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Vorheriges Kapitel: 3 Themenbereiche

3.1 Religion

verfasst von Elke Mader

Abbildung: Symbol des Yoruba-Gottes Legba (Haiti), Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:VeveLegba.png)


Die Kultur- und Sozialanthropologie beschäftigt sich mit der Vielfalt von Glaubensvorstellungen und spirituellen Praktiken, mit deren kulturellen Kontexten und Verflechtungen sowie deren Dynamiken innerhalb globaler Zusammenhänge[1] (vgl. auch Schmidt 2008). Neben der Untersuchung von unterschiedlichen Dimensionen religiöser Phänomene und ihren Verflechtungen mit Ritualen[2] und Mythen[3] gilt besondere Aufmerksamkeit den Zusammenhängen mit anderen Aspekten der Gesellschaft: So ist Religion auf vielfältige Weise mit sozialen Beziehungen, politischen und ökonomischen Prozessen, Wertvorstellungen, Moral und Ethik, oder Konzepten von Gesundheit und Krankheit verflochten. Die verschiedenen theoretischen Perspektiven in diesem Themenfeld sind wiederum eng mit der Geschichte der Kultur-und Sozialanthropologie verbunden (vgl. u.a. Bowie 2000, Morris 1987, Schmidt 2008, Kremser und Futterknecht[4]).

Die Vielfalt der Religionen als Forschungsgegenstand der Kultur- und Sozialanthropologie umfasst folgende Themen:

  • lokale und regionale Religionen
  • transregionale religiöse Prinzipien und Weltbilder
  • Varianten und spezifische lokale Praktiken im Kontext von Weltreligionen
  • Prozesse der Verbreitung und Veränderung von religiösen Gefügen
  • neue religiöse Bewegungen
  • verschiedene Formen von Synkretismus und interreligiösen Beziehungen
  • das Spektrum religiöser Kultur in einer Gesellschaft
  • religiöse Diversität[5] in transnationalen Kontexten

Inhalt



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6
[2] Siehe Kapitel 3.2
[3] Siehe Kapitel 3.7
[4] Siehe die Lernunterlage Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung - Das Spektrum der Religionen [5] Siehe Kapitel 1.2.1


3.1.1 Religion und Ritual

Foto: Brautpaar und Priester bei einer Hochzeitszeremonie, Andhra Pradesh, Indien, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/natarajam/3240239504/in/photostream/)

Religionen zeichnen sich in der Regel durch ihre ausgeprägte performative Ritual-Praxisaus. Dabei unterscheiden sich jedoch religiöse Rituale[1] von nicht religiösen dadurch, dass erstere meist im Kontext metaphysischer Vorstellungen stattfinden, also in Zusammenhang mit einem Glauben an die Existenz von (einem oder mehreren) spirituellen Wesen, Gottheiten, Geistern oder ähnlichen Entitäten. Beispielsweise sogenannte Übergangsrituale[2] (rites de passage) sind häufig auch religiös definiert: Sie begleiten Menschen beim Übertritt von einem sozial definierten Kontext in einen anderen und binden sie auf diese Weise in den verschiedenen Stadien eines Lebens immer wieder in religiöse Kontexte ein (z.B. Taufe, Firmung, Hochzeit etc.).

Rituale stehen auch immer in Zusammenhang mit bestimmten Wertvorstellungen und Normen sowie mit dem Menschenbild bzw. dem Konzept der Person. Die Person wird in jedem religiösen Zusammenhang spezifisch definiert - etwa hinsichtlich ihrer ontologischen Komponenten wie z.B. Körper, Seele, Geist, Energie usw. Solche Menschenbilder hängen darüber hinaus mit religiösen Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit zusammen. Religiöse Rituale reichen in diesem Sinne von per Trance[3] herbeigeführten Loslösungen der Seele vom Körper bis hin zur rituellen und spirituellen Heilung[4] von Krankheiten. Weiters sind religiöse Rituale in Natur[5], Jahreszyklus und (land)wirschaftliche Tätigkeiten eingebunden, z.B. als kalendarische Rituale[6], Agrarrituale oder Tauschrituale im Sinne von Catherine Bell[7] (1997). Solche Rituale spiegeln auch die Verwobenheit religiöser Strukturen mit ökonomischen Zusammenhängen[8] wider, die sich teilweise gar darin manifestiert, dass religiöse Institutionen des Öfteren als einflussreiche ökonomische und politische Akteure auftreten.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.2.2
[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[3] Siehe Kapitel 3.1.5.1
[4] Siehe Kapitel 3.1.5
[5] Siehe Kapitel 3.5
[6] Siehe Kapitel 3.2
[7] http://en.wikipedia.org/wiki/Catherine_Bell_%28religious_studies_scholar%29
[8] Siehe Kapitel 3.6


3.1.2 Religion und Gesellschaft

Die Heilige Jungfrau von Guadalupe als Symbol mexikanischer Identität in transnationalen Gemeinschaften in den USA. Foto: "La Virgen", Chicano Park, San Diego (1978), Quelle: [sandiegofreepress.org](http://sandiegofreepress.org/2012/12/la-virgen-de-guadalupe-among-us/virgin-chicano-park-july-2011/)

Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft aus der Perspektive der Kultur- und Sozialanthropologie umfasst eine große Bandbreite von Themen, Fragestellungen und theoretischen Zugängen.

Thomas Hylland Eriksen[1] betont die Wechselwirkungen zwischen religiösen Praktiken und sozialer Organisation, etwa in Zusammenhang mit der Ahnenverehrung (Eriksen 2010: 225ff.). So konstruieren zum Beispiel viele westafrikanische Religionen eine Kontinuität von Verwandtschaftsgruppen und Individuen über die Lebenszeit hinaus, wodurch sowohl eine Kontinuität von Wissen und Macht als auch eine hohe Stabilität sozialer Gruppen etabliert wird. Solche fließenden Übergänge zwischen Lebenden und Toten werden im Ritual[2] durch spirituelle Interaktionen verkörpert, bei denen die Ahnen mit den Lebenden kommunizieren.

Wichtige Themen in Hinblick auf die Wechselwirkungen von Religion und Gesellschaft umfassen auch das Verhältnis von Religion/Missionierung und Kolonialismus (zu Mission und Kolonialismus in Lateinamerika vgl. Mader[3]) oder die Zusammenhänge zwischen Religionen, Migration und Identität (vgl. Schmidt 2008: 161-196).


Verweise:
[1] http://hyllanderiksen.net/
[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[3] Siehe Kapitel 1 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


3.1.2.1 Émile Durkheim



Émile Durkheim[1] ist einer der Begründer der Soziologie sowie der Sozialanthropologie. In seiner Beschäftigung mit dem Stellenwert von Religion in sozialen Gefügen verglich er unterschiedliche Religionen in verschiedenen Gesellschaften[2]. Auf Grundlage dieser Untersuchungen entwickelte er die These, dass in den verschiedenen Gesellschaften Gott im Grunde jene Instanz darstellt, die die soziale Gruppe bzw. die Gesellschaft repräsentiert. In diesem Sinne seien es auch de facto die sozialen Beziehungen, die hier verehrt werden. Durkheim (1912/2007) zufolge sind die kollektiven religiösen Repräsentationen außerdem wesentlich für die Generierung von Gemeinsamkeit ("Solidarität") in sozialen Gefügen.

Religion ist also nicht vom gesellschaftlichen Leben abgetrennt, keine reine spirituelle Praxis, sie muss vielmehr als integraler Bestandteil sozialer Beziehungen, als eine eminent soziale Angelegenheit untersucht werden. Aus diesem theoretischen Zugang Durkheims[3] entwickelte sich eine Fülle verschiedener Fragestellungen rund um den Zusammenhang von Religion und Individuum, Familie oder Gemeinschaft, mit denen sich die Kultur- und Sozialanthropologie sowie die Religionssoziologie seither beschäftigen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 4.1.1 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89mile_Durkheim


3.1.2.2 Religion, Gesellschaft und Politik


Foto: Der Potala-Palast in Lhasa, Tibet, Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Potala.jpg)


Religiöse Institutionen und Praktiken stehen in enger Verbindung mit politischen und sozialen Organisationsformen.

Dies betrifft zum einen die Verflechtungen von Religion und Herrschaft: Während spirituelle und soziale Funktionen bzw. Ämter häufig voneinander getrennt sind, kommt bzw. kam es in diversen kulturellen und historischen Kontexten auch zu einer weitgehenden Verschränkung von religiöser und politischer Macht. Beispiele dafür reichen u.a. von den katholischen Erzbischöfen in Mitteleuropa, den Inka- Herrschern im Andenraum[1], westafrikanischen "Gottkönigen", dem Dalai Lama in Tibet bis zu Schamanen[2] in kleineren gesellschaftlichen Gefügen.

Zum anderen weist die Organisation religiöser Institutionen in vielen Fällen Parallelen zu gesellschaftlichen Strukturen auf. Die Verhältnisse des größeren sozialen Umfelds - etwa in Bezug auf Hierarchie und Egalität oder auch Genderbeziehungen - finden sich dort oft in ähnlicher Weise wieder. In gewissen Fällen können religiöse Gruppen jedoch auch konträre soziale Prinzipien verkörpern (z.B. egalitäre Prinzipien im Rahmen stark hierarchisierter soziopolitischer Gefüge). Schließlich existieren innerhalb großer Religionen (etwa im Buddhismus oder im Christentum) auch unterschiedliche Organisationsformen.

Die verschiedenen Religionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer sozialen Organisation auch in Bezug auf ihre Kompetenzverfügung, die entweder auf Individuen oder aber auf Gemeinschaftskollektive ausgerichtet sein kann. In bestimmten religiösen Kontexten sind es vor allem Gruppen und Institutionen, die agieren und wirken, in anderen jedoch sind es individuelle AkteurInnen, z.B. im Schamanismus. Hierarchische Strukturen in Religionen beruhen prinzipiell auf zwei grundlegenden Prinzipien: Sie reflektieren (mit den bereits erwähnten Ausnahmen) die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft[3] und sie basieren auf geistiger oder spiritueller Kompetenz.

Das Verhältnis von Religion zu Gesellschaft manifestiert sich z.B. in Tibet auf unterschiedlichen Ebenen. Über viele Jahrhunderte - und jedenfalls bis zur chinesischen Besetzung und der darauffolgenden Flucht des Dalai Lama[4] in den 1950er Jahren - bestand hier eine besondere Nähe bzw. ein fließender Übergang zwischen religiösen und politischen Institutionen. In der über lange Zeit bestehenden feudalen Organisation des tibetischen Staates kam den Klöstern als Teil der Grundherrschaft eine wesentliche ökonomische und politische Funktion zu. Der Dalai Lama stand an der Spitze der religiösen Hierarchie und war gleichzeitig politisches Oberhaupt. Erst Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama zog sich 2011 aus seinen politischen Ämtern zurück.

Ein anderer Aspekt der Verwobenheit von Religion und Gesellschaft in Tibet[5] war/ist das das weit verbreitete Klosterwesen, das einen wesentlichen Aspekt der tibetischen Gesellschaft darstellt. Aus fast jeder Familie lebt mindestens ein junger Mann, in manchen Fällen auch eine Frau, in klösterlichen Einrichtungen. Die Klöster werden ökonomisch von der lokalen Bevölkerung unterstützt, diese sind wiederum für verschiedene dörfliche Rituale zuständig. So bestehen besonders enge Vernetzungen zwischen dem familiären bzw. dem dörflichen Verbund und den religiösen Institutionen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.5 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[2] Siehe Kapitel 3.1.5
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Dalai_Lama
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Tibet


3.1.2.3 Religion und Konflikt



In Zusammenhang mit Religion und religiöser Zugehörigkeit ereignen sich immer wieder Konflikte, die nicht selten gewaltsam ausgetragen werden. Wenngleich viele Glaubensrichtungen (z.B. Buddhismus[1], Christentum[2], Islam[3]) generell eine ablehnende Haltung gegenüber Gewalt vertreten, bildet Religion doch oft Teil eines Gefüges von multiplen Komponenten von Konflikten: Das Verhältnis von Konflikt, Gewalt und Religion ist dabei mit diversen historischen und kulturellen Gegebenheiten sowie mit politischen und sozialen[4] Bedingungen vernetzt.

Da Religion u.a. als spezifischer Ausdruck von Identität und Differenz fungiert, wird das Verhältnis zu anderen Personen und Gruppen auch über Religion definiert. Solche Grenzen werden entlang der Bestimmungslinien von Eigenem und Anderem gezogen und können zu Prozessen von "othering" und gewaltsamen Auseinandersetzungen oder Kriegen führen. Diese Kontroversen gehen Hand in Hand mit Konflikten um Macht, Territorien und Ressourcen (vgl. u.a. Kolonialismus[5], Neokolonialismus[6]).

Dabei werden religiöse Dogmen, die Anspruch auf die ausschließliche Wahrheit und Rechtmäßigkeit eines Glaubens erheben, immer wieder zu Wirkfaktoren im Rahmen von Intoleranz, Ausgrenzung und Abwertung. Nicht nur die religiöse Praxis der "Heiden", "Ketzer" oder "Ungläubigen" wird verteufelt, sondern damit verbunden auch ihr Wertsystems, ihre gesamte Lebensführung bzw. ihre kulturellen Praktiken. Solche Diskurse wurden und werden sowohl von kleineren extremistischen Verbänden als auch von dominanten gesellschaftlichen Gruppierungen zur Rechtfertigung von Konflikt und Gewalt verwendet.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Buddhismus
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Christentum
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Islam
[4] Siehe Kapitel 1.1.9
[5] Siehe Kapitel 3.3
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Neokolonialismus


3.1.3 Religion als kulturelles Symbolsystem

Foto: Ritual in einem balinesischen Tempel, Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kunigan2.JPG)

Clifford Geertz[1] (2003) untersuchte religiöse (wie auch allgemein kulturelle) Symbolsysteme mittels "dichter Beschreibung"[2], die er als zentrale Methode des ethnographischen Prozesses[3] verstand. Dichte Beschreibung umfasst dabei die intensive Beobachtung, detaillierte Dokumentation und schließlich umfassende Beschreibung kultureller Praktiken, deren Prozess wie auch Produkt laut Geertz stets Interpretation - also Deutung - ist.

Clifford Geertz[4] ist ein wichtiger Vertreter der interpretativen bzw. symbolischen Anthropologie. Ein wesentlicher Bestandteil seiner theoretischen Konzepte ist ein Verständnis von Kultur[5] als System von Bedeutungen. Ziel der anthropologischen Arbeit sei es demnach, sich in andere Kulturen hineinzuversetzen, das andere Bedeutungssystem zu erlernen, es zu verstehen und zu interpretieren. Religion steht im Mittelpunkt vieler seiner Arbeiten - allen voran seiner Arbeiten zur balinesischen Ausprägung des Hinduismus[6], die auf vielfältige Weise in diverse Alltagspraktiken der balinesischen Gesellschaft einfließt.

Geertz' Zugang zu Religion erinnert entfernt an Durkheims[7] These, dass das Religiöse bzw. das Göttliche mit dem Sozialen gleichzusetzen sei. Für Geertz steht zwar das Kulturelle[8] im Gegensatz zum Sozialen[9] im Vordergrund seiner Überlegungen, jedoch spielt Religion dabei eine fast ebenso zentrale Rolle wie bei Durkheim, weil sie aus Geertz' Perspektive einen wesentlichen Teil des kulturellen Bedeutungssystems ausmacht. Zudem verstanden sowohl Durkheim die Gesellschaft als auch Geertz die Kultur gleichermaßen als dynamische Systeme, die sich stetig verändern, die unterschiedlichen Interpretationen unterliegen und immer mit Handlungen sowie mit sozialen Beziehungen verknüpft sind.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.7
[2] Siehe Kapitel 5.3 der Lernunterlage Einführung in die Empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 5.2 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Clifford_Geertz
[5] Siehe Kapitel 1.1.4
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Hinduismus
[7] Siehe Kapitel 3.1.2.1
[8] Siehe Kapitel 1.1.8
[9] Siehe Kapitel 1.1.9


3.1.4 Religion und Weltbild

Abbildung: Gemälde von Aborigines (Australien), das verschiedene Aspekte eines totemistischen Weltbilds reflektiert, Quelle: [elisasjourney.com](http://www.elisasjourneys.com/AustraliaPhotos.htm)

Der Begriff des "Weltbilds" baut in gewisser Weise eine Brücke zwischen den Konzepten Durkheims[1] (1912/2007) und jenen von Geertz[2] (2003). Während Durkheim in Zusammenhang mit Religion von kollektiven Vorstellungen oder Repräsentationen sprach, verstand Geertz Religion als Teil kultureller Bedeutungssysteme. Beides, Vorstellung und Bedeutung, spielt eine Rolle im Begriff des Weltbilds.

Weltbilder können als eine Matrix für Bedeutungsstrukturen, in die verschiedene kulturelle Praktiken eingebettet sind, verstanden werden. Philippe Descola[3] (2005/2011) untersucht Weltbilder im Sinne von Ontologien als Strukturierungsmodalitäten der Welterfahrung, die unterschiedliche Formen von Identifikation und Beziehung zwischen Mensch und Natur[4] zum Ausdruck bringen.

Die diversen Facetten des Begriffs "Weltbild" erfahren je nach theoretischer Perspektive unterschiedliche Gewichtung.

  • So begreifen zum Beispiel jene AnthropologInnen, die sich vor allem mit sprachlichen Symbolen beschäftigen, Weltbilder auf allgemeiner und abstrakter Ebene als Kultur an sich bzw. als eine Art Metasprache, in der Bedeutung konstruiert und repräsentiert wird.
  • Konkretere Aspekte werden in jenen anthropologischen Arbeiten herangezogen, die Weltbild als Kosmologie, etwa im Sinne einer spirituellen Geographie, begreifen. Dabei geht es um die Frage, wie sich Menschen in diversen kulturellen und/oder religiösen Konfigurationen die Welt vorstellen, also wie verschiedene "imagines mundi" gestaltet sind.
  • Ein weiteres Untersuchungsfeld betrifft Weltbilder als ideologische Gefüge im Sinne eines Ideen- und Wertsystems, das im Kontext der sozialen Beziehungen analysiert wird (Dumont 1966/1976: 56ff.). In diesem Gefüge nimmt die Theorie der Person als Ausdruck eines kulturspezifischen Weltbilds einen wichtigen Platz ein: Sie manifestiert sich u.a. in religiösen Praktiken, Mythen[5] oder Ritualen[6] und ist aufs engste mit der Konstruktion von Status und der Dynamik der sozialen Beziehungen verbunden.



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 3.1.3
[3] Siehe Kapitel 3.5.4.1
[4] Siehe Kapitel 3.5
[5] Siehe Kapitel 3.7
[6] Siehe Kapitel 3.2


3.1.5 Religion und spirituelle Erfahrung: Fallbeispiel Schamanismus

Ein Forschungsfeld der Religionsanthropologie beschäftigt sich mit verschiedenen Dimensionen religiöser bzw. spiritueller Erfahrungen. Die Verbindung mit Göttern oder Geistern (etwa im Rahmen von Vereinigungsritualen[1]) umfasst spirituelle Erlebnisse und teilweise erweiterte Bewusstseinszustände von SpezialistInnen sowie Praktizierenden. Diese Aspekte von religiösen und rituellen Praktiken bilden eine Schnittstelle zu Bewusstseinsforschung[2], Psychologie und Medizin. Sie wurden besonders intensiv in Hinblick auf den Schamanismus untersucht.

Das Wort "Schamane" stammt aus Sibirien[3] und bezeichnet heute in Wissenschaft und Alltagssprache ein breites Spektrum von Personen, die mit Hilfe von Ritualen und spirituellen Kräften auf verschiedene Lebensbereiche, auf Mensch, Natur und Übernatürliches einwirken. Schamanismus ist keine einheitliche Religion, sondern eine kulturübergreifende Form spiritueller Wahrnehmung und Praxis (vgl. u.a. Vitebsky 1998).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.2
[2] Siehe die Lernunterlage Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung - Das Spektrum der Religionen [3] http://de.wikipedia.org/wiki/Sibirien


3.1.5.1 Schamanismus und "Ekstasetechnik"



Den Grundstein für viele Studien der kultur- und sozialanthropologischen Schamanismusforschung legte der rumänische Religionshistoriker Mircea Eliade[1] mit seinem Buch Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (1951/2006). Schamanismus ist für Eliade nicht an bestimmte historische, gesellschaftliche oder geographische Kontexte gebunden sondern bildet ein transhistorisches und transkulturelles Phänomen. Unter den Begriff der "Ekstasetechnik" fällt u.a. die schamanische Trance, die durch verschiedene Techniken wie Trommeln, Gesang, Tanz oder psychoaktive Substanzen herbeigeführt wird. Während solche Bewusstseinszustände früher oft der Psychopathologie zugerechnet wurden - SchamanInnen galten als verrückt - spricht man heute von einer spezifischen schamanischen Kognition bzw. von einer schamanischen Wirklichkeit (vgl. Vitebsky 1998).

Schamanische Bewusstseinszustände werden freiwillig herbeigeführt, sind zeitlich begrenzt und dienen u.a. der Heilung, der Erkenntnis, dem spirituellen Wachstum und verschiedenen Aspekten von Berufung und Ausbildung. Die SchamanInnen stellen solche Bewusstseinszustände entweder für sich alleine her oder beziehen ihre PatientInnen bzw. KlientInnen in diese Form der Wahrnehmung und des Erlebens mit ein.

Die schamanische Kognition ist aufs engste mit dem schamanischen Weltbild verbunden und erstreckt sich auf verschiedene Dimensionen der Welt. SchamanInnen müssen mehr bzw. weiter sehen und eine komplexere Realität wahrnehmen, als es für das Alltagshandeln erforderlich ist. Sie nehmen die spirituellen Aspekte der verschiedenen Wesen und Naturerscheinungen wahr und können mit der geistigen Welt bzw. der Welt der Geister kommunizieren und interagieren.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Mircea_Eliade


3.1.5.2 Schamanismus, Weltbild und interreligiöse Beziehungen



Spirituelle Erfahrungen im Schamanismus sind mit spezifischen Weltbildern verflochten, die sowohl eine Kosmologie und als auch eine entsprechende Theorie der Person zum Ausdruck bringen. Schamanische Weltbilder sind oft animistisch oder totemistisch geprägt und beziehen sich auf Form und Ordnung des Kosmos. Dieser wird als ein vielschichtiger Weltenraum verstanden, dessen Ebenen oder Zonen von unterschiedlichen Wesenheiten bevölkert werden, die alle spirituelle Qualitäten aufweisen: Das gilt für Tiere, Pflanzen, Menschen, göttliche Gestalten und Geister.

Schamanische Praktiken sind keineswegs statisch, sondern werden immer wieder an neue Konditionen angepasst. Ein Beispiel für die Vielfalt und Aktualität schamanischer Praktiken ist Tuva in Zentralsibirien (vgl. "Die Klinik der Schamanen"[1] GEO 360, Ute Gebhardt 2005) an der Grenze zur Mongolei. Nachdem SchamanInnen und ihre Praktiken in Sibirien zur Zeit der Sowjetunion ausgegrenzt waren und teilweise verfolgt wurden, haben sie - nicht nur in Tuva - mittlerweile einen neuen Stellenwert und hohe Wertschätzung erlangt, wobei einerseits alte Traditionen revitalisiert und andererseits neue Aktionsfelder eröffnet wurden.

Schamanismus wird meist mit und neben anderen Religionen praktiziert. So bestehen vielfältige Typen von interreligiösen Beziehungen zwischen schamanischen Praktiken und anderen religiösen Gefügen. Die Beziehungen und Interaktionen können durch Vermischung oder Abgrenzung geprägt sein und umfassen verschiedene Formen von Parallelismus (zwei oder mehrere Religionen werden von einer Person gleichzeitig praktiziert) und Synkretismus (Elemente aus verschiedenen Religionen vermischen sich). Beispiele für Synkretismus sind unter anderem das Verhältnis von Schamanismus und Buddhismus in Tuva, der Mongolei und Tibet (z.B. im Rahmen der Bön-Religion[2]) sowie die Verbindungen von Schamanismus und Islam in Zentralasien oder im Iran[3].

Transkulturelle Interaktionen im Zuge der Globalisierung[4] manifestieren sich auch im Rahmen eines spirituellen Tourismus, der viele Parallelen zur Pilgerfahrt aufweist (vgl. Mader 2002). Dabei überschneiden sich religiöse bzw. spirituelle Anliegen mit der Suche nach Gesundheit bzw. Wellness sowie touristischen Erlebniswelten.

Zur Dynamik des Schamanismus in verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten vgl. u.a. Hoppal[5] 1996, Van Bussel und Steinmann 1998. Für weitere Ausführungen zum Schamanismus (in Lateinamerika) siehe beispielsweise das Kapitel von Mader zu Kognition und Bewusstsein[6] in der Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas[7].


Verweise:
[1] http://www.youtube.com/watch?v=5pIOfhyVi_g
[2] Siehe Kapitel 2.1 der Lernunterlage Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung - Das Spektrum der Religionen
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Iran
[4] Siehe Kapitel 3.4
[5] http://www.folklore.ee/folklore/vol2/hoppal.htm
[6] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-610.html
[7] Siehe die Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung

3.1.6 Religionen im Internet

Abbildung: Digitale Darstellung des Gottes Vishnu, Quelle: [hdwpapers.com](http://www.hdwpapers.com/lord_vishnu_wallpaper_hd_3-wallpapers.html)

Eine Schnittstelle zwischen kultur- und sozialanthropologischer Religionsforschung und Medienanthropologie[1] bilden Studien zur Repräsentation, Zirkulation und Praxis religiöser Traditionen im Internet[2]. Die neuen bzw. erweiterten Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion durch digitale Medien und das WWW werden von religiösen Gemeinschaften intensiv genutzt.

Religiöse Praktiken im Internet implizieren oft einen Ritualtransfer[3]. Sie ermöglichen virtuelle Pilgerfahrten zu heiligen Orten (z.B. Islam oder Hinduismus), die Interaktion mit sakralen Bildnissen und Gottheiten (z.B. Hinduismus), das Praktizieren meditativer Übungen und die spirituelle Ermächtigung durch Unterweisungen (z.B. Buddhismus), die virtuelle Durchführung von Opferritualen (z.B. Vodun oder Hinduismus), die Teilnahme an Messen und anderen Aktivitäten diverser religiöser Gemeinschaften - u.a. in der virtuellen Welt "Second Life"[4] (z.B. Christentum oder Islam). Virtueller hinduistischer Segen (Shiva darshan) auf Youtube[5].

Für Beispiele zu digitalen religiösen Praktiken vgl. u.a. Online - Heidelberg Journal of Religions on the Internet[6] oder Cyber-Orient. Online Journal of the Virtual Middle East[7].


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.8
[2] Siehe Kapitel 3.8.6
[3] Siehe Kapitel 3.2.1.4
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Second_Life
[5] http://www.youtube.com/watch?v=XYfDallujq8
[6] http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/ojs/index.php/religions/index
[7] http://www.cyberorient.net/


3.1.6.1 Afrikas Digitale Diaspora Religionen


Abbildung: Darstellung von Orixas im Internet, Quelle: [triangulodafraternidade.com](http://www.triangulodafraternidade.com/2011/03/um-estudo-sobre-os-orixas-na-umbanda.html)


Einer der Pioniere der kultur- und sozialanthropologischen Analyse von Religionen im Internet war Manfred Kremser[1]. Seine Studien thematisieren in erster Linie die Verflechtungen von Diaspora und Postkolonialismus mit Religion und Medien: Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen stehen die westafrikanischen Religionen der Yorùbá und der Fõ, die darüber hinaus viele neue Religionen in Afroamerika hervorbrachten, die heute auch "Orisha/Vodou - Komplex" genannt werden. Diese afrikanischen Diaspora Religionen[2] umfassen eine Vielzahl religiöser Traditionen in den Amerikas, deren unverwechselbare Spiritualität ihre Wurzeln in Afrika hat. So können z.B. viele spezifische Formen der religiösen Kultur durch komplexe Prozesse von Kontinuität, Diskontinuität, Synkretismen, Reinterpretationen, etc. eindeutig mit Afrika in Verbindung gebracht werden - obwohl die ebenso massiv vorhandenen Einflüsse der abendländisch- christlichen Kulturen, bedingt durch ihre öffentliche Dominanz, oft die Sicht darauf verstellen mögen.

Eine besondere Dimension dieses religiösen Komplexes stellen Afrikas Digitale Diaspora Religionen[3] dar. Durch die Entwicklung des Internets bzw. des Cyberspace hat auch das Studium von und die Beschäftigung mit traditionellen afrikanischen Religionen und vor allem mit ihren Derivaten in der afrikanischen Diaspora eine neue Dimension dazu gewonnen. Die Bezeichnung "Afrikas Digitale Diaspora" verweist auf die afrikanische Besiedlung des Cyberspace[4] und die damit einhergehenden neuen Kulturentwicklungen (vgl. Kremser 2003).


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Manfred_Kremser
[2] Siehe Kapitel 5.2 der Lernunterlage Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung - Das Spektrum der Religionen
[3] Siehe Kapitel 5.3 der Lernunterlage Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung - Das Spektrum der Religionen
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Cyberspace

3.1.7 Literatur


Bell, Catherine 1997: Ritual. Perspectives and Dimensions. Oxford und New York: Oxford University Press

Bowie, Fiona 2000: The Anthropology of Religion. Oxford: Blackwell.

Descola, Philippe 2005/2011: Jenseits von Kultur und Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Dumont, Louis 1966/1976: Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens. (Homo Hierarchicus). Wien: Europaverlag.

Durkheim, Émile 1912/2007: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Verlag der Weltreligionen.

Eliade, Mircea 1951/2006: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Eriksen, Thomas H. 2010: Small Places, Large Issues. An Introduction to Social and Cultural Anthropology. New York: Pluto Press.

Geertz, Clifford 2003: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hoppal, Mihaly 1996: Shamanism in a Postmodern Age.[1] In: Folklore, Vol.2. [Zugriff: 14.04.2013]

Kremser, Manfred 2003: Afrikas Digitale Diaspora Religionen: Das Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace. In Werner Zips (Hg.): Afrikanische Diaspora: Out of Africa - Into New Worlds. Münster, Hamburg und London: Lit Verlag: 447-456.

Kremser, Manfred und Veronica Futterknecht: Einführung in die Religion- und Bewusstseinsforschung. Das Spektrum der Religionen.[2] [Zugriff: 16.04.2013]

Mader, Elke 2002: Reisende zwischen den Welten. Schamanismus und Globalisierung in Lateinamerika. In: Karin Gabbert et.al. (Hg.): Religion und Macht. Jahrbuch Lateinamerika Analysen Berichte 26. Münster: Westfälisches Dampfboot: 69-86.

Mader, Elke: Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung.[3] [Zugriff: 16.04.2013]

Morris, Brian 1987: Anthropological Studies of Religion. An Introductory Text. Cambridge: Cambridge University Press.

Schmidt, Bettina 2008: Einführung in die Religionsethnologie: Ideen und Konzepte. Berlin: Reimer.

Van Bussel, Gerard W. und Axel Steinmann, (Hg.) 1998: Schamanismus und andere Welten. Ausstellungskatalog. Wien: Museum für Völkerkunde.

Vitebsky, Piers 1998: Schamanismus. München: Knaur.


Verweise:
[1] http://www.folklore.ee/folklore/vol2/hoppal.htm
[2] Siehe die Lernunterlage Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung - Das Spektrum der Religionen [3] Siehe die Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


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