Der Prozess der Datenerhebung/Prozess

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Vorheriges Kapitel: 5.1 Strategien der Datenerhebung

Contents

5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung

Verfasst von Ernst Halbmayer und Jana Salat

Eine ethnographische Untersuchung zielt in der Regel darauf ab, Menschen über einen längeren Zeitraum in ihrem alltäglichen Leben zu beforschen. Das heißt, der/die EthnographIn bzw. FeldforscherIn nimmt physisch mit der Gesamtheit seiner/ihrer Person über einen längeren Zeitraum an ausgewählten Lebenswelten teil, mit dem Ziel, Daten zu erheben und Beschreibungen anzufertigen, die als Grundlage für spätere Analysen dienen.

Ethnographische Feldforschung ist, wie andere sozialwissenschaftliche Verfahren (z.B. Fragenbogenerhebung, teilstrukturierte Interviews,...), eine Methode der Datenerhebung, die sich aber in zumindest zwei Bereichen grundlegend von anderen Verfahren unterscheidet. Diese ergeben sich daraus, dass Methoden nicht nur Verfahren der Datenerhebung sind, sondern auch Verfahren der In-Beziehung-Setzung zum Feld. Das heißt, Methoden legen bestimmte Formen der Interaktion mit dem Untersuchungsfeld nahe. Ethnographische Feldforschung zeichnet sich durch eine besonders intensive und langfristige, über die reine Datenerhebung hinausgehende In-Beziehung-Setzung zum Untersuchungsfeld aus. Dies ist ein zentrales Qualitätskriterium ethnographischer Forschung. Ethnographische Feldforschung ist somit nicht nur ein Verfahren der Datenerhebung, sondern vor allem auch ein Verfahren zur Generierung von Erfahrungen und Erlebnissen, welche den/die FeldforscherIn zunehmend zu einem Teil des Feldes machen.

Ein zentrales Moment des Feldforschungsprozesses besteht darin, diese Erfahrungen und Erlebnisse durch das systematische Anlegen und Ausarbeiten von Feldnotizen[1] in Daten zu transformieren. Im Gegensatz zu anderen Methoden determiniert bei der ethnographischen Feldforschung das Feld selbst in einem viel größeren Ausmaß den Einsatz und die Anwendbarkeit von Forschungsstrategien und Methoden.

Insgesamt bedarf ethnographische Feldforschung einer gezielten Vorbereitung[2], welche unter anderem den Erwerb von sachlichem[3] und regionalem Know-How[4] und sprachlich-kommunikativen Kompetenzen[5] umfasst. Am Beginn der Feldforschung steht die Herausforderung, einen Zugang zum Feld zu finden, die Definition der eigenen Rolle[6] in Auseinandersetzung mit dem Feld vorzunehmen und die Zusammenarbeit mit InformantInnen auf eine tragfähige Basis zu stellen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.4
[4] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.3
[5] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5
[6] Siehe Kapitel 5.1.1.2.1

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Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften

Verfasst von Marie-France Chevron, Regina Köpl, Andrea Payrhuber, Christoph Reinprecht
Logo Methodologie.gif

Vorliegende Lernunterlage dient zur Unterstützung der Vorlesung: "Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie" und wurde unter Mitarbeit von Philipp Budka und Katharina Mocharitsch erstellt. Veronika Haberler, Markus Hintermayer und Martin Schamberger wirkten ebenfalls an der Konzeption der Unterlage mit.

Im ersten Abschnitt der Unterlage werden methodologische Gegensatzpaare, die in der sozialwissenschaftlichen Methodologie relevant sind, erläutert. Der zweite Abschnitt bietet ein Glossar mit ausgewählten Einträgen zur empirischen Forschung in den Sozialwissenschaften. Anmerkung: Der/Die Hauptautor/in wird am Ende jeder Seite mit Namenskürzel angeführt; "et al." (kurz für "et alli" lat. für "und andere") verweist auf den Umstand, dass Texte gemeinsam diskutiert und überarbeitet wurden.

Kapitelübersicht

1. Methodologische Gegensatzpaare

1.1 verstehen vs. erklären
1.1.1 Geschichtliche Entwicklung
1.1.2 Sozialwissenschaft im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften
1.1.3 erklären
1.1.3.1 Methode des Erklärens
1.1.4 verstehen
1.1.4.1 Methode des Verstehens
1.1.4.2 Bedeutung der verstehenden Methode
1.2 idiographisch vs. nomothetisch
1.2.1 idiographisch
1.2.2 nomothetisch
1.3 induktiv vs. deduktiv
1.3.1 induktiv
1.3.2 deduktiv
1.3.3 induktive und deduktive Verfahren in der Praxis der Sozialwissenschaften
1.4 qualitativ vs. quantitativ
1.4.1 qualitativ
1.4.1.1 Kennzeichen qualitativer Forschungslogik
1.4.2 quantitativ
1.4.2.1 Kennzeichen quantitativer Forschungslogik

2. Glossar

2.1 Empirie
2.2 Erkenntnistheorie
2.3 Ethnographie
2.4 Experiment
2.5 Falsifikation
2.6 Gütekriterien empririscher Forschung
2.7 Hypothese
2.8 Indikator
2.9 Inter und Transdisziplinarität
2.10 Kategorisierung und Klassifizierung
2.11 Kausalität
2.11.1 Beispiele für Kausalität
2.11.2 Fehlinterpretation bei Kausalität
2.12 Korrelation
2.12.1 Beispiele für Korrelationen
2.12.2 Fehlinterpretation bei Korrelationen
2.13 Methoden
2.14 Methodologie
2.14.1 Methodologische Überlegungen
2.14.2 Beispiel für methodologische Überlegungen Arbeitslosigkeit
2.14.2.1 Beispiel quantitativ
2.14.2.2 Beispiel qualitativ
2.15 Objektivität
2.16 Panel Studie
2.17 Sozialwissenschaft
2.18 Soziogramm
2.19 Soziographie
2.20 Stichprobe
2.21 Subjektivität
2.22 Theorie
2.23 Variable
2.24 Vergleich
2.25 Wissenschaftstheorie


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1. Methodologische Gegensatzpaare

In den Sozialwissenschaften haben sich unterschiedliche Weltsichten oder wissenschaftliche Paradigmen entwickelt, die an wissenschaftliche Fragestellungen auf jeweils spezifische Weise heran treten.

graphicAbbildung: Verschiedene Häuser, Quelle: E. Falkensteiner

Auf der einen Seite gibt es Schulen und Ansätze, die nomothetisch[1] ausgerichtet sind und deren Ziel es ist, soziale Phänomene zu erklären[2]. Im Vordergrund steht die Überprüfung von (theoretisch abgeleiteten) Hypothesen, was als deduktives Vorgehen[3] bezeichnet wird. Dazu werden vor allem quantitative[4] Daten genutzt.

Auf der anderen Seite gibt es Schulen und Ansätze, die idiographisch[5] orientiert sind und die als vordergründiges Ziel, soziale Phänomene verstehen[6] wollen. Häufig wird von qualitativen[7] Daten eine Theorie abgeleitet, ein Vorgehen, das als induktiv[8] bezeichnet wird.

Diese unterschiedlichen wissenschaftlichen Forschungstraditionen und Begrifflichkeiten werden hier vorgestellt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.2
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] Siehe Kapitel 1.3.2
[4] Siehe Kapitel 1.4.2
[5] Siehe Kapitel 1.2.1
[6] Siehe Kapitel 1.1.4
[7] Siehe Kapitel 1.4.1
[8] Siehe Kapitel 1.3.1


Nächstes Kapitel: 1.1 verstehen vs. erklären


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1.1 verstehen vs. erklären

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die Gegenüberstellung von Verstehen[1] und Erklären[2] geht auf den Historiker Johann Gustav Droysen[3] (1808-1884) und den Philosophen Wilhelm Dilthey[4] (1833- 1911) zurück, die den Geisteswissenschaften einen von den Naturwissenschaften unabhängigen wissenschaftlichen Status zuschrieben. Mit dem Hinweis auf die Eigengesetzlichkeit des menschlichen (Geistes)Lebens begründete Dilthey die Notwendigkeit einer spezifischen Methode.

graphicAbbildung: Person erklärt mathematische Formel, Quelle: B. Rieger

Während die naturwissenschaftliche Arbeitsweise von der Existenz "objektiver"[5] Gesetzmäßigkeiten und Regeln ausgeht und nach einer Erklärung gesetzmäßiger Zusammenhänge von Ursache und Wirkung strebt, untersucht die verstehende Vorgangsweise die Sinnzusammenhänge, d.h. die Beweggründe und Bedeutungen menschlichen Handelns.

Abbildung: Person mit GlühbirneAbbildung: Person mit Glühbirne, Quelle: B. Rieger

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Gustav_Droysen
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Dilthey
[5] Siehe Kapitel 2.15


1.1.1 Geschichtliche Entwicklung

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

graphicFoto: Wilhelm Dilthey, Quelle: http://www.dhm.de, 2010

Die von Dilthey den Natur- und Geisteswissenschaften zugeschriebenen Arbeitsweisen gelten beide auch innerhalb der Sozialwissenschaften. Erklärende und nach Gesetzmäßigkeiten strebende (nomothetische[1]) Zugänge konkurrieren mit verstehenden bzw. deutenden (idiographischen[2]) Vorgangsweisen.

In der Geschichte der Wissenschaftstheorie finden sich mehrere Versuche, die methodologische Spaltung zwischen Verstehen und Erklären zu überwinden. Einflussreich war das Bemühen des Wiener Kreises[3] (1922- 1936) rund um Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Otto Neurath und andere um die Etablierung einer Einheitswissenschaft. Dieses Programm beruhte auf der Vorstellung einer Einheit von Wirklichkeit und der Einheit der Erkenntnis und gipfelte in der Forderung nach einem universalen theoretischen System von Basissätzen in einer vereinheitlichten physikalisch-mathematischen Formelsprache. Demnach sollten alle wissenschaftlichen Begriffe auf der Basis physikalischer Grundbegriffe wie z.B. Masse, Raum und Zeit definierbar sein, was sich jedoch rasch als undurchführbar erwies.

Auch spätere Bemühungen, etwa des kritischen Rationalismus von Karl Popper[4], um eine für alle Sozialwissenschaften verbindliche Erkenntnis- und Arbeitsweise, waren zum Scheitern verurteilt, da es nicht gelang, die unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Prämissen zu integrieren.

Eine Schlüsselfrage betrifft die Einschätzung der Beziehung zur sozialen Welt: Existiert diese, wie der kritische Rationalismus behauptet, unabhängig von unserem Wissen, oder ist das, was wir als soziale Welt zu beschreiben und erkennen meinen, nicht immer auch abhängig von unserem historisch geprägten Verständnis von sozialen Phänomenen. Das Argument, dass Wirklichkeit auch sozial konstruiert ist, rechtfertigt die Methode des Verstehens.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.2
[2] Siehe Kapitel 1.2.1
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper


1.1.2 Sozialwissenschaft im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die Frage der methodologischen Zuordnung an Geistes- oder Naturwissenschaften bildet bis in die Gegenwart eine Hauptauseinandersetzung in den Sozialwissenschaften[1], was auch in der Trennung von quantitativen[2] Methoden und qualitativen[3] Verfahren zum Ausdruck kommt.

In den heutigen Sozialwissenschaften werden Verstehen und Erklären zunehmend weniger als konkurrierende Paradigmen, sondern als unterschiedliche Versuche angenommen, sich soziale Wirklichkeit anzueignen. Für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis sind letztlich beide Vorgangsweisen von Bedeutung; sie bilden keine einander ausschließenden Alternativen.

Die verstehende Vorgangsweise[4] hat einen heuristischen, d.h. einen auffindenden, entdeckenden Wert. Sie trägt zur Exploration von Lebenswelten und Sinnkonstruktionen bei und ermöglicht die Interpretation und Illustration von statistisch gewonnenen Ergebnissen.

Die Methode der Erklärung[5] dient der Überprüfung von Hypothesen über Ursache- Wirkungs- Relationen, sie ermöglicht verallgemeinerbare und bis zu einem gewissen Grad auch prognostische Aussagen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.17
[2] Siehe Kapitel 1.4.2
[3] Siehe Kapitel 1.4.1
[4] Siehe Kapitel 1.1.4.1
[5] Siehe Kapitel 1.1.3.1


1.1.3 erklären

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die Sozialwissenschaften streben danach, beobachtbare Zusammenhänge nicht nur zu beschreiben, sondern auch in Hinblick auf mögliche Ursachen und Wirkungen zu analysieren und zu erklären. Der Anspruch des Erklärens beruht auf der Prämisse von sozialer Wirklichkeit als einem System von Gesetzmäßigkeiten, die als Ursache- Wirkungszusammenhänge beschreibbar sind und weitgehend unabhängig von subjektiven Sinnzusammenhängen existieren.

Die Prämisse des klassischen Erklärungsansatzes geht auf John Stuart Mill[1] (1806- 1873) zurück. Um von einer Erklärung sprechen zu können, müsse nach Mill eine Beziehung zwischen Wirkung und Ursache vorliegen und die Ursache der Wirkung zeitlich vorangehen. Andere Erklärungen und Schlüsse seien auszuschließen. Mill definiert Erklärung als einen kausalen Zusammenhang[2] von Ursache und Wirkung: als einen nicht umkehrbaren empirischen Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen. Voraussetzung ist eine Feststellung der unabhängigen (der einflussgebenden) und der abhängigen (beeinflussten) Variablen[3]. Durch gezielte Manipulation der unabhängigen Variablen, wie dies idealiter im Experiment[4] der Fall ist, kann die veränderte Wirkung auf die abhängige Variable gemessen werden. Der Wert von Kausalerklärungen liegt in ihrer Voraussagekraft, sie verlangen den Einsatz quantitativer[5] Methoden.

Neben kausalen Erklärungen existieren auch teleologische Erklärungen. Als teleologische Erklärung gilt der Versuch, etwas durch seinen Zweck zu erklären. Diese Form der Erklärung gilt jedoch als logisch nicht einwandfrei.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/John_Stuart_Mill
[2] Siehe Kapitel 2.11
[3] Siehe Kapitel 2.23
[4] Siehe Kapitel 2.4
[5] Siehe Kapitel 1.4.2


1.1.3.1 Methode des Erklärens


Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

graphicGrafik: Frau erklärt eine Kurve auf einer Tafel, Quelle: http://www.openclipart.org, 2010

Die Methode der Erklärung ist ein wesentlicher Bestandteil der nomothetisch[1] ausgerichteten Wissenschaften. Das Vorgehen ist deduktiv-nomologisch oder induktiv- statistisch.

Das deduktiv- nomologische Verfahren geht auf Überlegungen von Carl Gustav Hempel[2] ' und Paul Oppenheim[3] ' zurück und bildet die einzige logisch vollständige Art der Erklärung. Ein zu erklärendes Phänomen (z.B. sinkende Geburtenrate) wird aus allgemeinen Gesetzen (wenn der Wohlstand steigt, sinkt die Geburtenrate) und spezifischen Randbedingungen (in Land X steigt der Wohlstand) logisch abgeleitet.

Das zu erklärende Phänomen wird als "Explanandum", Gesetz und Randbedingung als "Explanans" bezeichnet. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass Hypothesen systematisch getestet und widerlegt (falsifiziert) werden können. Ein Argument in den Sozialwissenschaften gegen das deduktiv-nomologische Erklärungsmodell besteht darin, dass bei der Erklärung von Handlungen die erforderliche Unabhängigkeit von Ursache und Wirkung nicht gegeben ist: Intention und Verhalten sind bei der Beschreibung einer Handlung formal nicht trennbar.

graphicGrafik: Darstellung einer Normalverteilung, Quelle: http://commons.wikimedia.org, 2010

Da das Auftreten sozialer Phänomene aufgrund vielfach möglicher Einflussfaktoren jedoch niemals vollständig, sondern immer nur annäherungsweise mit Sicherheit bestimmbar ist, findet in den Sozialwissenschaften zumeist das induktiv- statistische bzw. probabilistische Modell Anwendung. In diesem Fall wird das Gesetz als wahrscheinliches Auftreten formuliert (wenn der Wohlstand steigt, sinkt mit n-prozentiger Wahrscheinlichkeit die Geburtenrate). Damit ist der behauptete Zusammenhang zwar nicht mehr falsifizierbar. Das Verfahren ermöglicht aber eine Rechtfertigung, warum gewisse Ereignisse zu erwarten sind bzw. waren. In der Forschungspraxis berücksichtigen die Erklärungsmodelle meist mehrere Einflussvariablen und deren Wechselwirkungen.

Kausale Zusammenhänge müssen klar von Korrelationen unterschieden werden. ' Korrelationen zeigen an, dass Phänomene gleichzeitig auftreten, Ursache und Wirkung sind jedoch nicht bestimmt. Korrelationen erlauben keine Aussage über die funktionale oder kausale Abhängigkeit der Variablen[4] ' voneinander.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.2
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gustav_Hempel
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Oppenheim
[4] Siehe Kapitel 2.23


1.1.4 verstehen

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die verstehende Arbeitsweise beruht auf einem komplexen und kreativen Prozess des Nacherlebens von Erleben und Verhalten, soziale Phänomene werden aus der Perspektive des subjektiven Handelns nachvollzogen, durch ein Sichhineinversetzen in eine Situation oder in einen Menschen, dessen spezifische und individuelle Merkmale, Äußerungen oder Werke.

graphicFoto: Buddha mit Fragezeichen, Quelle: http://commons.wikimedia.org, 2010

Im verstehenden Verfahren, so Dilthey, werde das Objekt der Erkenntnis als geistiges Objekt konstruiert und in seinem konkreten Zusammenhang aufgefasst. Im Gegensatz dazu sei ein Nacherleben der Natur nicht möglich, natürliche Vorgänge seien vielmehr auf der Grundlage von Annahmen zu beobachten und zu erklären.

Die Methode des Verstehens geht auf Wilhelm Dilthey[1] (1833-1911) zurück, der unter Verweis auf die Eigengesetzlichkeit des menschlichen (Geistes)Lebens für die Begründung einer spezifischen geisteswissenschaftlichen Methode plädierte, mit deren Hilfe die Handlungen der Menschen nachvollziehbar und interpretierbar werden. "Die Natur erklären wir", schreibt Dilthey, aber "das Seelenleben verstehen wir".

In den Sozialwissenschaften ist die verstehende Methode auch mit dem Namen Max Weber[2] (1864-1920) verbunden. Weber definiert die Soziologie als eine Handlungswissenschaft. Das Verstehen subjektiver Handlungen und der sich daraus formenden historischen Wirklichkeiten wird als primäres Erkenntnisziel definiert.

(siehe auch idiographisch[3], qualitativ[4], induktiv[5])

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Dilthey
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber
[3] Siehe Kapitel 1.2.1
[4] Siehe Kapitel 1.4.1
[5] Siehe Kapitel 1.3.1


1.1.4.1 Methode des Verstehens


Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die verstehende Methode bildet einen Bestandteil der idiographischen[1] Wissenschaften. Im Unterschied zu nomothetischen[2] Wissenschaften, welche Gesetzmäßigkeiten und kausale Zusammenhänge erklären[3] möchte, wird mittels Nacherleben und Sichhineinversetzen das Einzigartige und Eigentümliche von individuellen Handlungen, Äußerungen und Schöpfungen zu begreifen versucht.

graphicFoto: Nonverbale Kommunikation an einem Essensstand, S. Krupp, Quelle: http://commons.wikimedia.org, 2010

In der Forschungspraxis wird dazu auf qualitative[4] Verfahren wie (teilnehmende) Beobachtung und subjektives, aber regelgeleitetes Erschließen zurückgegriffen, welche die Bedeutung und den subjektiven Sinn von sozialen Handlungen und Interaktionen sichtbar und nachvollziehbar macht. Auch geht es darum, die kontextabhängigen Bedeutungszuweisungen (Weber spricht in diesem Zusammenhang von "gemeintem Sinn") situativ zu erfassen und mithilfe interpretativer Verfahren zu verstehen. Generalisierbare Aussagen sind auf dieser Grundlage nur durch weitere Untersuchungen möglich.

Der verstehende Ansatz knüpft an die Tradition der Hermeneutik an, die die Welt als eine sinnhafte und mit Symbolen ausgestattete Wirklichkeit begreift, in der der Mensch als kommunikationsfähiges Subjekt eingebunden ist. Aufgabe der Hermeneutik ist es, den in menschliche Handlungen und Schöpfungen eingegangen Sinn deutend herauszulesen. Verstehen bildet so gesehen eine grundlegende Voraussetzung für jede Kommunikation.

Da Forschungsvorhaben selbst immer auch einen Kommunikationsprozess darstellen, nehmen ForscherInnen niemals nur eine neutrale Beobachterrolle ein, sondern sind ein aktiver Teil eines umfassenden Interpretationsgeschehens. Sie beteiligen sich mit ihren Deutungen und Definitionen an der Konstruktion der untersuchten sozialen Phänomene. Als soziale Konstrukte fließen die Forschungsergebnisse in das Alltagsverständnis ein und verändern ihrerseits die soziale Wirklichkeit.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] Siehe Kapitel 1.2.2
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] Siehe Kapitel 1.4.1


1.1.4.2 Bedeutung der verstehenden Methode


Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die schematisch anmutende Gegenüberstellung von Verstehen vs. Erklären[1] wird heute vielfach als überholt kritisiert. Bereits Max Weber spricht von "erklärendem Verstehen" als oberstem Anspruch der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung: Erklärendes Verstehen ist für Weber definiert als die deutende Erfassung tieferliegender Sinnstrukturen, in denen die historischen und sozialen Randbedingungen eingelassen sind.

graphicAbbildung: Max Weber 1894, Quelle: http://commons.wikimedia.org 2010

Für die sozialwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ist die Methode[2] des Verstehens nicht zuletzt aber auch deshalb relevant, da sie die Forschung selbst als einen sozialen Prozess definiert: Die Annahme, dass soziale Wirklichkeit nicht unabhängig vom Prozess der Forschung und den daran beteiligten Personen existiert und wissenschaftliche Erkenntnisse durch außerwissenschaftliche Diskurse und Traditionen geprägt sind, fordert dazu auf, Forschungsroutinen und Deutungspraktiken selbst zum Gegenstand der verstehenden Analyse zu machen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 2.13


Nächstes Kapitel: 1.2 idiographisch vs. nomothetisch


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1.2 idiographisch vs. nomothetisch

Verfasst von Marie-France Chevron et al.

Ursprünglich diente der Begriff idiographisch[1] zusammen mit dem Begriff nomothetisch[2] dazu, zwei Typen von Wissenschaften und damit einhergehend zwei methodologisch anders begründete Zugänge zur Wirklichkeit zu bezeichnen. Dieses Begriffspaar wurde 1894 zum ersten Mal von Wilhelm Windelband[3], einem süddeutschen Neukantianer, zur Charakterisierung des Unterschieds zwischen dem Vorgehen der Geschichtswissenschaft und dem der Naturwissenschaften eingeführt. Aufgrund dieser Unterscheidung erfolgte die damals im deutschsprachigen Raum vorgenommene Trennung zwischen Geisteswissenschaften (verstehen[4]) und Naturwissenschaften (erklären[5]).

graphicAbbildung: Zwei Bäume, Quelle: K. Mocharitsch

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] Siehe Kapitel 1.2.2
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Windelband
[4] Siehe Kapitel 1.1.4
[5] Siehe Kapitel 1.1.3


1.2.1 idiographisch

Verfasst von Marie-France Chevron et al.

Idiographisch stammt aus dem griechischen ίdios (ïδιος): eigentümlich und grάphein (γράφειυ): schreiben.

Idiographisch vorgehende Wissenschaften werden auch Ereigniswissenschaften genannt, weil sie die Phänomene in ihrer Besonderheit und Einmaligkeit verstehen[1] wollen. Erkenntnisziel ist es dabei, das historisch Gegebene, wie es in der Erfahrung wahrgenommen wird, zu beschreiben.

graphicAbbildung: Dieser Apfelbaum in seiner Einmaligkeit, Quelle: K. Mocharitsch

Beispiel aus der idiographischen Vorgangsweise in der Geschichtswissenschaft:

Will man den zweiten Weltkrieg als einmaliges Phänomen verstehen lernen, so sammelt man Daten, die für dieses Phänomen einzigartig sind und nur dieses Ereignis betreffen. Weiterhin versucht man die ganz spezifische Ereignisabfolge und ihre einmalige Bedeutung zu dokumentieren.

Ein Diskussionspunkt in der heutigen Wissenschaftstheorie beschäftigt sich damit, inwieweit auch vorwiegend idiographisch vorgehende Wissenschaften nach Erklärungen suchen sollen. Denn man kann wohl davon ausgehen, dass in jeder Wissenschaft sowohl idiographische wie auch nomothetische Erkenntnisinteressen vorhanden sind.

(siehe auch verstehen[2], induktiv[3], qualitativ[4])

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
[4] Siehe Kapitel 1.4.1


1.2.2 nomothetisch

Verfasst von Marie-France Chevron et al.

Nomothetisch stammt aus dem griechischen nόmos (υόμος): Gesetz und thetiké (τιισέυαι): aufstellen.

Nomothetisch vorgehende Wissenschaften zielen darauf ab, das Gesetzmäßige und Regelmäßige zu erforschen. Erkenntnisziel ist es dabei, das Allgemeine und Wiederkehrende zu erkennen und zu beschreiben.

graphicAbbildung: Ein Apfel fällt vom Baum, Fallgesetz, Quelle: K. Mocharitsch

Beispiel aus der nomothetischen Vorgangsweise in der Geschichtswissenschaft:

Betrachtet man den zweiten Weltkrieg als Phänomen, das einer Gesetzmäßigkeit entspricht und gewisse für ähnliche Phänomene charakteristische und wiederkehrende Eigenschaften aufweist, so wird man sich mit den Aspekten des Phänomens auseinandersetzen, welche auf dessen Grundstruktur hinweisen, also z.B. mit der Grundstruktur von Kriegen oder mit dem menschlichen Verhalten in Kriegszeiten.

(siehe auch erklären[1], deduktiv[2], quantitativ[3])

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 1.3.2
[3] Siehe Kapitel 1.4.2


Nächstes Kapitel: 1.3 induktiv vs. deduktiv


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1.3 induktiv vs. deduktiv

Verfasst von Andrea Payrhuber und Christoph Reinprecht et al.

In den Sozialwissenschaften gibt es unterschiedliche methodische Wege, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, wobei, in Anknüpfung an die Theorie des logischen Schließens, meist zwischen induktiven und deduktiven Verfahren unterschieden wird.

graphicAbbildung: Schematische Darstellung unterschiedlicher Schlüsse, Quelle: K. Mocharitsch


1.3.1 induktiv

Verfasst von Andrea Payrhuber und Christoph Reinprecht et al.

graphicAbbildung: Ein Pfeil zeigt von mehreren kleinen Kreisen auf einen großen Kreis, Quelle: K. Mocharitsch

Bei induktiven Verfahren wird von empirischen Einzelbeobachtungen auf das Allgemeine geschlossen. Induktive Formen der Erkenntnisgewinnung zeichnen sich dadurch aus, dass im Forschungsprozess gesammelte Datenmaterialien dazu verwendet werden, um tiefer liegende Strukturen, Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten bzw. Mechanismen zu beschreiben bzw. sichtbar zu machen. Induktiv gewonnene Einsichten können als Richtlinien für die Begründung von Hypothesen[1] verwendet werden, insofern tragen induktive Verfahren zur Theoriebildung[2] bei.

Als Induktionsproblem wird seit David Hume[3] ("Traktat über die menschliche Natur", 1740) der Umstand benannt, dass von Einzelfällen keine logisch zwingenden Schlüsse auf Verallgemeinerungen (Gesetze) zulässig sind, da nicht alle Fälle der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft bekannt sein können. Auf induktiven Verfahren beruhende allgemeine Aussagen sind deshalb stets nur vorläufig; es muss jederzeit damit gerechnet werden, dass neue Fälle gefunden werden, die der Erkenntnis widersprechen.

Literatur:

Hume, David. 1973. Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch I-III, Unveränd. Nachdr. der 2., durchges. Aufl. von 1904 (Buch I) bzw. der 1. Aufl. von 1906 (Buch II und III). Hamburg: Meiner.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.7
[2] Siehe Kapitel 2.22
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/David_Hume


1.3.2 deduktiv

Verfasst von Andrea Payrhuber und Christoph Reinprecht et al.

graphicAbbildung: Ein Pfeil zeigt von einem großen Kreis auf mehrere kleine Kreise, Quelle: K. Mocharitsch

Im Unterschied zu induktiven Verfahren operieren deduktive Verfahren mit präzisen theoretischen Vorannahmen. Bei deduktivem Schließen wird logisch vom Allgemeinen auf das Besondere schlussgefolgert. Das Allgemeine wird in Form von Prämissen formuliert. Dabei handelt es sich um

(a) "bewährte" Hypothesen[1] (= Annahmen über Zusammenhänge) oder

(b) Axiome (= nicht abgeleiteter, selbstevidenter, nicht beweisbarer Aussagesatz).

Überprüft wird die Übereinstimmung zwischen theoretischen Annahmen[2] und empirisch aufgefundenem Datenmaterial[3]. Streng genommen unterstellt das deduktive Verfahren der Hypothesentestung einen zwingenden, d.h. deterministischen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung (Wenn- Dann-Beziehung), wie er in den Naturwissenschaften üblich ist. Im Unterschied dazu gehen die Sozialwissenschaften von einem wahrscheinlichen Eintreten der zu erwartenden Konsequenzen aus (ausgedrückt in Prozent aller Fälle); es wird in diesem Zusammenhang von "probabilistischer Erklärung" gesprochen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.7
[2] Siehe Kapitel 2.22
[3] Siehe Kapitel 2.1


1.3.3 induktive und deduktive Verfahren in der Praxis der Sozialwissenschaften

Verfasst von Andrea Payrhuber und Christoph Reinprecht et al.

In der Praxis der Sozialwissenschaften werden induktive und deduktive Verfahren häufig kombiniert. So beruht die Generierung von Hypothesen auf induktiven Verfahren[1], während die empirische Überprüfung von Theorien und Hypothesen der deduktiven Logik[2] folgt (deduktiv-nomologische Erklärungsmodell[3]).

Die mit diesem Theorie-Empirie-Zirkel verbundenen wissenschaftstheoretischen Frage- und Problemstellungen sind freilich komplexer Natur. Diskutiert wird, inwiefern die empirischen Sozialwissenschaften streng genommen nicht stets induktiv verfahren, da alle Erkenntnis aus einer Auswahl der beobachteten Fälle entsteht und es in den Sozialwissenschaften keine Gesetze ohne Raum-Zeitbezug gibt. Zudem schränken induktive Schlüsse die Aussagekraft der Erkenntnisse erheblich ein, da die aus Beobachteten schlussgefolgerten Gesetzesmäßigkeiten und Regeln nicht notwendig sind (siehe Induktionsproblem[4]). Auf Karl Popper[5] geht die Ansicht zurück, dass es reine Induktion nicht geben kann, da Aussagen niemals nur auf empirischer Beobachtung beruhen, sondern stets gewisse theoretische Vorannahmen enthalten.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] Siehe Kapitel 1.3.2
[3] Siehe Kapitel 1.3.2
[4] Siehe Kapitel 1.3.1
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper


Nächstes Kapitel: 1.4 qualitativ vs. quantitativ


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1.4 qualitativ vs. quantitativ

Verfasst von Regina Köpl et al.

Das Gegensatzpaar qualitativ[1] vs. quantitativ[2] gilt als Ergebnis der Auseinandersetzungen um unterschiedliche Formen der Erfahrungsgewinnung und Forschungsprogramme vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung der modernen (Sozial)Wissenschaften im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stand die Frage nach der Angemessenheit einer am naturwissenschaftlichen Erkenntnismodell orientierten Forschungslogik auf die soziale Welt als den Gegenstandsbereich der Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Bezeichnung qualitativ/quantitativ bezieht sich auf unterschiedliche Logiken der Forschung.

graphicAbbildung: Viele Blumen links, eine Blume rechts, Quelle: K. Mocharitsch

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.4.1
[2] Siehe Kapitel 1.4.2


1.4.1 qualitativ

Verfasst von Regina Köpl et al.

Die Qualitative Forschungslogik steht für den Versuch eines vorrangig deutenden und sinnverstehenden Zugangs zur sozialen Welt. Die soziale Wirklichkeit wird in dieser Grundposition als das Ergebnis menschlicher Interaktionen gedacht. Repräsentiert und vermittelt wird die soziale Wirklichkeit über sprachliche und nicht sprachliche Symbole.

graphicFoto: Frauengruppe in Bamako (Mali), Quelle: M.-F. Chevron

Strategische Bedeutung

Beitrag zur "dichten Beschreibung"[1] sozialer Milieus und zur Entdeckung gegenstandsbezogener Theorien vor allem dann, wenn es sich um einen neuen Forschungsgegenstand oder um die Vertiefung bereits vorhandenen Wissens handelt. Verallgemeinerungen sind in der Regel auf Grund der geringen Anzahl von Untersuchungsfällen und einer Stichprobenziehung, die nicht den Postulaten statistischer Repräsentativität folgt, nur begrenzt möglich.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Dichte_Beschreibung


1.4.1.1 Kennzeichen qualitativer Forschungslogik


Verfasst von Regina Köpl et al.

  • Offenheit im Umgang mit Vorwissen und Theorie: vorhandene Erwartungen und theoretische Vorannahmen sollen offenen Charakter haben und in ständiger Auseinandersetzung mit den gewonnenen Daten revidiert, ergänzt, erweitert oder auch fallen gelassen werden können.
  • Im Vordergrund steht nicht die Überprüfung von Hypothesen durch statistische Verfahren sondern die Entwicklung von Hypothesen und Theorien. Diese erfolgt induktiv[1] und ist das Ergebnis des Forschungsprozesses.
  • Stärkere Verflechtung von Datensammlung und Analyse, da neue und zusätzliche Aspekte, die im Vorfeld nicht erkannt worden waren, erst im Forschungshandeln sichtbar werden, wobei sich erst in der Phase des Datensammelns die Komplexität des Forschungsfeldes erschließt.
  • weitgehender Verzicht auf Standardisierung von Erhebungsinstrumenten und Erhebungssituationen.
  • bewusste Einbeziehung subjektiver Faktoren wie die Person des Forscher/der Forscherin sowie deren Kommunikation mit den ForschungsteilnehmerInnen. Daten werden als Ergebnis der Interaktionsprozesse von ForscherInnen und ForschungsteilnehmerInnen betrachtet.
  • Die Interpretation von Daten zielt auf das verstehende Nachvollziehen von Erfahrungen und Deutungsmustern (siehe auch verstehen[2]) der Beforschten und die Rekonstruktion besonderer sozialer Welten in ihren Sinnstrukturen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] Siehe Kapitel 1.1.4


1.4.2 quantitativ

Verfasst von Regina Köpl et al.

graphicFoto: Menschenmassen am Times Square, Quelle: http://hdl.loc.gov, 2010

Quantitative Forschung orientiert sich an einer an den Naturwissenschaften orientierten "einheitswissenschaftlichen" Forschungslogik, wo auch soziale Phänomene auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten und das Vorliegen von Randbedingungen zurückgeführt werden sollen. Formalisierung und Mathematisierung der Ergebnisdarstellung gelten als Ziel dieser an Ausschaltung subjektiver Faktoren und Umformung von Erfahrung in Messdaten orientierten Forschungslogik. Quantitative Forschung zielt auf systematische Messung und Auswertung von beobachtbaren und zählbaren sozialen Fakten und Phänomenen. Alles was nicht beobachtet und gemessen werden kann, darf streng genommen nicht Gegenstand quantitativer sozialwissenschaftlicher Forschung sein.

Strategische Bedeutung

Durch vorgegebene Skalen und Indizes zur Messung von Einstellungen, Verhalten und Strukturmerkmalen von Individuen und Gruppen sowie Bemühen um weitgendene Formalisierung sollen präzise Aussagen möglich werden. Je nach Größe und Art der Stichprobenziehung (statistische Repräsentativität) können Ergebnisse verallgemeinert bzw. auf die Grundgesamtheit geschlossen werden.


1.4.2.1 Kennzeichen quantitativer Forschungslogik


Verfasst von Regina Köpl et al.

  • Die meisten quantitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen sind hypothesenprüfende Studien, d.h. empirisch überprüfbare Hypothesen werden vor der Phase der Datenerhebung aus der Theorie abgeleitet (siehe auch deduktiv[1]).
  • Starre Trennung des Forschungsprozesses in einzelne Arbeitsschritte Theoriebildung - Operationalisierung - Datenerhebung - Datenanalyse.
  • durch Überführung der für die Untersuchung relevanten theoretischen Begriffe und Konstrukte in beobachtbare Sachverhalte sollen Messungen möglich werden. Messen gilt als Prozess, wo Objekten und Ereignissen auf einer vorgegebenen Skala entlang bestimmter Abbildungsvorschriften Zahlenwerte zugeordnet werden.
  • Arbeit mit standardisierten Erhebungsinstrumenten, wo z.B. Inhalt, Formulierung und Reihenfolge der Fragen bis hin zu Antwortmöglichkeiten vorgegeben sind. Vor der Datenanalyse müssen die erhoben Daten so aufbereitet werden, dass den Angaben aus dem Fragebogen nach in einem Codebuch festgelegten Regeln ein Zahlenwert zugeordnet wird.
  • Die Datenauswertung erfolgt unter Verwendung spezieller Computerprogramme.
  • Durch statistische Tests kann z.B. überprüft werden, ob eine (theoretisch vorhergesagte) Beziehung zwischen zwei Variablen nachweisbar ist oder sich neue Zusammenhänge finden lassen (explorativ).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.2


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2. Glossar

Auf den folgenden Seiten finden Sie Glossareinträge, die für die empirische Forschung in den Sozialwissenschaften von Bedeutung sind. Die Einträge sind in alphabetischer Reihenfolge gelistet und werden laufend ergänzt.


2.1 Empirie

Verfasst von Christoph Reinprecht

Einen markanten Widerspruch zur theoriegeleiteten Sozialwissenschaft nimmt die Position des Empirismus ein. Nach dieser Doktrin lässt sich alle Erkenntnis aus Erfahrungen und sinnliche Wahrnehmung ableiten. Der Empirismus entsteht in radikaler Kritik metaphysischen Denkens, das wie andere in der Philosophie verbreitete Traditionen des spekulativen und erfahrungsfreien Denkens als unwissenschaftlich angesehen wird. Diese Position wurde bereits frühzeitig von Theoretikern wie Francis Bacon, David Hume und John Stuart Mill formuliert und im 20. Jahrhundert durch den Wiener Kreis des logischen Empirismus (Ernst Mach, Rudolf Carnap, Otto Neurath) vertreten.

Beobachtung oder Experiment bilden aus Sicht des Empirismus die wichtigsten Instrumente sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Die Probleme des Empirismus sind jedoch mannigfach: Kritisiert wird, dass auch der Empirismus nicht ohne theoretische Grundannahmen auskommt - so ist die Grundannahme, dass jede Erfahrungserkenntnis wahr sei, nicht aus Erfahrung ableitbar. Auf Kritik stößt weiters die Nichtanerkennung des theoriebeladenen und sozial konstruierten Charakters der in der empirischen Forschung verwendeten Konzepte und Kategorien und damit der "Fakten", die vorgefunden werden. Von Bedeutung ist schließlich das Induktionsproblem, wonach von Beobachtungen keine logisch zwingenden Schlüsse auf Verallgemeinerungen zulässig sind (vgl. induktiv vs. deduktiv[1])

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3


2.2 Erkenntnistheorie

Verfasst von Marie-France Chevron

Die Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit dem Zustandekommen und den Voraussetzungen der Erkenntnis, wobei im Wesentlichen zwei Gruppen von theoretischen Überlegungen in diesem Zusammenhang zum Tragen kommen.

  1. Auf der einen Seite wird in der evolutionären Erkenntnistheorie über die Voraussetzungen des menschlichen Denkens und Erkennens, wie sie evolutionär entstanden sind, reflektiert. Damit gemeint sind die grundlegenden Fähigkeiten des Menschen als eines mit besonderen kognitiven Eigenschaften ausgestatteten sozialen und kulturellen Wesens, das Dank der menschlichen Sprache über eine sehr elaborierte soziale Kommunikationsfähigkeit verfügt und Dank unterschiedlichen kulturell fixierten Formen der Wissensspeicherung und - weitergabe mit einer besonderen sozialen und kulturellen Lernfähigkeit ausgestattet ist.
  2. Auf der anderen Seite wird in der traditionellen Erkenntnistheorie als fachübergreifender Teildisziplin der Philosophie über das Zustandekommen, die Bedingungen sowie die Regeln und Prinzipien der Erkenntnis nachgedacht. Als Epistemologie und als Theory of Knowledge[1] beschäftigt sie sich mit Art und Weise, wie Wissen zustande kommt oder kommen kann. Dabei sind die verschiedenen Voraussetzungen und Ebenen des Denkens unter Beachtung emotionaler, reflexiver, logischer und ethischer Aspekte von Bedeutung.

Erkenntnistheoretische Betrachtungen führen zu Reflexionen über die Art und Weise, wie Wissen als Ergebnis einer Wechselwirkung mit der Welt entstehen kann. Objekt dieser metatheoretischen Sicht ist die Bewertung und Begründbarkeit von Erkenntnis, als Prozess oder Ergebnis eines durch Einsicht oder Erfahrung gewonnenen Wissens. In den methodologischen Überlegungen spielen erkenntnistheoretische Abwägungen eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, adäquate Methoden und Techniken zu entwickeln, um ein soziales Phänomen zu verstehen und zu erklären. Denn bei der Entwicklung unterschiedlicher Methoden ist es das Ziel, subjektive unreflektierte Meinungen auszuschließen und die Begrenztheit sowie Selektivität der menschlichen Wahrnehmung, aber auch ihre Täuschbarkeit zu überwinden.

Insgesamt geht es also neben der theoretischen wissenschaftlichen Reflexion über die Art, wie Erkenntnis individuell entsteht, auch um eine Feststellung der Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis im Hinblick auf die Beziehungen zwischen einer außerhalb vom Menschen existierenden Wirklichkeit und dem diese Wirklichkeit reflektierenden und interpretierenden Menschen als denkendem wie auch sozial und kulturell handelndem Wesen.

Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Epistemology


2.3 Ethnographie

Verfasst von Marie-France Chevron

Unter Ethnographie versteht man einen empirischen Zugang, welcher primär in der Ethnologie (Kultur- und Sozialanthropologie) oder unter Heranziehung von in der Ethnologie entwickelten Methoden zur Anwendung kommt. Grundsätzlich ist dabei das Ziel, wie bei jeder empirischen Arbeit, Material und Daten zu sammeln, diese aufzubereiten und auszuwerten, um eine Forschungsfrage zu beantworten. Aber darüber hinaus zielt die ethnographische Arbeitsweise immer darauf ab, die möglichst "dichte Beschreibung"[1] eines komplexen sozio-kulturellen Sinnzusammenhangs zu erreichen. Das bedeutet, dass die einer Kultur eigentümlichen Lebens- und Denkweisen sowie deren Sicht der Wirklichkeit (emische Sicht) Objekt der Forschung sind. Diese Innensicht wird durch die Außensicht der ForscherInnen (etische Sicht) ergänzt.

In der Fachliteratur gilt die "teilnehmende Beobachtung"[2], wie sie von Bronislaw Malinowski in den Argonauten des westlichen Pazifik im Jahre 1922 beschrieben wurde, als Prototyp der ethnographischen Arbeitsweise. In diesem Zusammenhang wird zum Ausdruck gebracht, dass es das Ziel der Ethnographie ist, die für eine Gesellschaft typische Art der Verflechtung zwischen allen Lebensbereichen gezielt und systematisch zu erfassen. In der ethnographischen Arbeit werden die Eindrücke und Erlebnisse und Erfahrungen der ForscherInnen während der "teilnehmenden Beobachtung" gesammelt, festgehalten und gedeutet. Hierfür werden eigene methodologische Überlegungen im Hinblick auf die systematische Beobachtung vorgestellt. Während der Beobachtung, die in diesem Zusammenhang oft als "fremder Blick" beschrieben wird, gilt es eine möglichst große Nähe zum Forschungsgegenstand zu erreichen, um diesen besser verstehen zu können. Dabei gilt es die Gefahr der zu großen Nähe, des "going native" zu vermeiden, denn zur wissenschaftlichen Arbeit gehört die Distanz als Voraussetzung für objektive und überprüfbare Forschungsergebnisse. Bei Malinowski wurde die stationäre Beobachtung, also das lang andauernde Beobachten an einem Ort beschrieben.

Ursprünglich waren die von der Ethnologie erforschten sozialen Gruppen kleine Gesellschaften mit komplexen verwandtschaftlichen Beziehungen und einer den WissenschaftlerInnen vorerst fremden Kultur. Daher war es äußerst schwierig und aufwendig, erst einmal den Zugang zu der untersuchten Gesellschaft zu bekommen, mit den Menschen eine längere Zeit zu leben, ihre Sprache zu erlernen und sich die in der fremden Gesellschaft vorherrschenden symbolischen wie auch sozialen Orientierungen während einer sogenannten "zweiten Sozialisation" anzueignen. Hierbei galt es von Anfang an, die eigenen Vorurteile und den eigenen Ethnozentrismus zu überwinden. Die Ergebnisse wurden zumeist in großen Monographien als Darstellungen der Kultur einer einzigen ethnischen Gruppe präsentiert.

Bei der klassischen Form der "teilnehmenden Beobachtung", aber auch allgemein bei ethnographischer Forschungsarbeit wird ein überaus hohes persönliches Engagement der WissenschaftlerInnen bei der Erhebung der Daten vorausgesetzt. Aus diesem Grund wird verlangt, dass man die Forschungsergebnisse im Hinblick auf individuelle Befindlichkeiten und Probleme bei der Durchführung der Feldforschung thematisiert. Grundsätzlich werden alle Schritte der Forschung in einem Tagebuch und in Feldnotizen[3] festgehalten, damit sie zu einem späteren Zeitpunkt von den WissenschaftlerInnen selbst oder von FachkollegInnen überprüft werden können. Die quellenkritische Bewertung aller Informationen sowie Überlegungen zu dem Verlauf des Wissensgewinns sowie zu den empirischen Fallstricken gehören ebenfalls dazu. Heute werden immer öfters Forschungen im Sinn der "multi-sited ethnography" durchgeführt. Dabei handelt es sich um ethnographische Forschungen, welche parallel oder hintereinander an verschiedenen Orten durchgeführt werden. Diese Vorgangsweise erscheint bei Forschungsfragen zur Migration besonders sinnvoll, da Angehörige einer Kultur oft in der Diaspora, also in verschiedenen Regionen der Welt leben.

Literatur:

Malinowski, Bronislaw. 1922. Argonauts of the western Pacific: an account of native enterprise and adventure in the archipelagoes of Melanesian New Guinea. London: Routledge.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.1.2 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.3 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie


2.4 Experiment

Verfasst von Andrea Payrhuber

(vom lat. experimentum = Versuch)

Das Experiment ermöglicht es, durch aktives Manipulation der Versuchsbedingungen (=Treatmentbedingungen) durch den Experimentator, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Das Experiment ist damit die einzige Forschungsform, die es erlaubt Kausalbeziehungen[1] zwischen Variablen[2] zu überprüfen. Zwei oder mehr Variablen sind kausal verbunden, wenn sie in einem empirisch nicht umkehrbaren, asymmetrischen Zusammenhang stehen. Ursache X erzeugt Wirkung Y, aber nicht umgekehrt. X ist dabei die unabhängige und Y die abhängige Variable. Durch dieses planmäßige variieren (=manipulieren) der unabhängigen Variablen (UV) unter kontrollierten Bedingungen, kann die Veränderung der abhängigen Variablen direkt auf die UV zurückgeführt werden.

Beim "echten Experiment" muss die Zuordnung der Versuchsteilnehmer zu verschiedenen Versuchsgruppen zufällig (=randomisiert) erfolgen, nur so kann sichergestellt werden, dass die Stichprobe keinen überzufälligen Einfluss auf den Versuchsausgang haben.

Bei quasiexperimentellen Untersuchungen werden natürliche Gruppen untersucht. Die Ausprägung der UV ist die Besonderheit der jeweiligen Gruppe (z.B. Schulklassen mit verschiedenen Unterrichtsstilen). Es kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Gruppen auch hinsichtlich anderer (intervenierender) Variablen systematisch unterscheiden.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.11
[2] Siehe Kapitel 2.23


2.5 Falsifikation

Verfasst von Christoph Reinprecht

In den Sozialwissenschaften wird nicht nur gefordert, dass Theorien in sich widerspruchsfrei sein müssen; sie sollen vielmehr auch mit der empirischen Wirklichkeit übereinstimmen. Um die wissenschaftlichen Aussagen einer empirischen bzw. faktischen Kritik unterziehen zu können, ist es Praxis, diese in einer Art und Weise zu formulieren und auf den von ihr dargestellten Gegenstand zu beziehen, dass sie gegebenenfalls widerlegt, d.h. falsifiziert werden können.

Falsifikation gilt als besonderes Verfahren zur Feststellung, dass eine Aussage nicht zutreffend ist. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass im Zuge der empirischen Überprüfung von Theorien[1] bzw. Hypothesen[2] niemals sichergestellt werden kann, dass alle potentiell verfügbaren Informationen bekannt sind, um die theoretischen Annahmen tatsächlich und endgültig zu verifizieren. Auch wenn theoretische Aussagen wiederholt durch Beobachtungen bestätigt werden, lässt sich die Existenz von gegenteiligen Beobachtungen nicht zwingend ausschließen. Allerdings können Aussagen gezielt so formuliert werden, dass sie sich als falsch erweisen. Mit dieser Vorgangsweise (Prinzip des Ausschlusses von falschen Annahmen) soll eine schrittweise Annäherung an eine tatsächlich wahre Theorie erreicht werden. Durch die Empirie nicht widerlegte theoretische Annahmen bezeichnet Karl Popper[3], der in seinem Werk Logik der Forschung (1935) das Prinzip der Falsifikation formuliert, als bewährt. In der Eliminierung von an Tatsachen gescheiterten Hypothesen manifestiert sich nach Popper der Fortschritt der Wissenschaft.

Gegen die These von Popper wurden vielfältige Einwände vorgebracht, unter anderem das Argument, dass der Erkenntnisgewinn in den Wissenschaften nicht durch die Prüfung und Falsifizierung von Hypothesen, die durch neue Hypothesen, die ebenfalls zu testen und zu falsifizieren sind, ersetzt werden, zustande kommt, sondern durch wissenschaftliche Umbrüche bzw. Paradigmenwechsel.

Literatur:

Popper, Karl. 1935. Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien: Springer.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.22
[2] Siehe Kapitel 2.7
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper


2.6 Gütekriterien empririscher Forschung

Verfasst von Christoph Reinprecht

Um die Qualität des empirischen Forschungsprozesses zu kontrollieren und zu gewährleisten, werden je nach Zielsetzung, Forschungsansatz und eingesetzten Methoden unterschiedliche Kriterien herangezogen. In quantitativen Forschungen, die darauf abzielen, mittels formalisierter Verfahren statistische Verteilungen, Zusammenhänge und Kausalbeziehungen möglichst präzise zu beschreiben und vorhersagbar zu machen, bilden Objektivität, Reliabilität und Validität die Hauptgütekriterien. Objektivität[1] bezieht sich darauf, dass Messwerte unabhängig vom Messenden zustande kommen. So sollten bei einer standardisierten Fragebogenerhebung weder Datenerhebung noch Datenauswertung durch die Person des/der beteiligten Sozialwissenschaftlers/in beeinflusst werden können; d.h. die Ergebnisse variieren nicht danach, wer die Befragung oder die Datenauswertung durchführt. Das Kriterium der Reliabilität bezieht sich auf die Zuverlässigkeit des Erhebungsinstruments. Damit ist gemeint, dass beispielsweise ein standardisierter Fragebogen bei einer Untersuchungswiederholung (unter sonst gleichen Bedingungen) zum selben Ergebnis kommen muss. Validität bezieht sich auf die Gültigkeit der Messung. Es bezeichnet den Grad der Genauigkeit, mit dem eine Untersuchung das erfasst, was erfasst werden soll. Nur dann können Daten sinnvoll interpretiert werden. Für die einzelnen Gütekriterien gibt es spezielle standardisierte Techniken der Überprüfung. Die Gütekriterien bauen aufeinander auf: ohne Objektivität keine Reliabilität, ohne Reliabilität keine Validität.

In qualitativen Forschungen sind die Gütekriterien weniger eindeutig definiert. Qualitative Forschungsprozesse sind nicht formalisiert, sondern offen gestaltet, die konkrete Forschungssituation, aber auch die Persönlichkeit des/ der Forschers/in spielen in allen Phasen des Forschungsprozesses eine bedeutende Rolle. So entwickelt sich in biographischen oder narrativen Interviews nicht unabhängig vom gewählten Zeitpunkt und Ort eine kommunikative Beziehung, die auf den Inhalt und den Verlauf der Erzählung einwirkt. Die Qualitäts- bzw. Gütekriterium reflektieren diese Offenheit und Involviertheit des/der Forschers/in als Subjekt. Qualitative Forschungen erfordern eine (selbst)reflexive Haltung zum Forschungsprozess und den darin gemachten eigenen Erfahrungen. Zugleich ist, zur Gewährleistung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, eine umfassende Transparenz, Offenlegung und Begründung der einzelnen Untersuchungsschritte, von Feldarbeit und Datenerhebung über Auswertung bis zur Interpretation, gefordert. Auch kommen Verfahren kommunikativer Validierung zur Anwendung (ein Beispiel wäre die Miteinbeziehung mehrerer ForscherInnen in die Auswertung und Ergebnisinterpretation). Um dem komplexen Charakter von sozialen Phänomenen gerecht zu werden, werden bei qualitativen Forschungen oft verschiedene Methoden kombiniert (etwa Beobachtung[2] und Interview), deren Ergebnisse miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Triangulation ein Verfahren, die Stärken und Schwächen der jeweiligen methodischen Vorgehensweise auszugleichen, mit dem Ziel, ein der Vielschichtigkeit der sozialen Realität angemessenes, aber auch valides Ergebnis zu erzielen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.15
[2] Siehe Kapitel 2.3


2.7 Hypothese

Verfasst von Andrea Payrhuber

(vom griech. hypothesis = Vermutung, Unterstellung)

Beim Vorgehen nach einer deduktiven Forschungslogik[1] leitet der Forscher neue Zusammenhänge aus bereits vorhandenem Wissen ab. Die in der wissenschaftlichen Hypothese postulierten Zusammenhänge müssen im Gegensatz zur Alltagshypothese begründet sein. D.h. es handelt sich nicht um eine bloße Vermutung des Forschers, sondern um eine logische Ableitung aus Theorien, bewährten Hypothesen oder aktuellen empirischen Befunden. Je genauer das Untersuchungsfeld bereits erforscht ist, desto konkretere Annahmen können in der Hypothese formuliert werden.

Ausgehend von Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen werden die benötigten Theorien und Studienergebnisse recherchiert. Daraus werden die begründete Zusammenhänge abgeleitet. Diese Zusammenhänge werden nach den formalen Bedingungen der wissenschaftlichen Hypothese formuliert und anhand von selbst erhobenen Daten überprüft.

Definition wissenschaftlicher Hypothesen

Der Hypothese muss zumindest implizit die Formalstruktur eines sinnvollen Konditionalsatzes zugrunde liegen.

  • je-desto

JE mehr X DESTO mehr (oder weniger) Y
unabhängige und abhängige Variable sind dabei nicht festgelegt

  • wenn-dann

WENN-TEIL: Bedingung, Antezedenz = unabhängige Variable
DANN-TEIL: Folge, Konsequenz = abhängige Variable

Eine Hypothese ist somit eine Verknüpfung von zwei Variablen[2] (oder mehreren) samt Verknüpfungsvorschrift. An diese Verknüpfung wird die gleiche logische Anforderung wie an ein Gesetz gestellt, aber sie ist als Vermutung formuliert. In der Sozialwissenschaft sind Hypothesen immer probabilistisch, da es in der Sozialwissenschaft keine deterministischen (=gesetzmäßigen) Zusammenhänge gibt.

Um die Hypothese widerlegen zu können, müssen Ereignisse denkbar sein, die dem Konditionalsatz widersprechen.

Formulierungsvorschrift

Die Alternativhypothese(H1) auch (HA) behauptet, dass ein empirisches "positives" Resultat (=Effekt, systematischer Zusammenhang) erwartet wird. Sie entspricht der Forschungshypothese.

Nullhypothese(H0): Es besteht kein systematischer Zusammenhang zwischen den beiden Variablen bzw. kein Unterschied zu den untersuchten Populationen.

Beispiel:

H1: Wenn Kinder gezielt gefördert werden, dann steigt die Leistung in den geförderten Fächern.

H0: Es gibt bei Kindern keinen Zusammenhang zwischen Förderung und erbrachter Leistung.

Wird beim Hypothesenprüfen kein Zusammenhang festgestellt, so wird die Alternativhypothese verworfen (=falsifiziert[3]) und die H0 (vorläufig) beibehalten.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.2
[2] Siehe Kapitel 2.23
[3] Siehe Kapitel 2.5


2.8 Indikator

Verfasst von Christoph Reinprecht

In den Sozialwissenschaften[1] sind viele Phänomene, die erforscht werden, nicht direkt beobachtbar, weshalb Instrumente notwendig sind, die verlässlich anzeigen, ob und in welchem Ausmaß das interessierende Phänomen vorhanden ist. Diese Anzeiger werden Indikatoren genannt. So etwa sind Wahlpräferenzen oder Weltanschauungen, wie sie von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet in "The People’s Choice" untersucht wurden, nicht als solche direkt sicht- bzw. beobachtbar. Beobachtbar und messbar ist jedoch, wie Personen auf die im Fragebogen enthaltenen Fragen oder Aussagen reagieren. Die entsprechenden Daten können als Indikatoren der gemessenen Einstellung gelten.

Die Festlegung adäquater Indikatoren ist eine der wichtigsten Anforderungen in der Operationalisierung von Forschungsfragen. Der Ausdruck Operationalisierung bezeichnet im weiteren Sinne die Entwicklung eines Forschungsdesigns; im engeren Sinne geht es um die Formulierung von (Meß)-Vorschriften, d.h. um die Bestimmung von Indikatoren, mit deren Hilfe ein Konstrukt (z.B. "politische Präferenz", "Weltanschauung") gemessen werden kann.

Literatur:

Lazarsfeld, Paul Felix, Berelson, Bernard, Gaudet, Hazel. 1948. The people’s choice: how the voter makes up his mind in a presidential campaign. New York: Columbia University Press.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.17


2.9 Inter- und Transdisziplinarität

Wird in Kürze ergänzt.


2.10 Kategorisierung und Klassifizierung

Verfasst von Christoph Reinprecht

Zur Routinetätigkeit in den Sozialwissenschaften zählt das Ordnen von Informationen. Mithilfe von Kategorisierung und Klassifizierung kann eine Vielzahl an Informationen bzw. Daten nach bestimmten Kriterien angeordnet, in ihrer Komplexität reduziert und in übersichtlicher Form dargestellt werden.

  • Beim Kategorisieren wird versucht, eine Menge an Elementen, die durch gleiche Merkmale gekennzeichnet sind, zusammenzufassen (zum Beispiel bilden alle Personen mit einem Universitätsabschluss die Kategorie AkademikerInnen).
  • Beim Klassifizieren wird versucht, regelmäßig auftretende Grundformen (Typen) von Sachverhalten zu identifizieren und in eine Beziehung bzw. Hierarchie zueinander zu bringen (ein Beispiel wäre eine Klassifikation der Berufe).

Klassifikationen bzw. Klassifikationssysteme bilden heute ein wichtiges Instrument der vergleichenden empirischen Sozialforschung. So können etwa Informationen zur Arbeitswelt nur dann sinnvoll analysiert (oder zwischen Ländern verglichen) werden, wenn die entsprechenden statistischen Daten (z.B. über Berufstätigkeit) in ein anerkanntes Klassifikationssystem eingeordnet sind. Für Forschungen im Bereich der Arbeitswelt ist das von der ILO (International Labour Organisation[1]) entwickelte Klassifikationssystem ISCO (International Standard Classification of Occupation) verbindlicher Standard. Auf der Grundlage dieser Klassifikation lässt sich in internationalen Vergleichen die Stellung von Menschen in der sozialen Hierarchie der Gesellschaft bestimmen.

Verweise:
[1] http://www.ilo.org/


2.11 Kausalität

Verfasst von Andrea Payrhuber et al.

(lat. causalis = zur Ursache gehörend)

Ein nicht umkehrbarer empirischer Zusammenhang (von Ursache und Wirkung) zwischen zwei oder mehreren Phänomenen - ausgedrückt in Variablen[1]. Voraussetzung um einen kausalen Zusammenhang feststellen zu können, ist die Ermittlung der unabhängigen (einflussgebenden) und der abhängigen (beeinflussten) Variablen. Durch gezielte Manipulation der unabhängigen Variablen (Vu) mittels experimentellem Design, in dem alle anderen beeinflussenden Faktoren ausgeschaltet und kontrolliert werden, kann die veränderte Wirkung auf die abhängige Variable (Va) gemessen werden.

graphicGrafik: Kausalität, Quelle: A. Payrhuber

Auswertung: Ob tatsächlich Kausalität vorliegt, kann ausschließlich inhaltlich begründet und mittels experimentellem Design überprüft werden. Auch wenn die statistischen Auswertungsmethoden bei Korrelation und Kausalität ident sind und die Stärke des Zusammenhangs jeweils mittels Korrelationskoeffizienten gemessen wird. Nachdem Experimente sehr aufwändig sind und daher selten durchgeführt werden, stellen die meisten sozialwissenschaftlichen Ergebnisse Korrelationen dar und dürfen nicht als Kausalität interpretiert werden.

Ausnahme

Einige demographische Daten (wie Alter, Geschlecht, Geburtsort,…) sind immer unabhängig, da unveränderbar. So wird z.B. eine politische Einstellungsänderung weder das Geschlecht noch das Alter verändern können.

Referenzstudien:

Lazarsfeld, Paul F., Berelson, Bernard, Gaudet, Hazel. 1948. The people’s choice: how the voter makes up his mind in a presidential campaign. New York: Columbia University Press.

Milgram, Stanley. 2008. Eine verhaltenspsychologische Untersuchung des Gehorsams. In: Pethes, Nicolas (Hrsg.). Menschenversuche. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 739-749.

(siehe dazu auch erklären[2])

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.23
[2] Siehe Kapitel 1.1.3


2.11.1 Beispiele für Kausalität


Beispiel Marienthal:

Je länger die Dauer der Arbeitslosigkeit, desto langsamer die Gehgeschwindigkeit. Die Gehgeschwindigkeit hängt von der Dauer der Arbeitslosigkeit ab, und nicht die Dauer von der Geschwindigkeit.

Beispiel Besonnenheit von Mitarbeitern:

Je älter ein Mitarbeiter, desto besonnener geht er an Problemlösungen heran. Versuchte man hier im Sinne von Korrelation zu interpretieren, so würde das bedeuten, dass Mitarbeiter durch besonnenes Handeln älter würden. Da dieser Schluss unsinnig und unmöglich ist, handelt es sich eindeutig um Kausalität. Die Besonnenheit hängt vom Alter ab und nicht das Alter von der Besonnenheit.


2.11.2 Fehlinterpretation bei Kausalität


Verfasst von Andrea Payrhuber et al.

Bei Kausalität ergeben sich folgende Gefahren für Fehlinterpretationen:

Korrelation als Kausalität interpretiert

Einer der häufigsten Fehler in den Sozialwissenschaften ist es, Korrelationen als Kausalität zu interpretieren.

graphicGrafik: Kausalketten, Quelle: A. Payrhuber

Ist eine abhängige Variabel (Va1) die Ursache für eine andere abhängige Variable (Va2), so könnte die Ursache für die erste abhängige Variable (Vu1) fälschlich als Ursache für die zweite abhängige Variable interpretiert werden.

Beispiel Lebensstandard (Kausalkette)

Wenn z.B. hohe Bildung (Vu1) zu hohem Einkommen und Lebensstandard führen (Va1) und dieser hohe Lebensstandard (Vu2) wiederum nicht mit vielen Kindern vereinbar ist, wird der Standard zur Vu2 für den Umstand, weniger Kinder zu haben. Falsch wäre es zu interpretieren, dass die Bildung an sich die Zahl der Kinder verringert.

Beispiel Kinderzahl

Eine Kultur- und Sozialanthropologin besucht zwei Dörfer und stellt dabei fest, dass die Frauen in Dada-Dorf mehr als zwei Kinder haben und in Sasa- Dorf weniger als zwei Kinder. Man könnte meinen es gibt einen Zusammenhang mit der sozialen Situation in den Dörfern.

graphicGrafik: Beispiel für unterschiedliche Kinderzahlen in zwei Dörfern, Quelle: A. Payrhuber

Die Kultur- und Sozialanthropologin untersucht die Ursache um das Phänomen zu erklären. Dabei stellt sie durch Untersuchungen des Trinkwassers fest, dass im Sasa- Dorf das Wasser mit Schwermetall belastet ist, wodurch die Fruchtbarkeit negativ beeinflusst wird.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Schwermetallbelastung und der Kinderzahl.


2.12 Korrelation

Verfasst von Andrea Payrhuber et al.

(lat. con = zusammen; relatio = Bericht, Beziehung)

Eine Korrelation liegt dann vor, wenn

  • zwei Phänomene gleichzeitig auftreten und
  • in einem wechselseitigem Zusammenhang zueinander stehen (miteinander variieren)

Die Phänomene werden mittels Variablen[1] erfasst und messbar gemacht.

Grafik: KorrelationGrafik: Korrelation, Quelle: A. Payrhuber

Eine Korrelation ist eine mathematische Darstellung ausgedrückt in Variablen, die keine Aussage über die funktionale oder kausale Abhängigkeit der Variablen voneinander erlaubt. Das bedeutet, eine hohe Korrelation zeigt, dass zwei Phänomene gleichzeig auftreten. Es wird aber nichts darüber ausgesagt, welches Phänomen das andere bedingt. Ursache und Wirkung sind nicht bestimmt.

Die Stärke des Zusammenhangs wird mittels statistischer Berechnung über den Korrelationskoeffizienten (r) ermittelt. Gängig Korrelationskoeffizienten können Werte von +1 für maximale positive Korrelation und 1 für maximale negative Korrelation annehmen.

Bei einer positiven Korrelation gilt: Je höher der Wert der einen Variablen, desto höher auch der Wert der anderen Variablen.

Bei einer negativen Korrelation gilt: Je höher der Wert der einen Variablen, desto niedriger der Wert der anderen Variablen.

Referenzstudien:

Durkheim, Émile 1973. Der Selbstmord. Neuwied: Luchterhand.

Jahoda, Marie, Lazarsfeld, Paul Felix, Zeisel, Hans. 1975. Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.23


2.12.1 Beispiele für Korrelationen


Verfasst von Andrea Payrhuber et al.

Beispiel Marienthal:

Die müde Gesellschaft ist apathisch und legt wenig Wert auf Pflege. Die beiden Phänomene verstärken sich gegenseitig. Je apathischer desto weniger Antrieb zur Pflege. Je ungepflegter desto stärker die Apathie.

Es zeigt sich in der Studie bei den Arbeitslosen ein Zusammenhang zwischen den Phänomenen "Apathie" und Verlust der Zeitstruktur. Je mehr "Apathie" desto weniger Zeitstruktur. Je weniger Zeitstruktur desto höhere "Apathie". Diese Wechselseitigkeit macht den Unterschied zur Kausalität aus. Wäre "Apathie" z.B. als Krankheitsbild bekannt, welches das Zeitgefühl der Betroffenen negativ beeinflusst, würde man von Kausalität sprechen, d.h. man würde davon ausgehen, dass die "Apathie" die Ursache für den Verlust der Zeitstruktur (=Wirkung) der Betroffenen ist.

Beispiel Einkommen und Bildung:

hohe Bildung - hohes Einkommen (= pos. Korrelation) Je höher die Bildung desto höher ist das Einkommen das man erhält. Je höher das Einkommen desto intensiver ist die Weiterbildung. Der Bildungsgrad und mit ihm wiederum das Einkommen steigen an. Mit dem steigenden Einkommen steigt wiederum die Motivation und Notwendigkeit zur Weiterbildung.

hohe Bildung - wenig Kinder (= neg. Korrelation) Je höher die Bildung desto weniger Kinder in einer sozialen Gruppe. Je weniger Kinder in dieser sozialen Gruppe desto mehr Bildung.


2.12.2 Fehlinterpretation bei Korrelationen


Verfasst von Andrea Payrhuber et al.

Bei Korrelationen ergeben sich folgende Gefahren für Fehlinterpretationen:

Korrelation als Kausalität interpretiert

Einer der häufigsten Fehler in den Sozialwissenschaften ist es, Korrelationen als Kausalität zu interpretieren.

Scheinkorrelation

Wenn eine dritte, in der Analyse nicht berücksichtigte Variable die Ursache oder Verstärkung des miteinander Variierens von zwei Variablen ist, so nennt man dies eine Scheinkorrelation.

graphicGrafik: Scheinkorrelation, Quelle: A. Payrhuber

Wenn zwei Phänomene (Va1; Va2) immer gemeinsam auftreten, kann man fälschlich annehmen, sie hätten miteinander zu tun. In Wirklichkeit treten im Zusammenhang mit derselben unabhängigen Variablen (Vu) auf.

Beispiel Storchendichte:

Im Volksmund existiert der Glaube, dass Störche Kinder bringen. Überprüfen WissenschaftlerInnen diesen Volksglauben, so stellen sie fest, dass es ein gemeinsames Auftreten von Störchen und Geburten gibt.

Erhebt man Storchendichte (Va1) und Geburtenrate (Va2) von Kindern, so zeigt sich in den Berechnungen ein positiver Zusammenhang mit einem positiven Korrelationskoeffizienten.

graphicGrafik: Verhältnis der Storchendichte zur Geburtenrate, Quelle: A. Payrhuber

Sucht man eine Erklärung für dieses Phänomen, so muss man noch zusätzliche Faktoren berücksichtigen. Kontrolliert man die Umstände unter denen viele Störche / viele Geburten bzw. wenig Störche / wenig Geburten gefunden werden, so stellt man nach eingehender Überprüfung fest, dass mit steigender Urbanisierung und Industrialisierung sowohl die Geburten als auch die Storchendichte sinken - allerdings unabhängig voneinander. Den Störchen wird der Lebensraum entzogen und Frauen sind in Industriegesellschaften meist in außerhäuslicher Erwerbstätigkeit integriert und bekommen somit weniger Kinder.

graphicGrafik: Verhältnis der Urbanisierung, Storchendichte und Geburtenrate, Quelle: A. Payrhuber

Beide Phänomene (weniger Geburten und weniger Störche) werden, unabhängig voneinander, durch die Industrialisierung und Urbanisierung (Vu) beeinflusst. Es zeigt sich ein gleichzeitiger Effekt.


2.13 Methoden

Verfasst von Andrea Payrhuber et al.

(griech. aus meta und hodos = Nachgehen; im Verfolgen eines Ziels im geregelten Verfahren)

Als Methoden werden heute in den Wissenschaften alle Verfahren und Techniken (von der Erhebung bis zur Auswertung) bezeichnet, die zur Beantwortung einer wissenschaftlichen Fragestellung geeignet erscheinen.


2.14 Methodologie

Verfasst von Marie-France Chevron et al.

Méthodos kommt aus dem griechischen méthos: "das Nachgehen" und logos: "das Wort, die Rede". Die Methodologie ist die Lehre, welche aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Methoden resultiert. Als Methode werden heute in den Wissenschaften alle Verfahren und Techniken bezeichnet, die zur Behandlung einer wissenschaftlichen Fragestellung geeignet erscheinen.

graphicFoto: Das Boston College Memorial Labyrinth, Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/File:BCmemoriallabyrinth.jpg , 2010


2.14.1 Methodologische Überlegungen


Verfasst von Marie-France Chevron et al.

graphicAbbildung: Ein Labyrinth mit mehreren Eingängen, Quelle: B. Rieger

Methodologische Überlegungen sind solche, welche zur Entwicklung, Modifikation und zum Einsatz eigener Methoden[1] für die Erforschung konkreter Phänomene angestellt werden.

So beschäftigt sich die sozialwissenschaftliche Methodologie mit allen bisher existierenden Methoden der Sozialwissenschaften zur möglichst objektiven und adäquaten Erforschung der sozialen und kulturellen Wirklichkeit, aber auch mit der Perfektionierung dieser Methoden sowie auch mit der Erarbeitung neuer Zugänge, wenn dies zur Beantwortung neuer oder alter Fragestellungen notwendig erscheint.

Eine heute in den Sozialwissenschaften häufig gestellte Forderung ist die einer komplexen Sicht der Wirklichkeit und die Vorstellung, dass man diesem Ziel dank sich vielen ergänzenden Zugängen und Methoden (Methodenvielfalt, Methodenmix, Triangulation) gerecht werden kann. Diese Forderung selbst ist das Ergebnis methodologischer Überlegungen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.13


2.14.2 Beispiel für methodologische Überlegungen: Arbeitslosigkeit


Verfasst von Marie-France Chevron et al.

Wenn man ein Phänomen wie die Arbeitslosigkeit untersuchen möchte, stellt sich zu Beginn die methodologische Frage, wie und mit welchen Methoden man in der wissenschaftlichen Untersuchung dem Phänomen gerecht werden und so zu Ergebnissen kommen kann.

Eine häufig vorkommende Frage kann zum Beispiel sein, inwiefern ein soziales Phänomen wie die Arbeitslosigkeit in seiner Komplexität und sozialen wie auch individuellen Bedeutung überhaupt erfasst werden kann.

Methodenwahl

Bei der Erforschung eines sozialen Phänomens wie der Arbeitslosigkeit, stellt sich aus methodologischer Sicht die Frage,

  • ob man quantitativ[1] vorgehen soll, oder
  • ob man qualitativ[2] vorgehen soll.

Grundsätzlich gilt, dass man im allgemeinen in der heutigen sozialwissenschaftlichen Methodologie davon ausgeht, dass man erst durch den Einsatz von möglichst vielen unterschiedlichen Methoden, ein Phänomen in seiner ganzen Komplexität erfassen (erklären und verstehen) kann.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.4.2
[2] Siehe Kapitel 1.4.1


2.14.2.1 Beispiel quantitativ


Verfasst von Marie-France Chevron et al.

Wenn man der Erforschung der Arbeitslosigkeit quantitativ vorgeht, geht es darum, durch die zahlenmäßige Erfassung der Arbeitslosen und das Festhalten der Verbreitung der Arbeitslosigkeit in einem bestimmten Gebiet, Gründe und Folgen der Arbeitslosigkeit wie auch gewisse Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Variablen zur Beschreibung und Erklärung der Arbeitslosigkeit aufzuzeigen. Messung, Berechnung und Interpretation von statistischem Material stehen im Vordergrund.

graphicGrafik: Arbeitslosigkeitsraten im Vergleich, Quelle: http://commons.wikimedia.org , 2010


2.14.2.2 Beispiel qualitativ


Verfasst von Marie-France Chevron et al.

Wenn man der Erforschung der Arbeitslosigkeit qualititativ vorgeht, geht es darum, durch eine offene Forschung unter Einbeziehung subjektiver und psychologischer, aber auch sozialer Aspekte die Arbeitslosigkeit als Phänomen sui generis in seiner Sinnstruktur überhaupt zu verstehen. So wird man in diesem Fall Methoden finden, um Einstellungen und Verhaltensweisen zu erfassen. Hier geht es darum, die Auswirkungen und die Bedeutung der Arbeitslosigkeit überhaupt verstehen und erklären zu können. Beobachtungen, Befragungen, Gespräche und Dokumentation aller Lebensbereiche werden in diesem Zusammenhang angestrebt.

graphicFoto: Arbeitsloser auf Arbeitssuche, Quelle: http://commons.wikimedia.org/, 2010

Literatur:

Jahoda, Marie, Lazarsfeld, Paul F., Zeisel, Hans. 1982: Die Arbeitslosen von Marienthal, Frankfurt am Main: Suhrkamp.


2.15 Objektivität

Verfasst von Christoph Reinprecht

Es besteht unter SozialwissenschaftlerInnen weitgehend Konsens, dass die soziale Realität nicht unabhängig davon existiert, von welchem Standpunkt aus wir sie betrachten und mit welchen Theorien und Methoden wir sie zu verstehen und zu analysieren versuchen. Objektivität bezieht sich in den Sozialwissenschaften auf den Anspruch auf intersubjektiv nachvollziehbare und neutrale, wertfreie Erkenntnis. Im Unterschied zu anderen Formen der Erkenntnisgewinnung (etwa im Alltagsleben oder durch philosophische Spekulation), soll durch klare Begrifflichkeit und systematisches methodisches Vorgehen erreichet werden, dass der Forschungsprozess und die in ihm gewonnenen Erkenntnisse auch für Andere nachvollziehbar und überprüfbar sind. Zugleich wird vom Forscher/ der Forscherin eine den empirischen Tatsachen gegenüber unvoreingenommene Haltung verlangt.

Der Anspruch auf Objektivität ist in den Sozialwissenschaften allerdings zahlreichen Beschränkungen ausgesetzt: So sind die Festlegung der Forschungsfrage, Begriffsbildung, die Entwicklung eines Forschungsdesigns, Datenerhebung und Datenauswertung stets auch beeinflusst durch implizite Wertvorstellungen der beteiligten WissenschaftlerInnen sowie durch die Zeit- und Standortgebundenheit ihres Denkens. Von Bedeutung sind aber auch gesellschaftliche und institutionelle Kontexte (Gesetze, Forschungsförderung, akademische Routinen, dominierende Diskurse und Denkstile), auch der Forschungsgegenstand selbst legt gewisse Zugänge nahe, und die ausgewählten Forschungsmethoden erzeugen ihrerseits bestimmte Ausschnitte des zu untersuchenden Phänomens.

In den Sozialwissenschaften[1] existieren Techniken zur Kontrolle dieser Einflüsse (vgl. Gütekriterien empirischer Forschung[2]). Seit Max Weber[3] wird intensiv darüber diskutiert, welche Rolle und Bedeutung den Werten und Werturteilen in der Forschung zukommen. Nach Weber sind Werte als allgemein gültige kulturelle Orientierungen unhinterfragter Teil unseres Handelns, und sie beeinflussen daher etwa auch die Wahl von Forschungsthemen. Der Forscher muss jedoch versuchen, diese Wertebasis zu erkennen und die möglichen Effekte auf die Forschungsergebnisse zu reflektieren. Gleichzeitig ist Weber jedoch strikt dagegen, dass ForscherInnen persönliche Werthaltungen einnehmen und vertreten, vielmehr müssen sie alles tun, um vorgefasste Meinungen und subjektive Wertvorstellungen nicht in den Forschungsprozess und die Beurteilung einfließen zu lassen. Dieser Standpunkt wird dahingehend kritisiert, dass jedes wissenschaftliche Tun von der sozialen Position beeinflusst ist und immer auch normative Aussagen enthält, d.h. Aussagen, die zum Ausdruck bringen, wie etwas sein bzw. wie gehandelt werden soll.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.17
[2] Siehe Kapitel 2.6
[3] Siehe Kapitel 1.1.4


2.16 Panel Studie

Verfasst von Andrea Payrhuber

engl. Fach, Fläche

Eine gleichbleibende Untersuchungseinheit (Personen, Gruppen, soziale Beziehungen, ökonomische Einheit) wird in meist regelmäßigen Abständen, zu immer der selben Fragestellung mit den selben Variablen, untersucht.

Durch diese Form der Längsschnittuntersuchung können individuelle Veränderungen von Einstellung oder Verhalten über den Zeitverlauf gemessen und analysiert werden. Bei aggregierte Daten können sich diese Effekte gegenseitig aufheben (=herausmitteln).

Beispiel:

vier StudentInnen legen in drei Semestern je drei Prüfungen ab:

Betrachtet man die Durchschnittsnoten pro Semester, so würde man meinen, dass sich die Leistungen der Studierenden nicht verändern. Der Gesamt- Notendurchschnitt beträgt in jedem Semester bei 3.

Der individuelle Notendurchschnitt ändert sich von 1-3-3-5 im Wintersemester 2010 auf 3-3-3-3 im Sommersemester 2010 um dann im Wintersemester 2011 wieder bei 1-3-3-5 zu stehen – scheinbar gleich wie im Wintersemester 2010. Nur die individuelle Betrachtung, die durch das Panel erst möglich wird, zeigt, dass sich Susi kontinuierlich verschlechtert und Marion sich gegenläufig verbessert hat.

Nachteile sind, dass die untersuchten Personen durch wiederholte Befragungen aus der Befragungssituation lernen und sich das Antwortverhalten so verändern kann und dass die Personen aufmerksamer werden und den wiederholt abgefragten Sachverhalten mehr Aufmerksamkeit schenken, als sie das ohne Untersuchung tun würden.


2.17 Sozialwissenschaft

Verfasst von Marie-France Chevron

Sozialwissenschaften nennt man eine Gruppe von wissenschaftlichen Disziplinen, welche einen gemeinsamen Ursprung haben, aber im Zug einer zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung ab dem 19. Jahrhundert jeweils unterschiedliche Forschungsschwerpunkte und Methoden entwickelt haben. Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit dem Menschen als sozialem und kulturellem Wesen, mit den Voraussetzungen, Regeln und Institutionen des sozialen Lebens. Sie suchen nach Erklärungen für das Zustandekommen von sozialen und kulturellen Phänomenen, wie sie in einer oder mehreren Gesellschaften an einem oder verschiedenen Orten und in einer oder verschiedenen Epochen existieren oder existiert haben. Zur Beschreibung und Erklärung[1] des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen sowie allgemein sozio-kultureller Erscheinungen wurden eigene Methoden und empirische Verfahren, die sich von denjenigen der Naturwissenschaften unterscheiden, entwickelt.

Denn in den Sozialwissenschaften geht es unter anderem darum, Phänomene in ihrer Sinnstruktur zu erfassen, Einstellungen und Verhaltensweisen des Menschen als handelndes soziales Wesen systematisch zu erklären. Dabei werden bisweilen theoretische Annahmen zur Erklärung sozialer Phänomene überprüft (verifiziert / falsifiziert[2]) oder in den empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften, durch das Sammeln und Auswerten sowie auch Interpretieren von Daten neue unbekannte Aspekte, Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen Phänomenen sowie auch Regelmäßigkeiten von Entwicklungen aufgedeckt. Um dem äußerst komplexen und vielschichtigen Forschungsgegenstand gerecht zu werden und objektiv oder intersubjektiv überprüfbare Ergebnisse zu erzielen, setzt man möglichst viele unterschiedliche Methoden und Zugänge ein. Methoden[3], welche dabei entwickelt wurden, sind verschiedene Formen von Beobachtungen, Befragungen, Gesprächen und Dokumentationen aller Lebensbereiche und sozialen Interaktionen unter Heranziehung von Tonaufnahmen, Film- und Fotomaterial und bisweilen historischen Quellen, aber genauso statistische Verfahren.

Wissenschaften, welche aus unterschiedlichen Perspektiven in den sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern tätig werden, sind z.B. die Soziologie, die Kultur- und Sozialanthropologie (Ethnologie), die Politikwissenschaft und die Kommunikationswissenschaft.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 2.5
[3] Siehe Kapitel 2.13


2.18 Soziogramm

(lat. socius = Gefährte, Geselle und griech. metria = Messung)

Quantitatives Erheben (Beobachtung, Befragung) und Beschreiben zum Verstehen sozialer Tatbestände und Zusammenhang.

Die empirisch ermittelten positiven und negativen Beziehungen, Präferenzen oder Sympathie- und Antipathieverhältnisse zwischen Gruppenmitgliedern werden im Soziogramm abgebildet.

Eine Methode, die von Jakob L. Moreno (1890-1974) zur Messung von Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe eingeführt wurde. Durch die Darstellung von subjektiven Beziehungspräferenzen und subjektiver Beziehungsablehnung wird der soziometrische Status graphisch sichtbar gemacht.

graphicGrafik: Soziogramm, Quelle: A. Payrhuber

xi
Gruppenmitglieder


Präferenz


gegenseitige Präferenz

--->
Ablehnung

<--->
gegenseitige Ablehnung

Referenzstudie:

Whyte, William-Foote. 1943. Street Corner Society. Chicago: University of Chicago Press.


2.19 Soziographie

Verfasst von Andrea Payrhuber

(lat. socius = Genosse, Gefährte und griech. graphein = schreiben)

Gesellschafts- bzw. Kulturbeschreibung, eine sozialwissenschaftliche Methode, die 1913 von dem holländischen Soziologen Sebald Rudolph Steinmetz (1862-1940) begründet wurde. Dies war zu der Zeit eine Gegenposition zur einseitig theoretisch-abstrakt oder historisch arbeitenden Soziologie. Soziographie soll soziale Gegenwartstatsachen (Dörfer, Regionen, Städte) in ihrer vollen Komplexität abbilden, ohne gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge oder allgemeine soziale Prozesse theoretisch zu erörtern.

Referenzstudie:

Jahoda, Marie, Lazarsfeld, Paul Felix, Zeisel, Hans. Die Arbeitslosen von Marienthal. Erstausgabe 1933 erschien ohne Nennung der Autoren; bearbeitet und herausgegeben von der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle. Leipzig: Verlag von S. Hirzel.


2.20 Stichprobe

Verfasst von Christoph Reinprecht

Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschungen[1] können in der Praxis nur selten alle Elemente einer Grundgesamtheit untersucht werden, weshalb es meist erforderlich ist, eine Auswahl vorzunehmen. Es gibt verschiedene Auswahlverfahren, die sich unter anderen in Hinblick auf die ihnen zugrundeliegende Systematik unterscheiden und vor allem auch für die Verallgemeinerung der Ergebnisse von Bedeutung sind. Von Zufallsstichprobe ist die Rede, wenn die Auswahl aus einer Grundgesamtheit nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Nur bei Zufallsauswahlen sind auf der Basis mathematisch- statistischer Modelle gesicherte Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit möglich In diesem Fall spricht man von repräsentativer Stichprobe.

Die Durchführung einer Zufallsauswahl setzt voraus, dass die Grundgesamt bekannt und exakt definiert ist. Jedes Element ist nur einmal enthalten und hat die gleiche Chance, in die Stichprobe zu gelangen. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, werden alternative Strategien einer bewussten Auswahl angewendet. Die Auswahl von Untersuchungseinheiten erfolgt dann nach einem festgelegten Auswahlplan (z.B. nach Merkmalsquoten wie Geschlecht, Alter, etc.), der auf der Basis von Vorkenntnissen und/ oder theoretischen Überlegungen erstellt wird. Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit sind in diesem Fall nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße möglich (wie zum Beispiel beim Quotaverfahren). Kommen weder Verfahren der Zufalls- noch der bewussten Auswahl zum Einsatz, spricht man von willkürlicher Auswahl. In diesem Fall erfolgt die Auswahl der Untersuchungseinheiten mehr oder weniger subjektiv und spontan (etwa bei einer PassantInnenbefragungen oder bei einer Online-Befragungen, bei der jeder mitmachen kann). Eine Generalisierung von Ergebnissen auf eine Grundgesamtheit ist hier grundsätzlich nicht möglich.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.17


2.21 Subjektivität

Verfasst von Marie-France Chevron

Subjektivität spielt als Kategorie in den Sozialwissenschaften eine große Rolle, da diese davon ausgehen, dass das Soziale nicht bloß eine objektiv und unabhängig vom Subjekt existierende Wirklichkeit ist. Ein Teil der empirischen Arbeit in den Sozialwissenschaften besteht aus diesem Grund darin, die über den Sinn konstituierte und strukturierte Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen und zu rekonstruieren. Dies bedeutet, dass in vielen methodologischen Überlegungen auf unterschiedlichen Ebenen über die Rolle der Subjektivität bei der Forschungsarbeit reflektiert wird, auch wenn diese Problematik nicht immer klar zum Ausdruck gebracht wird.

Von Anfang an war es aus diesem Grund in den Sozialwissenschaften primär das Ziel, die auf jeden Fall vorhandene Subjektivität möglichst zu reduzieren, um gültige Aussagen über die Wirklichkeit treffen zu können. In diesem Sinn ist die Forderung von Émile Durkheim[1] zu verstehen, wenn er verlangt, man möge die sozialen Erscheinungen als "soziale Tatsachen", also als außerhalb des Subjekts existierende reale Phänomene betrachten. In der Suche nach mehr Objektivität sehen sich die Sozialwissenschaften damit konfrontiert, dass jede soziale Tatsache immer auch subjektiv wahrgenommen und interpretiert wird, sowohl von den Akteuren in der Gesellschaft wie auch von den ForscherInnen selbst.

Dies führte zu methodologischen Überlegungen im Hinblick auf den notwendigen Umgang mit der Subjektivität. Bei der Diskussion über den Einsatz von qualitativen Methoden[2] geht es heute zum Beispiel nicht darum, die Subjektivität auszuschalten, sondern viel eher darum, sie von Anfang an durch Einbeziehung verschiedener Techniken mit zu berücksichtigen. So wird in der Hermeneutik darauf hingewiesen, dass das Vorwissen und die (subjektive) Vorurteile der WissenschaftlerInnen bei der Forschungsarbeit eine Rolle spielen und man diese subjektive Aspekte daher als Teil des Forschungsprozesses immer wieder thematisieren sollte. Aneignungen und Interpretationen der eigenen Kultur durch Mitglieder einer Gesellschaft (emische Sicht) genauso wie Reflexionen und Interpretationen von sozio-kulturellen Erscheinungen durch ForscherInnen (etische Sicht) erfolgen immer mehr oder weniger entlang subjektiven Deutungen. Die in den Sozialwissenschaften angestrebte Objektivität[3] wird daher immer nur möglich sein, wenn bei methodologischen Überlegungen dieses Phänomen entsprechend seiner Bedeutung für die wissenschaftliche Erklärung auch berücksichtigt wird.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Emile_Durkheim
[2] Siehe Kapitel 1.4.1.1
[3] Siehe Kapitel 2.15


2.22 Theorie

Verfasst von Christoph Reinprecht

Kaum ein Begriff ist so schillernd und missverständlich wie jener der Theorie. In der Umgangssprache gelten Anschauungen, Mutmaßungen, aber auch allgemeine Ansichten und Behauptungen als Theorien. Im wissenschaftlichen Gebrauch bezieht sich Theorie hingegen auf präzis formulierte und in sich konsistente Formen der Darstellung und Erklärung von empirischer Wirklichkeit.

Sozialwissenschaftliche Theorien müssen mehrere Anforderungen erfüllen:

  • Sie sind bedeutungsvoll, d.h. sie verfügen über eine genau definierte Begrifflichkeit, die sich auf einen bestimmten Gegenstandsbereich bezieht, und sie sind in sich logisch widerspruchsfrei konstruiert;
  • Theorien sind zudem in ihrer Geltung raum-zeitlich festgelegt und empirisch verankert, d.h. sie sollten der empirischen Wirklichkeit möglichst nahe kommen und auch praktisch von Nutzen sein. Gute Theorien sind insofern nicht nur deskriptiv, sondern auch analytisch, sie besitzen also einen Erklärungswert und ermöglichen Voraussagen.

Theorien, die diese Voraussetzungen erfüllen, werden mitunter Theorien mittlerer Reichweite genannt. Dieser Ausdruck, der auf Robert K. Merton[1] (1962) zurückgeht, umreißt den spezifischen Charakter sozialwissenschaftlicher Theorien zwischen aus unmittelbarer Anschauung gewonnene ad-hoc-Annahmen einerseits und hochabstrakten, ganzheitlichen Universaltheorien andererseits. Ad-hoc- Hypothesen[2] werden abgelehnt, da sie oft dazu verwendet werden, Fakten, die im Widerspruch zur eigenen Theorie stehen, wegzuerklären. Universaltheorien erweisen sich meist als unbrauchbar: Im Unterschied zu den Naturwissenschaften streben sozialwissenschaftliche Theorien nicht nach der Formulierung universeller Gesetze, die für alle Gesellschaften und Kulturen gültig sind, sondern nach empirisch überprüfbaren Erklärungsansätzen in bestimmten Raum-Zeitbezügen.

Literatur:

Merton, Robert K. 1995. Soziologische Theorie und soziale Struktur. Hrsg. und eingel. von Volker Meja. Berlin: de Gruyter.

Verweise:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Robert_K._Merton
[2] Siehe Kapitel 2.7


2.23 Variable

Verfasst von Andrea Payrhuber

Im Gegensatz zu einer Konstante, die immer nur einen Wert hat, ist eine Variable ein Merkmal, das verschiedene Werte (= Merkmalsausprägungen) annehmen kann. Der Intelligenzquotient ist eine Variable, weil verschiedene Personen verschieden hohe IQs haben, d.h. verschiedene Ausprägungen.

Häufig wird zwischen unabhängigen Variablen (UV), abhängigen Variablen (AV) und intervenierenden Variablen (IV, bzw. Störvariable) unterschieden. Dies ist der Fall wenn Variablen miteinander verknüpft werden (siehe Hypothesen), um den Einfluss einer oder mehrere unabhängigen Variablen auf eine andere Variable = abhängige Variable zu untersuchen. Als intervenierende Variable wird eine unabhängige Variable bezeichnet, die einen zusätzlichen, oft korrigierenden, Einfluss hat.

Beispiel:

Aus der "lost letter technique" von Stanley Milgram[1] : In dieser Studie wird der Einfluss von Postadressen (UV) auf die Bereitschaft von Passanten, verlorene Briefe weiterzuleiten (AV) überprüft. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Bereitschaft verlorene Briefe weiterzuleiten, auch von den Wetterverhältnissen (IV) abhängt.

Literatur:

Milgram, Stanley. 1982. Das Milgram-Experiment. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Stanley_Milgram


2.24 Vergleich

Verfasst von Christoph Reinprecht

Der Vergleich ist ein Untersuchungsprinzip um Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie auch Regelmäßigkeiten zwischen Phänomenen festzuhalten. So entspricht nach Émile Durkheim[1] in den „Regeln der soziologischen Methode“ [1895] einzig die vergleichende Methode der Soziologie: „Wir verfügen über ein einziges Mittel, um festzustellen, dass ein Phänomen Ursache eines anderen ist: das Vergleichen der Fälle, in denen beide Phänomene gleichzeitig auftreten oder fehlen, und das Nachforschen, ob die Variationen, die sie unter diesen verschiedenen Umständen zeigen, beweisen, dass das eine Phänomen vom anderen abhängt“ (Durkheim 1961, 205).

Durkheim selbst praktizierte (etwa in seiner Selbstmordstudie) den Vergleich von mehreren Gesellschaften in zeitlicher und räumlicher Nähe zueinander, die sich gegenseitig beeinflussen und einem gemeinsamem Prozess (etwa der Säkularisierung) unterliegen. In diesem Fall ist von synchronem Vergleich die Rede.

Im Unterschied dazu bezieht sich der diachrone Vergleich auf zeitlich und räumlich weit voneinander entfernte Gesellschaften, wobei die untersuchten Phänomene voneinander unabhängig sind und über keinen gemeinsamen Ursprung verfügen. Einheiten des Vergleichs sind meist Nationalstaaten, aber auch Regionen, Kulturen und Zivilisationen. Häufig gewählte Untersuchungsgegenstände sind gesellschaftliche Strukturen und Institutionen, Normen und Werte, soziale und kulturelle Praktiken.

Literatur:

Durkheim, Émile. 1961. Die Regeln der soziologischen Methode. Neuwied: Luchterhand.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Durkheim


2.25 Wissenschaftstheorie

Wird in Kürze ergänzt.


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5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien

Das Forschungsdesign einer Ethnographie wird bestimmt durch:

  • das Forschungsziel,
  • die theoretischen Grundannahmen,
  • die methodische Ausrichtung und ihre entsprechenden Techniken
  • sowie die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen im Forschungs- wie Ursprungsland der EthnographIn.

Unterschiedliche Forschungsdesigns klassischer Ethnographien werden an folgenden Beispielen deutlich.

5.2.1.1 Historischer Partikularismus - Franz Boas

Der historische Partikularismus wurde Ende des 19. Jahrhundert von Franz Boas[1] im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode (comparative method) entwickelt.

Er forderte bei der historischen Rekonstruktion von Kulturen die Beschränkung auf eine bestimmte Kultur bzw. auf ein Kulturareal. (Theoretische Grundannahmen des historischen Partikularismus[2])

Boas forderte ein induktives Vorgehen in der Kulturanthropologie; allgemeine Schlussfolgerungen seien nur auf Grund ausreichend gesammelten Feldforschungsmaterials zulässig. (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[3])


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3


5.2.1.1.1 Franz Boas

Franz Boas (1858 - 1942) wurde in Deutschland geboren und naturwissenschaftlich ausgebildet (Physik, Geographie und Mathematik).

Schon bei seinen ersten (geographischen) Forschungen 1883 bei den Inuit auf Baffin Island und ab 1886 bei den NW-Küstenindianern British Columbia's (hauptsächlich den Kwakiutl) erkennt Boas, dass kulturelle Faktoren eine wesentlichere Rolle spielen als geographische.

Er habilitiert bei A. Bastian in Berlin und geht ab 1887 in die USA. Dort unterrichtet er ab 1896 an der Columbia University in New York und wird zur dominanten Figur in der amerikanischen Anthropologie und patriarchalischer Lehrer mehrerer SchülerInnengenerationen, welche ihm an Bedeutung und Prominenz kaum nachstehen (Benedict, Kroeber, Sapir, Herskovits, Lowie, Radin, Wissler, Mead u.v.a.).

Abbildung: Franz Boas. Quelle: Mead 1972: 126

Boas vertritt die so genannte four-field-anthropology. Darunter ist eine allgemeine Anthropologie bestehend aus Rasse/physische Anthropologie, Sprache, Kultur und Archäologie zu verstehen, wobei jeder dieser Teilbereiche getrennt und mit jeweils anderen Methoden zu studieren ist. (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[1])

Im Rahmen der Kulturanthropologie wendet er sich gegen die spekulativen Erkenntnisse der Evolutionisten und fordert eine Beschränkung der historischen Rekonstruktion auf eine bestimmte Kultur bzw. ein Kulturareal.

Unter Boas wird das intensive Sammeln von ethnographischem Material durch die Feldforschung zur unerlässlichen Basis der Kulturanthropologie; erst bei ausreichender Datenlage und unter gebotener Vorsicht können Generalisierungen ins Auge gefasst werden. (Theoretische Grundlagen des historischen Partikularismus[2])

Boas war Begründer der American Anthropological Association und gab die Zeitschrift American Anthropologist heraus.

Seine bedeutendsten Werke sind

The Central Eskimo (1888),
The Social Organization and Secret Societies of the Kwakiutl Indians (1897),
The Mind of Primitive Man (1911),
Primitive Art (1927),
Anthropology and Modern Life (1928),
Race, Language and Culture (1940),
Race and Democratic Society (1945).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2


5.2.1.1.2 Theoretische Grundannahmen des historischen Partikularismus

Die Grundzüge des historischen Partikularismus nach Franz Boas[1] bestanden aus folgenden theoretischen Grundannahmen:

  • Im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode sind nur auf eine bestimmte Kultur oder ein Kulturareal (culture area) begrenzte historische Rekonstruktionen zu vertreten.
  • Jede Kultur besteht aus Kulturelementen, welche durch Diffusion von anderen Kulturen übertragen wurden.
  • Jedes durch Diffusion übernommene Kulturelement wird überformt, um in die neue Kultur zu passen.
  • Dieser Prozess verläuft aber nie vollständig, so dass Kultur immer nur ein lose organisiertes Gebilde und kein eng geknüpftes System darstellt.
  • Das soziale Leben wird bestimmt von Sitten und Gebräuchen (nicht von Rationalität und Nützlichkeit).
  • Jede Kultur ist einzigartig, da sie das Resultat von diffusionistischen Prozessen und lokalen Bedürfnissen darstellt.
  • Wenn jede Kultur einzigartig ist, können keine allgemeinen Urteile über eine bestimmte Kultur gefällt werden; sie kann nur aus dem kulturellen Kontext, in dem sie situiert ist, verstanden werden.
  • Betonung der emischen Analyse (Perspektive der AkteurInnen einer Kultur) gegenüber der etischen (Perspektive der ForscherInnen von außen); bedeutend sind die Werte, Normen und Emotionen der untersuchten Kultur.
  • Deshalb können auch nur schwer Verallgemeinerungen zwischen Kulturen getroffen werden; wenn, dann nur mit Vorsicht und bei ausreichender Datenlage.
  • Betonung der Feldforschung, um möglichst viele Daten zu sammeln.
  • Induktives Vorgehen; ohne vorgefasste Theorien in die Feldforschungssituation; wenn allgemeine Erklärungen erfolgten, dann nur auf Grund einer großen Menge an gesammelten Daten (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[2]).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3


5.2.1.1.3 Methoden und Techniken des historischen Partikularismus

  • Im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode beschränkt Franz Boas[1] die historische Rekonstruktion auf eine bestimmte Kultur bzw. ein Kulturareal.
  • Die Feldforschung wird betont, um möglichst viele empirische Daten zu sammeln und Spekulationen zu vermeiden (positivistisch).
  • Im Sinne eines induktiven Vorgehens geht Boas ohne vorgefasste Theorien in die Feldforschungssituation und trifft nur bei ausreichendem Datenmaterial sehr vorsichtig formulierte generalisierende Aussagen.
  • Boas vertritt die sog. four-field-anthropology. Darunter ist eine allgemeine Anthropologie bestehend aus Rasse/physische Anthropologie, Sprache, Kultur und Archäologie zu verstehen, wobei jeder dieser Teilbereiche getrennt und mit jeweils anderen Methoden zu studieren ist.
  • Kultur wird von ihm bzw. seinen SchülerInnen nach Verbreitungsmerkmalen (Diffusion) von Kulturelementen und nach holistischen Mustern (patterns) untersucht
  • Boas nimmt eine Vielzahl an indigenen Texten (Mythen, Erzählungen, Erinnerungen an die Vergangenheit u.a.) in der Originalsprache auf, versehen mit interlinearer englischer Übersetzung durch InformantInnen oder DolmetscherInnen.
  • Boas' wichtigster Mitarbeiter wird George Hunt, ein Mann von schottischer und Tlingit Herkunft, der in einem Kwakiutl-Dorf herangewachsen und der Kwakwala-Sprache mächtig war. Er wird von Boas in der richtigen Aufnahme der Texte und ihrer Transkription unterwiesen, in einigen der publizierten Texte fungiert er auch als Co-Autor. Der Kontakt von Boas zu Hunt bleibt auch nach dieser Zusammenarbeit über mehr als 30 Jahre aufrecht.
  • Weitere von Boas angewandte Techniken sind (teilnehmende) Beobachtung, Aufnahme von Lebensgeschichten (life histories), unstrukturierte Interviews.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1

5.2.1.2 Funktionalismus - Bronislaw Malinowski

Bronislaw Malinowski[1] gilt als Begründer der modernen ethnographischen Datenerhebung.

Entgegen den spekulativen Rekonstruktionen der armchair-anthropologists wird durch ihn das Sammeln von first-hand Daten im Feld zum gültigen Standard und die von Malinowski programmierte participant observation zu „der“ Methode der Kultur- und Sozialanthropologie (Methoden und Techniken des Funktionalismus[2]).

Der (strukturale) Funktionalismus als theoretische Strömung wird ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts (1922) zur zentralen Ausrichtung innerhalb der britischen Sozialanthropologie. Während Malinowski's Kulturtheorie bereits gegen Ende der 1930er Jahre abgelehnt wird, behält der strukturale Funktionalismus von Radcliffe-Brown bis in die 1960er Jahre seine Bedeutung.

Von naturwissenschaftlichen Vorstellungen geleitet geht der Funktionalismus von der Beziehung (Funktion) einzelner Teile innerhalb einer übergeordneten Ganzheit bzw. zu dieser aus (Organismusanalogie). (Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus[3])


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2


5.2.1.2.1 Bronislaw Malinowski

Bronislaw Malinowski (1884 - 1942) zählt gemeinsam mit A. R. Radcliffe-Brown zu den Begründern der britischen Sozialanthropologie. Sein Bekanntheitsgrad reicht weit über das Fach hinaus, so greift u.a. S. Freud auf Malinowskis Arbeiten zurück.

Malinowski gilt als der Initiator der modernen ethnographischen Datenerhebung und des Funktionalismus als theoretische Strömung innerhalb der Sozialanthropologie. (Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus[1])

Abbildung: Bronislaw Malinowski. Quelle: Silverman 1981: 100

Er studiert zunächst Mathematik, Physik und Philosophie in seiner Geburtsstadt Krakau, danach in Leipzig bei W. Wundt Psychologie und schließlich in London Anthropologie bei E. Westermarck und C. G. Seligman.

1914 findet seine erste Feldforschung bei den Mailu (Australien) statt, gefolgt von mehrmonatigen Aufenthalten auf den Trobriand Inseln (PNG). Mit Ausbruch des 1. Weltkrieges wird Malinowski auf Grund seiner polnischen Nationalität (Polen war zu diesem Zeitpunkt der K&K Monarchie Österreich-Ungarn eingegliedert) zum Staatsfeind, der zwar nicht ausreisen, aber seinen Forschungen frei nachgehen darf.

Dieser unfreiwillig verlängerte Aufenthalt legt den Grundstein für den Mythos Malinowski: Er entwickelt die sog. participant observation (teilnehmende Beobachtung), welche ein über einen längeren Zeitraum hinweg intensives Zusammenleben mit der untersuchten Bevölkerung vorsieht. (Methoden und Techniken des Funktionalismus[2])

Später unternimmt Malinowski kürzere Feldforschungen in verschiedene Gebieten Afrikas (meist im Rahmen von Besuchen seiner forschenden StudentInnen) und in Mexiko.

Von 1923 bis 1938 unterrichtet Malinowski an der London School of Economics (ab 1927 als Professor) und wird zum charismatischen Lehrer bedeutender VertreterInnen der Sozialanthropologie (z.B. Firth, Evans-Pritchard, Nadel, Meyer-Fortes, Schapera, Richards, Kaberry u.v.a.). Ab 1939 bis zu seinem Tode lehrt er in Yale, New Haven, in den Vereinigten Staaten.

Seine bedeutendsten Werke sind

Argonauts of the Western Pacific (1922),

Crime and Custom in Savage Society (1926),
Sex and Repression in Savage Society (1927),
The Sexual Life of Savages in North-Western Melanesia (1929),
Coral Gardens and Their Magic (1935),
A Scientific Theory of Culture (1944),
Freedom and Civilization (1944),
Magic, Science and Religion (1948),

A Diary in the Strict Sense of the Term (1967).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3


5.2.1.2.2 Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus

Die Grundzüge des (strukturalen) Funktionalismus sind:

  • Wie die Theoretischen Grundannahmen des historischen Partikularismus[1] richtete sich der Funktionalismus gegen die spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und die vergleichenden Methode der armchair-anthropologists.
  • Entgegen den Annahmen von Franz Boas[2] ist der Funktionalismus ahistorisch eingestellt, da die historische Perspektive nur bei Vorhandensein exakter schriftlicher Belege angestrebt werden kann.
  • Organismusanalogie: die Gesellschaft wird mit einem biologischen Organismus verglichen, in dem die einzelnen Organe zusammenwirken müssen (Funktion), um den Erhalt des gesamten Körpers (Struktur) sicherzustellen.
  • Gesellschaften bzw. ihre Teile zielen nach Ordnung (Equilibrium) und verlaufen nach bestimmten Mustern; der harmonische Zustand ist relativ stabil, Konflikte tendieren zu einem neuerlichen Equilibriumszustand.
  • Das soziale Leben ist empirisch mittels ethnographischer Datenerhebung fassbar und für wissenschaftliche Analysen geeignet (Methoden und Techniken des Funktionalismus[3]).
  • Ziel ist das Herausfinden von Gesetz- bzw. Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens im naturwissenschaftlichen Sinne.
  • Im Mittelpunkt der Forschungen stehen die sog. Institutionen als Kristallisationspunkte (nach Durkheim); die Kulturtheorie von Bronislaw Malinowski[4] leitet die wesentlichen Institutionen als Kulturreaktionen auf menschliche Grundbedürfnisse ab


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
[4] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1


5.2.1.2.3 Methoden und Techniken des Funktionalismus

Bronislaw Malinowski[1] gilt als Begründer der modernen ethnographischen Datenerhebung.

Gemäß den theoretischen Grundannahmen des Funktionalismus[2] wird in der britischen Sozialanthropologie die empirische Datengewinnung zum Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Analysen über das soziale Leben.

Jede/r Forscher/in hatte zunächst möglichst viel Material über ein bestimmtes Areal oder eine Ethnie zusammenzutragen (induktives Vorgehen), woraus eine Vielzahl an bemerkenswerten "Stammesmonographien" resultierte.

Als Feldforschungsgebiete dienten die ehemaligen britischen Kolonien in den Überseegebieten.

Obwohl Malinowski seinen eigenen Ansprüchen über die Qualität einer Ethnographie nicht immer gerecht werden konnte (vgl. seine Tagebuchnotizen in A Diary in the Strict Sense of the Word, 1967 posthum ohne Zustimmung publiziert), gelten diese auch heute noch als Standard.

Malinowski's Richtlinien für ethnographische Erhebungen lauteten:

  • Feldaufenthalt über einen längeren Zeitraum hinweg (zumindest für ein Jahr, um den gesamten Jahreszyklus dokumentieren zu können);
  • planmäßiger Abbruch aller Kontakte des/r Forschers/in zur eigenen Kultur;
  • Erlernen der "Eingeborenensprache";
  • zum Kernstück wird die sog. participant observation (teilnehmende Beobachtung), die zu einem weitgehenden Einleben und Verstehen der fremden Kultur durch den/die ForscherIn führen soll ("We have to become They");
  • Ziel ist die vollständige Integration des/der Forschers/in in die untersuchte Kultur; die Anwesenheit des/der Ethnographen/in muss so selbstverständlich sein, dass er/sie nicht mehr als störend empfunden wird;
  • die Person des/der Forschers/in wird zum Messinstrument im Feld (im naturwissenschaftlichen Sinn);

Trotz dieser hohen Ansprüche war auch Malinowski auf die Mitarbeit von InformantInnen und DolmetscherInnen angewiesen.

Neben der teilnehmenden Beobachtung führte er (üblicherweise unstrukturierte) Interviews, sammelte Genealogien und Lebensgeschichten (life histories).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2

5.2.1.3 Human Relations Area Files (HRAF) - George P. Murdock

Die Human Relations Area Files (HRAF) sind eine Datenbank, in welcher systematisch geordnetes ethnographisches Datenmaterial von rund 400 Kulturen für weitere statistische Auswertungen zur Verfügung steht. (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF[1])

Die HRAF wurden 1949 von George P. Murdock[2] gegründet und gingen aus dem 1937 entwickelten Cross-Cultural Survey hervor.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.3.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3.1


5.2.1.3.1 George P. Murdock

George Peter Murdock (1897 - 1985) war ein amerikanischer Anthropologe, der zum Schülerkreis von Franz Boas[1] zählte. Im Gegensatz zu seinem Lehrer versuchte er die vergleichende Methode (comparative method) wieder in die Anthropologie einzuführen und diese als nomothetische Wissenschaft zu etablieren.

Murdock lehrte in Yale und Pittsburgh. 1937 richtete er in Yale den Cross-Cultural Survey als Datenbank für ethnographisches Material ein, aus welchem 1949 die Human Relations Area Files (HRAF) hervorgingen. (Human Relations Area Files (HRAF) - George P. Murdock[2], Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF[3])

1962 gründete Murdock die Zeitschrift Ethnology mit dem Ziel, die ethnographische Datenproduktion und -kommunikation zu steigern.

Ebenso förderte er ethnographische Datenerhebungen im Pazifik und entwickelte ein Programm, das vom Office of Naval Research unterstützt wurde.

Seine bedeutendsten Werke sind

Our Primitive Contemporaries (1934),
Social Structure (1949),
Outline of South American Cultures (1951),
Outline of World Cultures (1954),
Africa: Its People and Their Cultural History (1959),
Culture and Society (1965),
Atlas of World Cultures (1981).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.3.2


5.2.1.3.2 Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF

Im Gegensatz zu seinem Lehrer Franz Boas[1] bemühte sich George P. Murdock[2] um eine Wiedereinführung der vergleichenden Methode (comparative method) im Sinne von Morgan und Tylor in die Anthropologie und um deren Ausrichtung als nomothetische Wissenschaft.

Zu diesem Zweck entwickelte er 1937 zunächst den Cross-Cultural Survey, aus welchem 1949 die Human Relations Area Files (HRAF) hervorgingen. Bei beiden handelt es sich um eine Datenbank, in der systematisch (nach einem ethnographischen Index) gesammeltes Material von rund 400 Kulturen bereitgestellt ist.

Das Datenmaterial sollte anderen ForscherInnen für statistische Auswertungen zur Verfügung stehen, um Verteilungen von Kulturmerkmalen und historische Beziehungen für bestimmte Kulturareale oder für ähnliche Kulturtypen zu konstruieren.

In seinem bekanntesten Werk, Social Structure (1949), untersucht Murdock ein Sample von 250 repräsentativen Gesellschaften z.B. nach dem Zusammenhang von Deszendenzregeln und postmaritalen Heiratsregelungen. So kann er bereits früher vermutete Zusammenhänge zwischen patrilinearer Deszendenz und virilokaler Residenz bzw. zwischen matrilinearer Deszendenz und uxori-lokaler oder viri-avunculokaler Residenz mittels präziser Korrelationen bestätigen. Diese Muster setzt er wiederum statistisch zu anderen Mustern (z.B. Subsistenzformen oder Verwandtschaftsterminologien) in Beziehung, um (multi-)evolutionshistorische Entwicklungen aufzuzeigen.

Die Files bieten eine wertvolle Basis für vergleichende quantifizierende Untersuchungen in der Kultur- und Sozialanthropologie.

Ihre Vorteile liegen in:

  • Zugriffsmöglichkeit für alle Subskribenten (Institutionen, WissenschaftlerInnen) auf Xerox oder Mikrofiche-Basis; neuere Teile sind unter eHRAF[3]] abrufbar.
  • identes Ausgangsmaterial für vergleichende Studien, u.a. basierend auf einem einheitlichen Kodeschema, dem so genannten Outline of Cultural Materials (Inhaltsverzeichnis[4]]).
  • umfangreiches Datenmaterial
  • Qualität und Tiefe der Informationen gingen bereits in der Initialphase über das bisherige Niveau hinaus, da nach einem ethnographischen Index gesammelt wurde
  • das Anwachsen der Files war mit der zunehmenden Bereitschaft von EthnographInnen verbunden, auch quantifizierende Methoden in ihre Forschungen miteinzubeziehen


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3.1
[3] https://hraf.yale.edu/
[4] https://hraf.yale.edu/resources/reference/outline-of-cultural-materials/


5.2.1.4 Interpretative Anthropologie - Clifford Geertz

Der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz[1] vergleicht die Feldforschungssituation mit einem literarischen Text, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als erklären kann (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[2]).

Die in den 1970er Jahren formulierte interpretative Anthropologie leitete das Postmoderne Denken in der Kulturanthropologie ein und führte zu einer Betonung von Schreiben und Text, Bedeutung (meaning) und Interpretation im Gegensatz zu Struktur und Kausalität.

Geertz richtet sein Augenmerk weg von generalisierenden Aussagen auf die tiefe Durchdringung einzelner Fälle (thick description oder dichte Beschreibung[3]).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1


5.2.1.4.1 Clifford Geertz

Clifford Geertz (1926 - 2006) war ein bedeutender amerikanischer Kulturanthropologe, der über sein Fach hinaus Beachtung erlangte und Einfluss auf Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte, Geographie, Ökologie, Politikwissenschaft u.a. nahm.

Ausgebildet in Harvard unterrichtete er zunächst in Berkeley und Chicago, ab 1970 bis zu seinem Tode (als Emeritus) an der School of Social Science at the Institute for Advanced Study an der Universität von Princeton, N.Y..

Seine Themenschwerpunkte waren u.a. Kultur (allgemein), Religion (speziell der Islam), ökonomische Entwicklungen, traditionelle politische Strukturen, Dorf- und Familienleben.

Geertz führte intensive ethnographische Forschungen auf Java, Bali und in Marokko durch.

Er vergleicht die Feldforschungssituation mit einem literarischen Text, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als erklären kann. Den Höhepunkt seines Schaffens erreicht Geertz in den 1970er und 80er Jahren mit der Begründung der interpretativen Anthropologie. (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[1])

Er richtet sein Augenmerk weg von generalisierenden Aussagen auf die tiefe Durchdringung einzelner Fälle (thick description oder dichte Beschreibung[2]).

Seine bedeutendsten Werke sind

The Religion of Java (1960),

Agricultural Involution (1963),
Islam Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia (1968),
The Interpretation of Cultures: Selected Essays (1973, 2000),
Negara: The Theatre State in Nineteenth Century Bali (1980),
Works and Lives: The Anthropologist as Author (1988),

The Politics of Culture, Asian Identities in a Splintered World (2002).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1


5.2.1.4.2 Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie

Ausgangspunkt für Clifford Geertz[1] bildet die symbolische Anthropologie, wonach jede Kultur eine relativ autonome Ganzheit, ein System von Bedeutungen darstellt, welches der/die Anthropologe/in durch dekodieren und interpretieren erschließen kann.

In seinem Werk The Interpretation of Cultures (1973) vergleicht Geertz die ethnographische Analyse mit der Durchdringung eines literarischen Dokumentes, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als schlüssig erklären kann. (deshalb die Bezeichnung interpretative Anthropologie).

Die in einer Ethnographie dargestellte Kultur ist als ein Zusammenbau verschiedener Texte zu verstehen:

  • der Interpretationen der untersuchten Personen über Phänomene ihrer Lebenswelt in Zeit und Raum; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen erster Ordnung
  • der Interpretationen der InformantInnen über Phänomene der Lebenswelt in Zeit und Raum; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen erster oder zweiter Ordnung
  • der Interpretationen der EthnographInnen über Phänomene von Lebenswelten, die von deren intellektuellem Hintergrund in Zeit und Raum geleitet werden; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen zweiter oder dritter Ordnung.

Die Zusammenführung und Überlagerung dieser einzelnen Interpretationen nennt Geertz thick description oder dichte Beschreibung[2].

Dichte Beschreibungen sind nach Geertz keine „einfachen Beschreibungen“, sondern eine Kombination von Beschreibung und Interpretation.

Den Ausdruck thick description übernimmt Geertz vom Sprachphilosophen Gilbert Ryle, der damit eine schnelle Augenlidbewegung in einer Runde von Knaben beschreibt: nur das interpretative, schnelle Erfassen der Gesamtsituation lässt Wesentliches von Irrelevantem unterscheiden. Ebenso verfährt der/die EthnographIn bei der Zusammenführung aller verfügbaren Interpretationen.

Der tiefen, mikroskopisch genauen Durchdringung einzelner Fälle (dichtes Beschreiben) gibt Geertz den Vorzug gegenüber generalisierenden Aussagen.

Wesentliche Bedeutung für die Präsentation der Ethnographie kommt dem Akt und der Art des Schreibens zu, durch den die dichten Beschreibungen zum Ausdruck kommen. Ethnographische Schriften sind nach Geertz Fiktionen, weil sie etwas künstlich Geschaffenes sind, müssen aber nicht unbedingt falsch sein. Geertz vertritt die Ansicht, dass auch Interpretationen wissenschaftlich sein können.

Die interpretative Anthropologie leitete das Postmoderne Denken in der Kulturanthropologie ein und führte zu einer Betonung von Schreiben und Text, Bedeutung (meaning) und Interpretation im Gegensatz zu Struktur und Kausalität.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1


5.2.1.4.2.1 Beispiel für eine dichte Beschreibung

Textprobe für eine "dichte Beschreibung" nach Clifford Geertz[1] (siehe auch Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[2]):

"Der Kampf.

Hahnenkämpfe (tetadjen; sabungan) werden in einem Ring abgehalten, der ungefähr fünfzig Fuß im Quadrat mißt. Gewöhnlich beginnen sie am späteren Nachmittag und dauern drei oder vier Stunden bis zum Sonnenuntergang. Was den allgemeinen Ablauf betrifft, so sind die Kämpfe völlig gleich: es gibt keinen Hauptkampf, keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Kämpfen, keine formalen Unterschiede nach Größen, und ein jeder wird völlig ad hoc arrangiert. Sobald ein Kampf zuende ist und die emotionalen Trümmer beiseite geräumt sind - die Wetten ausbezahlt, die Flüche ausgesprochen und die toten Hähne in Besitz genommen -, begeben sich sieben, acht, vielleicht ein Dutzend Männer unauffällig mit ihren Hähnen in den Ring, um dort einen passenden Gegner für sie zu finden. Dieser Vorgang, der selten weniger als zehn Minuten dauert, oft sogar länger, findet in einer sehr scheuen, verstohlenen, oft sogar verheimlichenden Weise statt. Die nicht unmittelbar Beteiligten schenken dem Ganzen eine allenfalls versteckte, beiläufige Beachtung; diejenigen, die - zu ihrer Verlegenheit - beteiligt sind, tun irgendwie so, als geschähe das alles überhaupt nicht.

Wenn ein Paar zusammengestellt ist, ziehen sich die anderen Aspiranten mit derselben betonten Gleichgültigkeit zurück. Dann legt man den ausgewählten Hähnen ihre Sporen (tadji) an - rasiermesserscharfe, spitze Stahldolche von vier oder fünf Zoll Länge ...

Sind die Sporen angelegt, werden die Hähne in der Mitte des Ringes von den Hahnenführern (die nicht immer identisch mit den Besitzern sind) einander gegenüber in Stellung gebracht. Eine Kokosmuß, in die ein kleines Loch gebohrt ist, wird in einen Eimer mit Wasser geworfen, in dem sie etwa nach einundzwanzig Sekunden untergeht, eine Zeitspanne, die tjeng genannt wird und deren Anfang und Ende durch das Schlagen eines Schlitzgongs angezeigt wird. Während dieser einundzwanzig Sekunden ist es den Führern (pengangkeb) nicht gestattet, ihre Hähne zu berühren. Wenn es, was zuweilen geschieht, in dieser Zeit zu keinem Kampf zwischen den Tieren gekommen ist, nimmt man sie wieder an sich, sträubt ihre Federn, zieht an ihnen, sticht sie und ärgert sie noch auf andere Weise, und setzt sie dann zurück in die Mitte des Ringes, wo der Vorgang von neuem beginnt. Manchmal weigern sie sich selbst dann noch zu kämpfen, oder einer rennt ständig davon; in solch einem Falle werden sie zusammen unter einen Korbkäfig gesteckt, was sie dann für gewöhnlich zum Kämpfen bringt.

In den meisten Fällen jedoch fliegen die Hähne beinahe sofort aufeinander los, in einer flügelschlagenden, kopfstoßenden und um sich tretenden Explosion tierischer Wut, so rein, so absolut und auf ihre Weise so schön, dass sie fast abstrakt zu nennen wäre, ein platonischer Begriff des Hasses."

Literatur:

Geertz, Clifford (1983) "Deep Play": Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: ders. Dichte Beschreibung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (orig. engl. 1973), S. 214-216

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2

5.2.1.5 Anthropology at Home

Anthropology at Home oder auto-anthropology (nach Edward Ardener) bedeutet ethnographische Forschung, die im Heimatgebiet der EthnographInnen durchgeführt wird.

Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden (siehe Vor- und Nachteile der Anthropology at Home[1]), der sich aus den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen[2] des Forschungskontextes ableitet.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.5.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.5.1


5.2.1.5.1 Gesellschaftspolitische Voraussetzungen von Anthropology at Home

Im Gegensatz zur sog. exotischen Anthropologie, welche ihre Forschungsgebiete vornehmlich in Überseeländern suchte, betreibt die Anthropology at Home[1] ihre Untersuchungen im Heimatgebiet der EthnographInnen.

Trotz einzelner Studien führte die mainstream Kultur- und Sozialanthropologie bis zu Beginn der 1970er Jahre ihre Erhebungen vorwiegend in Überseegebieten durch.

Einreisebeschränkungen in viele der ehemaligen (kolonialen) Forschungsländer, bei gleichzeitigem rasantem Ansteigen an ausgebildeten AnthropologInnen führten vermehrt dazu, den ethnographischen Blick weg von exotischen Gebieten auf die eigene Kultur/Subkulturen zu richten. Zudem begannen immer mehr indigene, an westlichen Universitäten ausgebildete Kultur- und SozialanthropologInnen, ihre eigenen Heimatgebiete zu erforschen.

Stanley R. Barrett unterscheidet nach den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der Forschungsbedingungen unterschiedliche Typen von Anthropology at Home:

  • Insider Anthropology wird von EthnographInnen betrieben, die aus den das Forschungsgebiet dominierenden Gruppen stammen.
  • Native Anthropology wird von EthnographInnen betrieben, die aus Minderheiten-Gruppen im Forschungsgebiet stammen.
  • Indigenous Anthropology wird von so genannten „3.Welt-AnthropologInnen“ betrieben, die Forschung in ihrem Heimatland betreiben.

Bei dieser Dreiteilung von Barrett wird deutlich, dass sich die Differenz zwischen Insider und Native Anthropology innerhalb der Indigenous Anthropology der 3.Welt-AnthropologInnen wiederholt.

Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden (siehe Vor- und Nachteile der Anthropology at Home[2]).

Literatur:

Barrett, Stanley R. (1996) Anthropology. A Student´s Guide to Theory and Method. Toronto: University of Toronto Press


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.5
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.5.2


5.2.1.5.2 Vor- und Nachteile der Antrhopology at Home

Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden, der sich aus den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen des Forschungskontextes ableitet.

Im Rahmen der Anthropology at Home können bei ethnographischen Untersuchungen sowohl qualitative wie quantitative Methoden herangezogen werden.


Die Vorteile für Anthropology at Home sind:

  • Wegfall langer Anreisen und erheblicher Reisekosten,
  • linguistische Kompetenz,
  • kein bedingungsloses Angewiesensein auf InformantInnen,
  • als Insider leichteres Verständnis der kulturellen Problematik,
  • sowie größere Kapazität, kulturelle Nuancen von non-verbalen und verbalen Daten wahrzunehmen.


Die Nachteile für Anthropology at Home sind:

  • Auf Grund der Vertrautheit werden viele Dinge des Alltagslebens von den ForscherInnen nicht hinterfragt und analysiert.
  • Zu geringe soziale Distanz zur untersuchten Gruppe kann einem unparteiischen Verhalten der ForscherInnen entgegenstehen.
  • Fehler im Verhalten der EthnographInnen werden nicht toleriert, da erwartet wird, dass die sozialen Regeln bekannt sind.

5.2.2 Die praktische Umsetzung einer ethnographischen Feldforschung

Die praktische Umsetzung einer ethnographischen Feldforschung beginnt bereits zuhause im Rahmen einer gezielten Vorbereitung. Vor Ort kommt die Umsetzung der Feldforschung nicht nur im Einsatz verschiedener Forschungsmethoden[1] und dem Anlegen von Feldnotizen[2] zum Ausdruck sondern auch im Umgang und der Zusammenarbeit mit InformantInnen, der Definition der eigenen Rolle im Feld und dem Aufbau eines Netzwerkes persönlicher Beziehungen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3


5.2.2.1 Worin besteht die richtige Vorbereitung für eine Feldforschung?

Vor dem Beginn einer empirischen Datenerhebung im Feld sollten Sie sich bereits zu Hause mit

  • der fachlich-wissenschaftlichen Vorbereitung[1] ,
  • der praktisch-organisatorischen Vorbereitung[2] ,
  • sowie ihrer persönlichen Vorbereitung[3] beschäftigen und über diese Bereiche Klarheit gewinnen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.2.1.3


5.2.2.1.1 Fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung

Die fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung der Feldforschung soll durch Literatur- und Sprachstudium zur Herausbildung eines wissenschaftlichen Vorverständnisses des gewählten Themas beitragen.

Zum wissenschaftlichen Vorverständnis zählen die Ausarbeitung der wissenschaftstheoretischen Position[1], die Ausarbeitung der anzuwendenden Methode(n) und Techniken[2], der Erwerb von Regionalkenntnissen[3], der Erwerb von Sachkenntnissen[4] sowie sprachliche Vorkenntnisse[5].

Neben der fachlich-wissenschaftlichen Vorbereitung müssen die praktisch-organisatorische Vorbereitung[6] und die persönliche Vorbereitung[7] einer Feldforschung durchgeführt werden.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.3
[4] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.4
[5] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5
[6] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2
[7] Siehe Kapitel 5.2.2.1.3


5.2.2.1.1.1 Ausarbeitung der wissenschaftstheoretischen Position

Zur Herausarbeitung eines wissenschaftlichen Vorverständnisses des Forschungsthemas zählt die Abklärung der wissenschaftstheoretischen Position, die der Feldforschung zu Grunde liegt.

Wenn ich z.B. eine Mythenforschung plane, wird zunächst mein theoretischer Zugang (historisch, strukturalistisch etc.) festzulegen sein.

Die gewählte theoretische Ausrichtung bestimmt die Ausarbeitung der anzuwendenden Methode(n) und Techniken[1].


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.2


5.2.2.1.1.2 Ausarbeitung der anzuwendenden Methode(n) und Techniken

Zur Herausarbeitung eines wissenschaftlichen Vorverständnisses des Forschungsthemas zählt nach erfolgter Ausarbeitung einer wissenschaftstheoretischen Position[1] die Ausarbeitung der anzuwendenden Methode(n) und Techniken.

Wenn ich z.B. eine Mythenforschung im Sinne der theoretischen Position des Strukturalismus plane, werde ich mich bei meinen Erhebungen der strukturalistischen Methode und ihrer Techniken bedienen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.1


5.2.2.1.1.3 Erwerb von Regionalkenntnissen

Zur Herausarbeitung eines wissenschaftlichen Vorverständnisses des gewählten Themas zählt die Aneignung von umfassenden Regionalkenntnissen des Gebietes, wo die Feldforschung stattfinden wird.


5.2.2.1.1.4 Erwerb von Sachkenntnissen

Zur Herausarbeitung eines wissenschaftlichen Vorverständnisses des gewählten Forschungsthemas zählt die Aneignung von umfassenden Sachkenntnissen jener Themen, welche im Rahmen der Feldforschung untersucht werden sollen, wie z.B. Migration, Religion, Kunst etc.


5.2.2.1.1.5 Sprachliche Vorkenntnisse

Zur Herausarbeitung eines wissenschaftlichen Vorverständnisses des gewählten Themas zählt die Aneignung von Vorkenntnissen jener Sprache(n), welche im Forschungsgebiet gesprochen wird (werden).

Die Sprache ist das erste und wichtigste Kommunikationsmittel zwischen ForscherIn und untersuchter Gesellschaft. Sie vermittelt den Zugang zu jener sozialen Realität, welche studiert werden soll.

Kultur- und SozialanthropologInnen stehen im Rahmen der weltweit über 6900 lebenden Sprachen[1]] in der Regel mehrere Möglichkeiten zur verbalen Kommunikation offen:

  • die Arbeit mit einer auch lokal verbreiteten Sprache europäischen Ursprungs[2],
  • die Arbeit mit einer lokalen Verkehrssprache[3]
  • oder die Arbeit in der lokalen bzw. indigenen Sprache[4], welche im Forschungsgebiet gesprochen wird.


Verweise:
[1] http://www.ethnologue.com/web.asp
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.2
[4] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.3


5.2.2.1.1.5.1 Sprachen europäischen Ursprungs

Im Zuge des Kolonialismus wurden europäische Sprachen (z.B. Englisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch, Russisch etc.) in weiten Teilen der Welt verbreitet und auch zu offiziellen Sprachen der neu entstandenen Nationalstaaten.

Die Arbeit mit einer auch lokal verbreiteten Sprache europäischen Ursprungs hat den Vorteil, dass sie den ForscherInnen leicht zugänglich ist. Der Nachteil der Kommunikation mit der europäischen Sprache liegt darin, dass sie in der Regel die Bildungssprache nur bestimmter, oft privilegierter Schichten ist. Einem/einer ForscherIn, die nur in dieser Sprache kommuniziert, ist der Zugang zu all jenen (Alltags-)Bereichen und Personengruppen verwehrt, innerhalb derer andere Sprachen gesprochen werden.

Die Notwendigkeit des Erwerbs unterschiedlicher Sprachkenntnisse hat sich deshalb immer am zu untersuchenden Feld zu orientieren. Ohne Kenntnis der im Alltag verwendeten Sprachen ist es nicht möglich, die lokalen Konzepte und Strategien der Akteure zu erfassen.

Deshalb ist neben der Kommunikation in der Sprache europäischen Ursprungs der Erwerb von sprachlichen Vorkenntnissen in einer lokalen Verkehrssprache[1] und/oder der indigenen Sprache[2] sinnvoll.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.3


5.2.2.1.1.5.2 Lokale Verkehrssprachen und Pidgin

Der Erwerb von Vorkenntnissen der lokalen Verkehrssprache (lingua franca bzw. Pidgin), welche im Forschungsgebiet gesprochen wird, ist neben der Verwendung einer Sprache europäischen Ursprungs[1] und der lokalen bzw. indigenen Sprache[2] eine Möglichkeit zur Kommunikation im Rahmen der Feldforschung.

Lokale Verkehrssprachen werden in einem weiten Regionalgebiet als Handelssprachen und zur interethnischen Kommunikation von mehreren Gruppen verwendet, die aber an sich jede eine andere Sprache sprechen. Lingua franca bzw. Pidgin sind deshalb aus der Sicht der SprecherInnen immer Zweitsprachen und keine Muttersprache.

So gilt z.B. das Arabische in weiten Teilen Ost-Afrikas als lingua franca; ebenso das Spanische bzw. Portugiesische für gewisse Indigene in Meso- und Süd-Amerika.

Der Nachteil der Arbeit mittels einer Verkehrssprache besteht darin, dass zwar interethnische Kontaktsituationen verstanden und erforscht werden können, der muttersprachliche Alltag ohne die Kenntnis der lokalen bzw. indigenen Sprache aber nicht bzw. nur unzureichend erfasst werden kann.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.3


5.2.2.1.1.5.3 Lokale bzw. indigene Sprachen

Neben der Arbeit mittels Sprache europäischen Ursprungs[1] und lokaler Verkehrssprache[2] besteht die Möglichkeit zur Kommunikation in der lokalen bzw. indigenen Sprache. Dabei kann es sich auch um Creol-Sprachen[3] handeln, die zur Muttersprache bestimmter Bevölkerungsgruppen geworden sind.

Die Arbeit mit der indigenen Sprache hat den Vorteil der unverzerrten Artikulation seitens der untersuchten Personen, wodurch die dahinter liegenden Denkkategorien ungefiltert zum Ausdruck kommen und erforscht werden können.

Ein weiterer Vorteil liegt in der besseren sozialen Einbindung der ForscherIn in die Gruppe, da das Sprechen der Muttersprache oft als ein Akt der Höflichkeit und des Interesses gewertet und honoriert wird.

Der Nachteil besteht darin, dass die Möglichkeit des Lernens einer indigenen Sprache, die nicht schriftlich fixiert ist, nur selten vor der Abreise zur Feldforschung gegeben ist.

In diesem Falle lohnt sich als Vorbereitung die Aneignung bestimmter Lerntechniken im Rahmen der allgemeinen Sprachwissenschaft (z.B. Gudschinsky, Sahra C. [1971] How to Learn an Unwritten Language. New York: Holt, Rinehart und Winston).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5.2
[3] https://www.ethnologue.com/subgroups/creole


5.2.2.1.2 Praktisch-organisatorische Vorbereitung

Neben der fachlich-wissenschaftlichen Vorbereitung[1] und der persönlichen Vorbereitung[2] einer Feldforschung ist ebenso die praktisch-organisatorische Vorbereitung durchzuführen.

Die praktisch-organisatorische Vorbereitung einer Feldforschung umfasst in erster Linie administrative Tätigkeiten. Diese sollten am besten in Form einer check-list zunächst übersichtlich dargestellt und im Zuge der Vorbereitung nach Erledigung abgehakt werden.

Die check-list soll zumindest die detaillierten Rubriken Projektanträge[3], Kontakte zu Institutionen im Forschungsland[4], Empfehlungsschreiben[5], Reisemodalitäten[6], Unterbringungsmöglichkeiten[7], medizinische Maßnahmen[8] und technische Ausrüstung[9] umfassen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.1
[4] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.2
[5] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.3
[6] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.4
[7] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.5
[8] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.6
[9] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.7


5.2.2.1.2.1 Projektanträge

Projektanträge auf die Gewährung von Fördermitteln, etwa im Rahmen von Stipendien[1]], für das Forschungsvorhaben sollen möglichst früh bei den zuständigen Stellen eingereicht werden, um über den finanziellen Rahmen des Projektes Bescheid zu wissen.


Verweise:
[1] https://studienpraeses.univie.ac.at/stipendien/


5.2.2.1.2.2 Kontakte zu Institutionen im Forschungsland

Es ist empfehlenswert, bereits vom Heimatort aus Verbindung zu österreichischen Botschaften, Kulturinstituten, Handelsdelegationen etc. sowie Universitäten im Land, wo die Feldforschung stattfinden soll, aufzunehmen.

Diese Kontakte können sich für wertvolle Forschungshinweise, aber auch für Unterbringungsmöglichkeiten[1] oder im Falle von Krankheit oder anderen Schwierigkeiten als sehr wertvoll erweisen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.5


5.2.2.1.2.3 Empfehlungsschreiben

Empfehlungsschreiben maßgeblicher österreichischer Institutionen (z.B. der Universität Wien) können sich im Forschungsland als überaus nützlich erweisen.

Sie umreißen kurz das wissenschaftliche Anliegen des geplanten Projektes und ersuchen um weitest gehende Unterstützung der ForscherIn.


5.2.2.1.2.4 Reisemodalitäten

Zeitgerecht vor Antritt der Feldforschung ist die (kostengünstigste) An- und Rückreisemöglichkeit bzw. die Reiseroute festzulegen.

Beachten Sie unbedingt die Einreisebedingungen des Forschungslandes (z.B. Visum, Aufenthaltsgenehmigung etc.)!


5.2.2.1.2.5 Unterbringungsmöglichkeiten

Es ist empfehlenswert, bereits vor Antritt der Reise die Unterbringungsmöglichkeiten im Forschungsland (zumindest für die ersten Tage) zu organisieren.

Kontakte zu Institutionen im Forschungsland[1] können sich diesbezüglich als nützlich erweisen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2.2


5.2.2.1.2.6 Medizinische Maßnahmen

Informieren Sie sich rechtzeitig, welche ärztlichen Vorsorgemaßnahmen (z.B. Impfungen) für ihr Forschungsland vorgeschrieben sind!

Diesbezügliche Informationen erteilen die Gesundheitsämter der Gemeinden, die Wiener Tropen- bzw. Hygiene-Institute u.a. öffentliche und private Stellen.

Da einige Impfungen eine längere Vorlaufzeit brauchen bzw. wiederholt werden müssen, um wirksamen Schutz zu bieten, ist unbedingt auf eine zeitgerechte Durchführung zu achten!

Ebenfalls ist die Zusammenstellung einer geeigneten Reiseapotheke zu planen, da in manchen Feldforschungsgebieten die medizinische Versorgung kaum oder nur mangelhaft gewährleistet ist.


5.2.2.1.2.7 Technische Ausrüstung

Überprüfen Sie vor Antritt der Feldforschung unbedingt die Funktionstüchtigkeit der technischen Ausrüstung (Notebook, Fotoapparat, Filmkamera, Diktiergerät etc.) und achten Sie auf das nötige Zusatzmaterial.


5.2.2.1.3 Persönliche Vorbereitung: Selbstreflexion der ForscherIn

Neben der fachlich-wissenschaftlichen Vorbereitung[1] und der praktisch-organisatorischen Vorbereitung [2] einer Feldforschung ist auch die persönliche Vorbereitung der ForscherInnen in Form einer Selbstreflexion von Bedeutung:

Die Zeit der Feldforschung bedeutet für alle ForscherInnen auch eine große persönlich-menschliche Erfahrung, die vielfach mit einer Initiationsphase verglichen wird.

Wie letztere birgt sie viele neue Erfahrungen, Unerwartetes, physisch wie psychisch Belastendes.

Deshalb empfehlen insbesondere amerikanische Methodenlehrbücher sich vor einer Feldforschung einer Analyse bei einem/einer Therapeuten/In zu unterziehen, um eigene Aggressionspunkte, Projektionen etc. auszuloten.

Zur Selbstreflexion der EthnographInnen siehe auch folgende Literatur:

Barrett, Stanley R. (1996) A Student´s Guide to Theory and Method. Toronto: University of Toronto Press; Davies, Charlotte Aull (2007) Reflexive Ethnography. A guide to researching selves and others. London: Routledge.

Auch ohne fachliche Unterstützung empfiehlt es sich in jedem Falle mittels Selbstreflexion seine eigenen Schwächen und Stärken und die daraus resultierenden Reaktionen unter unüblichen Konditionen kennen zu lernen.

Auch während des Feldforschungsaufenthaltes sollte diese Selbsttherapie durch die Führung eines persönlichen Tagebuches fortgesetzt werden.

Durch das spontane Aufschreiben aller persönlichen Betroffenheiten, Emotionen und Handlungen des abgelaufenen Tages lässt sich somit eine gewisse Distanz schaffen, um individuelle Befindlichkeiten und wissenschaftliche Fakten zu entwirren.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1.2

5.2.3 Wie schreibt man Feldnotizen?

Das Verfassen von Feldnotizen gehört neben anderen Strategien (Aufnehmen von Interviews, Fotografieren, Filmen, etc.) zu den zentralen ethnografischen Verfahren der Datendokumentation. Der Kern dieses Verfahrens besteht darin, Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen, die man als FeldforscherIn im Feld macht, systematisch in brauchbare Daten zu transformieren. Dabei stellen sich unterschiedliche Fragen:

  • Wie stellt sich das Verhältnis von verschriftlichten Daten und Erinnerungen[1] dar?
  • Was kann ich tun, damit ich mich an das Beobachtete und Erlebte wieder erinnere[2] ?
  • Wie kann ich die Beobachtungen zu vernünftigen schriftlichen Feldnotizen ausarbeiten[3] ?
  • Aus welchen Textgattungen[4] bestehen Feldnotizen?



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.1
[4] Siehe Kapitel 5.2.3.4


5.2.3.1 Headnotes und Fieldnotes

Ein zentrales Moment des Feldforschungsprozesses besteht in der Transformation von Feldforschungserfahrungen in verschriftlichte Feldforschungsnotizen, die dann für weitere Analysen verwendet werden können. Als FeldforscherIn kommt man aber nicht nur mit fieldnotes aus dem Feld zurück, sondern auch mit "headnotes", das heißt sowohl mit verschrifltichten Daten, wie mit einem Pool von Erfahrungen und Erinnerungen. Während die verschriftlichten Daten bleiben wie sie sind, ändern sich die headnotes im Laufe der Zeit und damit auch die retrospektive Interpretation der fieldnotes. Wie Sanjek (1990: 93) unter Verweis auf Ottenberg feststellt, ist Ethnographie daher ein Produkt dieses Wechselverhältnisses zwischen fieldnotes und headnotes.


5.2.3.2 Von der ethnographischen Erfahrung zu den Feldnotizen

Nachdem der Zugang zu einem Feld geschaffen wurde, beginnt man auf unterschiedliche Art und Weise in diesem zu interagieren und zu partizipieren. Dabei kann es sich zu Beginn um informelle Gespräche und Beobachtungen handeln, welche zu einem allmählichen Kennenlernen von lokalen Routinen und einem lokalen Alltagsverständnis führen. Dies führt in weiterer Folge zu einem "Eintauchen" in andere Lebenswelten und die lokale Kultur. Die zentrale Strategie ist eine "teilnehmende Beobachtung[1] ", wobei der Anteil der Beobachtung und der Teilnahme sich je nach Phase der Feldforschung unterschiedlich gestalten wird.

Im Zuge dieser ethnographischen Erfahrung wird nicht nur explizites Wissen generiert, sondern auch implizites, so genanntes "tacit knowledge", das heißt verinnerlichtes Wissen, welches zu einem Teil der Persönlichkeit des/der ForscherIn wird und mit der Übernahme von Regeln und Verhaltensweisen der jeweiligen Kultur einhergeht. Bei diesem impliziten "tacit konwledge" handelt es sich um eine zum Teil unbewusste bzw. halb-bewusste Verinnerlichung (embodyment) anderer kultureller Praktiken. Im Gegensatz dazu stehen die bewussten Erfahrungen und die sich im Laufe der Zeit verändernden Erinnerungen (headnotes[2] ).

Der zentrale Punkt der diese ethnographische Erfahrung zu einem Teil eines wissenschaftlichen, methodischen Vorgehens macht, besteht darin, diese Erfahrung fest zu halten, explizit zu machen und zu verschriftlichen. In diesem Prozess werden diese Erfahrungen in Daten in Form von Feldnotizen transformiert. Methodisch betrachtet handelt es sich dabei um einen Kernprozess der Feldforschung.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.1


5.2.3.3 Feldnotizen als Daten

Wie alle anderen Daten beinhalten auch Feldnotizen sowohl Informationen, Beschreibungen und Aussagen über ein Feld, als auch über die Art der Beobachtung, in diesem Fall des/der EthnographIn. Deshalb beinhalten Feldnotizen durchaus auch intime Informationen über den/die FeldforscherIn, seine/ihre Befindlichkeit, Ängste, Wünsche und Hoffnungen.

Innerhalb eines Forschungsprozesses machen Feldnotizen retrospektiv die eigenen Vorannahmen deutlich. Dies kommt z.B. dadurch zum Ausdruck, dass man beschreibt was man als neu und überraschend erlebt. Aus einem analytischen Blickwinkel macht dies (implizite) Erwartungshaltungen und möglicherweise unbewusste Grundannahmen sowie eigene Kategorien und Bewertungsschemata deutlich.

Feldnotizen veranschaulichen aber auch die Sensibilitäten des/der FeldforscherIn. Sie machen deutlich, was man zu Beginn einer Feldforschung wahrgenommen hat und was gegen Ende, was man zu gewissen Zeiten noch nicht bzw. nicht mehr - weil es selbstverständlich geworden ist - gesehen hat. Sie veranschaulichen, wofür man sensibilisiert wurde und was man in Interaktion mit dem Feld gelernt hat.

Feldnotizen machen aber auch die interaktiven Prozesse der Rollendefinition, das heißt das "role making" und "role taking", des/der FeldforscherIn deutlich. Welche Rollen sind im Feld für den/die ForscherIn vorhanden, welche bekommt er/sie zugeschrieben, wie geht er/sie damit um, was heißt dies für die Möglichkeiten der Forschung und Datengewinnung und wie verändert sich die Rolle, die man als FeldforscherIn einnimmt im Laufe der Zeit?

Feldnotizen können die ethnographische Erfahrung aber nie ungefiltert wieder geben. Die ethnographische Erfahrung selbst beruht bereits auf einer selektiven Wahrnehmung von den im Feld stattfindenden Ereignissen. Im Zuge einer Feldforschung ändert sich die Selektivität mit der man Ereignisse im Feld wahrnimmt, da diese von Wissen und Erfahrung abhängig sind.

Bei der Transformation der ethnographischen Erfahrung in verschriftlichte Daten kommt es unweigerlich zu einer weiteren Selektion: Einerseits werden nicht alle Erfahrungen verschriftlicht (d.h. sie bleiben im besten Fall headnotes[1], z.B. weil gewisse Ereignisse als nicht relevant erscheinen), andererseits bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten der Beschreibung einer Erfahrung bzw. eines Ereignisses. Es stellt sich also die Frage, welche Strategien[2] man sowohl im Feld, wie beim Ausarbeiten der Feldnotizen am Schreibtisch[3] anwenden kann, um möglichst qualitätsvolle Aufzeichnungen zu produzieren.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.1


5.2.3.4 Fieldnotes als unterschiedliche Textsorten

Der Charakter von Feldnotizen unterscheidet sich nicht nur individuell und Anlass bezogen je nach ForscherIn und Projekt, sondern fieldnotes bestehen im Normalfall aus sehr unterschiedlichen und sich gegenseitig ergänzenden Formen des Schreibens und resultierender Textsorten.

So unterscheidet Clifford (1990) drei Arten des Schreibens:

1) aufschreiben[1] (inscribing): das Aufschreiben eines Wortes oder einer Phrase, um eine Beobachtung festzuhalten oder um sich daran zu erinnern, was jemand gesagt hat.

2) transkribieren[2] (transcribing): das Verschriftlichen von Erzählungen, Mythen, Erklärungen etc. mit Hilfe von InformantInnen und/oder vom Band.

3) beschreiben[3] (describing): die Produktion einer mehr oder weniger kohärenten Repräsentation der beobachteten kulturellen Realität.

Zu den Textsorten, welche die fieldnotes umfassen, gehören u.a.:

  • Stichwörter[4],
  • ausgearbeitete Feldnotizen[5],
  • Transkripte[6],
  • spezialisierte Datensammlungen[7],
  • Memos[8],
  • eine Metadatendokumentation[9] sowie
  • schriftliche Interaktionen aus dem Feld[10].



Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.4
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.1
[4] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1
[5] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2
[6] Siehe Kapitel 5.2.3.4.4
[7] Siehe Kapitel 5.2.3.4.5
[8] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.4
[9] Siehe Kapitel 5.2.3.4.6
[10] Siehe Kapitel 5.2.3.4.7


5.2.3.4.1 Stichwortzettel

Abbildung: Stichwortzettel von Margaret Mead vom Feldforschungsaufenthalt bei den Tchambuli im Frühling 1933.[3]
Abbildung: Stichwortzettel von Margaret Mead vom Feldforschungsaufenthalt bei den Tchambuli im Frühling 1933.[4]

Ein zentraler Aspekt der Verschirftlichung und des Ausarbeitens von Feldnotizen ist die Notwendigkeit sich an die Ereignisse und Erlebnisse so detailgetreu wie möglich zu erinnern. Neben Mnemotechniken kommen dabei auch andere Erinnerungshilfen, wie z.B. das Aufschreiben (inscribing[1]) von Stichwörtern, zum Einsatz. Klassischerweise macht man sich auf kleinen Stichwortzetteln Notizen, die das nachträgliche Ausarbeiten der Feldnotizen unterstützen. Heutzutage kann es sich aber auch um kurze, in ein Diktiergerät gesprochene Sätze oder in ein Handy getippte Notizen handeln. Je nach Feldsituation ist zu entscheiden, ob, wann, wie offen und wie[2] solche Erinnerungshilfen angelegt werden können.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1
[3] http://www.loc.gov/exhibits/mead/images/mm0140bp1s.jpg
[4] http://www.loc.gov/exhibits/mead/images/mm0140bp2s.jpg


5.2.3.4.1.1 Empfehlungen für das Festhalten von Stichwörtern

Um möglichst lebendige und beschreibende fieldnotes zu produzieren geben Emerson et al (1995: 32ff) folgende Empfehlungen für das Festhalten von Stichwörtern. Man sollte:

  • Kernelemente beobachteter Szenen und Interaktionen festhalten, etwa Fragmente von Handlungen bzw. Gesprächen;
  • allgemeine generalisierende Charakterisierungen vermeiden, z.B. einen Arbeitsprozess nicht als "geschickt" bzw. "ungeschickt" charakterisieren, sondern Stichwörter festhalten, die es erlauben den Prozess als solchen zu beschreiben;
  • konkrete Sinneseindrücke im Bezug auf Handlungen und Gespräche festhalten, z.B. nicht bloß behaupten, dass jemand verärgert ist, sondern seine/ihre Reaktionen und Äußerungen beschreiben und dadurch den emotionalen Zustand nachvollziehbar machen. Der Fokus sollte darauf liegen, wie Gefühle zum Ausdruck gebracht werden und nicht darauf, was vermeintliche Gefühle sind.
  • jene Sinneseindrücke festhalten, die zentral sind, aber die man leicht vergessen würde. Dazu ist es notwendig, die Selektivität der eigenen Erinnerung kennen zu lernen.
  • Stichwörter sollen generelle Eindrücke und Gefühle signalisieren auch wenn man sich in der Situation noch nicht über deren Relevanz im Klaren ist.



5.2.3.4.2 Ausgearbeitete fieldnotes

Im Gegensatz zu den Erinnerungen (headnotes)[1], dem erworbenen "tacit knwoledge[2] " und den Stichwortzetteln[3] handelt es sich bei den ausgearbeiteten fieldnotes nicht um rohe, einfach nur aufgeschriebene Daten, sondern um die Produktion einer kohärenten Beschreibung. Diese ist zentral im Feldforschungsprozess und solche Beschreibungen müssen produziert werden, können akkumuliert, später kodiert bzw. indiziert werden und bilden die Grundlage für jedwede weitere Analyse. Ausgearbeitete fieldnotes repräsentieren somit nicht nur mechanisch Erinnertes, vielmehr sind die präsentierten Fakten ausgewählt, fokussiert und bereits ansatzweise interpretiert.

Sie entstehen nicht nur aus einem Prozess des Auf- bzw. Niederschreibens (write down bzw. inscription[4]) sondern in einem schriftlichen Ausformulieren (wirte up bzw. description), welches bewusst zusammengesetzte (dichte) Beschreibungen produziert. Im Prozess der Ausarbeitung können unterschiedliche Schreibstile und Strategien[5] angewandt werden.

Abbildung: Abbildung: Fieldnotes von Margaret Mead, "Iatmul field notes for May 5, 1938.[6]

"PARTIAL TRANSCRIPTION OF PAGE:

Consider difference [between?] boys + girls
in affective vs. cognitive culture.

Diff. strong Arapesh, Mundugumor
Tjambuli (less)
?Iatmul,
Diff. slighter - Manus(?) Bali Samoa
Manus and Tj. are borderline cases.
Due to early affective assimilation of
girls to adult female standard

-impossible for boys-
Perhaps differential intellectual curiosity
of boys + girls may be partly laid
to this rather than to drive."


(Quelle: http://www.loc.gov/exhibits/mead/...[6] 06.04.2007)

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1
[4] Siehe Kapitel 5.2.3.4
[5] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2
[6] http://www.loc.gov/exhibits/mead/field-iatmul.html



5.2.3.4.2.1 Das Ausarbeiten der Fieldnotes
Abbildung: Gregory Bateson und Margaret Mead beim Ausarbeiten der Fieldnotes im "Moskitozimmer" bei den Iatmul 1938.[1]

Das Ausarbeiten der fieldnotes ist im Normalfall ein zeitaufwendiger Prozess und man sollte davon ausgehen, dass für jede Stunde Beobachtungszeit zumindest eine weitere Stunde benötigt wird um die Beobachtungen in einer schriftlichen Form auszuarbeiten. Heute können solche fieldnotes zum Teil mittels Spracherkennungssoftware diktiert werden. In der Literatur findet sich die Empfehlung, fieldnotes so rasch wie möglich zu verfassen, damit der Eindruck des Erlebten möglichst „frisch“ und unverändert ist. Gespräche über erlebte Ereignisse führen dazu, das Verständnis des Erlebten zu transformieren bzw. bereits selektiv zu interpretieren, weshalb empfohlen wird, die Feldnotizen zu verfassen, bevor eine solche Transformation stattfindet. In der Praxis eines permanenten Feldaufenthaltes erweist es sich zumeist als schwierig, mit seinen fieldnotes up to date zu sein und erfordert oft äußerste Disziplin.

Die Art und Weise, wie die fieldnotes verfasst werden, ist natürlich auch vom intendierten bzw. imaginierten Publikum abhängig. Also von der Frage, ob sie anderen zur Verfügung gestellt werden, oder ob es sich um rein persönliche und intime Aufzeichnungen handelt. Wichtig ist, dass die fieldnotes auch ausreichende Details und Hintergrundinformationen beinhalten, so dass sie auch nach Jahren noch sinnvoll interpretierbar sind, wenn der unmittelbare Eindruck der Feldsituation bereits verblasst ist. Wenn man Feldnotizen im Bewusstsein verfasst, dass diese für ein breiteres Publikum bestimmt sind, so werden die Aufzeichnungen im Normalfall reichhaltiger sein, mehr Hintergrund- und Kontextinformationen beinhalten und vermeintlich selbstverständliche Details expliziter ausführen.


Verweise:
[1] http://www.loc.gov/exhibits/mead/images/mm0211bs.jpg


5.2.3.4.2.2 Stile und Strategien des Verfassens von Fieldnotes

Es existieren unterschiedliche Strategien, die Feldnotizen auszuarbeiten. Ausgangspunkt des Ausarbeitens sind die Stichwörter[1] und Notizen, welche man z.B. im Laufe eines Tages verfasst hat. Ausgehend davon kann man chronologisch vorgehen und die Ereignisse des Tages in ihrer Abfolge beschreiben oder aber das Ausarbeiten der Feldnotizen nach thematischen Prinzipien organisieren. Darüber hinaus kann man auch mit einer möglichst detaillierten lebendigen Beschreibung besonderer Ereignisse beginnen, welche dann im Rahmen der sonstigen Tagesereignisse bzw. thematischen Zusammenhänge verankert werden.

Ziel ist, aus der fragmentierten und zerstückelten Information, welche die Stichwörter darstellen, eine kohärente Beschreibung anzufertigen. Dabei ist zu beachten, dass der Großteil der Information der zu erstellenden Beschreibung nicht in den Stichwörtern festgehalten wurde, denn diese stellen nur Hilfen dar, um Erinnerungen reaktualisieren und verschriftlichen zu können. Dementsprechend werden direkte Zitate in diesen Beschreibungen nur dann eingesetzt, wenn es sich um Aussagen handelt, die direkt im Feld aufgezeichnet wurden, nicht aber, wenn es sich um eine gedächtnisgestützte Rekonstruktion des Gesagten handelt. Beim Ausarbeiten der fieldnotes handelt es sich bereits um eine erste vorläufige Interpretation in der Erfahrungen geordnet und Interaktionsmuster benannt werden. Möglicherweise werden nicht alle stichwortartigen Aufzeichnungen in die ausgearbeiteten fieldnotes inkludiert, da sie zu einem gewissen Zeitpunkt noch keinen Sinn machen, das heißt noch nicht sinnvoll interpretiert werden können. Mit großer Wahrscheinlichkeit können sie aber zu einem späteren Zeitpunkt für die Analyse des Materials relevant werden. Deshalb ist es ratsam auch vage, scheinbar unwichtige, nicht oder nur ansatzweise verstandene Details festzuhalten, da diese auf Phänomene verweisen können, die sich zu einem späteren Zeitpunkt als zentral erweisen.

Die konkreten Beschreibungen können auf doppelte Weise unterschiedlich organisiert sein: Einerseits kann die Beschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven[2] erfolgen, andererseits kann der zeitliche Ablauf[3] der Beschreibung variieren. Weiters kann man Szenen mittels unterschiedlicher Verfahren darstellen[4] und diese Szenen miteinander in Beziehung setzten[5].


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.2
[4] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.3
[5] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.4


5.2.3.4.2.2.1 Beschreibungsperspektiven

Die Beschreibung kann grundsätzlich aus drei unterschiedlichen Perspektiven erfolgen: aus der Perspektive des Ich- Erzählers, aus der Position dritter Personen bzw. aus einer „Allwissenden Perspektive“ (Emerson et al 1995: 52ff):

  • Aus der Perspektive des Ich-Erzählers kann man als EthnographIn die eigene Geschichte darstellen, in dem man festhält, was man weiß, erfahren und gefühlt hat, während man mit Anderen interagiert hat. Diese Perspektive ermöglicht es, die eigenen Erfahrungen und Reaktionen in Auseinandersetzung mit den Handlungen und Gesprächen im Feld darzustellen. Wie Emerson et al feststellen, ist diese Perspektive besonders effizient, wenn der/die EthnographIn ein Mitglied jener Gruppe ist, die er/sie studiert. Die Perspektive des Ich-Erzählers ermöglicht in diesem Fall eine „Insider-Sichtweise auf Handlungen, die durch ihr ethnographisches Interesse gefiltert ist“ (Emerson et al 1995:53). Durch diese Perspektive kann auch der natürliche Fluss der Ereignisse aus der Sicht des Gruppenmitglieds dargestellt werden. Man kann nicht nur festhalten, was Personen im Feld getan oder gesagt haben, sondern auch vermitteln, wie man sich angesichts dieser Handlungen und Aussagen gefühlt hat und wie man darauf reagiert hat. Diese Position macht es möglich, die Erfahrung des/der AutorIn, nicht nur als Mitglied einer Gruppe, sondern auch als involvierte/r teilnehmende/r BeobachterIn, im Sinne einer Selbst-Reflexionen über diese teilnehmende Beobachtung darzustellen.
  • Aus der Positionen der dritten Person beschreibt man, was die anderen tun und sagen. Man berichtet dabei, was man von Anderen im Zuge der Beobachtung gesehen oder gehört hat. Dabei kann sich der/die SchreiberIn als teilnehmende/r BeobachterIn in die Szene inkludieren und die eigenen Antworten und Reaktionen in Nebenbemerkungen anführen, die wiederum in der ersten Person geschrieben sind. Beim Schreiben aus der Position der dritten Person, sollte man Andere nur durch jene Aktivitäten und Aussagen charakterisieren, die man wirklich gesehen und gehört hat. Interpretationen sind zu vermeiden. Die Beschreibung fokussiert darauf, was Personen gesehen, gesagt und getan haben. Man sollte vermeiden über die Motive oder die Gedanken der Anderen zu spekulieren, die Beschreibung auf tatsächlich Beobachtetes beschränken und zeigen, was getan und gesagt wurde. Die wörtliche Wiedergabe von Aussagen gemeinsam mit einer Beschreibung der Gesten und der Mimik ist eines der effektivsten Mittel, um eine Person zu portraitieren. Durch diese Strategie stellt man eine andere Person ins Zentrum der Beobachtung und charakterisiert sie durch ihre Handlungen und Äußerungen. Dies führt zu einer Beschreibung aus einer „fokussierten Position der dritten Person“ (Emerson et al 1995: 57). Ethnographische Beschreibungen können auch so organisiert sein, dass man unterschiedliche solcher fokussierten Positionen dritter Personen gegenüberstellt und dadurch die unterschiedlichen Standpunkte und multiplen Stimmen im Feld vermittelt.
  • Im Gegensatz zur Position des Ich-Erzählers oder jener der dritten Person, nimmt man in der „Allwissenden Perspektive“ eine losgelöste Position „über bzw. außerhalb“ der Ereignisse ein. Man kann frei von einem Ort oder Zeitpunkt zum anderen sowie zwischen den Charakteren wechseln. Bei dieser Position werden realistische Erzählungen in einem „objektiven“ Tonfall und Stil erstellt, in denen nicht nur ein Zugang zu den offenkundigen Handlungen und Aussagen der AkteurInnen möglich ist, sondern auch zu ihren Gedanken, Gefühlen und Motiven. Es wäre nicht möglich eine solche allwissende Darstellung zu verfassen, hätte man nicht viele Stunden damit verbracht die Leute zu interviewen und sie auch in Bezug auf ihre Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen über bestimmte Ereignisse zu befragen. Dieser allwissende Stil produziert Feldnotizen, in welchen sich die partizipative Erfahrung des/der EthnographIn mit den Berichten der anderen vermischt. Sie reduziert und verbindet multiple Perspektiven und Beschreibungen und bringt so eine einzige, allwissende Stimme zum Ausdruck, was allerdings dazu führt, die unterschiedlichen Interpretationen konkurrierender Versionen der Welt zu ignorieren.

    Bei der Ausarbeitung von Feldnotizen sind diese Perspektiven unterschiedlich einsetzbar und auch miteinander kombinierbar. Insgesamt sollten die Feldnotizen eine Balance zwischen der Sensitivität gegenüber der Erfahrung der Anderen im Feld und einer selbst-reflexiven Aufmerksamkeit des/der FeldforscherIn im Bezug auf die eigenen Wahrnehmungen und Reaktionen diesen Anderen gegenüber zum Ausdruck bringen. Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Positionen, die in den Feldnotizen zum Ausdruck kommen, verdeutlicht diese selbst-reflexive Sensitivität gegenüber den Anderen.

    Neben der Möglichkeit, die Beschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven vorzunehmen, kann auch der zeitliche Ablauf[1] der Beschreibung variieren.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.2


5.2.3.4.2.2.2 Echtzeit- und Endpunkt-Beschreibungen

Die konkreten Beschreibungen können unterschiedlich organisiert sein, so kann etwa der zeitliche Ablauf der Beschreibung variieren:

  • Beschreibungen können in Echtzeit angefertigt werden, das heißt, den realen Verlauf der Ereignisse nachvollziehbar machen. Diese Nachvollziehbarkeit beruht auf einer zum Zeitpunkt des Ereignisses jeweils unvollständigen Perspektive und einem nur teilweisen Verständnis der Situation. In diesem Fall versucht man die Ereignisse zu charakterisieren, indem man die Entwicklung des Ereignisses selbst von einem Standpunkt aus nachvollziehbar macht, der immer nur das jeweilige Vorverständnis miteinschließt, welches man selbst zu diesem Zeitpunkt hatte.
  • Im Gegensatz dazu wird eine Endpunkt-Beschreibung von dem Verständnis aus angefertigt, welches man letztlich von einem Ereignis erlangt hat. Hier werden also gezielt Fakten oder Interpretationen eingeführt, um vor deren Hintergrund zu beschreiben und zu charakterisieren, was in früheren Phasen des Ereignisses vor sich gegangen ist.

Bei Beschreibungen kann nicht nur der zeitliche Ablauf variieren, sondern diese können auch aus unterschiedlichen Perspektiven[1] erfolgen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.1


5.2.3.4.2.2.3 Die Darstellung von Szenen

Zentrales Anliegen eines/r EthnographIn ist es, eine soziale Welt und ihre Menschen zu beschreiben, was durch die Darstellung unterschiedlicher Szenen dieser Welt geschehen kann.

Bei der Darstellung solcher Szenen geht es um eine Veranschaulichung der grundlegenden Charakteristika des Umfelds[1], um in diesem die wichtigsten Personen des Feldes[2] zu charakterisieren und den Dialog zwischen den Personen[3] darzustellen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.3.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.3.2


5.2.3.4.2.2.3.1 Veranschaulichung

Die Veranschaulichung der Charakteristika des Umfelds erfolgt durch die Vermittlung konkreter sinnlicher Details der grundlegenden

  • Szenen,
  • Menschen,
  • Objekte
  • sowie der Handlungen,

die beobachtet werden. Diese möglichst bildhaften Beschreibungen sind ein Teil der Dokumentation von Tagesereignissen. In der Schilderung dieser Aspekte stehen konkrete sinnliche Details im Zentrum, wie z.B. Farbe, Form, Größe, Besonderheiten der Geräusche oder des Klangs, der Gerüche, der Gesten, Bewegungen und Gesichtsausdrücke. Solche sinnlichen Eindrücke werden miteinander kombiniert, um eine Szene möglichst bildhaft und lebendig zu beschreiben. Eine Szene sollte auch durch ihre Interaktion dargestellt werden. Bei längeren Szenen sollte man Übergangsmarkierungen benützen, wenn Zeit, Platz oder Personen sich abwechseln.

Es ist manchmal besonders schwierig, solche Beschreibungen in einer lebendigen und aussagekräftigen Art und Weise anzufertigen, was daran liegt, dass wir Fremde auf stereotype Art und Weise wahrnehmen und sie z.B. nur in Bezug auf Geschlecht, Alter, Hautfarbe oder andere physische Merkmale charakterisieren. So liest man oft von „einer jungen Frau“ einem „älteren Mann mit grauen kurzen Haaren“.

Auszug aus einer Beschreibung einer Szene:

... Istvan sitzt, wie jeden Tag, am Fuße des Denkmals und lässt sich von der Seite die Morgensonne auf den Rücken scheinen. Mit angezogenen Beine, leicht vorgebeugt und die Hände auf seine Knie gestützt, blickt er mit halbgeschlossenen Augen auf die am frühen Morgen nicht all zu häufigen Passanten. Sein entspannter Gesichtsausdruck und sein zahnloses Oberkiefer lassen in seinem unrasierten Gesicht das Kinn markant nach vorne und im Profil vor die Nase treten. Wie immer, wenn er aus dem Obdachlosenheim hierher kommt, ist er mit einer Decke, seiner warmen Jacke und, wenn er am Vortag Glück hatte und es sich leisten konnte, mit einer Packung Zigaretten ausgerüstet. Seine Kleidung, eine alte dunkle Hose und ebensolche Turnschuhe, sind ebenso wie seine Jacke hellgrau bis schwarz. Die orange Wolldecke - die er gemeinsam mit seiner Jacke ordentlich zu einer Sitzunterlage gefaltet hat - ist der einzige Farbakzent in seiner Erscheinung. Zu dem gesellt sich neben der roten Zigarettenpackung noch ein rot-weißer McDonald’s-Becher, den er sich, bevor er hier Stellung bezieht, von der Filiale auf der anderen Seite des Platzes von einem der Tabletts besorgt und der ihm für den Rest des Tages als zentrales Arbeitsmittel dient, mit dem er schweigend die Spenden der Passanten sammelt ...

5.2.3.4.2.2.3.2 Dialog

Dialoge sollten so exakt wie möglich wiedergegeben werden.
Dies kann durch direkte Zitate[1] und indirekte Zitate[2], durch die Wiedergabe der Aussagen Dritter durch Anwesende im Feld (z.B. Die Lisi sagte, dass Peter gestern gemeint hat, dass das Ganze "nur ein Schmäh" war.) sowie durch Paraphrasierung geschehen. Dabei sollte nicht nur der verbale Verlauf des Gesprächs wiedergegeben werden, sondern auch Gesten, Körperhaltungen, Gesichtsausdrücke etc. mitberücksichtigt werden. Dies kann besondere Schwierigkeiten erzeugen, solange der/die ForscherIn nicht die Sprache der Personen im Feld spricht und auch die Bedeutung der Gesten noch nicht richtig interpretieren kann. Eine Möglichkeit diese Problematik in der Anfangsphase einer Feldforschung zu umgehen besteht darin, neben den Feldnotizen Tonband- und Videoaufnahmen zu machen und diese dann (mit Hilfe eines/einer InformantIn) zu transkribieren[3] und interpretieren. Unklarheiten können so durch zusätzliche Fragen erörtert und geklärt werden.

Um Dialoge möglichst exakt rekonstruieren zu können, sollten wenn möglich, Stichworte[4] von den zentralen Interaktionssequenzen notiert werden.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.3.1 der Lernunterlage Das Verfassen Wissenschaftlicher Arbeiten
[2] Siehe Kapitel 1.3.3.2 der Lernunterlage Das Verfassen Wissenschaftlicher Arbeiten
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.4
[4] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1


5.2.3.4.2.2.3.3 Charakterisierung

Eine Person nur zu beschreiben ist niemals so effektiv, als darzustellen, wie sie tatsächlich lebt und dies kann durch eine Interaktion besser gezeigt werden, als durch eine isolierte Beschreibung. Für gewöhnlich werden Personen, die aktiv im Vordergrund des Ereignisses stehen detaillierter beschrieben als andere. Eine solche Beschreibung inkludiert auch die Bemerkungen dritter Personen im Feld zur Charakterisierung einer Person. Wenn bereits Charakterisierungen einer Person im Rahmen der fieldnotes vorliegen, kann sich die Darstellung einer neuen Situation auf die aktuellen Aussagen und Verhaltensweisen dieser Person beschränken.


5.2.3.4.2.2.4 In-Beziehung-Setzung von Szenen

Umfassende Beschreibungen einer Szene können verschiedene Momente umfassen. Skizzen umfassen einen Ausschnitt des Lebens, wie er in einer bestimmten Szene beobachtet wurde, während Episoden und ausführlichere Erzählungen über Interaktionen und Ereignisse einer sich entwickelnden und dynamischen Ereignisabfolge berichten.

  • Bei den Skizzen handelt es sich daher eher um statische "Schnappschüsse" bzw. Stillleben (Emerson et al 1995: 86f), in denen die Abfolge der Aktionen keine dominante Rolle spielt.
  • In einer Episode schildert der/die FeldforscherIn einen Vorfall als kontinuierliche Handlung oder Interaktion, z.B. bei simultanen, aber unterschiedlichen Interaktionen zur selben Zeit am gleichen Ort, wie sie etwa bei Beobachtung einer Schulklasse auftreten.
  • Bei Erzählungen handelt es sich um zusammenhängende Episoden, die aufgrund der AkteurInnen oder ähnlicher Aktivitäten chronologisch gereiht sind. Dabei ist es nicht zentral, eine einheitliche Geschichte zu erzählen, vielmehr geht es darum zusammenhängende Episoden nebeneinander zu stellen. Es handelt sich dabei um einen lose strukturierten "episodic (...) string of action chunks put down on the page one after an other" (Emerson et al 1995: 90).


5.2.3.4.2.2.3.4 Bedeutungen der lokalen AkteurInnen

Eine zentrale Aufgabe der Feldnotizen ist es, die Bedeutung, welche die lokalen AkteurInnen mit ihren Handlungen verbinden, zu dokumentieren.

Dabei sollte man vermeiden, in den klassischen Ethnozentrismus zu verfallen und Kategorien, Standards oder Bedeutungen der eigenen Kultur zu verwenden, um Ereignisse in einer anderen zu beschreiben. Ebenso sollte man vermeiden, die Kategorien einer lokalen Kultur zur Beschreibung einer anderen lokalen Kultur zu verwenden. Weiters sollte vermieden werden, eine (ab)wertende Haltung gegenüber den Bedeutungen der lokalen AkteurInnen einzunehmen und diese etwa als vage, widersprüchlich oder trügerisch zu interpretieren. Dies kann verhindern, die Alltagseffizienz dieser Auffassungen zu erfassen. Weitere Hindernisse die Bedeutung, welche die lokalen AkteurInnen mit ihren Handlungen verbinden, zu erfassen, bestehen in einer normativen Voreingenommenheit, welche festlegt, was die offizielle, authentischen bzw. legitime Version eines Phänomens ist. Ein weiteres Problem kann eine theoretische Voreingenommenheit darstellen, die theoretische Unterscheidungen und Kategorien auf das Feld projiziert, welche vor Ort in dieser Form jedoch keine Relevanz besitzen.

Die lokalen Bedeutungen kommen auf vielfältige Art und Weise in alltäglichen Interaktionen zum Ausdruck:

  • Dies beginnt bereits bei Anrede- und Grußformen, welche den relativen Status der AkteurInnen in Begrifflichkeiten der Hierarchie, der Nähe, des gegenseitigen Respekts, der gegenseitigen Achtung aber auch der Freundschaft und Feindschaft zum Ausdruck bringen.
  • Für alltägliche Fragen (z.B. Wie geht es?) und die Antworten, die darauf gegeben werden, gilt Ähnliches. Sie bringen das Verhältnis der AkteurInnen zum Ausdruck und vermitteln Einsichten in die Relevanz zentraler Themen, wie etwa Familie, Gesundheit, Arbeit, etc.
  • Weiters ist man als EthnographIn mit natürlich vorkommenden Beschreibungen der AkteurInnen im Feld konfrontiert. Die AkteurInnen liefern z.B. solche Beschreibungen ihrer Umwelt, ihres Wohnorts bzw. ihrer Familie, wenn sie Außenstehende in diese Bereiche einführen und ihnen die Besonderheiten dieser vorführen.
  • Solche Beschreibungen können aber auch während alltäglicher Gespräche zum Ausdruck kommen und sie zeigen sich insbesondere, wenn Außenstehenden erklärt wird, „wie Dinge zu tun sind“. Dabei sollte der/die FeldforscherIn aber nicht von vornherein davon ausgehen, dass über dieses „WIE“ bei allen AkteurInnen im Feld eine einheitliche Meinung besteht.
  • Lokale Bedeutungen kommen auch in Geschichten der AkteurInnen zum Ausdruck, in denen sie z.B. Ereignisse beschreiben, die sie beobachtet oder erlebt haben und/oder die Taten anderer kommentieren (Tratsch).
  • In den Berichten und Aussagen der AkteurInnen kommen auch spezifische Termini, Typen und Typologien zum Ausdruck, die auf zentrale lokale Unterscheidungen verweisen. Diese können aber von unterschiedlichen AkteurInnen im Feld mit verschiedenen Bedeutungshorizonten verwendet werden.
  • Ein weiterer Punkt sind indigene Kontraste, welche Einsichten in die Wahrnehmung und Beurteilungen der AkteurInnen im Feld ermöglichen.
  • Als EthnographIn sollte man aber auch danach trachten, komplexere lokale Erklärungen wann, wie und warum bestimmte Dinge auf bestimmte Art und Weise gemacht werden, zu erhalten und nach Möglichkeit die lokalen Theorien und Rationalisierungen für diese Tätigkeiten in Erfahrung bringen.


5.2.3.4.3 Organisation der fieldnotes

Die Organisation der fieldnotes kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen und beginnt textintern bereits mit der unterschiedlichen Darstellung und Verknüpfung von Szenen[1].

In Bezug auf die Organisation eines größeren und im Laufe der Feldforschung wachsenden Pools von Feldnotizen können unterschiedliche Strategien verfolgt werden. Die Grundlogik des Verfassens der fieldnotes ist in vielen Fällen eine chronologische, gleichzeitig empfiehlt es sich, parallel dazu auch eine thematische Ordnungslogik zu entwickeln. Diesbezüglich existieren unterschiedliche Strategien:

Manche FeldforscherInnen verwenden von Beginn an bereits existierende, standardisierte Ordnungslogiken bzw. Kodeschemata, wie z.B. das Outline of Cultural Materials[2]] (siehe auch Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF[3]). Andere hingegen entwickeln eigene Kodeschemata im Zuge der Analyse der eigenen fieldnotes. Die Verwendung solcher Kodes variiert und reicht von einer simplen Indizierung des Materials. Dabei werden die ursprünglichen Feldnotizen mit Hinweisen in Form zentraler Begriffe oder Zahlen, die diesen begriffen zugeordnet sind, versehen, um innerhalb des Materials relevante thematische Stellen rasch auffindbar und miteinander verknüpfbar zu machen. Am anderen Ende des Spektrums stehen unterschiedliche Kodierstrategien als Teil eines analytischen Prozesses, der z.B. im Sinne der Grounded Theory darauf abzielt, Kategorien und Konzepte und in letzter Konsequenz gegenstandsbezogene Theorien zu entwickeln.

Abbildung: Margaret Mead’s Notizen zum Brautpreis bei den Arapesh, 25. März 1932. [5]

Wie solche chronologischen und thematischen Ordnungslogiken praktisch umgesetzt werden können ist auch abhängig von der Infrastruktur, die im Feld zur Verfügung steht. Solange Elektrizität vorhanden ist, können elektronische Formen der Textverarbeitung verwendet werden, welche das Kopieren und Reorganisieren gewisser Ausschnitte der Feldnotizen einfach machen und sich mit besonderer Software, wie etwa Atlas.ti[4]], besonders effizient gestalten lassen. Schwieriger ist es, wenn man nur mit Papier, Bleistift bzw. Schreibmaschine arbeiten kann. In diesem Fall empfiehlt es sich, ein Karteikarten- bzw. Zettelkastensystem anzulegen und entweder Einträge sofort auf Karteikarten, versehen mit Ort, Datum und thematischem Schlagwort zu verfassen oder chronologisch in Form eines Tagebuchs verfasste Aufzeichnungen nachträglich mittels Verweisen und Zettelkasten zu erschließen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.3
[2] https://hraf.yale.edu/resources/reference/outline-of-cultural-materials/
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.3
[4] http://www.atlasti.com/de/
[5] http://www.loc.gov/exhibits/mead/images/mm0136cs.jpg


5.2.3.4.4 Transkripte

Neben dem Aufschreiben von Stichwörtern[1] (write down) in der Feldsituation und dem Ausformulieren und Beschreiben (write up) im Rahmen des Ausarbeitens der fieldnotes, transkribiert man im Rahmen der Feldforschung auch unterschiedliche Arten von Texten (write over). Dabei kann es sich um die Transkription von Interviews[2], aber auch von Mythen, Gesängen, rituellen Texten und anderen Formen von Oralliteratur handeln. Im Prinzip stehen zumindest zwei grundlegende Formen der Transkription zur Verfügung:

  • Die Transkription von audio-visuell dokumentiertem Material;
  • Die Transkription ohne audio-visuelle Dokumentation, in Zusammenarbeit mit InformantInnen und FeldassistentInnen; Schirftkundige InformantInnen können nach einer Einschulung in grundlegende Transkriptionsregeln auch dazu angeregt werden, eigenständige Transkriptionen solcher Texte vorzunehmen.

Transkribierte Texte müssen immer auch Informationen über den/die InformantIn, den Ort, das Datum und die Situation und Art der Aufnahme des Textes beinhalten.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.3


5.2.3.4.5 Spezialisierte Datensammlungen

Abbildung: Margaret Mead´s "Tchambuli Language Memorizing Book," ca. 1933.[4]

Im Rahmen einer Feldforschung ist es höchst wahrscheinlich, dass nicht nur Stichwortzettel[1], ausgearbeitete fieldnotes[2] und transkribierte Texte[3] als Daten produziert werden, sondern auch darüber hinausgehende spezialisierte Datensammlungen angelegt werden.

Je nach thematischer Orientierung der Feldforschung werden diese Datensammlungen einen unterschiedlichen Charakter annehmen. So kann es sich dabei z.B.

  • um eigene Aufzeichnungen zur lokalen Sprache,
  • um standardisierte Fragebögen,
  • um systematische Datenerhebungen in Bezug auf Demographie, Haushaltsstrukturen und -Zusammensetzungen in einer bestimmten Region,
  • um standardisierte Tests (z.B. zur Farbwahrnehmung oder anderer kognitiver oder psychologischer Prozesse),
  • um Zeitverwendungsprotokolle im Rahmen von "time allocation studies",
  • um die systematische Dokumentation der Aneignung und Verwendung von natürlichen Ressourcen,
  • um unterschiedliche verwandtschaftsethnologische Methoden,
  • oder um visuelle Methoden (Foto, Film) zur Dokumentation bestimmter Bereiche der lokalen Kultur handeln.

Innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie existieren eine ganze Reihe unterschiedlicher methodischer Verfahren zur Erforschung, d.h. zur Datendokumentation und -Analyse ausgewählter Sachbereiche, welche die hier skizzierten allgemeinen und grundlegenden Feldforschungspraktiken ergänzen und die sich an thematischen Ausdifferenzierungen der Disziplin orientieren, wie z.B. der Ethnosoziologie und Kinship Studies, der Ökonomischen Anthropologie, der Rechtsanthropologie, der Linguistischen Anthropologie, der Ritual- und Mythenforschung, der Kunstanthropologie, der Medizinanthropologie und Ethnomedizin, der Medienanthropologie, der Globalisierungs- und Transnationalismusforschung, der Organisationsanthropologie, der Friedens- und Konfliktforschung, der Migrationsforschung, der Kognitiven Anthropologie, der Anthropologie der Natur und Umwelt, der Religions- und Bewusstseinsforschung etc.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.4.4
[4] http://www.loc.gov/exhibits/mead/images


5.2.3.4.6 Metadatendokumentation

Abbildung: Margaret Mead’s "Bathing I Sami (Sama)" fieldnotes 30. April 1937. Bajoeng Gedé, Bali.[1]

Da im Zuge der Feldforschung unterschiedliche Methoden der Datenerhebung und Datendokumentation eingesetzt werden, ist es hilfreich eine systematische Metadatendokumentation vorzunehmen. Deren Ziel ist, in einer chronologischen Abfolge die unterschiedlichen Daten und Dokumentationsstrategien auf eine nachvollziehbare Art und Weise mit einander zu verknüpfen, so dass auch zu einem späteren Zeitpunkt nachvollziehbar ist, welche Fotografien oder Tonaufnahmen mit welchen Feldnotizen oder Transkripten in Beziehung stehen und an welchem Ort, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Personen die jeweilige Datenerhebung durchgeführt wurde.

Parallel dazu kann es sinnvoll sein, eigene Dateien für einzelne Personen im Feld anzulegen, welche Grundinformationen in Bezug auf grundlegende Sozialdaten, wie Alter, Ort der Geburt, nächste Verwandtschaft, besondere Funktionen und biographische Besonderheiten enthalten.

Folgender Ausschnitt aus Margaret Meads Feldnotizen stellt eine derartige Verknüpfung zwischen Fotografien, Filmaufnahmen und konkreten chronologischen Ereignissen im Feld exemplarisch dar.

Verweise: [1] http://www.loc.gov/exhibits/mead/images/mm0204gs.jpg


5.2.3.4.7 Schriftliche Interaktionen aus dem Feld

Neben den systematisch produzierten Feldnotizen, Transkripten und spezialisierten Datensammlungen werden im Laufe einer Feldforschung noch weitere Texte produziert, die als Daten dienen können. Dabei handelt es sich um schriftliche Darstellungen der Situation vor Ort, die im Laufe der Feldforschung an Dritte (Familie, Bekannte, FreundInnen, KollegInnen, SponsorInnen und AuftraggeberInnen etc.) übermittelt werden. Dabei kann es sich um Briefe und Berichte, aber auch um eMails oder um Informationen, die z.B. auf Weblogs gestellt werden, handeln.



5.2.3.4.8 Literatur

Clifford, James (1990) Notes on (Field)notes. In Fieldnotes. The Makings of Anthropology. Ed. Sanjek, Roger. Ithaca, London: Cornell University Press.

Emerson, Robert M., Rachel I. Fretz, Linda L. Shaw (1995) Writing Ethnographic Fieldnotes. Chicago, London: Chicago University Press.

Sanjek, Roger (ed.) (1990) Fieldnotes. The Makings of Anthropology. Ithaca, London: Cornell University Press.

Sanjek, Roger (1990) A Vocabulary for Fieldnotes. In Fieldnotes. The Makings of Anthropology. Ed. Sanjek, Roger. Ithaca, London: Cornell University Press.

5.2.3.5 Analyse der Fieldnotes

Neben der systematischen Datenerhebung empfiehlt es sich, nach einiger Zeit analytische Phasen im Forschungsprozess vorzusehen. Bei längeren Feldforschungen sollte man auch Phasen des Rückzugs vom Feld einplanen und mit der Analyse der gesammelten Daten bereits vor Ort beginnen. Das heißt, längere Feldforschungen sind nicht nur reine Datenerhebungszeiten, sondern inkludieren neben der systematischen Ausarbeitung der Feldnotizen auch deren erste Analyse.

Zu einer ersten Analyse der eigenen Feldnotizen gehört:

  • das Lesen des gesamten Korpus der Aufzeichnungen[1],
  • das Stellen von Fragen an die Fieldnotes[2],
  • das Kodieren der Feldnotizen[3],
  • das Verfassen von Memos[4].


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.5.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.5.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3
[4] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.4


5.2.3.5.1 Das Lesen der Feldnotizen als Daten

Im Gegensatz zum Aufschreiben und dem systematischen Anfertigen detaillierter Beschreibungen beim Erstellen der Fieldnotes werden diese im Zuge der Analyse als Datenset behandelt und analytisch, d.h. mit einem Blick von außen gelesen. Dies impliziert eine emotionale Distanz zu den eigenen Aufzeichnungen "and requires the ethnographer to approach her notes as if they had been written by a stranger" (Emerson et al. 1995: 145). Dieses gründliche und systematische Lesen der eigenen Aufzeichnungen dient dazu, Themen, Muster und Variationen innerhalb der Fieldnotes zu identifizieren. Es kann also dazu eingesetzt werden, analoge Phänomene bzw. Ereignisse zu identifizieren. Diese Ereignisse bzw. Phänomene können nun durch das Lesen miteinander in Verbindung gebracht werden. Dieses In-Beziehung-Setzen kann durch Kodes[1] ausgedrückt werden. Man kann aber nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch alternative Handlungsstrategien und lokale Interpretationen identifizieren.

Dieser Prozess des analytischen Lesens der eigenen Feldnotizen ermöglicht dem/der EthnographIn in einem relativ kurzen Zeitraum aufzunehmen, was alles beobachtet und aufgezeichnet wurde. Dadurch können auch Veränderungen in den Beziehungen mit den Menschen im Feld über die Zeit hinweg festgestellt werden. Dieses close reading ermöglicht es, Muster zu erkennen und zu vergleichen. Gleichzeitig werden durch das Lesen der gesamten Aufzeichnungen neue Einsichten, Hypothesen und Interpretationen in Bezug auf einzelne Personen und Ereignisse generiert. Im Normalfall werden auch Lücken im Datenmaterial identifiziert sowie neue Fragestellungen aufgeworfen, welche die weiteren Forschungsschritte anleiten.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3


5.2.3.5.2 Das Stellen von Fragen an die Fieldnotes

Neben dem analytischen Lesen[1] kann man, sobald konkrete Fragestellungen identifiziert sind, im vorliegenden Datenmaterial auch ganz konkret und selektiv nach Informationen suchen. Der Unterschied zwischen dem allgemeinen analytischen Lesen und dem gezielten Stellen von Fragen besteht in der Selektivität, mit der die Fieldnotes gelesen werden. Vor dem Hintergrund spezifischer Fragen geht es nicht darum, das Gesamtspektrum der Daten zu erfassen, sondern man interessiert sich im Detail für ausgewählte Teile der gesamten Aufzeichnungen.

Beide Vorgehensweisen kommen auch in unterschiedlichen Strategien, die Fieldnotes zu kodieren[2] zum Ausdruck. In den Fragen, die man zu Beginn an die Aufzeichnungen stellt, kommen bereits spezifische Erkenntnisinteressen und Analyserichtungen zum Ausdruck. Manche davon werden im Laufe der Analyse und der weiteren Datenerhebung weiterverfolgt, vertieft und verfeinert, andere werden sich vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses und der weiteren Forschung als wenig ertragreich erweisen und nicht weiter verfolgt werden.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.5.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3


5.2.3.5.3 Das Kodieren der Feldnotizen

Unter dem Kodieren der gesammelten Daten versteht man einen Prozess, bei dem Teile der Daten z.B. bestimmte Textausschnitte aus den Feldnotizen mit ausgewählten Begriffen bzw. Kategorien verknüpft werden. Diese Begriffe bzw. Kategorien werden Kodes genannt. In der Bezeichnung des Kodes kommt der Inhalt des Datenausschnitts auf eine kurze, prägnante und vergleichsweise abstrakte Weise zum Ausdruck.

Kodes können von außen, im Sinne etischer Kategorien, an das zu analysierende Material herangetragen werden. In diesem Fall werden die Kategorien zum Beispiel aus bestehenden Theorien übernommen oder bereits existierende standardisierte Kodeschemata verwendet (z.B. das Outline of Cultural Materials[1]]).

Analysestrategien, die an der Entwicklung von Theorien bzw. an der ethnographischen Darstellung und Analyse lokal verwendeter, emischer Kategorien und Verhaltensweisen interessiert sind, entwickeln eigene Kodeschemata. Die Verwendung solcher Kodes variiert. Es kann sich einerseits um eine Indizierung des Materials handeln, d.h. die ursprünglichen Feldnotizen werden mit Hinweisen in Form zentraler Begriffe versehen, um innerhalb des Materials relevante thematische Stellen rasch auffindbar und miteinander verknüpfbar zu machen. Andererseits können unterschiedliche Kodierstrategien als Teil eines analytischen Prozesses angewendet werden, die im Sinne der Grounded Theory aber auch der Ethnographie darauf abzielen, Kategorien und Konzepte zu entwickeln.

Die in den Kodes zum Ausdruck kommenden Kategorien können also

  • auf externe Ordnungslogiken und Theorien, die an die Daten herangetragen werden, verweisen,
  • zur Entwicklung gegenstandsbezogener Theorien im Sinne der Grounded Theory genützt werden,
  • oder aber ethnographisch auf Konzepte lokaler AkteurInnen und emische Kategorien als Ausdruck einer spezifischen Kultur verweisen.

Aus einer ethnographischen Perspektive besteht beim Herantragen externer Ordnungslogiken, Begriffe und Theorien die Gefahr lokale Bedeutungen, Ordnungslogiken und Theorien zu ignorieren oder zu verkennen und deshalb eurozentristisch[2] zu interpretieren.

Darüber hinaus verweisen Kodes auf spezifische Betrachtungsweisen des Inhalts, d.h. in ihnen kommt bereits eine analytische Perspektive zum Ausdruck. Eine Textstelle kann auch mit mehreren Kodes belegt werden, da in ihr mehrere Inhalte zum Ausdruck kommen können oder sie vor dem Hintergrund mehrerer analytischer Perspektiven relevant sein kann. In welcher Form kodiert wird und wie man zu den Kodes kommt, hängt also von der methodologischen Vorgangsweise und der theoretischen Orientierung ab.

Die Strategien des offenen Kodierens[3], des Kodierens vor dem Hintergrund von Fragestellungen[4], sowie vor dem Hintergrund der Konzeptualisierung einer ethnographischen Erzählung[5] werden dann angewandt, wenn man eigene Kodes aus den empirischen Daten entwickelt.


Verweise:
[1] https://hraf.yale.edu/resources/reference/outline-of-cultural-materials/
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.4.2.2.3.4
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.1
[4] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.3
[5] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.4


5.2.3.5.3.1 Offenes Kodieren

Ausgangspunkt des offenen Kodierens ist das Lesen der Texte und das Markieren von Textstellen durch kurze, prägnante und vergleichsweise abstrakte Konzepte (Kodes), die den Inhalt der jeweiligen Textstelle charakterisieren. Im Laufe des Lesens wird man eine Vielzahl solcher Kodes entwickeln und einzelnen Textstellen zuordnen. Man gewinnt dadurch eine Liste potentieller Kodes, welche die zu analysierenden Phänomenbereiche abbilden. Dadurch, dass man verschiedenen Textstellen denselben Kode zuweist, stellt man systematische Beziehungen zwischen unterschiedlichen und bis dato nicht miteinander verbundenen Datenausschnitten her. Beim offenen Kodieren wird man relativ schnell zu einer vergleichsweise langen Liste unterschiedlicher Kodes kommen. Eine solche Kodeliste veranschaulicht die aus den Daten entwickelten Konzepte, welche weiter analysiert werden können. Gleichzeitig kann entlang dieser Konzepte auf das Datenmaterial zugegriffen werden, das heißt alle Textstellen, die mit einem Kode belegt wurden, können leicht identifiziert und für die weitere Analyse dieses Konzepts herangezogen werden.

Der Kode selbst kann aus einem einzigen Wort oder aus mehreren möglichst prägnanten Wörtern bestehen.

Kodes sollten möglichst einheitlich und eindeutig verwendet werden. Deshalb ist es sinnvoll, die Kodes präzise zu definieren d.h. festzulegen, welche Datenausschnitte mit solchen Kodes belegt werden können. Dies ist insbesondere auch deshalb wichtig, weil sich die Bedeutung einzelner Kodes im Laufe der Analyse verändern kann und man sonst nicht feststellen könnte, dass man vor einiger Zeit mit einem bestimmten Kode noch anderes d.h. oft Allgemeineres oder Spezifischeres verbunden hat. Unterschiedliche Kodes sollten Unterschiedliches bezeichnen.


5.2.3.5.3.2 Rekodieren: von allegemeinen zu spezifischen Kodes oder umgekehrt?

Eine weitere Frage, die sich beim Kodieren stellt, ist, wie allgemein bzw. spezifisch die jeweiligen Kodes sein sollen.

Prinzipiell ist hier ein mittlerer Weg zu empfehlen. Kodes, die so spezifisch sind, dass sie nicht auf mehrere Textstellen anwendbar sind, sind ebenso unbrauchbar wie allgemeine Kodes, unter die sich große Teile des Materials subsumieren lassen.

Wenn man zu Beginn sehr spezifische Kodes vergibt, kann man in der weiteren Analyse überlegen, welche dieser spezifischen Kodes zu übergeordneten Kategorien zusammengefasst werden können. So ist es möglich, solche Kodes in einem neuen übergeordneten Kode zusammenzufassen, d.h. eine Rekodierung im Sinne einer Kodefusion vorzunehmen.

Wenn man im Gegensatz dazu tendiert, vergleichsweise abstrakte Kodes zu vergeben, wird man sich in einem nächsten Schritt mit einer Analyse all der Textstellen befassen, die mit einem solchen Kode belegt wurden. Bei dieser Analyse wird man bemerken, dass Unterschiedliches mit demselben Kode belegt wurde, was in weiterer Folge dazu führen wird, den ursprünglichen Kode zu verfeinern, das heißt in unterschiedliche Kodes aufzusplitten. Wenn es inhaltlich gerechtfertigt ist, kann der ursprüngliche Kode als Überkategorie beibehalten werden, der nun mehrere Subkategorien, die als eigene Kodes fungieren, zugeordnet sind. In diesem Sinne hätte man erste Relationen zwischen einzelnen Kodes im Sinne einer Kodehierarchie etabliert.

Beim Rekodieren, sowohl beim Kodesplitting wie bei der Kodefusion, muss das gesamte Material mittels der neu entwickelten Kodes nochmals kodiert werden. Es müssen also alle Stellen im Material identifiziert werden, die mit den ursprünglichen Kodes belegt waren und diese müssen auf Basis des neuen Kodierschemas rekodiert werden.


5.2.3.5.3.3 Kodieren vor dem Hintergrund von Konzepten und Fragestellungen

Wenn man zumindest einen Teil der vorliegenden Daten offen kodiert[1] hat, gibt es unterschiedliche Strategien, mit der Analyse fortzufahren. Erstens kann man sich ausgehend von Kodes bzw. Konzepten, die einem besonders interessant oder zentral erscheinen, dazu entscheiden an diesen weiterzuarbeiten, ohne dass man in einem ersten Schritt das gesamte vorliegende Material offen kodiert hätte. Man kann nun in den weiteren Fieldnotes systematisch nach Daten suchen, die mit dem ausgewählten Konzept in Beziehung gebracht werden können.

In weiterer Folge kann man entlang spezifischer Fragestellungen kodieren. Emerson et al. (1995: 146) identifizieren unter anderem folgende Fragen, welche das Kodieren anleiten können:

  • Was tun die Leute? Was versuchen sie zu erreichen/schaffen?
  • Wie tun sie das genau? Welche spezifischen Mittel bzw. Strategien verwenden sie?
  • Wie sprechen, charakterisieren u. verstehen Mitglieder was passiert?
  • Welche Annahmen haben sie?

Mit der Hilfe solcher Fragen lassen sich unterschiedliche Gruppen von AkteurInnen in Bezug auf ihre Handlungsstrategien und Intentionen, sowie ihre Interpretation von Ereignissen charakterisieren. Vor dem Hintergrund solcher Fragen lassen sich also ethnographische, lokalspezifische kulturelle Konzepte und emische Kategorien ergründen.

In den Fragestellungen, entlang derer kodiert wird, kommt der Analysefokus der jeweiligen Untersuchung zum Ausdruck. Innerhalb der Grounded Theory legt die Strategie des axialen Kodierens[2] nach Anselm Strauss bereits einen spezifischen Analysefokus fest. Für vergleichende Analysen hat Uwe Flick die Strategie des thematischen Kodierens [3] entwickelt.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.3.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3.3.2


5.2.3.5.3.3.1 Axiales Kodieren in der Grounded Theory
Abbildung: Kodierparadigma in Anlehung an Strauss. Quelle: Disselkamp-Niewiarra (2000: 504)

Im Gegensatz zur Ergründung lokalspezifischer, emischer kultureller Konzepte stellt die Grounded Theory auf die Entwicklung gegenstandsbezogener Theorien ab. Dies tut sie ausgehend von Phänomenen, an welche nach Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996) verschiedene Fragen gerichtet werden:

  • Was sind die ursächlichen Bedingungen des Phänomens?
  • Was ist der Kontext?
  • Was sind die intervenierenden Bedingungen?
  • Was sind die Handlungs- und interaktionalen Strategien?
  • Was sind die Konsequenzen?

Diese Fragen bringen das so genannte Kodierparadigma zum Ausdruck, welches das axiale Kodieren innerhalb der Grounded Theory anleitet und ausgehend von einem Phänomen systematisch versucht, unterschiedliche Kodes/Kategorien miteinander in Beziehung setzen. Dieses In-Beziehung-Setzen unterschiedlicher Kodes und Kategorien ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie.

Literatur:

Anselm Strauss & Juliet Corbin (1996) Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim; insbesondere p. 75-93.

5.2.3.5.3.3.2 Thematisches Kodieren

Flick (1996; 2002: 271ff) hingegen entwickelt für vergleichende Studien das Konzept des thematischen Kodierens. Hier werden ausgehend von einer Fragestellung vorab festgelegte Gruppen vergleichend untersucht. Der Forschungsgegenstand ist die soziale Verteilung von Perspektiven auf ein Phänomen oder einen Prozess und basiert auf der Annahme, dass in unterschiedlichen sozialen Welten bzw. Gruppen differierende Sichtweisen anzutreffen sind. Dies modifiziert grundlegende Annahmen der Grounded Theory, da sich das Sampling[1] nicht am jeweiligen Stand der Interpretation bereits analysierter Daten orientiert. Es steht aber auch im Gegensatz zur klassischen Ethnographie, die ihre Samplingstrategie an der Dynamik, den AkteurInnen und den Strukturen des jeweiligen Feldes ausrichtet.

Das Vorgehen orientiert sich an einer vertiefenden Analyse einzelner Fälle, bei dem zunächst ein Kategoriensystem für den einzelnen Fall entwickelt wird. In der weiteren Ausarbeitung des Kategoriensystems wird zunächst offen, dann selektiv kodiert. Selektive Kodierung bezieht sich auf die Generierung von Kategorien und thematischen Bereichen für den einzelnen Fall. Diese werden in einem nächsten Schritt zwischen den einzelnen Fällen abgeglichen, woraus eine thematische Struktur resultiert, die für die Analyse weiterer Fälle zu Grunde gelegt wird. Die Struktur wird also aus den ersten Fällen entwickelt und an allen weiteren Fällen überprüft und weiter modifiziert und dient dem Fall- und Gruppenvergleich.

Im Gegensatz zum Vorgehen der Grounded Theory werden im ersten Schritt fallbezogene Analysen und erst im zweiten Schritt fallübergreifende Gruppenvergleiche durchgeführt. (Flick 2002: 271ff)


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3


5.2.3.5.3.4 Kodieren vor dem Hintergrund der Konzeptualisierung einer erthnographischen Erzählung

Nach der analytischen Bearbeitung einzelner Themenbereiche bzw. Fragestellungen stellt sich die Frage, wie diese miteinander verknüpft und als zusammenhängende Ethnographie präsentiert werden können. Dazu ist es notwendig, einen roten Faden der Erzählung zu entwickeln und die einzelnen Themenbereiche mit diesem in Beziehung zu setzen. Innerhalb der Methodenliteratur liegen dazu unterschiedliche Empfehlungen und Strategien vor. Diese reichen von

  • der Entwicklung einer Kernkategorie mittels selektiven Kodierens (Grounded Theory). Diese Kernkategorie bezeichnet das zentrale Phänomen, um das herum alle anderen Kategorien integriert sind (Strauss & Corbin 1996: 94-117)
  • dem Umsetzen von Feldnotizen in eine Ethnographie, beruhend auf den Schritten (Emerson et al. 1995: 169 - 210):
  1. der Auswahl der Feldnotizexzerpte,
  2. der Erarbeitung von Erläuterungen und Verbindungen zwischen den Feldnotizen,
  3. dem Kreieren von "Exzerpt-Kommentar-Einheiten",
  4. dem Editieren der Exzerpte,
  5. dem Ordnen "Exzerpt-Kommentar-Einheiten" innerhalb eines Abschnitts sowie
  6. dem Schreiben einer Einleitung,
  7. der Herstellung eines Bezugs zu anderen Forschungen,
  8. der Vorstellung der Methoden und des Settings, sowie
  9. dem Verfassen einer Zusammenfassung
  • den eher schreibtechnischen Anweisungen zum Verfassen einer Ethnographie, die auf folgenden Schritten beruht (Spradley 1979: 204-234):
  1. der Auswahl des Publikums,
  2. der Auswahl einer These,
  3. der Erstellung einer Liste von Themen und eines ersten Entwurfes ihrer Abfolge in einem Inhaltsverzeichnis,
  4. dem Schreiben einer groben Erstversion jedes Kapitels,
  5. der Überarbeitung und Verfeinerung des Inhaltsverzeichnisses,
  6. dem Editieren des Grobentwurfes,
  7. dem Schreiben der Einleitung und der Zusammenfassung,
  8. dem Überarbeiten und Verfeinern der ausgewählten ethnographischen Beispiele und Beschreibungen,
  9. dem Schreiben der Endversion.



5.2.3.5.4 Das Verfassen von Memos

Neben den unterschiedlichen Formen des Kodierens der Feldnotizen[1] ist das Verfassen von Memos eine zentrale Strategie in der Analyse der Fieldnotes und der Entwicklung allgemeiner ethnographischer und/oder theoretischer Aussagen. Unter Memos versteht man schriftliche Protokolle, die den jeweiligen Stand der Analyse in Bezug auf bestimmte Phänomene, Kategorien bzw. Ereignisse darstellen.

Innerhalb der Grounded Theory (siehe Strauss & Corbin 1996: 169-192) werden verschiedene Memoarten unterschieden, so etwa:

  • Kodenotizen, die sich z.B. auf einzelne konzeptuelle Begriffe beziehen.
  • Theoretische Notizen, die „die Produkte des induktiven [2] und deduktiven[3] Denkens über tatsächlich oder möglicherweise relevante Kategorien, ihre Eigenschaften, Dimensionen, Beziehungen, Variationen“ etc. enthalten (ebd.: 169).
  • Planungsnotizen, die Handlungsanweisungen beinhalten, welche z.B. die Fallauswahl, die Interviewgestaltung, mögliche Vergleiche und weiter zu verfolgende Ideen enthalten (ebd.).

Emerson et al. (1995: 142-168) unterscheiden im Rahmen der Ethnographie Initial- und Integrationsmemos.

  • Initialmemos kommen in frühen Phasen der Datenanalyse zum Einsatz, wo zu einer Reihe separater Phänomenen, Themen und Kategorien anfängliche Ideen und Einsichten ausgearbeitet werden.
  • Integrationsmemos werden zu einem späteren Zeitpunkt im Forschungsablauf verfasst, wenn bereits eine Themenauswahl stattgefunden hat und vor deren Hintergrund selektiv kodiert wurde. Integrationsmemos haben einen fokussierteren Charakter und verbinden u. integrieren früher getrennte Daten und Analysepunkte. Eine solche Verbindung wird z.B. hergestellt, wenn unterschiedliche Ereignisse als Ausdruck des gleichen Themas verstanden werden oder aber einen ethnographisch bzw. theoretisch wichtigen Kontrast veranschaulichen. Zentrale Aufgabe der integrativen Memos "is to develop theoretical connections between fieldnote excerpts" (ebd.: 164).


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3.5.3
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] Siehe Kapitel 2.2

5.2.4 Literatur

Atkinson, Paul; Amanda Coffey, Sara Delamont, John Lofland, Lyn Lofland (eds.) (2001) Handbook of Ethnography. London, Thousand Oaks, New Dehli: Sage.

Beer, Bettina (ed.) (2003) Methoden und Techniken der Feldforschung. Berlin: Reimer.

Berg, Eberhard; Martin Fuchs (eds.) (1993) Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bryman, Alan (ed.) (2001) Ethnography. Thousand Oaks, CA: Sage. 4 Vols.

Denzin, Norman K.; Y. S. Lincoln (eds.) (1994) Handbook of qualitative research. Thousand Oaks, CA: Sage.

Emerson, Robert M.; Rachel I. Fretz, Linda L. Shaw (1995) Writing Ethnographic Fieldnotes. Chicago, London: Chicago University Press

Disselkamp-Niewiarra, Solveigh (2000) Rekonstruktion subjektiver Gewalttheorien von Jugendlichen. In: Kraimer, Klaus (ed.) Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Flick, Uwe (2004) Triangulation. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Flick, Uwe (2002) Qualitative Sozialforschung. Eine EInführung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag

Geertz, Clifford. (1987) Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hirschauer, Stefan; Klaus Amann (eds.) (1997) Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sanjek, Roger (ed.) (1990) Fieldnotes. The Makings of Anthropology. Ithaca, London: Cornell University Press.

Spradley, James (1979) The Ethnographic Interview. Fort Worth [u.a.]: Holt, Rinehart and Winston

Strauss, Anselm ; Juliet Corbin (1996) Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim;

van Maanen, John (1988) Tales of the Field. On Writing Ethnography. Chicago/London: The University of Chicago Press.


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