzt die implizite Anerkennung und Verkennung einer für die implizite Axiomatik einer bestimmten Ordnung konstitutiven Gesamtheit von Gegensätzen voraus" (ebd.: 201).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2.1
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3 Die Diskurstheorie von Jürgen Habermas
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
In seinem Buch "Faktizität und Geltung. Beiträge zu einer Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates" (1992) intendiert Jürgen Habermas die Grundannahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns im Bereich der Rechtsbegründung und -entwicklung einzulösen. Dafür bedarf es eines methodenpluralistischen Vorgehens. Das bedeutet den Rückgriff auf die Perspektiven der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und -geschichte, der Moral- und der Gesellschaftstheorie. Darin soll sich auch die laut Habermas oft verkannte pluralistische Anlage der Theorie des kommunikativen Handelns deutlich machen lassen. Die theoretischen Grundannahmen müssen sich danach in den verschiedenen Diskursuniversen innerhalb der vorgefundenen Argumentationskontexte bewähren (ebd.: 9).
Das moralisch-praktische Selbstverständnis der Moderne artikuliert sich in den (neuzeitlichen) Kontroversen über die rechtliche Verfassung des politischen Gemeinwesens; es äußert sich ebenso im universalistischen Moralbewusstsein wie in den freiheitlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates. Mit der Diskurstheorie versucht Habermas, dieses Selbstverständnis so zu rekonstruieren, dass es einen Eigensinn sowohl gegenüber den systemtheoretischen und anderen szientistischen Positionen (z.B. Luhmann 1992) als auch gegenüber der postmodernen Auflösung in "ästhetischen Assimilationen" (z.B. Derrida 1991) behaupten kann. Obwohl die letzten Reste von essentialistischem Vernunftvertrauen an den Schrecken existierender Unvernunft (z.B. Nationalsozialismus) aufgerieben wurden, bleibt das Projekt jeglicher Kritik auf die Vernunft angewiesen. Habermas hat eine gegen sich selbst prozessierende Vernunft vor Augen: die Kritik der Vernunft ist deren eigenes Werk, denn es gibt weder Höheres noch Tieferes, an das wir appellieren könnten (Habermas 1992: 11).
Inhaltsverzeichnis
Weitere Kapitel dieser Lernunterlage
1 Das Fremde verstehen
2 Die Praxeologie Pierre Bourdieus
4 Bibliographie
Nächstes Kapitel: 3.1 Moderne Orientierungslosigkeit und radikale Demokratie
Vorheriges Kapitel: 3 Die Diskurstheorie von Jürgen Habermas
3.1 Moderne Orientierungslosigkeit und radikale Demokratie
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Mit seiner Ideologiekritik am bürgerlichen Rechtsstaat hat Marx das Naturrecht so nachhaltig diskreditiert, dass sich die Klammer um Naturrecht und Revolution gelöst hat. Der Nachlass wurde von den Parteien eines internationalisierten Bürgerkrieges aufgeteilt: die Ideologie des Naturrechts für die eine Seite, die Revolution für die andere. Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zeigt sich der theoretische Fehler; dieser besteht in der Verwechslung des sozialistischen Projektes mit dem Entwurf und der gewaltsamen Durchsetzung einer Lebensform. "Wenn man jedoch ‚Sozialismus‘ als Inbegriff notwendiger Bedingungen für emanzipierte Lebensformen begreift, über die sich die Beteiligten selbst erst verständigen müssen, erkennt man, dass die demokratische Selbstorganisation einer Rechtsgemeinschaft den normativen Kern auch dieses Projekts bildet" (Habermas 1992: 12).
Die andere (bürgerliche) Partei versagt aber im Moment ihres scheinbaren Triumphes an der sozialstaatlichen und ökologischen Zähmung des Kapitalismus im Kontext der Weltgesellschaft. Daher kann auch sie nicht das ungeteilte Erbe des moralisch- praktischen Selbstverständnisses der Moderne antreten. Es mangelt ihr an Sensibilität für die gefährdete Ressource der in rechtlichen Strukturen aufbewahrten und regenerationsbedürftigen gesellschaftlichen Solidarität. Schlagworte der Orientierungslosigkeit sind: Ökologische Begrenzung des ökonomischen Wachstums, Disparität der Lebensverhältnisse im Norden und im Süden, Umbau staatssozialistischer Systeme, Migrationsströme, ethnische, religiöse und nationale Kriege, atomare Erpressungen und internationale Verteilungskämpfe. Vor diesem politischen Hintergrund will die Diskurstheorie nachweisen, dass der Rechtsstaat im Zeichen einer vollständig säkularisierten Politik ohne radikale Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten ist. Jene radikalen Gehalte des demokratischen Rechtsstaates sind nicht in defätistischer Wendung aufzugeben, sondern in einer neuen, den komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend, zur Durchsetzung zu bringen (ebd.: 13).
Nächstes Kapitel: 3.2 Praktische und kommunikative Vernunft
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3.2 Praktische und kommunikative Vernunft
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
In der modernen Prägung erscheint die praktische Vernunft als Ausdruck eines subjektiven Vermögens und nimmt damit eine zentrale Stellung in der Subjektphilosophie ein: Praktische Vernunft richtet sich auf das individualistische Glück und die moralisch vertretbare Autonomie der Einzelnen innerhalb der Rollen einer StaatsbürgerIn, Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft und WeltbürgerIn. In ihre Lebensgeschichte ist das einzelne Subjekt auf ähnliche Weise verstrickt wie die Staaten als Subjekte des Völkerrechts in die Geschichte der Nationen (Habermas 1992: 15).
Die systemtheoretische Perspektive verzichtet auf jeden Anschluss an normative Gehalte der praktischen Vernunft. Bei Luhmann folgt die Autopoiesis ("Sich-selbst-Herstellung") selbstbezüglich gesteuerter Systeme aus dieser Eliminierung der praktischen Vernunft. Damit ging der Zusammenhang von Ethik und Politik, von Vernunftrecht und Moraltheorie, von Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie verloren. Diesen Zusammenhalt können empiristische Ansätze und historische Rehabilitierungsversuche nicht wiederherstellen. Denn die geschichtlichen Prozesse lassen nur soviel Vernunft erkennen wie zuvor teleologisch vom Standpunkt eines geschichtsphilosophischen Paradigmas hineingelesen wurde. Weder aus der Geschichte noch aus der naturgeschichtlichen Konstitution des Menschen sind normativ gerichtete Imperative für eine vernünftige Lebensführung zu entnehmen. Das erklärt die Attraktivität des Dementis von Vernunft überhaupt in der Form einer fundamentalen Vernunftkritik oder in der Variante des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus. Deshalb hat Habermas einen anderen Weg eingeschlagen und mit der Theorie des kommunikativen Handelns an die Stelle der praktischen Vernunft die kommunikative gesetzt. Zwischen praktischer Vernunft und gesellschaftlicher Praxis[1] besteht kein unmittelbarer Zusammenhang. Es gibt nicht die einzig richtige weil durch die praktische Vernunft normativ verbindliche politische und gesellschaftliche Ordnung. Wird die Vernunft aber konzeptuell in das sprachliche Medium verlegt, wie das die Theorie des kommunikativen Handelns unternimmt, wird sie von der ausschließlichen Bindung ans Moralische entlastet. Dieses Vernunftkonzept kann sowohl den deskriptiven Zwecken der Rekonstruktion vorgefundener Kompetenz- und Bewusstseinsstrukturen dienen als auch den Anschluss an funktionale Betrachtungsweisen und empirische Erklärungen finden. Denn es ist das sprachliche Medium, durch das sich Interaktionen vernetzen und Lebensformen strukturieren. Dadurch wird kommunikative Vernunft ermöglicht (ebd.: 15-18).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
Nächstes Kapitel: 3.3 Kommunikative Rationalität
Vorheriges Kapitel: 3.2 Praktische und kommunikative Vernunft
3.3 Kommunikative Rationalität
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die kommunikative Theorie des Handelns beruht auf der Grundannahme, dass diese Rationalität dem sprachlichen telos eingeschrieben ist. Sie bildet ein Ensemble zugleich ermöglichender und beschränkender Bedingungen. "Wer immer sich einer natürlichen Sprache bedient, um sich mit einem Adressaten über etwas in der Welt zu verständigen, sieht sich genötigt, eine performative Einstellung einzunehmen und sich auf bestimmte Präsuppositionen (stillschweigende Voraussetzungen; etwas was dem Habitus[1] bei Bourdieu in mancher Hinsicht verwandt ist) einzulassen. Er muss unter anderem davon ausgehen, dass die Beteiligten ihre illokutionären Ziele (Anm.: Kommunikative Funktionen des Sprechaktes) ohne Vorbehalte verfolgen, ihr Einverständnis an die intersubjektive Anerkennung von kritisierbaren Geltungsansprüchen binden und die Bereitschaft zeigen, interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten, die sich aus einem Konsens ergeben, zu übernehmen. Was derart in die Geltungsbasis der Rede eingelassen ist, teilt sich auch den übers kommunikative Handeln reproduzierten Lebensformen mit. Die kommunikative Rationalität äußert sich in einem dezentrierten Zusammenhang transzendental ermöglichender, strukturbildender und imprägnierender Bedingungen, aber sie ist kein subjektives Vermögen, das den Aktoren sagen würde, was sie tun sollen" (Habermas 1992: 18).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.2
Nächstes Kapitel: 3.4 Faktizität und Geltung
Vorheriges Kapitel: 3.3 Kommunikative Rationalität
3.4 Faktizität und Geltung
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Die Rationalität veständigungsorientierten Handelns wirkt nicht normativ, liefert keine verbindliche Orientierung des Handelns. Im Begriff der kommunikativen Vernunft findet sich bei Habermas keine Anleitung mehr zu einer normativen Theorie des Rechts und der Moral. Ihr kommt ein heuristischer Wert für die Rekonstruktion des Geflechts meinungsbildender und entscheidungsvorbereitender Diskurse zu, in das die rechtsförmig ausgeübte demokratische Herrschaft eingebettet ist. Die rechtsstaatlichen Kommunikationsformen der politischen Willensbildung, der Gesetzgebung und der richterlichen Entscheidungspraxis sind somit als ein prozessualer Bestandteil der Rationalisierung der Lebenswelten in modernen, unter dem Druck systemischer Imperative stehenden Gesellschaften zu lesen. In dieser theoretischen Rekonstruktionsweise liegt auch ein kritischer Maßstab, der die Praktiken einer unübersichtlichen Verfassungswirklichkeit beurteilbar machen könnte (Habermas 1992: 19-20).
Am Spannungsverhältnis zwischen Faktizität und Geltung spalten sich Politik- und Rechtstheorie, wobei sich die eine wissenschaftstheoretische Position den normativistischen (dem Sollen vor dem Sein den Vorrang gebenden) Ansätzen verbunden sieht, während die andere Seite den objektivistischen Ansätzen[1] verhaftet ist. Dagegen hilft nur ein Offenhalten für alle methodischen Standorte (Teilnehmer vs. Beobachter) und theoretischen Zielsetzungen (sinnverstehende Explikation und begriffliche Analyse vs. Beschreibung und empirische Erklärung), verschiedene Rollenperspektiven (Richter, Politiker, Gesetzgeber, Klient, Staatbürger) und forschungspragmatische Einstellungen (Hermeneutiker, Kritiker, Analytiker etc.). Unter funktionalen Gesichtpunkten lässt sich begründen, warum die Gestalt der prinzipiengeleiteten Moral auf das positive Recht angewiesen ist. Dem kann sich der diskurstheoretische Ansatz nicht entziehen. Die Theorie des kommunikativen Handelns ordnet dem Recht einen zentralen Stellenwert zu und bildet daher den geeigneten Kontext für eine Diskurstheorie des Rechts. Habermas entscheidet sich bei diesem Vorgehen für einen rekonstruktiven Ansatz, der die beiden Perspektiven der soziologischen Rechts- und der philosophischen Gerechtigkeitstheorie in sich aufnimmt. Denn die Theorie des kommunikativen Handelns nimmt die Spannung zwischen Faktizität und Geltung schon in ihre Grundbegriffe auf (ebd.: 21-22).
Daher bejaht sie den internen Zusammenhalt zwischen Gesellschaft und Vernunft: die Beschränkungen und Zwänge, unter denen sich die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens vollzieht, bleiben mit der Idee einer bewussten Lebensführung (wie auch immer) vermittelt. Wie allerdings lässt sich die Reproduktion der Gesellschaft auf so einem fragilen Boden wie dem transzendierender (von einem Bereich in den anderen übergehender) Geltungsansprüche erklären? Das (insbesondere positive) Recht bietet sich dafür an. Dessen Rechtsnormen ermöglichen nämlich hoch artifizielle Gemeinschaften von gleichen und freien Rechtsgenossen; deren Zusammenhalt beruht gleichermaßen auf der Androhung von Sanktionen wie auf der Unterstellung eines rational motivierten Einverständnisses. Sprache wird im Begriff des kommunikativen Handelns als ein universales Medium der Verkörperung von Vernunft begriffen. Mit ihrem verständigungsorientierten Gebrauch erfüllt sie die (illokutionäre) Funktion der Handlungskoordinierung. Durch diese theoretische Sicht zieht die Spannung zwischen Faktizität und Geltung in den Modus der Handlungskoordinierung ein und stellt somit hohe Anforderungen an die Aufrechterhaltung sozialer Ordnungen: "Lebenswelt, naturwüchsige Institutionen und Recht müssen die Instabilitäten einer Vergesellschaftung auffangen, die sich über die Ja-/Nein- Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen vollzieht" (ebd.: 23).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.1.2
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4 Bibliographie
verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Bourdieu, Pierre
1979. Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der Kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
1983. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
1987. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
1992. Homo academicus. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
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1997. Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Hunamität in der Anthropologie. Freiburg: Alber.
Derrida, Jacques
1991. Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität". Frankfurt/Main: Suhrkamp.
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1985. Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1 u 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
1992. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
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1985. Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas
1992. Beobachtungen der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag
Schäffter, Ortfried
1991. Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, 7–28. In: Ortfried Schäffter (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: Westdeutscher Verlag.