Difference between revisions of "Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie"
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<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader, Universität Wien</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader, Universität Wien</sup> | ||
− | + | '''OEKU-Online:''' Finanziert durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projekt 10707, Jubiläumsfonds). | |
In verschiedenen Projekten, an denen das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie beteiligt war, entstanden 2005 und 2006 hypermediale Lehr- und Lernunterlagen, die online genutzt werden können. 2019 und 2020 wurden diese von Marlies Madzar und Clemens Schmid in ein aktuelles Wikiformat überführt. Für Anregungen, Hinweise und Kommentare, schreiben Sie bitte ein Mail an eksa(at)univie.ac.at | In verschiedenen Projekten, an denen das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie beteiligt war, entstanden 2005 und 2006 hypermediale Lehr- und Lernunterlagen, die online genutzt werden können. 2019 und 2020 wurden diese von Marlies Madzar und Clemens Schmid in ein aktuelles Wikiformat überführt. Für Anregungen, Hinweise und Kommentare, schreiben Sie bitte ein Mail an eksa(at)univie.ac.at | ||
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Die aktuellen Modelle und Ansätze der Ökonomischen Anthropologie speisen sich aus zwei Quellen: | Die aktuellen Modelle und Ansätze der Ökonomischen Anthropologie speisen sich aus zwei Quellen: | ||
− | + | * den Wirtschaftswissenschaften und | |
− | + | * der Sozial- und Kulturanthropologie | |
− | + | ==Kapitel dieser Lernunterlage== | |
+ | [[Vorlaeufer#1 Vorläufer|1 Vorläufer]]<br/> | ||
+ | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus|2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus]]<br/> | ||
+ | [[Neoklassik#3 Neoklassik oder Rational Choice|3 Neoklassik oder Rational Choice]]<br/> | ||
+ | [[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus|4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | ||
+ | [[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | ||
==Kapitelübersicht== | ==Kapitelübersicht== | ||
− | + | [[File:theogrundlagen_4.gif|frame|right]] | |
<div class="eksa_toc"> | <div class="eksa_toc"> | ||
[[Vorlaeufer#1 Vorläufer|1 Vorläufer]]<br/> | [[Vorlaeufer#1 Vorläufer|1 Vorläufer]]<br/> | ||
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:::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt]]<br/> | :::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt]]<br/> | ||
::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff|5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff]]<br/> | ::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff|5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff]]<br/> | ||
− | :::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als | + | :::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation|5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation]]<br/> |
:::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4 Warenströme|5.3.1.1.2.4 Warenströme]]<br/> | :::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4 Warenströme|5.3.1.1.2.4 Warenströme]]<br/> | ||
::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika|5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika]]<br/> | ::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika|5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika]]<br/> | ||
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=1 Vorläufer= | =1 Vorläufer= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-25_1.jpg|frame|right|Quelle: '''http://www.geisteskind.de/Bilder/Aristoteles.jpg [http://www.geisteskind.de/Bilder/Aristoteles.jpg [1]]''']] | |
− | Die | + | Die '''Wirtschaftslehre als Einzelwissenschaft''' entstand vor etwas mehr |
als 200 Jahren, mit Wirtschaft beschäftigte man sich aber schon viel | als 200 Jahren, mit Wirtschaft beschäftigte man sich aber schon viel | ||
früher. | früher. | ||
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Haushalts. Dies geht auf die griechische Antike zurück. | Haushalts. Dies geht auf die griechische Antike zurück. | ||
− | + | '''Aristoteles (384 -- 322 v. Chr.):''' | |
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− | + | * Oikonomia = Haushaltung der Haushaltsgemeinschaft | |
− | + | * Chrematistik = Handel- od. Gelderwerb | |
− | + | * Wert -- Klassen -- Eigentum | |
− | + | '''Aristoteles''' unterschied die Haushaltung der Haushaltsgemeinschaft | |
(oikonomia) vom Handel oder Gelderwerb (Chrematistik). Er befasste sich | (oikonomia) vom Handel oder Gelderwerb (Chrematistik). Er befasste sich | ||
mit Fragen der Entstehung des Reichtums und des Wertes. Aristoteles | mit Fragen der Entstehung des Reichtums und des Wertes. Aristoteles | ||
− | bereitete bereits die Unterscheidung in | + | bereitete bereits die Unterscheidung in '''Gebrauchs- und Tauschwert''' |
vor und beschäftigte sich im Rahmen seiner Gesellschaftslehre mit der | vor und beschäftigte sich im Rahmen seiner Gesellschaftslehre mit der | ||
Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen. In einer | Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen. In einer | ||
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öffentlichem Eigentum. | öffentlichem Eigentum. | ||
− | Im Mittelalter beschäftigte sich | + | Im Mittelalter beschäftigte sich '''Thomas von Aquin''' (1225 -1274) mit |
Wirtschaftsfragen. Er plädierte für gerechten Lohn und Preis, war für | Wirtschaftsfragen. Er plädierte für gerechten Lohn und Preis, war für | ||
ein Zinsverbot (Wucher) und für die Unterstützung der Armen. Deshalb | ein Zinsverbot (Wucher) und für die Unterstützung der Armen. Deshalb | ||
gilt er auch als ein Begründer der katholischen Soziallehre. | gilt er auch als ein Begründer der katholischen Soziallehre. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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[http://www.geisteskind.de/Bilder/Aristoteles.jpg [1] http://www.geisteskind.de/Bilder/Aristoteles.jpg]<br/> | [http://www.geisteskind.de/Bilder/Aristoteles.jpg [1] http://www.geisteskind.de/Bilder/Aristoteles.jpg]<br/> | ||
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[[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus|4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus|4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | ||
[[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | [[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | ||
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'''[[Vorlaeufer/Merkantilismus#1.1 Merkantilismus| Nächstes Kapitel: 1.1 Merkantilismus]]<br/>''' | '''[[Vorlaeufer/Merkantilismus#1.1 Merkantilismus| Nächstes Kapitel: 1.1 Merkantilismus]]<br/>''' | ||
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− | [[Vorlaeufer#1 Vorläufer| Vorheriges Kapitel: 1 Vorläufer]]<br/> | + | '''[[Vorlaeufer#1 Vorläufer| Vorheriges Kapitel: 1 Vorläufer]]'''<br/> |
=1.1 Merkantilismus= | =1.1 Merkantilismus= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-26_1.gif|frame|right|Weltkarte aus der Ptolemäus-Ausgabe vom Jahre 1548. Nach Konrad Kretschmer. Quelle: Krämer ca. 1900, Band IV: 47]] | |
− | Der Begriff Merkantilismus stammt von | + | Der Begriff Merkantilismus stammt von '''Adam Smith'''. Er bezeichnete |
damit eine wirtschaftpolitische Ideenrichtung, die von Fürsten und | damit eine wirtschaftpolitische Ideenrichtung, die von Fürsten und | ||
leitenden Staatsbeamten vertreten wurde und vom 16. bis Endes des 18. | leitenden Staatsbeamten vertreten wurde und vom 16. bis Endes des 18. | ||
Jahrhunderts wirksam war. Unter Merkantilismus wird kein geschlossenes | Jahrhunderts wirksam war. Unter Merkantilismus wird kein geschlossenes | ||
theoretisches System verstanden, sondern ein Bündel von | theoretisches System verstanden, sondern ein Bündel von | ||
− | + | '''wirtschaftspolitischen Maßnahmen'''. Dabei entwickelten die einzelnen | |
europäischen Länder sehr unterschiedliche Spielarten des Merkantilismus, | europäischen Länder sehr unterschiedliche Spielarten des Merkantilismus, | ||
z.B. in Deutschland den Kameralismus. Gemeinsam ist ihnen der massive | z.B. in Deutschland den Kameralismus. Gemeinsam ist ihnen der massive | ||
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Subventionen). | Subventionen). | ||
− | + | '''Historische Hintergründe:''' | |
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− | + | * Ungeheure Ausweitung des Welthandels in dieser Zeit (Entdeckung Amerikas, Seeweg nach Indien): große Mengen Gold und Silber strömen nach Europa | |
+ | * Kampf der europäischen Staaten untereinander um Kolonien; Staaten brauchen Geld für Streitkräfte | ||
+ | * Zeit der Herausbildung der ersten Nationalstaaten Frankreich und England. | ||
− | + | '''Hauptlehren:''' | |
− | + | * Geld steht im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik und nur der Staat ist mächtig, der über Gold und Geld verfügen kann. | |
− | + | * Ziel des staatlichen Handelns: aktive Handelsbilanz, die einerseits über die Hebung der Bodenschätze im eigenen Land, andererseits über die Einfuhr von Edelmetallen aus den Kolonien erreicht werden kann. | |
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Trotz aller Unterschiede teilen die merkantilistischen | Trotz aller Unterschiede teilen die merkantilistischen | ||
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auf: | auf: | ||
− | + | * Minimierung der Einfuhr von Fertigwaren | |
− | + | * Förderung der Einfuhr von Rohstoffen | |
− | + | * Minimierung der Ausfuhr von Rohstoffen | |
− | + | * Förderung der Ausfuhr von Fertigwaren | |
− | + | * Bevorzugung inländischer Unternehmer | |
− | [[File:theogrundlagen-26_2.gif|frame| | + | [[File:theogrundlagen-26_2.gif|frame|left]] |
Eine starke Abgrenzung der Staaten untereinander wird gefordert. Dies | Eine starke Abgrenzung der Staaten untereinander wird gefordert. Dies | ||
Line 306: | Line 305: | ||
indischen Textilgewerbes (vgl.: Wolf 1991: 336ff). | indischen Textilgewerbes (vgl.: Wolf 1991: 336ff). | ||
− | Im Merkantilismus versuchten die Staaten auch eine | + | Im Merkantilismus versuchten die Staaten auch eine '''aktive |
− | Bevölkerungspolitik | + | Bevölkerungspolitik''' zu betreiben. Man erkannte, dass ein hohes Angebot |
an Arbeitskräften Druck auf die Löhne ausübt und die Nachfrage von | an Arbeitskräften Druck auf die Löhne ausübt und die Nachfrage von | ||
Bevölkerungszahl und -dichte abhängt. Daher wurden Strategien zur | Bevölkerungszahl und -dichte abhängt. Daher wurden Strategien zur | ||
Ankurbelung des Bevölkerungswachstums entwickelt. Allerdings bestand zum | Ankurbelung des Bevölkerungswachstums entwickelt. Allerdings bestand zum | ||
− | damaligen Zeitpunkt noch ein sehr | + | damaligen Zeitpunkt noch ein sehr '''enger Zusammenhang zwischen |
− | Agrarkonjunktur und der demografischen Entwicklung | + | Agrarkonjunktur und der demografischen Entwicklung'''. Getreideknappheit |
führte zu hohen Brotpreisen und in unmittelbarer Folge zu einer erhöhten | führte zu hohen Brotpreisen und in unmittelbarer Folge zu einer erhöhten | ||
Mortalitätsrate und verringerter Fertilität (Walter 2003: 30f). | Mortalitätsrate und verringerter Fertilität (Walter 2003: 30f). | ||
− | Der Merkantilismus ist einerseits vom | + | Der Merkantilismus ist einerseits vom '''kolonialen System''' und |
− | andererseits von der | + | andererseits von der '''Herausbildung der Nationalstaaten''' geprägt. |
Dabei zeigt sich deutlich, dass eine Wirtschaftslehre mit dem Umfeld -- | Dabei zeigt sich deutlich, dass eine Wirtschaftslehre mit dem Umfeld -- | ||
den ökonomischen und politischen Interessen -- verbunden ist. | den ökonomischen und politischen Interessen -- verbunden ist. | ||
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− | [[Vorlaeufer/Merkantilismus#1.1 Merkantilismus| Vorheriges Kapitel: 1.1 Merkantilismus]]<br/> | + | '''[[Vorlaeufer/Merkantilismus#1.1 Merkantilismus| Vorheriges Kapitel: 1.1 Merkantilismus]]'''<br/> |
=1.2 Physiokratie= | =1.2 Physiokratie= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-27_1.gif|frame|right]] | |
Das Wirtschaftsmodell der Physiokratie im 17. -- 18. Jahrhundert gilt | Das Wirtschaftsmodell der Physiokratie im 17. -- 18. Jahrhundert gilt | ||
als erstes theoretisches System der Volkswirtschaftslehre. Es ist als | als erstes theoretisches System der Volkswirtschaftslehre. Es ist als | ||
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aufgebaut ist und das der "Herrschaft der Natur" entspricht. | aufgebaut ist und das der "Herrschaft der Natur" entspricht. | ||
− | + | '''Intellektueller Hintergrund:''' | |
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− | + | * Gedankengut der Aufklärung: Suche nach Gesetzmäßigkeiten -- den "Naturgesetzen" und nach einem bestimmten Menschenbild -- dem "Individuum". | |
− | + | * Das Individuum wird als ein rationell handelndes, selbst bestimmtes Wesen mit eigennützigen Interessen und dem Recht auf Freiheit entworfen. | |
− | + | * Die Natur -- im Sinne von Grund und Boden - ist die einzige Quelle des Reichtums. Nur die Landwirtschaft kann daher Werte schaffen. Da Grund und Boden so eine große Bedeutung haben, wird z.B. in Frankreich eine Grundsteuer eingeführt. Den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital kommt allerdings keine "produktive" Qualität zu. | |
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Da die Wirtschaft auf einer natürlichen Ordnung beruht, werden alle | Da die Wirtschaft auf einer natürlichen Ordnung beruht, werden alle | ||
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Gütern organisierte Landwirtschaft machen ein Land reich. | Gütern organisierte Landwirtschaft machen ein Land reich. | ||
− | + | '''Hauptvertreter:''' François Quesnay: 'Tableau économique' | |
− | Im | + | Im 'Tableau économique' steht der Güterkreislauf -- Produktion, |
Verteilung, Konsum - erstmals im Blickpunkt und wird analog des | Verteilung, Konsum - erstmals im Blickpunkt und wird analog des | ||
Kreislaufes der Natur gesehen. | Kreislaufes der Natur gesehen. | ||
Line 374: | Line 364: | ||
− | [[Vorlaeufer/Physiokratie#1.2 Physiokratie| Vorheriges Kapitel: 1.2 Physiokratie]]<br/> | + | '''[[Vorlaeufer/Physiokratie#1.2 Physiokratie| Vorheriges Kapitel: 1.2 Physiokratie]]'''<br/> |
=1.3 Klassische ökonomische Theorie= | =1.3 Klassische ökonomische Theorie= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
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[[File:theogrundlagen-28_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-28_1.gif|frame|right]] | ||
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Die "klassische" und ab 1870 die "neoklassische" ökonomische Theorie | Die "klassische" und ab 1870 die "neoklassische" ökonomische Theorie | ||
prägen bis heute die Grundannahmen der Volkswirtschaftlehre | prägen bis heute die Grundannahmen der Volkswirtschaftlehre | ||
Line 385: | Line 373: | ||
Als Begründer der Klassischen Nationalökonomie gelten neben anderen | Als Begründer der Klassischen Nationalökonomie gelten neben anderen | ||
− | + | '''Adam Smith''' und '''David Ricardo'''. Ihre Werke waren für die damalige | |
Zeit ausgesprochen visionär. Sie sind sowohl für Neoklassiker als auch | Zeit ausgesprochen visionär. Sie sind sowohl für Neoklassiker als auch | ||
für die Marxisten, die ganz entgegen gesetzten Theorien entwickelt | für die Marxisten, die ganz entgegen gesetzten Theorien entwickelt | ||
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==1.3.1 Historischer Kontext== | ==1.3.1 Historischer Kontext== | ||
− | + | '''Zeit zwischen 1770 und 1830:''' | |
− | + | [[File:theogrundlagen-29_1.gif|600px|thumb|right]] | |
− | Die Phase der | + | Die Phase der 'enclosures', der Einfriedungen ist in England nach etwa |
drei Jahrhunderten Auseinandersetzung zwischen Lords/Grundherrn und | drei Jahrhunderten Auseinandersetzung zwischen Lords/Grundherrn und | ||
Bauern abgeschlossen. Das Gemeindeland, das zuvor gewohnheitsrechtlich | Bauern abgeschlossen. Das Gemeindeland, das zuvor gewohnheitsrechtlich | ||
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Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1979: 61). | Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1979: 61). | ||
− | + | * Vorabend der französischen Revolution und 1789 franz. Revolution, anbrechende Freiheitsbestrebungen; Bürgertum beginnt sich gegen den Adel zu formieren. | |
− | + | * Zeitalter der Aufklärung und bahnbrechender Erfindungen; | |
− | + | * Beginn der Industrialisierung in England wird von Eric Wolf auf etwa 1780 datiert (erste maschinelle Spinnereien und Webereien mit Dampfantrieb). | |
− | + | * Agrarquote in Europa um 1800 durchschnittlich noch bei 80 %; beginnende Agrarrevolution: z.B. Josef II führt in Österreich die 4-Felderwirtschaft und den Kleeanbau ein: Vervielfachung des Bodenertrags. | |
− | + | * Institut der Leibeigenschaft ist durchwegs in Kraft: In den meisten europäischen Ländern darf die Landbevölkerung die Grenzen ihrer Gemeinden nur mit Zustimmung der Grundherrschaft verlassen. | |
− | + | * Bevölkerungswachstum beginnt rapide zu steigen; die Kartoffel wird aus Amerika importiert und beginnt ihre Verwandlung von einer Schnittblume in Klostergärten zu einer effizienten Nahrungsquelle; 1780 existiert noch keine Arbeiterklasse im Sinne einer größeren Gruppe von Menschen, die ihre Arbeitskraft gegen einen Geldlohn verkauft; die Landarmut ist in manchen Gebieten extrem. | |
− | + | * Captain Cook umsegelt die Welt und wird 1779 auf Hawaii ermordet. | |
− | + | * Um 1817 ist die englische Arbeiterklasse bereits in aller Munde, aus kleinen Städtchen wurden riesige Industrieslums, der Kampf um den 13 Stundentag beginnt, erste Streiks lösen die alte Maschinenstürmerei in England ab. | |
− | + | * 1835: frühe Eisenbahnzeit: Man war davon überzeugt, dass das Maximum an Geschwindigkeit, das ein Transportmittel wie die Eisenbahn über längere Strecken im Durchschnitt je erreichen wird können, bei 30 km/h liegt. | |
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+ | Die Industrialisierung wird daher auch als ungeheurer '''Prozess der | ||
+ | Beschleunigung''' beschrieben. | ||
==1.3.2 Adam Smith== | ==1.3.2 Adam Smith== | ||
− | [[File:theogrundlagen-30_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-30_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif [https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif [1]]''']] |
− | + | '''Adam Smith (1723 -- 1790)''' | |
Moralphilosoph aus Glasgow | Moralphilosoph aus Glasgow | ||
− | + | '''Hauptwerk:''' An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of | |
Nations (1776) | Nations (1776) | ||
Line 472: | Line 435: | ||
der Kapitalbildung und die Vorteile der Arbeitsteilung. | der Kapitalbildung und die Vorteile der Arbeitsteilung. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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[https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif [1] https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif [1] https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif]<br/> | ||
Line 478: | Line 442: | ||
===1.3.2.1 Wert bei Adam Smith=== | ===1.3.2.1 Wert bei Adam Smith=== | ||
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Smith präsentiert zwei Werttheorien, die er nicht zueinander in Bezug | Smith präsentiert zwei Werttheorien, die er nicht zueinander in Bezug | ||
Line 484: | Line 449: | ||
[[File:theogrundlagen-31_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-31_1.gif|frame|right]] | ||
− | a) | + | a) '''Arbeit''' als Quelle allen Reichtums: Der "natürliche" oder |
"reale" Wert eines Guts resultiert aus der zur Produktion | "reale" Wert eines Guts resultiert aus der zur Produktion | ||
erforderlichen Arbeit. Er ist "etwas dem Materiellen durch Bearbeitung | erforderlichen Arbeit. Er ist "etwas dem Materiellen durch Bearbeitung | ||
Line 493: | Line 458: | ||
b) In zivilisierten Gesellschaften wird der Preis über den | b) In zivilisierten Gesellschaften wird der Preis über den | ||
− | + | '''Austausch''' bestimmt, dh über das freie Spiel der Kräfte zwischen | |
Angebot und Nachfrage. Diese "Preistheorie des Werts" oder | Angebot und Nachfrage. Diese "Preistheorie des Werts" oder | ||
"subjektive Wertlehre" geht von der Wertentstehung durch die | "subjektive Wertlehre" geht von der Wertentstehung durch die | ||
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genannten "Wasser-Diamanten-Paradoxon": | genannten "Wasser-Diamanten-Paradoxon": | ||
− | + | <blockquote>"The word value, it is to be observed, has two different meanings, and sometimes expresses the utility of some particular object, and sometimes the power of purchasing other goods which the possession of that object conveys. The one may be called 'value in use'; the other 'value in exchange'". The things which have the greatest value in use have frequently little or no value in exchange; and, on the contrary, those which have the greatest value in exchange have frequently little or no value in use. Nothing is more useful than water: but it will purchase scarce anything; scarce anything can be had in exchange for it. A diamond , on the contrary, has scarce any value in use; but a very great quantity of other goods may frequently be had in exchange for it."(Smith 1776: 28)</blockquote> | |
− | sometimes expresses the utility of some particular object, and sometimes | ||
− | the power of purchasing other goods which the possession of that object | ||
− | conveys. The one may be called 'value in use'; the other 'value in | ||
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− | frequently little or no value in exchange; and, on the contrary, those | ||
− | which have the greatest value in exchange have frequently little or no | ||
− | value in use. Nothing is more useful than water: but it will purchase | ||
− | scarce anything; scarce anything can be had in exchange for it. A | ||
− | diamond , on the contrary, has scarce any value in use; but a very great | ||
− | quantity of other goods may frequently be had in exchange for it." | ||
− | (Smith 1776: 28) | ||
In ökonomischen Standardlehrbüchern wird häufig darauf hingewiesen, dass | In ökonomischen Standardlehrbüchern wird häufig darauf hingewiesen, dass | ||
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2002: 39ff), wobei es ihm um die Hebung des Wohlstands der Armen ging. | 2002: 39ff), wobei es ihm um die Hebung des Wohlstands der Armen ging. | ||
− | Adam Smith ist für | + | Adam Smith ist für '''mehrere Theorierichtungen''' von grundlegender |
− | Bedeutung. An seine Theorie der individuellen Entscheidung ( | + | Bedeutung. An seine Theorie der individuellen Entscheidung ('''subjektive |
− | Werttheorie | + | Werttheorie''') hat ab den 1870er Jahren die '''Neoklassik''' |
− | angeschlossen. Auf die | + | angeschlossen. Auf die '''Arbeitswertlehre''' und die Bedeutung der |
ökonomischen Klassen im Sinne einer Kapital -- Arbeit -- Differenz hat | ökonomischen Klassen im Sinne einer Kapital -- Arbeit -- Differenz hat | ||
− | + | '''Karl Marx''' aufgebaut. | |
===1.3.2.2 Smith's moralische Ableitung des Marktprinzips=== | ===1.3.2.2 Smith's moralische Ableitung des Marktprinzips=== | ||
+ | ---- | ||
− | + | '''Wirtschaftender Akteur: Homo oeconomicus''' | |
Ein rationales Individuum wird angenommen, das ständig kalkuliert um | Ein rationales Individuum wird angenommen, das ständig kalkuliert um | ||
Line 544: | Line 499: | ||
maximale Bedürfnisbefriedigung erreichen. Eigennutz ist die Triebfeder | maximale Bedürfnisbefriedigung erreichen. Eigennutz ist die Triebfeder | ||
für den freien Wettbewerb. | für den freien Wettbewerb. | ||
− | + | <div><ul> | |
− | [[File:theogrundlagen-32_1.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-32_1.jpg|thumb|none|Obstverkauf in London. Foto: Elke Mader]] </li> |
− | [[File:theogrundlagen-32_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-32_2.jpg|thumb|none|Obstverkauf in Kathmandu. Foto: Elke Mader]] </li> |
+ | </ul></div> | ||
Rationalitätsprinzip (Wirtschaftlichkeitsprinzip) | Rationalitätsprinzip (Wirtschaftlichkeitsprinzip) | ||
Line 554: | Line 510: | ||
Klassiker steht der Natur des Menschen die Natur der Dinge gegenüber. | Klassiker steht der Natur des Menschen die Natur der Dinge gegenüber. | ||
− | + | * '''Natur des Menschen''' ist bestimmt durch ständige Bedürfnisexpandierung. Auslöser ist der Sexualtrieb und die Tendenz zur Vermehrung bei Verbesserung der Lebensverhältnisse. | |
− | + | * '''Natur der Dinge''': Ist die Gegenkraft zur Natur des Menschen; Die natürlichen Ressourcen sind begrenzt, "Geiz der Natur", Knappheit der Mittel und Dinge. | |
− | |||
− | |||
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− | |||
Der Gegensatz zwischen der Natur der Menschen und jener der Dinge | Der Gegensatz zwischen der Natur der Menschen und jener der Dinge | ||
− | bedingt den | + | bedingt den '''freien Wettbewerb''', der aber nicht anarchisch verlaufen |
soll, sondern durch Institutionen und Moral (Staat und Kirche als | soll, sondern durch Institutionen und Moral (Staat und Kirche als | ||
Schiedsrichter) geregelt werden muss. | Schiedsrichter) geregelt werden muss. | ||
− | Aus diesem Gegensatz ergibt sich auch das | + | Aus diesem Gegensatz ergibt sich auch das '''"Gesetz" von Angebot und |
− | Nachfrage | + | Nachfrage''', das wie eine unsichtbare Hand wirkt und über den |
Preismechanismus das Marktgeschehen und auch die Produktion bestimmt. | Preismechanismus das Marktgeschehen und auch die Produktion bestimmt. | ||
Überangebot: Preise sinken, Produktion wird verlagert oder aufgegeben. | Überangebot: Preise sinken, Produktion wird verlagert oder aufgegeben. | ||
Line 578: | Line 530: | ||
dem Eigennutzen des Einzelnen das maximale Wohl aller. | dem Eigennutzen des Einzelnen das maximale Wohl aller. | ||
− | Nach Priddat (2002: 50) ist Adam Smith's Wealth of Nations | + | Nach Priddat (2002: 50) ist Adam Smith's Wealth of Nations '''"eine |
− | Theorie der moralischen Effizienz" | + | Theorie der moralischen Effizienz"'''. |
Line 585: | Line 537: | ||
==1.3.3 David Ricardo== | ==1.3.3 David Ricardo== | ||
− | [[File:theogrundlagen-33_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-33_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050415185341/http://web.utk.edu/~hnguyen7/economics/ricardo_biography.html [https://web.archive.org/web/20050415185341/http://web.utk.edu/~hnguyen7/economics/ricardo_biography.html [1]]''']] |
David Ricardo (1772 -- 1817) | David Ricardo (1772 -- 1817) | ||
Line 591: | Line 543: | ||
Londoner Bankier und Parlamentarier | Londoner Bankier und Parlamentarier | ||
− | + | '''Hauptwerk:''' On the Principles of Political Economy and Taxation | |
(1817) | (1817) | ||
Line 604: | Line 556: | ||
des Gewinns. | des Gewinns. | ||
− | + | * '''Theorie der komparativen Kosten''' im Außenhandel: Zwei Länder können beide aus dem Austausch von Gütern Vorteile ziehen. Ricardos Beispiel: englisches Tuch gegen portugiesischen Wein: jedes Land hat gegenüber dem anderen relative Produktionskostenvorteile, bedingt durch Klima und vorhandene Infrastruktur, Arbeitskräfte etc. Es kommt in diesem Fall nicht auf die absoluten, sondern auf die komparativen Kostenvorteile an. | |
− | + | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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[https://web.archive.org/web/20050415185341/http://web.utk.edu/~hnguyen7/economics/ricardo_biography.html [1] https://web.archive.org/web/20050415185341/http://web.utk.edu/~hnguyen7/economics/ricardo_biography.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050415185341/http://web.utk.edu/~hnguyen7/economics/ricardo_biography.html [1] https://web.archive.org/web/20050415185341/http://web.utk.edu/~hnguyen7/economics/ricardo_biography.html]<br/> | ||
Line 619: | Line 566: | ||
==1.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ==1.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ||
− | Braudel, Fernand 1985: | + | Braudel, Fernand 1985: 'Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts'. Der |
Alltag. München: Kindler. | Alltag. München: Kindler. | ||
Line 625: | Line 572: | ||
Weltwirtschaft*. München: Kindler. | Weltwirtschaft*. München: Kindler. | ||
− | --- 1986b: | + | --- 1986b: 'Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Der Handel'. |
München: Kindler. | München: Kindler. | ||
Graeber, David 2005: Value: anthropological theories of value. In J. | Graeber, David 2005: Value: anthropological theories of value. In J. | ||
− | Carrier (Hg.): | + | Carrier (Hg.): 'A Handbook of Economic Anthropology'. Cheltenham/UK, |
Northampton/USA: Edward Elgar, S. 439-471. | Northampton/USA: Edward Elgar, S. 439-471. | ||
Line 636: | Line 583: | ||
Frankfurt am Main: Suhrkamp. | Frankfurt am Main: Suhrkamp. | ||
− | Pribam, Karl 1992: | + | Pribam, Karl 1992: 'Geschichte des ökonomischen Denkens', 2 Bände. |
Frankfurt am Main. | Frankfurt am Main. | ||
− | Priddat, Birger P. 2002: | + | Priddat, Birger P. 2002: 'Theoriegeschichte der Wirtschaft'. Neue |
Ökonomische Bibliothek. München: Wilhelm Fink. | Ökonomische Bibliothek. München: Wilhelm Fink. | ||
Line 657: | Line 604: | ||
Fassung. München. | Fassung. München. | ||
− | Söllner, Fritz 2001: | + | Söllner, Fritz 2001: 'Die Geschichte des ökonomischen Denkens'. Berlin. |
Thompson, Edward P. 1987: *Die Entstehung der englischen | Thompson, Edward P. 1987: *Die Entstehung der englischen | ||
Line 668: | Line 615: | ||
andere Welt seit 1400*. Frankfurt/New York: Campus Verlag. | andere Welt seit 1400*. Frankfurt/New York: Campus Verlag. | ||
− | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/> ''' | + | |
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+ | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/>''' | ||
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[[#1.3 Klassische ökonomische Theorie|↑ Nach oben]]<br/> | [[#1.3 Klassische ökonomische Theorie|↑ Nach oben]]<br/> | ||
− | [[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/> | + | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]'''<br/> |
=2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus= | =2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | + | <div><ul> | |
− | [[File:theogrundlagen-35_1.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-35_1.jpg|thumb|none|Feldarbeit in den ecuadorianischen Anden. Foto: Elke Mader]] </li> |
− | [[File:theogrundlagen-35_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-35_2.jpg|thumb|none|Fischer am Inle-See in Burma. Foto: Elke Mader]] </li> |
+ | </ul></div> | ||
Eine Denktradition, die großen Einfluss auf die ökonomische | Eine Denktradition, die großen Einfluss auf die ökonomische | ||
− | Anthropologie des 20. Jahrhunderts ausübt, ist die | + | Anthropologie des 20. Jahrhunderts ausübt, ist die '''Politische |
− | Ökonomie | + | Ökonomie''' von Karl Marx. In diesem Zusammenhang ist der Marx'sche |
− | Ansatz des | + | Ansatz des '''Historischen Materialismus''' von zentraler Bedeutung. |
Darunter versteht man die Vorstellung, dass es zwar der Mensch selbst | Darunter versteht man die Vorstellung, dass es zwar der Mensch selbst | ||
ist, der seine gesellschaftliche und materielle Umwelt gestaltet. Aber | ist, der seine gesellschaftliche und materielle Umwelt gestaltet. Aber | ||
Line 693: | Line 644: | ||
Verhältnisse bestimmt, die wiederum einer historischen Entwicklung | Verhältnisse bestimmt, die wiederum einer historischen Entwicklung | ||
unterworfen sind. Daraus ergibt sich die enge Verbindung des Marx'schen | unterworfen sind. Daraus ergibt sich die enge Verbindung des Marx'schen | ||
− | Denkens zu den materialistisch orientierten | + | Denkens zu den materialistisch orientierten '''Evolutionisten''' in der |
Frühphase der Kultur- und Sozialanthropologie in der zweiten Hälfte des | Frühphase der Kultur- und Sozialanthropologie in der zweiten Hälfte des | ||
19. Jahrhunderts. | 19. Jahrhunderts. | ||
Line 740: | Line 691: | ||
− | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus| Vorheriges Kapitel: 2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus]]<br/> | + | '''[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus| Vorheriges Kapitel: 2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus]]'''<br/> |
=2.1 Karl Marx= | =2.1 Karl Marx= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | [[File:theogrundlagen-36_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-36_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050613192631/http://academic.brooklyn.cuny.edu/history/virtual/portrait/marx.jpg [https://web.archive.org/web/20050613192631/http://academic.brooklyn.cuny.edu/history/virtual/portrait/marx.jpg [1]]''']] |
Karl Marx (1818 -- 1883) | Karl Marx (1818 -- 1883) | ||
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
Das Kapital (3 Bände) | Das Kapital (3 Bände) | ||
Line 755: | Line 706: | ||
1859: Zur Kritik der politischen Ökonomie | 1859: Zur Kritik der politischen Ökonomie | ||
− | Karl Marx hat eine | + | Karl Marx hat eine '''politische Ökonomie''' entworfen, die von einem |
− | + | '''sozial konstituierten Menschenbild''' ausging (vgl. Krader 1976: 12f). | |
Die Beziehungen, die Menschen untereinander eingehen, um aus der Natur | Die Beziehungen, die Menschen untereinander eingehen, um aus der Natur | ||
ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, stehen im Zentrum seiner Analysen der | ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, stehen im Zentrum seiner Analysen der | ||
Line 768: | Line 719: | ||
gesellschaftliche Gattung." (Wolf 1991: 111) | gesellschaftliche Gattung." (Wolf 1991: 111) | ||
− | Die Marx´sche Lehre geht von | + | Die Marx´sche Lehre geht von '''Adam Smiths[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[2]]]''' '''Arbeitswerttheorie''' |
− | aus. | + | aus. '''Der Mensch formt die Natur mittels Arbeit zu seinem Nutzen'''. |
Anders als die Neoklassik, die kurz nach dem Erscheinen des ersten | Anders als die Neoklassik, die kurz nach dem Erscheinen des ersten | ||
Bandes des Kapitals in den frühen 1870er Jahren entstand, interessiert | Bandes des Kapitals in den frühen 1870er Jahren entstand, interessiert | ||
− | er sich für | + | er sich für '''Macht''', bringt '''Politik''' in die Ökonomie und versucht |
− | + | '''historische Prozesse''' theoretisch zu fassen. | |
− | Wie bei | + | Wie bei '''Émile Durkheim[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[3]]]''' ist die '''Ökonomie bei Marx in die |
− | Gesellschaft eingebettet | + | Gesellschaft eingebettet'''. Aber diese Gesellschaft ist nicht wie bei |
Durkheim eine Einheit, die sich in kollektiven Repräsentationen äußert, | Durkheim eine Einheit, die sich in kollektiven Repräsentationen äußert, | ||
− | sondern | + | sondern '''sie ist über Eigentum und Arbeit in verschiedene Klassen |
− | gespalten | + | gespalten''' (vgl. Wilk 1996: 83ff). |
− | + | '''Karl Marx im WWW:''' | |
− | + | '''http://www.marxists.org/archive/marx/ [http://www.marxists.org/archive/marx/ [4]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20050601024029/http://www.anu.edu.au/polsci/marx/marx.html [https://web.archive.org/web/20050601024029/http://www.anu.edu.au/polsci/marx/marx.html [5]]''' | |
− | + | '''http://www.mlwerke.de/ [http://www.mlwerke.de/ [6]]''' | |
− | + | '''http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/index.htm [http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/index.htm [7]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20050613192631/http://academic.brooklyn.cuny.edu/history/virtual/portrait/marx.jpg [1] https://web.archive.org/web/20050613192631/http://academic.brooklyn.cuny.edu/history/virtual/portrait/marx.jpg]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050613192631/http://academic.brooklyn.cuny.edu/history/virtual/portrait/marx.jpg [1] https://web.archive.org/web/20050613192631/http://academic.brooklyn.cuny.edu/history/virtual/portrait/marx.jpg]<br/> | ||
[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[2] Siehe Kapitel 1.3.2]]<br/> | [[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[2] Siehe Kapitel 1.3.2]]<br/> | ||
Line 824: | Line 776: | ||
==2.1.1 Historischer Kontext== | ==2.1.1 Historischer Kontext== | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-37_1.gif|frame|right]] | |
Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse haben sich seit der Zeit von | Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse haben sich seit der Zeit von | ||
Adam Smith und David Ricardo stark verändert: | Adam Smith und David Ricardo stark verändert: | ||
− | + | * Die Jahrhundertmitte war von der '''1848er Revolution''' und deren Nachwirkungen in fast allen Ländern Europas geprägt. Karl Marx und Friedrich Engels verfassten in diesem Kontext das '''Kommunistische Manifest''' (1848). Eine rasche und tief greifende '''Industrialisierung''' hatte weite Teile Europas erfasst und ging einher mit dem Untergang der Heimindustrie, Hungerrevolten und Maschinenstürmerei, wie dem Aufstand der schlesischen Weber 1844, der besonders blutig niedergeschlagen wurde. | |
− | + | [[File:theogrundlagen-37_2.gif|frame|left]] | |
− | + | * Die '''Abschaffung der Leibeigenschaft''' setzte ungeheure Mengen an '''Arbeitskräften aus der Landwirtschaft''' frei, diese strömen aus den Hungergebieten der Heimindustrie in sich '''rasant entwickelnde Städte''' -- es handelte sich dabei um sehr ähnliche Prozesse, wie sie heute in vielen Teilen der so genannten "Dritten Welt" unter dem Titel Globalisierung stattfinden. Polanyi schreibt: | |
− | + | <blockquote>"Schriftsteller aller Richtungen und Parteien, Konservative ebenso wie Liberale, Kapitalisten ebenso wie Sozialisten, bezeichneten immer wieder die sozialen Verhältnisse in der Zeit der Industriellen Revolution als eine wahre Hölle menschlicher Erniedrigung" (Polanyi 1978:67).</blockquote> | |
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− | + | * Kinderarbeit, Zusammenbruch der Familien, unvorstellbare Klassengegensätze, niedrige Lebenserwartung und katastrophale Wohnverhältnisse der unteren Schichten stellten die Schattenseite der Revolutionierung der Wirtschaft durch Textil- und Stahlindustrie, Eisenbahnbau, Beschleunigung des Transportwesen, etc dar. | |
+ | * Die '''wirtschaftliche Situation''' war von einer '''zyklischen Abfolge von Flauten und Aufschwüngen''' geprägt, die immer wieder große Menschenmassen in Bewegung setzten. Die Rekrutierung großer Mengen von Arbeitskräften wechselte sich mit Entlassungswellen ab. '''Rasches Bevölkerungswachstum''' einerseits und '''Hungerkrisen''' in weiten Teilen Europas andererseits führten zu '''Auswanderungswellen''' nach Amerika und in die europäischen Kolonien. | ||
+ | * Streiks und Arbeitskämpfe endeten ziemlich regelmäßig mit Verletzten und Toten, die Anführer der damaligen Zeit wurden keineswegs selten standrechtlich exekutiert oder zumindest des Landes verwiesen. | ||
+ | * '''Nationale und nationalistische Bewegungen''' formierten sich insbesondere in Mitteleuropa. Die Loyalität zu Adelshäusern und religiösen Strömungen, die vorher die Auseinandersetzungen bestimmten, werden durch '''nationalstaatliche Loyalitäten''' abgelöst. Das alte Herrschaftsgefüge gerät von vielen Fronten aus unter Bedrängnis -- nicht zuletzt auch durch die neu formierte Klasse der Kapitalisten und Großbürger. | ||
− | + | '''Karl Marx und Friedrich Engels''' waren durch ihre politische, | |
− | + | wirtschaftliche (Engels), journalistische und wissenschaftliche | |
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− | wirtschaftliche (Engels), journalistische und wissenschaftliche | ||
Tätigkeit extrem in ihre Gegenwart involviert. Der Briefverkehr der | Tätigkeit extrem in ihre Gegenwart involviert. Der Briefverkehr der | ||
beiden, publiziert in den MEW (Marx Engels Werke) zeugt von ihrer -- für | beiden, publiziert in den MEW (Marx Engels Werke) zeugt von ihrer -- für | ||
− | die damalige Zeit - unglaublichen | + | die damalige Zeit - unglaublichen '''europaweiten Vernetzung'''. |
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==2.1.2 Zum Gesamtwerk von Marx und Engels== | ==2.1.2 Zum Gesamtwerk von Marx und Engels== | ||
Das Gesamtwerk von Marx und Engels hat viele Aspekte. Es gründet sich | Das Gesamtwerk von Marx und Engels hat viele Aspekte. Es gründet sich | ||
− | auf den | + | auf den '''utopischen französischen Sozialismus''', auf die '''deutsche |
− | idealistische Philosophie | + | idealistische Philosophie''' und die '''klassische englische politische |
− | Ökonomie | + | Ökonomie'''. Auf dieser Basis entwickelten sie den historischen |
Materialismus, die Strategie und Taktik des Klassenkampfs und die | Materialismus, die Strategie und Taktik des Klassenkampfs und die | ||
− | + | '''Kritik der politischen Ökonomie'''. Im Rahmen der ökonomischen | |
Anthropologie werden hier ausschließlich jene Teilaspekte der Letzteren | Anthropologie werden hier ausschließlich jene Teilaspekte der Letzteren | ||
behandelt, die für die sozialanthropologische Theorienbildung besonders | behandelt, die für die sozialanthropologische Theorienbildung besonders | ||
relevant geworden sind: | relevant geworden sind: | ||
− | + | * '''Werttheorie''' und '''Bestimmung des Mehrwerts''' | |
− | + | * Analyse des '''Produktionsprozesses''' | |
− | + | * '''Produktionsverhältnisse''' und '''Produktionsweisen''' | |
===2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx=== | ===2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx=== | ||
− | + | ---- | |
[[File:theogrundlagen-39_1.gif|frame|right|Bearbeitung von goldführendem Gestein im alten Ägypten. Quelle: Krämer ca. 1900, Bd. V: 112]] | [[File:theogrundlagen-39_1.gif|frame|right|Bearbeitung von goldführendem Gestein im alten Ägypten. Quelle: Krämer ca. 1900, Bd. V: 112]] | ||
Die Werttheorie von Karl Marx basiert auf verschiedenen Voraussetzungen, | Die Werttheorie von Karl Marx basiert auf verschiedenen Voraussetzungen, | ||
− | die für ein Verständnis der Formel " | + | die für ein Verständnis der Formel "'''Geld > Ware > mehr Geld'''" |
zentral sind. | zentral sind. | ||
Line 915: | Line 825: | ||
====2.1.2.1.1 Güter und Waren==== | ====2.1.2.1.1 Güter und Waren==== | ||
− | + | ---- | |
− | [[File:theogrundlagen-40_1.jpg| | + | <div><ul> |
− | [[File:theogrundlagen-40_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-40_1.jpg|thumb|none|Verkauf von Opfergaben bei einem hinduistischen Tempel. Foto: Elke Mader]] </li> |
− | [[File:theogrundlagen-40_3.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-40_2.jpg|thumb|none| Süßwaren im Supermarkt. Foto: Elke Mader]] </li> |
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-40_3.jpg|thumb|none|Obst und Zigarretten in Indonesien. Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | </ul></div> | ||
Marx unterscheidet zwischen Gütern und Waren. Güter zeichnen sich | Marx unterscheidet zwischen Gütern und Waren. Güter zeichnen sich | ||
Line 933: | Line 845: | ||
Austausch von Ware gegen Ware noch nicht besitzt. | Austausch von Ware gegen Ware noch nicht besitzt. | ||
− | In der | + | In der '''Warenzirkulation''' treten einander Besitzer von Waren, welche |
− | + | '''Gebrauchswert''' und '''Tauschwert''' haben, gegenüber. Voraussetzung | |
dazu ist ein gewisses Maß an Arbeitsteilung. Marx unterscheidet nun | dazu ist ein gewisses Maß an Arbeitsteilung. Marx unterscheidet nun | ||
− | verschiedene | + | verschiedene '''Formen der Warenzirkulation''': |
− | + | '''1.: W -- W''' | |
Die einfachste Form der Warenzirkulation besteht darin, dass Ware gegen | Die einfachste Form der Warenzirkulation besteht darin, dass Ware gegen | ||
Line 945: | Line 857: | ||
getauscht. | getauscht. | ||
− | + | '''2.: W -- G -- W''' | |
Beim Tausch Ware gegen Geld, um mit diesem Geld wiederum eine Ware | Beim Tausch Ware gegen Geld, um mit diesem Geld wiederum eine Ware | ||
Line 955: | Line 867: | ||
1977: 109). | 1977: 109). | ||
− | + | '''3.: G -- W -- G''' | |
− | Dies ist die | + | Dies ist die '''Zirkulationsform im Kapitalismus'''. Geld wird verausgabt, |
um Waren zu kaufen, die zu mehr Geld führen sollen. Das treibende Motiv | um Waren zu kaufen, die zu mehr Geld führen sollen. Das treibende Motiv | ||
− | ist nun nicht mehr ein | + | ist nun nicht mehr ein '''Bedürfnis nach anderen Gebrauchswerten''', |
− | sondern der aus dem Tausch resultierende | + | sondern der aus dem Tausch resultierende '''Mehrwert'''. |
− | In der Warenzirkulation tauschen sich | + | In der Warenzirkulation tauschen sich '''gleiche Werte''' gegeneinander |
aus. Marx stellt sich nun die Frage, wie es sein kann, dass der | aus. Marx stellt sich nun die Frage, wie es sein kann, dass der | ||
Geldbesitzer Waren zu ihrem Wert kaufen und zu ihrem Wert verkaufen | Geldbesitzer Waren zu ihrem Wert kaufen und zu ihrem Wert verkaufen | ||
Line 970: | Line 882: | ||
====2.1.2.1.2 Warenproduktion==== | ====2.1.2.1.2 Warenproduktion==== | ||
+ | ---- | ||
− | + | '''Warenproduktion''': Der Kapitalist investiert Geld in die '''Herstellung | |
− | von Produkten für den Verkauf | + | von Produkten für den Verkauf''' im Rahmen einer Marktwirtschaft: Es geht |
also dabei nicht um Gebrauchswertproduktion: "Er (Kapitalist) will | also dabei nicht um Gebrauchswertproduktion: "Er (Kapitalist) will | ||
nicht nur einen Gebrauchswert produzieren, sondern eine Ware, nicht nur | nicht nur einen Gebrauchswert produzieren, sondern eine Ware, nicht nur | ||
Line 980: | Line 893: | ||
[[File:theogrundlagen-41_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-41_1.gif|frame|right]] | ||
− | + | * Der '''Produktionsprozess einer Ware''' ist daher auch als '''Wertbildungsprozess''' zu betrachten. Wie in der '''Gebrauchswertproduktion''' ist der Wert einer Ware durch die zu ihrer Produktion erforderliche '''gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit''' bestimmt. | |
− | |||
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− | |||
− | + | '''Warum schafft nun Warenproduktion "Mehrwert" und | |
− | Gebrauchswertproduktion nicht? | + | Gebrauchswertproduktion nicht?''' |
− | + | * Weil der Kapitalist am Markt eine Ware einkauft, die als einzige im Stande ist, Wert zu schaffen: '''Die Ware Arbeitskraft'''. | |
− | + | * Wesentliche '''Voraussetzung der Warenproduktion''' ist daher das '''Vorhandensein der Ware Arbeitskraft''', die am '''freien Warenmarkt''' angeboten wird. Der "freie Arbeiter" ist "frei in dem Doppelsinne, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt und dass er andere Waren nicht zu verkaufen hat, dass er los und ledig ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen" (Mehring 2001: 346). | |
− | |||
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− | |||
− | + | '''Die Natur produziert''' aber '''nicht''' einerseits '''Geldbesitzer''' und | |
− | andererseits | + | andererseits '''bloße Besitzer der eigenen Arbeitskraft'''. Menschen, die |
nichts zu verkaufen haben außer ihrer eigenen Arbeitskraft, sind das | nichts zu verkaufen haben außer ihrer eigenen Arbeitskraft, sind das | ||
− | + | '''Ergebnis einer langen historischen Entwicklung''', welche die | |
− | Enteignung großer Gruppen von Menschen von ihren | + | Enteignung großer Gruppen von Menschen von ihren '''Produktionsmitteln''' |
zur Folge hatte. | zur Folge hatte. | ||
Line 1,009: | Line 911: | ||
====2.1.2.1.3 Gebrauchswert und Tauschwert==== | ====2.1.2.1.3 Gebrauchswert und Tauschwert==== | ||
+ | ---- | ||
− | Die | + | Die '''Ausgangsbasis für die Werttheorie von Marx''' ist die |
− | + | '''Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert'''. | |
Eine Ware ist nach Marx durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet -- sie | Eine Ware ist nach Marx durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet -- sie | ||
hat a) einen Gebrauchswert und b) einen Tauschwert. | hat a) einen Gebrauchswert und b) einen Tauschwert. | ||
− | a) Der | + | a) Der '''Gebrauchswert''' besteht im Nutzen, den etwas hat, um damit |
menschliche Bedürfnisse gleich welcher Art befriedigen zu können. | menschliche Bedürfnisse gleich welcher Art befriedigen zu können. | ||
− | b) Eine | + | b) Eine '''Ware tauscht sich in einer bestimmten Proportion gegen andere |
− | Gebrauchswerte | + | Gebrauchswerte''' aus. Sie hat nur dadurch Tauschwert, weil sie zuvor |
− | Gebrauchswert für andere hat. Waren müssen | + | Gebrauchswert für andere hat. Waren müssen "sich als Gebrauchswert |
bewähren, bevor sie sich als Werte realisieren können. Denn die auf sie | bewähren, bevor sie sich als Werte realisieren können. Denn die auf sie | ||
verausgabte menschliche Arbeit zählt nur, soweit sie in einer für andere | verausgabte menschliche Arbeit zählt nur, soweit sie in einer für andere | ||
nützlichen Form verausgabt ist. Ob sie anderen nützlich, ihr Produkt | nützlichen Form verausgabt ist. Ob sie anderen nützlich, ihr Produkt | ||
daher fremde Bedürfnisse befriedigt, kann aber nur ihr Austausch | daher fremde Bedürfnisse befriedigt, kann aber nur ihr Austausch | ||
− | beweisen" | + | beweisen" (Marx 1977: 100f). |
[[File:theogrundlagen-42_1.jpg|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-42_1.jpg|frame|right]] | ||
− | + | Wobei für Marx das '''Komplizierte im Tauschwert''' und somit im | |
− | Wobei für Marx das | ||
Warencharakter besteht: | Warencharakter besteht: | ||
− | + | <blockquote>"Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne." (Marx 1977: 85)</blockquote> Ein ganz wichtiger Moment, der den Tauschwert so kompliziert macht, ist die '''Arbeitskraft als Ware'''. | |
− | triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding | ||
− | ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. | ||
− | Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun | ||
− | unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften | ||
− | menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als | ||
− | Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch | ||
− | durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen | ||
− | Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus | ||
− | ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein | ||
− | ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt | ||
− | er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit | ||
− | seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren | ||
− | gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel | ||
− | wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne." | ||
− | 1977: 85) | ||
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− | Ein ganz wichtiger Moment, der den Tauschwert so kompliziert macht, ist | ||
− | die | ||
− | |||
− | |||
====2.1.2.1.4 Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft==== | ====2.1.2.1.4 Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft==== | ||
+ | ---- | ||
Das Spezifische am Kapitalismus ist die Trennung von Arbeit und Kapital. | Das Spezifische am Kapitalismus ist die Trennung von Arbeit und Kapital. | ||
Diese ist nur möglich, weil die Arbeiter zuvor in einem historischen | Diese ist nur möglich, weil die Arbeiter zuvor in einem historischen | ||
Prozess ihrer Produktionsmittel beraubt wurden (z.B. | Prozess ihrer Produktionsmittel beraubt wurden (z.B. | ||
− | + | ''enclosures'[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.1 Historischer Kontext|[1]]]''' in England) | |
− | Im | + | Im '''Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern''', Arbeiterklasse |
− | und Kapitalisten, wie Marx es nennt, | + | und Kapitalisten, wie Marx es nennt, '''herrschen Warenbeziehungen''' vor. |
− | Die | + | Die '''Arbeitskraft''' in der kapitalistischen Gesellschaft '''ist eine |
− | Ware | + | Ware''' wie jede andere, die am Markt angeboten wird und die der |
Kapitalist für einen bestimmten Zeitraum kauft. | Kapitalist für einen bestimmten Zeitraum kauft. | ||
− | Wie alle anderen Waren auch hat die | + | Wie alle anderen Waren auch hat die '''Ware Arbeitskraft''' einen |
− | + | '''Gebrauchswertund''' einen '''Tauschwert'''. Der Tauschwert der Ware | |
Arbeitskraft, die ja nur in der Gestalt der lebendigen ArbeiterInnen | Arbeitskraft, die ja nur in der Gestalt der lebendigen ArbeiterInnen | ||
existiert, bemisst sich an den Reproduktionskosten der Ware | existiert, bemisst sich an den Reproduktionskosten der Ware | ||
Arbeitskraft. | Arbeitskraft. | ||
− | Unter | + | Unter '''Reproduktionskosten''' oder Lebensmittel der Ware Arbeitskraft |
− | fällt alles, dessen der Arbeiter oder die Arbeiterin bedarf, um | + | fällt alles, dessen der Arbeiter oder die Arbeiterin bedarf, um '''sich |
− | und die Familie zu erhalten | + | und die Familie zu erhalten'''. Die Fortdauer der Arbeitskraft muss auch |
über den Tod des / der individuellen ArbeiterIn hinaus gesichert | über den Tod des / der individuellen ArbeiterIn hinaus gesichert | ||
bleiben, und der Kapitalist will ja "fertige" Arbeitskraft kaufen, das | bleiben, und der Kapitalist will ja "fertige" Arbeitskraft kaufen, das | ||
Line 1,082: | Line 965: | ||
verfügt. Der Arbeiter bekommt für seine Arbeitskraft Geld, den Lohn, der | verfügt. Der Arbeiter bekommt für seine Arbeitskraft Geld, den Lohn, der | ||
sich an der Hervorbringung der für seine Lebensmittel notwendigen | sich an der Hervorbringung der für seine Lebensmittel notwendigen | ||
− | Arbeitszeit orientiert. | + | Arbeitszeit orientiert. '''Im Lohn ist der Tauschwert der Ware |
− | Arbeitskraft ausgedrückt | + | Arbeitskraft ausgedrückt'''. |
Marx stellt aber neben dem Tauschwert, den er als Verhältnis zwischen | Marx stellt aber neben dem Tauschwert, den er als Verhältnis zwischen | ||
Arbeitskraft und Reproduktionsmittel sieht, auch noch den | Arbeitskraft und Reproduktionsmittel sieht, auch noch den | ||
− | + | '''Gebrauchswert''' der Ware Arbeitskraft heraus. | |
− | + | '''Was ist nun der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft?''' | |
Hier argumentiert nun Marx, dass der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft | Hier argumentiert nun Marx, dass der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft | ||
− | etwas ganz anderes ist als deren Tauschwert. Der | + | etwas ganz anderes ist als deren Tauschwert. Der '''Gebrauchswert ist die |
− | Tatsache | + | Tatsache''', dass der '''Arbeiter einen bestimmten Zeitraum''', z.B. einen |
− | Monat lang | + | Monat lang '''in der Fabrik arbeitet'''. |
Die Ware hat diesen einen Monat lang nichts mehr mit ihrem | Die Ware hat diesen einen Monat lang nichts mehr mit ihrem | ||
Line 1,111: | Line 994: | ||
arbeiten zu lassen, damit sie also für ihn Werte schafft. In diesem | arbeiten zu lassen, damit sie also für ihn Werte schafft. In diesem | ||
einen Monat schafft diese Ware, die der Arbeiter verkauft hat, für den | einen Monat schafft diese Ware, die der Arbeiter verkauft hat, für den | ||
− | anderen Werte, weil es der | + | anderen Werte, weil es der '''Nutzen und Gebrauchswert dieser Ware ist, |
− | Werte zu schaffen | + | Werte zu schaffen'''. |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.1 Historischer Kontext|[1] Siehe Kapitel 1.3.1]]<br/> | [[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.1 Historischer Kontext|[1] Siehe Kapitel 1.3.1]]<br/> | ||
Line 1,120: | Line 1,004: | ||
====2.1.2.1.5 Mehrwert und Kapital==== | ====2.1.2.1.5 Mehrwert und Kapital==== | ||
− | + | ---- | |
− | Der entscheidende Schluss bei Marx lautet nun: | + | [[File:theogrundlagen-44_1.jpg|frame|right|Werttheorie von Marx. Grafik: Getraud Seiser und Elke Mader]] |
− | Arbeitskraft schafft für den Kapitalisten Werte | + | Der entscheidende Schluss bei Marx lautet nun: '''Die angekaufte Ware |
+ | Arbeitskraft schafft für den Kapitalisten Werte''', diese Werte sind aber | ||
mehr wert als der Lohn, der Tauschwert der Ware Arbeitskraft. Was ein | mehr wert als der Lohn, der Tauschwert der Ware Arbeitskraft. Was ein | ||
Arbeiter in dem einen Monat schafft, ist das Resultat des | Arbeiter in dem einen Monat schafft, ist das Resultat des | ||
Line 1,129: | Line 1,014: | ||
musste. | musste. | ||
− | Infolge dieses Prozesses wird | + | Infolge dieses Prozesses wird '''Geld zu Kapital''': |
− | |||
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+ | <blockquote>" Indem der Kapitalist Geld in Waren verwandelt, die als Stoffbildner eines neuen Produkts oder als Faktoren des Arbeitsprozesses dienen, indem er ihrer toten Gegenständlichkeit lebendige Arbeitskraft einverleibt, verwandelt er Wert, vergangne, vergegenständlichte, tote Arbeit in Kapital, sich selbst verwertenden Wert, ein beseeltes Ungeheuer, das zu ‚arbeiten' beginnt, als hätt' es Lieb' im Leibe." (Marx 1977: 209)</blockquote> | ||
====2.1.2.1.6 Wert einer Ware bei Marx==== | ====2.1.2.1.6 Wert einer Ware bei Marx==== | ||
− | + | ---- | |
− | [[File:theogrundlagen-45_1.jpg|frame| | + | [[File:theogrundlagen-45_1.jpg|frame|left|Supermarkt in Wien. Foto: Elke Mader]] |
Der Warenwert setzt sich aus drei Größen zusammen: | Der Warenwert setzt sich aus drei Größen zusammen: | ||
− | + | '''C + V + M''' | |
− | + | '''C =''' konstantes Kapital (Maschinen, Rohstoffe, die proportional in | |
den Wert einer Ware einfließen, usw.) | den Wert einer Ware einfließen, usw.) | ||
− | + | '''V =''' variables Kapital (die Lohnsumme der Arbeitskraft) | |
− | + | '''M =''' der Mehrwert | |
− | Der | + | Der '''Mehrwert''' ist der von den Arbeitern in der Zeiteinheit, für die |
− | sie Ware Arbeitskraft verkauft haben, | + | sie Ware Arbeitskraft verkauft haben, '''über die Kosten für ihren Lohn |
− | hinausgehende neu geschaffene Wert | + | hinausgehende neu geschaffene Wert'''. Die Kategorie des Mehrwertes baut |
auf den beiden Grundkonzepten von Gebrauchswert und Tauschwert auf. | auf den beiden Grundkonzepten von Gebrauchswert und Tauschwert auf. | ||
Durch die Verausgabung ihrer Arbeitskraft haben die ArbeiterInnen zuerst | Durch die Verausgabung ihrer Arbeitskraft haben die ArbeiterInnen zuerst | ||
das Äquivalent ihres Lohns produziert und dann einen unbezahlten | das Äquivalent ihres Lohns produziert und dann einen unbezahlten | ||
− | Überschuss, den Mehrwert. Marx klassifiziert die | + | Überschuss, den Mehrwert. Marx klassifiziert die '''Mehrwertproduktion''' |
der ArbeiterInnen für das Kapital als das eigentliche | der ArbeiterInnen für das Kapital als das eigentliche | ||
Produktionsverhältnis im Kapitalismus. | Produktionsverhältnis im Kapitalismus. | ||
− | Der | + | Der '''Tauschwert einer Ware''' oder der Warenwert ist aber keineswegs mit |
dem Preis zu verwechseln, der sich durch den Verkauf dieser Ware auf dem | dem Preis zu verwechseln, der sich durch den Verkauf dieser Ware auf dem | ||
Markt realisieren lässt. Marx selbst hat zwischen den Prozessen der | Markt realisieren lässt. Marx selbst hat zwischen den Prozessen der | ||
Line 1,175: | Line 1,050: | ||
Werts besteht im tatsächlichen Verkauf der Waren. Die Preisbildung | Werts besteht im tatsächlichen Verkauf der Waren. Die Preisbildung | ||
erfolgt nun im Rahmen der Bedingungen dieses Verkaufs, die durch das | erfolgt nun im Rahmen der Bedingungen dieses Verkaufs, die durch das | ||
− | + | '''Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage''' geprägt sind (vgl. Godelier | |
1972: 262ff). | 1972: 262ff). | ||
Der Tauschwert einer Ware bildet sich also in ihrer Produktion, über | Der Tauschwert einer Ware bildet sich also in ihrer Produktion, über | ||
ihren realisierten Preis entscheidet die Zirkulation. | ihren realisierten Preis entscheidet die Zirkulation. | ||
− | |||
− | |||
====2.1.2.1.7 Mehrwertproduktion im Kapitalismus==== | ====2.1.2.1.7 Mehrwertproduktion im Kapitalismus==== | ||
+ | ---- | ||
Diese Theorie der Mehrwertproduktion setzt voraus, dass die Unternehmer | Diese Theorie der Mehrwertproduktion setzt voraus, dass die Unternehmer | ||
Line 1,189: | Line 1,063: | ||
Arbeiterschaft nichts dergleichen hat. | Arbeiterschaft nichts dergleichen hat. | ||
− | In der | + | In der '''Produktion von Mehrwert''' durch die ArbeiterInnen und die |
Aneignung desselben durch die UnternehmerInnen besteht das entscheidende | Aneignung desselben durch die UnternehmerInnen besteht das entscheidende | ||
− | + | '''Produktionsverhältnis im Kapitalismus'''. | |
Für die UnternehmerInnen ergeben sich in der Folge verschiedene | Für die UnternehmerInnen ergeben sich in der Folge verschiedene | ||
Möglichkeiten: | Möglichkeiten: | ||
− | + | * Den Mehrwert zu reinvestieren; | |
− | + | * sich selbst zu bereichern | |
− | + | * oder den Profit in anderen Sparten anzulegen. | |
All das: Zins, Grundrente und ähnliches, sind bei Marx letztendlich | All das: Zins, Grundrente und ähnliches, sind bei Marx letztendlich | ||
Line 1,216: | Line 1,090: | ||
Eine kompakte Zusammenfassung zur Grundstruktur des Kapitalismus aus | Eine kompakte Zusammenfassung zur Grundstruktur des Kapitalismus aus | ||
− | Sicht der Politischen Ökonomie bietet | + | Sicht der Politischen Ökonomie bietet '''Andreas Novy [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.2 Grundstruktur des Kapitalismus|[1]]]'''. |
Insbesondere Kapitel 2.4.2.1 inklusive aller Unterpunkte ist in gleicher | Insbesondere Kapitel 2.4.2.1 inklusive aller Unterpunkte ist in gleicher | ||
Weise für die Ökonomische Anthropologie relevant. | Weise für die Ökonomische Anthropologie relevant. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
+ | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.2 Grundstruktur des Kapitalismus|[1] Siehe Kapitel 2.4.2 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> | ||
===2.1.2.2 Arbeitsprozess und Produktionsprozess=== | ===2.1.2.2 Arbeitsprozess und Produktionsprozess=== | ||
+ | ---- | ||
− | + | <blockquote>"Der Arbeitsprozess, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam." (Marx 1977: 198)</blockquote> | |
− | Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung | ||
− | von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche | ||
− | Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und | ||
− | Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig | ||
− | von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen | ||
− | gleich gemeinsam." | ||
− | [[File:theogrundlagen-47_1.gif|frame|right]] | + | [[File:theogrundlagen-47_1.gif|frame|right]] |
− | Gleichzeitig ist die | + | Gleichzeitig ist die '''Arbeit immer gesellschaftlich''', weil die |
Menschen im Arbeitsprozess nicht nur auf die Natur, sondern auch | Menschen im Arbeitsprozess nicht nur auf die Natur, sondern auch | ||
aufeinander einwirken. Menschen existieren nur in organisierten | aufeinander einwirken. Menschen existieren nur in organisierten | ||
Line 1,251: | Line 1,120: | ||
gesellschaftliche Beziehungen und Verhältnisse zueinander und nur | gesellschaftliche Beziehungen und Verhältnisse zueinander und nur | ||
innerhalb dieser Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf | innerhalb dieser Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf | ||
− | die Natur, findet Produktion statt. | + | die Natur, findet Produktion statt. '''Alle Produktion ist Aneignung von |
− | Natur innerhalb einer und durch eine bestimmte Gesellschaftsform. | + | Natur innerhalb einer und durch eine bestimmte Gesellschaftsform.''' |
Der Begriff Produktion ist bei Marx nicht auf Technologie reduziert! | Der Begriff Produktion ist bei Marx nicht auf Technologie reduziert! | ||
− | + | '''"Produktion"''' erfolgt immer gleichzeitig '''mit den Händen und mit | |
− | dem Kopf | + | dem Kopf''', darin unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen: |
− | |||
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+ | <blockquote>"Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war." (Marx 1977: 193)</blockquote> | ||
===2.1.2.3 Sozioökonomische Formationen: Begriffe=== | ===2.1.2.3 Sozioökonomische Formationen: Begriffe=== | ||
+ | ---- | ||
− | Karl Marx fühlte sich einem | + | Karl Marx fühlte sich einem '''Universalismus''' verpflichtet und sah |
− | daher den | + | daher den '''Kapitalismus nur als eine Gesellschaftsformation unter |
− | mehreren | + | mehreren''', wenn auch als die entwicklungsgeschichtlich progressivste, |
an (Wicker o.J.: 28). Er war daher auch an den vorkapitalistischen | an (Wicker o.J.: 28). Er war daher auch an den vorkapitalistischen | ||
Produktionsweisen interessiert und studierte die anthropologische | Produktionsweisen interessiert und studierte die anthropologische | ||
Line 1,282: | Line 1,142: | ||
Fragestellung gemacht hatte (siehe Krader 1976). Auf der Basis der | Fragestellung gemacht hatte (siehe Krader 1976). Auf der Basis der | ||
Lektüre von Lewis Henry Morgan und anderen Evolutionisten entwickelte | Lektüre von Lewis Henry Morgan und anderen Evolutionisten entwickelte | ||
− | Marx eine | + | Marx eine '''universalhistorische Theorie der Produktionsweisen''', die ab |
den 1970er Jahren für die neomarxistische Sozialanthropologie von großer | den 1970er Jahren für die neomarxistische Sozialanthropologie von großer | ||
Bedeutung geworden ist. Um diesen Auseinandersetzungen folgen zu können, | Bedeutung geworden ist. Um diesen Auseinandersetzungen folgen zu können, | ||
Line 1,290: | Line 1,150: | ||
====2.1.2.3.1 Produktivkräfte==== | ====2.1.2.3.1 Produktivkräfte==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-49_1.gif|frame|right]] | |
+ | '''Unter Produktivkräften versteht Marx die Gesamtheit der menschlichen | ||
und gegenständlichen Faktoren des Produktionsprozesses und die | und gegenständlichen Faktoren des Produktionsprozesses und die | ||
− | Wechselwirkung der Faktoren. | + | Wechselwirkung der Faktoren.''' Die Produktivkräfte beziehen sich auf den |
Arbeitsprozess und die Form der Aneignung (Bearbeitung) der Natur. | Arbeitsprozess und die Form der Aneignung (Bearbeitung) der Natur. | ||
− | |||
− | |||
Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte ist bei Marx von | Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte ist bei Marx von | ||
Line 1,308: | Line 1,167: | ||
Elemente des Systems der Produktivkräfte: | Elemente des Systems der Produktivkräfte: | ||
− | + | '''1. Arbeitskraft:''' | |
− | Die | + | Die '''wichtigste Produktivkraft ist die menschliche Arbeitskraft''', d. |
h. die Gesamtheit der körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen, | h. die Gesamtheit der körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen, | ||
bestimmt durch seine Gesundheit und Körperkraft, seine Ausbildung und | bestimmt durch seine Gesundheit und Körperkraft, seine Ausbildung und | ||
Line 1,318: | Line 1,177: | ||
Organisation, Leitung). | Organisation, Leitung). | ||
− | + | '''2. Arbeitsmittel:''' | |
(Womit wird gearbeitet) Ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der | (Womit wird gearbeitet) Ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der | ||
Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt: | Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt: | ||
− | + | '''Arbeitsinstrumente''' (Werkzeuge, Maschinen, usw.), '''Transportmittel''' | |
(LKW, Straßen; Bahn, Schienen; Schiffe, Schifffahrtskanäle; usw.), | (LKW, Straßen; Bahn, Schienen; Schiffe, Schifffahrtskanäle; usw.), | ||
− | + | '''Lagermittel''' (Lager, Silos, Tanks usw.), '''Gebäude''' (Fabriken usw.), | |
− | + | '''Energie''' (Strom, Diesel, usw.). | |
− | + | '''3. Arbeitsgegenstände:''' | |
− | (Was wird bearbeitet) Die | + | (Was wird bearbeitet) Die '''Objekte auf die der Mensch einwirkt''', um |
die Natur seinen Bedürfnissen gemäß umzuformen: Erde und Wasser, Grund | die Natur seinen Bedürfnissen gemäß umzuformen: Erde und Wasser, Grund | ||
und Boden, Naturrohstoffe (Kohle, Erdöl, Uran, usw.), Rohmaterialien | und Boden, Naturrohstoffe (Kohle, Erdöl, Uran, usw.), Rohmaterialien | ||
Line 1,338: | Line 1,197: | ||
zusammengefasst. | zusammengefasst. | ||
− | Der Begriff | + | Der Begriff '''Produktivkräfte''' erschöpft sich nicht in der |
Aufsummierung seiner Elemente in der Form: PK = AK + AG + AM, sondern er | Aufsummierung seiner Elemente in der Form: PK = AK + AG + AM, sondern er | ||
− | bezeichnet | + | bezeichnet "die besondere Form ihrer Zusammensetzung zu einem |
− | konkreten Arbeitsprozeß" | + | konkreten Arbeitsprozeß" (Hindess/Hirst 1981: 29). |
− | |||
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− | |||
− | |||
+ | <blockquote>"Im Arbeitsprozeß bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozeß erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff." (Marx 1977: 195)</blockquote> | ||
====2.1.2.3.2 Produktionsverhältnisse==== | ====2.1.2.3.2 Produktionsverhältnisse==== | ||
+ | ---- | ||
− | Die | + | Die '''Gesamtheit der konkret-historischen gesellschaftlichen |
− | Verhältnisse | + | Verhältnisse''', die die Menschen in der Produktion objektiv miteinander |
− | eingehen, nennt Marx | + | eingehen, nennt Marx '''Produktionsverhältnisse'''. Die soziale und |
politische Dimension der Produktion kommt hier zur Geltung: | politische Dimension der Produktion kommt hier zur Geltung: | ||
Produktionsverhältnisse sind eine außerökonomische Kategorie. | Produktionsverhältnisse sind eine außerökonomische Kategorie. | ||
− | Marx bezieht sich dabei konkret auf die | + | Marx bezieht sich dabei konkret auf die '''verschiedenen Formen der |
− | Aneignung von Mehrarbeit | + | Aneignung von Mehrarbeit'''. Im Kapitalismus erfolgt dies durch das |
− | + | '''Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx|[1]]]''', im Feudalismus | |
zwischen Lehnsherrn und Hintersassen und damit in Verbindung auf die | zwischen Lehnsherrn und Hintersassen und damit in Verbindung auf die | ||
− | + | '''Formen der gesellschaftlichen Verteilung der Produktionsmittel'''. Im | |
Kapitalismus verfügen z.B. nur die Kapitalisten über die | Kapitalismus verfügen z.B. nur die Kapitalisten über die | ||
Produktionsmittel, während die Arbeiter auf den Verkauf ihrer | Produktionsmittel, während die Arbeiter auf den Verkauf ihrer | ||
Arbeitskraft beschränkt sind. | Arbeitskraft beschränkt sind. | ||
− | + | <blockquote>"Das Kapital produziert als soziales Verhältnis eine Gesellschaft, dessen Strukturen auf die Menschen zurückwirken, indem sie diese erziehen, unternehmerisch zu handeln, ständig zu kaufen und zu verkaufen -- und sei es nur die eignen Arbeitskraft. Diese produzierten Strukturen treten den Menschen somit als verdinglicht und unabänderlich gegenüber. Die Welt erscheint als mächtige Objektivität, der sich die Einzelnen zu beugen haben. Sie erschient als Ansammlung optimierender Individuen, für die die Anderen jeweils bloße Objekte von Austausch und Begierde sind." (Novy 2003: 2.4.2.1)</blockquote> | |
− | dessen Strukturen auf die Menschen zurückwirken, indem sie diese | ||
− | erziehen, unternehmerisch zu handeln, ständig zu kaufen und zu verkaufen | ||
− | -- und sei es nur die eignen Arbeitskraft. Diese produzierten Strukturen | ||
− | treten den Menschen somit als verdinglicht und unabänderlich gegenüber. | ||
− | Die Welt erscheint als mächtige Objektivität, der sich die Einzelnen zu | ||
− | beugen haben. Sie erschient als Ansammlung optimierender Individuen, für | ||
− | die die Anderen jeweils bloße Objekte von Austausch und Begierde | ||
− | sind." | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx|[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1]]<br/> | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx|[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1]]<br/> | ||
Line 1,384: | Line 1,231: | ||
====2.1.2.3.3 Produktionsweisen==== | ====2.1.2.3.3 Produktionsweisen==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-51_1.gif|frame|right]] | |
+ | '''Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte''' ergeben zusammen eine | ||
konkrete Produktionsweise. Damit ist ein spezifisches, historisch | konkrete Produktionsweise. Damit ist ein spezifisches, historisch | ||
vorfindbares System gesellschaftlicher Beziehungen, "das die | vorfindbares System gesellschaftlicher Beziehungen, "das die | ||
Line 1,392: | Line 1,240: | ||
ein Quantum Energie abzuringen" (Wolf 1991: 114) gemeint. | ein Quantum Energie abzuringen" (Wolf 1991: 114) gemeint. | ||
− | Dies führt zu einem der | + | Dies führt zu einem der '''Grundgedanken des historischen |
− | Materialismus | + | Materialismus''': |
− | + | <blockquote>"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." (Marx 1974(1859): 15)</blockquote> '''Die Produktionsweise ist die wirtschaftliche Basis, auf der sich ein sozialer, politischer und religiöser Überbau erhebt.''' | |
− | bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, | + | <br/> |
− | Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer | + | <br/> |
− | materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser | ||
− | Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der | ||
− | Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und | ||
− | politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche | ||
− | Bewußseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen | ||
− | Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß | ||
− | überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, | ||
− | sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein | ||
− | bestimmt." | ||
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− | sozialer, politischer und religiöser Überbau erhebt. | ||
− | |||
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+ | ====2.1.2.3.4 Sozioökonomische Formationen als historische Abfolge von Produktionsweisen==== | ||
+ | ---- | ||
+ | [[File:theogrundlagen-52_1.gif|frame|right]] | ||
Basis und Überbau zusammen ergeben auf einer abstrakten Ebene | Basis und Überbau zusammen ergeben auf einer abstrakten Ebene | ||
− | + | '''sozioökonomische Formationen''', die Marx in eine '''evolutionistische | |
− | Abfolge | + | Abfolge''' bringt. Er beschäftigt sich primär mit dem Kapitalismus, sucht |
aber dann nach jenen Gesellschaftsformationen, die dem Kapitalismus | aber dann nach jenen Gesellschaftsformationen, die dem Kapitalismus | ||
vorangehen (Wicker o.J.: 29): | vorangehen (Wicker o.J.: 29): | ||
− | + | * '''Urgemeinschaftliche GF:''' "Natürliches" Gemeinwesen, die Menschen verfügen über ihre Produktionsmittel, niemand schöpft eine Mehrarbeit oder ein Mehrprodukt ab. Die Auflösung dieser Gesellschaftsformation hat zu zwei verschiedenen Formen von Klassengesellschaften geführt, die asiatische und die antike GF. | |
− | + | * '''Asiatische GF:''' Das Gemeinwesen selbst bleibt intakt, aber darüber formiert sich ein archaischer Staat. Die Herrscher schöpfen ein Mehrprodukt ab, es wird allerdings das Gemeinwesen besteuert und nicht das Individuum. Da das Gemeinwesen und das Gemeineigentum nicht aufgelöst wurden, "stagniert" diese Gesellschaftsformation auf hohem Niveau. Die asiatische Produktionsweise hat v.a. in der Diskussion der bäuerlichen Gesellschaften (LinkPeasant Societies) zu zahlreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen geführt, insbesondere die Frage der Stagnation wurde und wird heftig diskutiert (vgl.: Kearney 1996). | |
− | + | * '''Antike GF:''' In der griechischen und römischen Antike wurde die urgemeinschaftliche Ordnung aufgelöst. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung nimmt stark zu, Handwerk und Manufaktur entwickeln sich, und der Handel erlangt eine neue Bedeutung, die auch zur Anhäufung von "Wucherkapital" führt. Der Boden wird privatisiert, Teile der Bevölkerung verschulden sich oder werden über Eroberung versklavt. Die Bevölkerung wird in Freie und Unfreie eingeteilt, Sklavenhaltergesellschaften entstehen. | |
− | + | * '''Feudale GF:''' Ein ländlicher Feudaladel schöpft das Mehrprodukt über Naturalabgaben und Fronarbeit ab, während sich in den Städten eine urbane Schicht aus Handwerkern, Händlern und anderen Dienstleistern zu einem Städtebürgertum mit immer stärkeren Emanzipationsbestrebungen entwickelt. Dieses Städtebürgertum schafft die Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus. | |
− | + | * '''Kapitalistische GF:''' Mit Mehrwertabschöpfung über die Lohnarbeit und der Entwicklung der Arbeitskraft zur Ware. | |
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====2.1.2.3.4.1 Kritik, Weiterentwicklung==== | ====2.1.2.3.4.1 Kritik, Weiterentwicklung==== | ||
+ | ---- | ||
Marx wird häufig unterstellt, dass er die einzelnen sozioökonomischen | Marx wird häufig unterstellt, dass er die einzelnen sozioökonomischen | ||
Line 1,465: | Line 1,269: | ||
gesehen hat, die historisch nicht haltbar ist. Marx selbst ist sehr wohl | gesehen hat, die historisch nicht haltbar ist. Marx selbst ist sehr wohl | ||
von multilinearen Entwicklungssträngen aus gegangen. So schreibt er | von multilinearen Entwicklungssträngen aus gegangen. So schreibt er | ||
− | unter anderem im Kapital: | + | unter anderem im Kapital: "Ein genaueres Studium der asiatischen, |
speziell der indischen Gemeineigentumsformen würde nachweisen, wie aus | speziell der indischen Gemeineigentumsformen würde nachweisen, wie aus | ||
den verschiednen Formen des naturwüchsigen Gemeineigentums sich | den verschiednen Formen des naturwüchsigen Gemeineigentums sich | ||
− | verschiedne Formen seiner Auflösung ergeben" | + | verschiedne Formen seiner Auflösung ergeben" (Marx 1977: 92). |
Wicker weist darauf hin, dass erst die Dogmatisierung der Schriften von | Wicker weist darauf hin, dass erst die Dogmatisierung der Schriften von | ||
Marx aus ihm einen unilinearen Evolutionisten gemacht hatte: | Marx aus ihm einen unilinearen Evolutionisten gemacht hatte: | ||
− | + | <blockquote>"In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die Periodisierungsversuche von Marx in der Sowjetunion stalinisiert, d.h. in ein dogmatisches Schema gegossen und damit der wissenschaftlichen Diskussion entzogen" (Wicker o.J: 29).</blockquote> | |
− | Periodisierungsversuche von Marx in der Sowjetunion stalinisiert, d.h. | ||
− | in ein dogmatisches Schema gegossen und damit der wissenschaftlichen | ||
− | Diskussion entzogen" | ||
− | Im | + | Im '''Neomarxismus''' hat man sich von diesen schematischen evolutionistischen Darstellungen emanzipiert und die Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen zu '''fruchtbaren Analysewerkzeugen für gesellschaftliche Wandlungsprozesse''' |
− | evolutionistischen Darstellungen emanzipiert und die | + | uminterpretiert (vgl.: '''Eric Wolf[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[1]]]''''', '''Sidney Mintz''[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[2]]]''', |
− | Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen zu | + | '''Maurice Godelier[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.2 Maurice Godelier|[3]]]'''). |
− | Analysewerkzeugen für gesellschaftliche Wandlungsprozesse | + | |
− | uminterpretiert (vgl.: | + | '''Verweise:''' |
− | |||
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[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[1] Siehe Kapitel 5.3.1]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[1] Siehe Kapitel 5.3.1]]<br/> | ||
[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[2] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[2] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | ||
Line 1,497: | Line 1,296: | ||
− | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1 Karl Marx| Vorheriges Kapitel: 2.1 Karl Marx]]<br/> | + | '''[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1 Karl Marx| Vorheriges Kapitel: 2.1 Karl Marx]]'''<br/> |
=2.2 Evolutionismus= | =2.2 Evolutionismus= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | |||
[[File:theogrundlagen-54_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-54_1.gif|frame|right]] | ||
− | Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war stark vom | + | Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war stark vom '''Evolutionismus''' |
geprägt. Sehr unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen waren davon | geprägt. Sehr unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen waren davon | ||
betroffen. Ein mächtiger Anstoß kam ab den 1840er Jahren aus der | betroffen. Ein mächtiger Anstoß kam ab den 1840er Jahren aus der | ||
− | + | '''Archäologie mit der Einteilung in Steinzeit, Bronzezeit und | |
− | Eisenzeit | + | Eisenzeit'''. Biologie (Charles Darwin) und Anthropologie (Lewis Henry |
Morgan, Edward B. Tylor etc.) folgten in den 1870er Jahren (Barnard | Morgan, Edward B. Tylor etc.) folgten in den 1870er Jahren (Barnard | ||
2000: 27ff). | 2000: 27ff). | ||
Der Evolutionismus der damaligen Zeit stand im Brennpunkt heftiger | Der Evolutionismus der damaligen Zeit stand im Brennpunkt heftiger | ||
− | Debatten und leidenschaftlicher Kritik. Er wurde als | + | Debatten und leidenschaftlicher Kritik. Er wurde als '''Gegensatz zum |
− | Kreationismus | + | Kreationismus''' -- der Schöpfung aller Lebewesen durch Gott in ihrer |
gegenwärtigen Vielfalt und heutigen Form -- gesehen. | gegenwärtigen Vielfalt und heutigen Form -- gesehen. | ||
Line 1,527: | Line 1,325: | ||
==2.2.1 Grundgedanken des unilinearen Evolutionismus== | ==2.2.1 Grundgedanken des unilinearen Evolutionismus== | ||
− | Der | + | Der '''Grundgedanke des unilinearen Evolutionismus''' besteht darin, dass |
− | sich das Leben auf der Erde in einer | + | sich das Leben auf der Erde in einer '''konkreten Linie vom Niederen zum |
− | Höheren | + | Höheren''' entwickelt hat. Die höchste Form ist der zivilisierte Mensch, |
alle anderen und alles andere sind stecken gebliebene Entwicklungsstufen | alle anderen und alles andere sind stecken gebliebene Entwicklungsstufen | ||
− | vergangener Zeiten. | + | vergangener Zeiten. '''Im Bereich der Anthropologie repräsentieren daher |
die synchron sichtbaren Gesellschaften der Welt eine diachrone | die synchron sichtbaren Gesellschaften der Welt eine diachrone | ||
− | Abfolge | + | Abfolge'''. Jäger- und Sammlergesellschaften, die keine Metallwerkzeuge |
verwenden, sind demnach Überbleibsel der Steinzeit, und aus ihrem | verwenden, sind demnach Überbleibsel der Steinzeit, und aus ihrem | ||
Studium kann abgeleitet werden, wie unsere Vorfahren vor vielen | Studium kann abgeleitet werden, wie unsere Vorfahren vor vielen | ||
tausenden Jahren gelebt und gedacht haben. | tausenden Jahren gelebt und gedacht haben. | ||
− | Für die | + | Für die '''Wirtschaftsanthropologie''' wurde der Evolutionismus deswegen |
− | so bedeutsam, weil die | + | so bedeutsam, weil die '''Technologie''' (v.a. Werkzeuge und Techniken) |
− | und die | + | und die '''Subsistenzweise''' (Jagd, Sammeln, Viehzucht, Ackerbau, etc.) |
− | sich durch ihre Sichtbarkeit und einfache Beobachtbarkeit | + | sich durch ihre Sichtbarkeit und einfache Beobachtbarkeit '''besonders |
− | gut zur Einteilung von Gesellschaften in evolutionäre Stufen eigneten | + | gut zur Einteilung von Gesellschaften in evolutionäre Stufen eigneten'''. |
Der unilineare Evolutionismus geht davon aus, dass alle Gesellschaften | Der unilineare Evolutionismus geht davon aus, dass alle Gesellschaften | ||
Line 1,550: | Line 1,348: | ||
Subsistenzweise, Familienorganisation oder religiöse Vorstellungen. | Subsistenzweise, Familienorganisation oder religiöse Vorstellungen. | ||
− | + | <blockquote>"But unilinear evolutionists, in general, believed that these phenomena are interrelated, and that therefore changes, say in means of subsistence, create evolutionary changes in kinship organization, religious belief and practice, and so on." (Barnard 2000: 29f)</blockquote> | |
− | phenomena are interrelated, and that therefore changes, say in means of | ||
− | subsistence, create evolutionary changes in kinship organization, | ||
− | religious belief and practice, and so on." | ||
− | |||
− | |||
− | + | '''Gemeinsamkeiten der Evolutionisten:''' | |
+ | '''1.''' Vergleichende Methode, mit der bestimmte Kultur- und | ||
Sozialphänomene isoliert und klassifiziert werden; | Sozialphänomene isoliert und klassifiziert werden; | ||
− | + | '''2.''' die Auffassung, dass das Klassifizierte in '''Entwicklungsreihen''' | |
− | gegossen werden kann und eine | + | gegossen werden kann und eine '''historische Abfolge''' repräsentiert; |
− | + | '''3.''' der Angriff '''gegen den "Kreationismus"''' (Schöpfung durch | |
Gott). | Gott). | ||
Line 1,570: | Line 1,364: | ||
==2.2.2 Lewis H. Morgans "Urgesellschaft"== | ==2.2.2 Lewis H. Morgans "Urgesellschaft"== | ||
− | Aus Perspektive der ökonomischen Anthropologie ist | + | Aus Perspektive der ökonomischen Anthropologie ist '*Morgans 'Ancient |
− | Society | + | Society' (1877)*' das klassische Beispiel für eine evolutionistische |
Theorie auf Basis der Subsistenzformen und technischen Ausstattung von | Theorie auf Basis der Subsistenzformen und technischen Ausstattung von | ||
Gesellschaften. | Gesellschaften. | ||
Line 1,580: | Line 1,374: | ||
Stufenreihe auf: | Stufenreihe auf: | ||
− | + | '''1. Wildheit''' | |
1a) Unterstufe der Wildheit: Frühzustand der Menschheit, "kein einziges | 1a) Unterstufe der Wildheit: Frühzustand der Menschheit, "kein einziges | ||
Line 1,596: | Line 1,390: | ||
Küstenstämme von Nord- und Südamerika. | Küstenstämme von Nord- und Südamerika. | ||
− | + | '''2. Barbarei''' | |
2a) Unterstufe der Barbarei: Erfindung der Töpferkunst, keine Haustiere, | 2a) Unterstufe der Barbarei: Erfindung der Töpferkunst, keine Haustiere, | ||
Line 1,609: | Line 1,403: | ||
Griechische Stämme des homerischen Zeitalters. | Griechische Stämme des homerischen Zeitalters. | ||
− | + | '''3. Zivilisation''' | |
Ab dem Gebrauch des phonetischen Alphabets und der Schrift beginnt für | Ab dem Gebrauch des phonetischen Alphabets und der Schrift beginnt für | ||
Line 1,638: | Line 1,432: | ||
==2.2.3 Kritik am Evolutionismus== | ==2.2.3 Kritik am Evolutionismus== | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-57_2.gif|frame|left]] | |
[[File:theogrundlagen-57_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-57_1.gif|frame|right]] | ||
− | |||
− | |||
"Die ökonomische Sicht auf außereuropäische Gesellschaften ist | "Die ökonomische Sicht auf außereuropäische Gesellschaften ist | ||
Line 1,651: | Line 1,443: | ||
belegen die Ergebnisse der Archäologie und der Ur- und Frühgeschichte. | belegen die Ergebnisse der Archäologie und der Ur- und Frühgeschichte. | ||
− | Aber | + | Aber '''alle menschlichen Gesellschaften''' dieser Welt haben sich |
− | + | '''gleich lange entwickelt''' und aus den heutigen Formen lassen sich | |
− | + | '''keinerlei Rückschlüsse auf prähistorische Zustände''' ziehen. Die | |
derzeit vorfindbaren Gesellschaften sind nachvollziehbar auf vielen | derzeit vorfindbaren Gesellschaften sind nachvollziehbar auf vielen | ||
verschiedenen konkret historischen Wegen zu dem geworden, was sie jetzt | verschiedenen konkret historischen Wegen zu dem geworden, was sie jetzt | ||
− | sind. Das heißt, die Entwicklung verlief | + | sind. Das heißt, die Entwicklung verlief '''jedenfalls multilinear''' und |
es ist keineswegs gesichert, dass die Industriegesellschaft, die in | es ist keineswegs gesichert, dass die Industriegesellschaft, die in | ||
Bezug auf die technologische Naturbeherrschung vorher nie da gewesene | Bezug auf die technologische Naturbeherrschung vorher nie da gewesene | ||
Line 1,665: | Line 1,457: | ||
Weltbilds oder einer Ideologie. | Weltbilds oder einer Ideologie. | ||
− | Demgegenüber handelt es sich beim | + | Demgegenüber handelt es sich beim '''Evolutionismus''' um eine |
− | + | '''spekulative Geschichtsschreibung'''. Heutige Gesellschaften werden als | |
"Überbleibsel" oder survivals von gesellschaftlichen Frühformen | "Überbleibsel" oder survivals von gesellschaftlichen Frühformen | ||
gesehen. Daher erscheint für Evolutionisten legitim, von Artefakten wie | gesehen. Daher erscheint für Evolutionisten legitim, von Artefakten wie | ||
Line 1,675: | Line 1,467: | ||
Entwicklung wird immer bewertet, im Sinne von einer Entwicklung vom | Entwicklung wird immer bewertet, im Sinne von einer Entwicklung vom | ||
"primitiven" zum "höchststehenden". | "primitiven" zum "höchststehenden". | ||
− | |||
− | |||
− | |||
Line 1,685: | Line 1,474: | ||
− | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Evolutionismus#2.2 Evolutionismus| Vorheriges Kapitel: 2.2 Evolutionismus]]<br/> | + | '''[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Evolutionismus#2.2 Evolutionismus| Vorheriges Kapitel: 2.2 Evolutionismus]]'''<br/> |
=2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen= | =2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | + | '''1. Phase (ca. 1848-1890):''' Evolutionistische Ethnologie beeinflusst | |
Marxismus | Marxismus | ||
Line 1,697: | Line 1,486: | ||
Familie, des Privateigentums und des Staats" (1884) verwendet. | Familie, des Privateigentums und des Staats" (1884) verwendet. | ||
− | + | '''2. Phase (ca. 1890-1945):''' Außerhalb der Sowjetunion: getrennte Wege | |
Der Westen wandte sich vom Evolutionismus ab, der Sowjetmarxismus blieb | Der Westen wandte sich vom Evolutionismus ab, der Sowjetmarxismus blieb | ||
Line 1,703: | Line 1,492: | ||
Doktrin erhoben. | Doktrin erhoben. | ||
− | + | '''3. Phase (ca. 1945-1980):''' Marxismus beeinflusst Sozialanthropologie | |
Fragen nach der Kontrolle über Menschen und Ressourcen bei den | Fragen nach der Kontrolle über Menschen und Ressourcen bei den | ||
Line 1,714: | Line 1,503: | ||
untersucht. | untersucht. | ||
− | + | '''4. Phase (seit etwa 1980):''' "Post-marxistische" Phase mit | |
Weiterentwicklung einzelner Fragestellungen | Weiterentwicklung einzelner Fragestellungen | ||
Line 1,724: | Line 1,513: | ||
− | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marxismus#2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen| Vorheriges Kapitel: 2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen]]<br/> | + | '''[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marxismus#2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen| Vorheriges Kapitel: 2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen]]'''<br/> |
=2.4 Bibliographie und weiterführende Literatur= | =2.4 Bibliographie und weiterführende Literatur= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | Barnard, Alan 2000: | + | Barnard, Alan 2000: 'History and Theory in Anthropology'. Cambridge: |
Cambridge University Press. | Cambridge University Press. | ||
Line 1,748: | Line 1,537: | ||
Global Perspective*. Boulder: Westview Press. | Global Perspective*. Boulder: Westview Press. | ||
− | Krader, Lawrence 1976: | + | Krader, Lawrence 1976: 'Ethnologie und Anthropologie bei Marx'. |
Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Verlag Ullstein. | Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Verlag Ullstein. | ||
Line 1,754: | Line 1,543: | ||
of an Illusion*. London, New York: Routledge. | of an Illusion*. London, New York: Routledge. | ||
− | Marx, Karl 1974: | + | Marx, Karl 1974: 'Zur Kritik der politischen Ökonomie'. Berlin: Dietz |
Verlag. | Verlag. | ||
− | --- 1977: | + | --- 1977: 'Das Kapital'. Berlin/DDR: Dietz Verlag. |
Marx, Karl; Engels, Friedrich 1983: *Manifest der Kommunistischen | Marx, Karl; Engels, Friedrich 1983: *Manifest der Kommunistischen | ||
Partei*. In Marx Engels Werke. Berlin: Dietz Verlag, S. 459-493. | Partei*. In Marx Engels Werke. Berlin: Dietz Verlag, S. 459-493. | ||
− | Mehring, Franz 2001: Karl Marx. | + | Mehring, Franz 2001: Karl Marx. 'Geschichte seines Lebens'. Essen: |
Arbeiterpresse Verlag. | Arbeiterpresse Verlag. | ||
Line 1,774: | Line 1,563: | ||
Novy, Andreas 2003: "Internationale Politische Ökonomie. Mit Beispielen | Novy, Andreas 2003: "Internationale Politische Ökonomie. Mit Beispielen | ||
− | aus Lateinamerika." [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.2.1 Kapital|[1]]] | + | aus Lateinamerika." [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.2.1 Kapital|[1]]]''' |
(15.11.2004) | (15.11.2004) | ||
Line 1,783: | Line 1,572: | ||
Wicker, Hans-Rudolf 2003: "Leitfaden für die Einführungsvorlesung in | Wicker, Hans-Rudolf 2003: "Leitfaden für die Einführungsvorlesung in | ||
Wirtschaftsethnologie." Online: | Wirtschaftsethnologie." Online: | ||
− | + | '''https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf [https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf [2]]''' | |
(09.08.2020). | (09.08.2020). | ||
Line 1,792: | Line 1,581: | ||
Welt seit 1400*. Frankfurt/New York: Campus Verlag. | Welt seit 1400*. Frankfurt/New York: Campus Verlag. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.2.1 Kapital|[1] Siehe Kapitel 2.4.2.1 der Lernunterlage ''Internationale Politische Ökonomie'']]<br/> | + | |
+ | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.2.1 Kapital|[1] Siehe Kapitel 2.4.2.1 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> | ||
[https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf [2] https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf]<br/> | [https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf [2] https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf]<br/> | ||
Line 1,802: | Line 1,592: | ||
− | [[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/> | + | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]'''<br/> |
=3 Neoklassik oder Rational Choice= | =3 Neoklassik oder Rational Choice= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
+ | <div><ul> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-61_1.jpg|thumb|none|Geschäft in Nepal. Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-61_2.jpg|thumb|none|Bauernhof in Nepal. Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-61_3.jpg|thumb|none|"Art Service" in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] </li> | ||
+ | </ul></div> | ||
− | + | Die '''neoklassische Wirtschaftstheorie''' geht davon aus, dass es nur | |
− | + | '''eine einzige universelle ökonomische Logik''' gibt. Diese Logik kommt | |
− | + | auf der Ebene des Entscheidungsverhaltens der '''Individuen zum | |
− | + | Tragen [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.1 Methodologischer Individualismus|[1]]]'''. | |
− | Die | ||
− | |||
− | auf der Ebene des Entscheidungsverhaltens der | ||
− | Tragen [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.1 Methodologischer Individualismus|[1]]] | ||
Hat ein Individuum die Auswahl zwischen zwei oder mehreren Gütern, | Hat ein Individuum die Auswahl zwischen zwei oder mehreren Gütern, | ||
entscheidet es rational, d.h. es wählt jenes Gut, das mit geringstem | entscheidet es rational, d.h. es wählt jenes Gut, das mit geringstem | ||
Aufwand den größten Nutzen oder die größte | Aufwand den größten Nutzen oder die größte | ||
− | + | '''Bedürfnisbefriedigung [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.4 Grenzdenken|[2]]]''' verspricht. | |
Einen ausgezeichneten Überblick über die wesentliche Begrifflichkeit der | Einen ausgezeichneten Überblick über die wesentliche Begrifflichkeit der | ||
− | + | '''Neoklassik''' oder ''rational choice theory'' stellt '''Andreas | |
− | Novy [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[1]]] | + | Novy [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[1]]]''' zur Verfügung. Insbesondere die Punkte 2.2.1 und 2.2.5 |
inklusive aller Unterpunkte sind in gleicher Weise für die ökonomische | inklusive aller Unterpunkte sind in gleicher Weise für die ökonomische | ||
Anthropologie von Relevanz. | Anthropologie von Relevanz. | ||
Line 1,831: | Line 1,622: | ||
kann auf die Theorieentwicklung in den einzelnen ideologischen Feldern | kann auf die Theorieentwicklung in den einzelnen ideologischen Feldern | ||
nur sehr kursorisch anhand der Hauptvertreter eingegangen werden. Wer | nur sehr kursorisch anhand der Hauptvertreter eingegangen werden. Wer | ||
− | sich für die | + | sich für die '''Geschichte der ökonomischen Anthropologie aus einer |
− | neoklassischen Perspektive | + | neoklassischen Perspektive''' interessiert, sei insbesondere auf Plattner |
(1989), Rössler (1999) und Ensminger (2002) verwiesen. Kritische | (1989), Rössler (1999) und Ensminger (2002) verwiesen. Kritische | ||
Positionen dazu bieten Halperin (1994) und Wilk (1996). | Positionen dazu bieten Halperin (1994) und Wilk (1996). | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.1 Methodologischer Individualismus|[1] Siehe Kapitel 2.2.5.1 der Lernunterlage ''Internationale Politische Ökonomie'']]<br/> | + | |
− | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.4 Grenzdenken|[2] Siehe Kapitel 2.2.5.4 der Lernunterlage ''Internationale Politische Ökonomie'']]<br/> | + | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.1 Methodologischer Individualismus|[1] Siehe Kapitel 2.2.5.1 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> |
− | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[3] Siehe Kapitel 2.2 der Lernunterlage ''Internationale Politische Ökonomie'']]<br/> | + | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.4 Grenzdenken|[2] Siehe Kapitel 2.2.5.4 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> |
+ | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[3] Siehe Kapitel 2.2 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> | ||
==Inhaltsverzeichnis== | ==Inhaltsverzeichnis== | ||
Line 1,863: | Line 1,655: | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus|4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus|4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | ||
[[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | [[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | ||
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'''[[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth| Nächstes Kapitel: 3.1 Raymond Firth]]<br/>''' | '''[[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth| Nächstes Kapitel: 3.1 Raymond Firth]]<br/>''' | ||
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− | [[Neoklassik#3 Neoklassik oder Rational Choice| Vorheriges Kapitel: 3 Neoklassik oder Rational Choice]]<br/> | + | '''[[Neoklassik#3 Neoklassik oder Rational Choice| Vorheriges Kapitel: 3 Neoklassik oder Rational Choice]]'''<br/> |
=3.1 Raymond Firth= | =3.1 Raymond Firth= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | [[File:theogrundlagen-311_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-311_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050222090952im_/http://petersearle.com/sirraymondfirth.jpg [https://web.archive.org/web/20050222090952im_/http://petersearle.com/sirraymondfirth.jpg [1]]''']] |
− | + | '''Raymond Firth (1901-2002)''' | |
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1939: Primitive Polynesian Economy | 1939: Primitive Polynesian Economy | ||
Line 1,885: | Line 1,680: | ||
Firth, ein gebürtiger Neuseeländer, studierte zuerst Volkswirtschaft in | Firth, ein gebürtiger Neuseeländer, studierte zuerst Volkswirtschaft in | ||
seiner Heimat. Später zog er nach London, studierte Anthropologie und | seiner Heimat. Später zog er nach London, studierte Anthropologie und | ||
− | wurde einer der ersten | + | wurde einer der ersten '''Schüler Bronislaw Malinowskis'''. Er vertrat den |
− | + | '''Funktionalismus [[Glossar_Mythen/Funktionalismu#13.4 Funktionalismus|[2]]]''' seines Lehrers und übernahm 1944 den durch den | |
Tod Malinowskis vakant gewordenen Lehrstuhl an der London School of | Tod Malinowskis vakant gewordenen Lehrstuhl an der London School of | ||
Economics. | Economics. | ||
− | Er entwarf eine | + | Er entwarf eine '''"Economic Anthropology"''' unter Zugrundelegung der |
Axiome der neoklassischen Theorie, vor allem des Maximierungsprinzips | Axiome der neoklassischen Theorie, vor allem des Maximierungsprinzips | ||
bei der Allokation knapper Ressourcen auf menschliche Bedürfnisse, sowie | bei der Allokation knapper Ressourcen auf menschliche Bedürfnisse, sowie | ||
des Prinzips der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Nutzengrößen. | des Prinzips der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Nutzengrößen. | ||
− | + | ''Primitive Polynesian Economy'' (1939) gilt nach Malinowskis | |
− | + | ''Argonauten des westlichen Pazifik'[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie|[3]]]''' (1922) als ethnographischer | |
− | Klassiker der Ökonomischen Anthropologie und als ein | + | Klassiker der Ökonomischen Anthropologie und als ein '''Meilenstein der |
− | formalistischen Theorie | + | formalistischen Theorie'''. Die Monographie enthält umfangreiche und |
detaillierte Beschreibungen der polynesischen Wirtschaft, insbesondere | detaillierte Beschreibungen der polynesischen Wirtschaft, insbesondere | ||
der Insel Tikopia. Der methodologische Individualismus in neoklassischer | der Insel Tikopia. Der methodologische Individualismus in neoklassischer | ||
Line 1,908: | Line 1,703: | ||
Petermann 2004: 916f). | Petermann 2004: 916f). | ||
− | T | + | T'hemes in Economic Anthropology' (1967) ist ein Sammelband, der die |
− | Positionen der Formalisten zusammenfasst und in | + | Positionen der Formalisten zusammenfasst und in '''Abgrenzung zu den |
− | Substantivisten | + | Substantivisten''' nochmals präzisiert. Da Firth nicht umhin kommt, das |
Besondere einzelner Kulturen anzuerkennen, unterscheidet er zwischen | Besondere einzelner Kulturen anzuerkennen, unterscheidet er zwischen | ||
− | kulturspezifischen | + | kulturspezifischen '''"substantial propositions"''' und uneingeschränkt |
− | geltenden | + | geltenden '''"formal propositions"'''. |
+ | |||
+ | '''Raymond Firth im WWW:''' | ||
− | + | '''https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf [https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf [4]]''' | |
− | + | '''http://www.alanmacfarlane.com/ancestors/raymond_firth.html [http://www.alanmacfarlane.com/ancestors/raymond_firth.html [5]]''' | |
− | + | '''http://www.anthrobase.com/Browse/Cit/F/raymond_w_firth.htm [http://www.anthrobase.com/Browse/Cit/F/raymond_w_firth.htm [6]]''' | |
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[https://web.archive.org/web/20050222090952im_/http://petersearle.com/sirraymondfirth.jpg [1] https://web.archive.org/web/20050222090952im_/http://petersearle.com/sirraymondfirth.jpg]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050222090952im_/http://petersearle.com/sirraymondfirth.jpg [1] https://web.archive.org/web/20050222090952im_/http://petersearle.com/sirraymondfirth.jpg]<br/> | ||
− | [[Glossar_Mythen/Funktionalismu#13.4 Funktionalismus|[2] Siehe Kapitel 13.4 der Lernunterlage ''Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung'']] | + | [[Glossar_Mythen/Funktionalismu#13.4 Funktionalismus|[2] Siehe Kapitel 13.4 der Lernunterlage '''Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung''']]<br/> |
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie|[3] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie|[3] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1]]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf [4] https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf]<br/> | [https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf [4] https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf]<br/> | ||
Line 1,942: | Line 1,738: | ||
[[File:theogrundlagen-312_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-312_1.gif|frame|right]] | ||
− | + | ''Formal propositions'' | |
− | + | <blockquote>"On the basic principles of choice in the use of resources and perceptions of relative worth in an exchange, there is a continuum of behaviour over the whole range of human economic systems." (Firth 1967a: 6)</blockquote> | |
− | perceptions of relative worth in an exchange, there is a continuum of | ||
− | behaviour over the whole range of human economic systems." | ||
− | 1967a: 6) | ||
− | Bei den | + | Bei den ''formal propositions'' handelt es sich um generelle Gesetzmäßigkeiten, die uneingeschränkt weltweit gelten. Hierzu zählt nach Firth insbesondere das Motivationsprinzip jedes Individuums, in einer Entscheidungssituation mit mehreren Optionen seinen Nutzen zu maximieren. |
− | Gesetzmäßigkeiten, die uneingeschränkt weltweit gelten. Hierzu zählt | ||
− | nach Firth insbesondere das Motivationsprinzip jedes Individuums, in | ||
− | einer Entscheidungssituation mit mehreren Optionen seinen Nutzen zu | ||
− | maximieren. | ||
− | Im Fall des | + | Im Fall des '''Kula-Tauschrings[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.2 Kula|[1]]]''' versuchen z.B. die Beteiligten, |
Kula-Gegenstände so zu tauschen, dass sie einen möglichst großen Nutzen | Kula-Gegenstände so zu tauschen, dass sie einen möglichst großen Nutzen | ||
davon haben. Die Schönheit und Seltenheit des Armreifens oder der | davon haben. Die Schönheit und Seltenheit des Armreifens oder der | ||
Line 1,965: | Line 1,754: | ||
demgegenüber finanzieller Gewinn maximiert. | demgegenüber finanzieller Gewinn maximiert. | ||
− | + | ''Substantial propositions'' | |
− | + | <blockquote>"To an anthropologist the recognition that any specific economic system has a corresponding set of moral values is taken for granted." (Firth 1967a: 5)</blockquote> | |
− | system has a corresponding set of moral values is taken for granted." | ||
− | (Firth 1967a: 5) | ||
− | Die | + | Die ''substantial propositions'' sind kulturspezifische |
institutionelle Gegebenheiten, die von Gesellschaft zu Gesellschaft | institutionelle Gegebenheiten, die von Gesellschaft zu Gesellschaft | ||
variieren. Beispielsweise kauft in einem marktwirtschaftlichen System | variieren. Beispielsweise kauft in einem marktwirtschaftlichen System | ||
Line 1,989: | Line 1,776: | ||
der Art ("Äpfel und Birnen") auf. | der Art ("Äpfel und Birnen") auf. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.2 Kula|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.2]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.2 Kula|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.2]]<br/> | ||
Line 1,999: | Line 1,787: | ||
− | [[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth| Vorheriges Kapitel: 3.1 Raymond Firth]]<br/> | + | '''[[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth| Vorheriges Kapitel: 3.1 Raymond Firth]]'''<br/> |
=3.2 Melville J. Herskovits= | =3.2 Melville J. Herskovits= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | [[File:theogrundlagen-315_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-315_1.jpg|frame|right|Quelle: '''http://www.library.northwestern.edu/africana/herskovits.html [http://www.library.northwestern.edu/africana/herskovits.html [1]]''']] |
Melville J. Herskovits (1895 -- 1963) | Melville J. Herskovits (1895 -- 1963) | ||
Line 2,011: | Line 1,799: | ||
Vertreter des US-Kulturrelativismus | Vertreter des US-Kulturrelativismus | ||
− | + | '''Relevantes Werk:''' | |
1940: The Economic Life of Primitive People = | 1940: The Economic Life of Primitive People = | ||
Line 2,017: | Line 1,805: | ||
1952: Economic Anthropology: A Study in Comparative Economics | 1952: Economic Anthropology: A Study in Comparative Economics | ||
− | Herskovits, ein US-Amerikaner, war | + | Herskovits, ein US-Amerikaner, war '''Schüler von Franz Boas''' (1858 -- |
− | 1942), dem Begründer der amerikanischen | + | 1942), dem Begründer der amerikanischen '''Cultural Anthropology'''. |
Herskovits' Grundprämissen könnten auch einem ökonomischen Lehrbuch | Herskovits' Grundprämissen könnten auch einem ökonomischen Lehrbuch | ||
entstammen: | entstammen: | ||
− | + | <blockquote>It can also be taken as cross-culturally acceptable that, on the whole, the individual tends to maximize his satisfactions in terms of the choices he makes. Where the gap between utility and disutility is appreciable, and the producer or consumer of a good or service is free to make his choice, then, other things being equal, he will make his choice in terms of utility rather than disutility." (Herskovits 1952: 18)</blockquote> | |
− | whole, the individual tends to maximize his satisfactions in terms of | ||
− | the choices he makes. Where the gap between utility and disutility is | ||
− | appreciable, and the producer or consumer of a good or service is free | ||
− | to make his choice, then, other things being equal, he will make his | ||
− | choice in terms of utility rather than disutility." | ||
− | 18) | ||
Halperin (1994: 20) klassifiziert Herskovits Werk als "hard-core, | Halperin (1994: 20) klassifiziert Herskovits Werk als "hard-core, | ||
utilitarian methodological individualism" mit universalistischem | utilitarian methodological individualism" mit universalistischem | ||
− | Anspruch. Gleichzeitig war er jedoch von der | + | Anspruch. Gleichzeitig war er jedoch von der '''kulturrelativistischen |
− | Schule | + | Schule''' (Westermarck, Boas) geprägt, arbeitete wie viele andere |
Boas-Schüler auch an der Identifizierung von Kulturarealen und gerät | Boas-Schüler auch an der Identifizierung von Kulturarealen und gerät | ||
dadurch in einen Zwiespalt. In seinen Monographien, wie jener zum Cattle | dadurch in einen Zwiespalt. In seinen Monographien, wie jener zum Cattle | ||
Line 2,045: | Line 1,827: | ||
theoretischen Werk zur ökonomischen Anthropologie. | theoretischen Werk zur ökonomischen Anthropologie. | ||
− | + | 'The Economic Life of Primitive People' (1940), 1952 neu aufgelegt unter | |
− | dem Titel | + | dem Titel 'Economic Anthropology: A Study in Comparative Economics', |
gilt als erstes zusammenführendes Handbuch der ökonomischen | gilt als erstes zusammenführendes Handbuch der ökonomischen | ||
Anthropologie und als historischer Klassiker der formalistischen | Anthropologie und als historischer Klassiker der formalistischen | ||
Line 2,057: | Line 1,839: | ||
Herskovits brachte den Begriff des "economizing" | Herskovits brachte den Begriff des "economizing" | ||
(Wirtschaftlichkeitsprinzip im Sinne von Sparsamkeit) in die Debatte | (Wirtschaftlichkeitsprinzip im Sinne von Sparsamkeit) in die Debatte | ||
− | ein. Der Terminus bezieht sich auf den | + | ein. Der Terminus bezieht sich auf den '''Umgang mit knappen Ressourcen''' |
und impliziert dabei drei Aspekte: | und impliziert dabei drei Aspekte: | ||
− | + | * bewusste individuelle Entscheidungsfindung, | |
− | + | * zwei oder mehr Alternativen, zwischen denen entschieden wird, | |
− | + | * die Effizienz als oberstes Ziel des Entscheidungsprozesses. | |
Nutzenmaximierung bedeutet daher nicht immer ein Streben nach dem | Nutzenmaximierung bedeutet daher nicht immer ein Streben nach dem | ||
Line 2,068: | Line 1,850: | ||
hinreichenden Ziels unter minimalen Anstrengungen. | hinreichenden Ziels unter minimalen Anstrengungen. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[http://www.library.northwestern.edu/africana/herskovits.html [1] http://www.library.northwestern.edu/africana/herskovits.html]<br/> | [http://www.library.northwestern.edu/africana/herskovits.html [1] http://www.library.northwestern.edu/africana/herskovits.html]<br/> | ||
Line 2,078: | Line 1,861: | ||
− | [[Neoklassik/Herskovits#3.2 Melville J. Herskovits| Vorheriges Kapitel: 3.2 Melville J. Herskovits]]<br/> | + | '''[[Neoklassik/Herskovits#3.2 Melville J. Herskovits| Vorheriges Kapitel: 3.2 Melville J. Herskovits]]'''<br/> |
=3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit= | =3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
Line 2,086: | Line 1,869: | ||
zwei -- wie es schien unversöhnliche -- Lager gegenüber, einerseits die | zwei -- wie es schien unversöhnliche -- Lager gegenüber, einerseits die | ||
− | + | * '''Formalisten''', und andererseits die | |
− | + | * '''Substantivisten''' oder Institutionalisten. | |
− | Nach Prattis (1973: 46) war es primär eine | + | Nach Prattis (1973: 46) war es primär eine '''"methodologische" |
− | Kontroverse | + | Kontroverse''', die auf unterschiedliche Auffassungen über die Natur der |
menschlichen Rationalität reduziert werden kann. | menschlichen Rationalität reduziert werden kann. | ||
Line 2,109: | Line 1,892: | ||
Die substantivistische Bedeutung von "ökonomisch" bezieht sich auf die | Die substantivistische Bedeutung von "ökonomisch" bezieht sich auf die | ||
Abhängigkeit des Menschen von der Natur und seinen Mitmenschen, um | Abhängigkeit des Menschen von der Natur und seinen Mitmenschen, um | ||
− | seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: | + | seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: "It refers to the interchange |
with his natural and social environment, insofar as this results in | with his natural and social environment, insofar as this results in | ||
− | supplying him with the means of material want-satisfaction" | + | supplying him with the means of material want-satisfaction" (Polanyi |
1968 / 1957: 139). | 1968 / 1957: 139). | ||
Line 2,120: | Line 1,903: | ||
insufficiency of those means" (Polanyi 1968 / 1957: 140). | insufficiency of those means" (Polanyi 1968 / 1957: 140). | ||
− | Mit der | + | Mit der ''rational choice theory'' arbeitende AnthropologInnen haben |
den Begriff Formalisten in der Folge als Eigenbezeichnung für sich | den Begriff Formalisten in der Folge als Eigenbezeichnung für sich | ||
übernommen. | übernommen. | ||
Line 2,140: | Line 1,923: | ||
Firth oder Melville Herskovits, aber auch zum Teil Malinowski | Firth oder Melville Herskovits, aber auch zum Teil Malinowski | ||
orientierten sich am damals wie heute dominanten Zugang der | orientierten sich am damals wie heute dominanten Zugang der | ||
− | Wirtschaftswissenschaften, der | + | Wirtschaftswissenschaften, der '''Neoklassik oder 'rational choice' |
− | Theorie | + | Theorie'''. Diese gingen vom Menschenbild des homo oeconomicus und vom |
Entscheidungsverhalten von Einzelpersonen oder Haushalten in einer | Entscheidungsverhalten von Einzelpersonen oder Haushalten in einer | ||
Situation knapper Mittel aus, auf die sie ihre mathematischen Modelle | Situation knapper Mittel aus, auf die sie ihre mathematischen Modelle | ||
Line 2,151: | Line 1,934: | ||
Ausgelöst wurde die Debatte zwischen Formalisten und Substantivisten | Ausgelöst wurde die Debatte zwischen Formalisten und Substantivisten | ||
− | durch den fundamentalen | + | durch den fundamentalen '''Angriff des Wirtschaftshistorikers Karl |
− | Polanyi | + | Polanyi''' auf die Grundannahmen der Neoklassik. Mit *'''The Great |
− | Transformation* | + | Transformation'*' (1944) wandte dieser sich an die |
− | Wirtschaftswissenschaften, mit * | + | Wirtschaftswissenschaften, mit '*'Trade and Markets in the Early |
− | Empire* | + | Empire'*' (1957) gemeinsam mit mehreren SozialanthropologInnen an die |
Anthropologie. Diese Gruppe geht davon aus, dass vorindustrielle und | Anthropologie. Diese Gruppe geht davon aus, dass vorindustrielle und | ||
bäuerliche Gesellschaften andere Vorstellungen von Rationalität haben, | bäuerliche Gesellschaften andere Vorstellungen von Rationalität haben, | ||
Line 2,166: | Line 1,949: | ||
Die Substantivisten lehnten aber den methodologischen Individualismus | Die Substantivisten lehnten aber den methodologischen Individualismus | ||
− | und den | + | und den 'homo oeconomicus' nicht grundsätzlich ab. Sie beschränkten nur |
seinen Anwendungsbereich auf Gesellschaften mit marktwirtschaftlicher | seinen Anwendungsbereich auf Gesellschaften mit marktwirtschaftlicher | ||
Grundlage. Dort allerdings bestärkten und überhöhten sie das Prinzip der | Grundlage. Dort allerdings bestärkten und überhöhten sie das Prinzip der | ||
Line 2,176: | Line 1,959: | ||
==3.3.2 Die Reaktion der Formalisten== | ==3.3.2 Die Reaktion der Formalisten== | ||
− | In den | + | In den '''1960er Jahren''' erfolgte eine '''heftige Reaktion der |
− | Formalisten | + | Formalisten''' auf Karl Polanyi und die Substantivisten. Die zentralen |
Kritikpunkte waren: | Kritikpunkte waren: | ||
− | + | '''1.''' Die Substantivisten hätten das '''Prinzip des maximising falsch | |
− | verstanden | + | verstanden'''. Um zu maximieren brauche es weder Güter noch Markt, auch |
Liebe und Sicherheit könnten unter formal-rationalen Gesichtspunkten | Liebe und Sicherheit könnten unter formal-rationalen Gesichtspunkten | ||
betrachtet werden. | betrachtet werden. | ||
− | + | '''2.''' Die '''Substantivisten seien Romantiker''', die sich mit | |
Wunschdenken und nicht mit Realität befassten. | Wunschdenken und nicht mit Realität befassten. | ||
− | + | '''3. Formale Methoden würden in allen Gesellschaften funktionieren''', da | |
überall unendliche Bedürfnisse mit beschränkten Mitteln zu befriedigen | überall unendliche Bedürfnisse mit beschränkten Mitteln zu befriedigen | ||
versucht würden. | versucht würden. | ||
− | + | '''4.''' Ein induktiver Zugang in der Ökonomischen Anthropologie käme dem | |
− | Schmetterlingssammeln gleich, | + | Schmetterlingssammeln gleich, '''nur deduktive Ansätze entsprächen einem |
− | wissenschaftlichen Verständnis | + | wissenschaftlichen Verständnis'''. Dieser Kritikpunkt ist im Kontext der |
positivistischen Ausrichtung der gesamten Sozialwissenschaften in den | positivistischen Ausrichtung der gesamten Sozialwissenschaften in den | ||
1960er Jahre zu sehen. | 1960er Jahre zu sehen. | ||
− | + | '''5.''' Polanyi hätte die '''Geschichte falsch verstanden'''. Markt, Tausch | |
und Handel gäbe es in allen Gesellschaften (vgl. Wilk 1996: 9ff). | und Handel gäbe es in allen Gesellschaften (vgl. Wilk 1996: 9ff). | ||
Line 2,207: | Line 1,990: | ||
und Scott Cook. | und Scott Cook. | ||
− | + | '''Ethnographische Monographien''' aus dieser Phase des Formalismus | |
− | stammen z.B. von | + | stammen z.B. von '''Sol Tax''' (1953) und von '''Scarlett Epstein''' (1968). |
Beide versuchten zu zeigen, dass in den von ihnen untersuchten | Beide versuchten zu zeigen, dass in den von ihnen untersuchten | ||
Gesellschaften die Individuen wie Unternehmer handeln, indem sie | Gesellschaften die Individuen wie Unternehmer handeln, indem sie | ||
Line 2,217: | Line 2,000: | ||
==3.3.3 Kritik an den Formalisten== | ==3.3.3 Kritik an den Formalisten== | ||
− | Die | + | Die '''Kritik an den Formalisten''' wurde in doppelter Weise geführt. |
− | + | * Einerseits wurde der Zugang des '''methodologischen Individualismus''' als unbrauchbar angesehen, um das ökonomische Handeln in vorindustriellen/nicht industrialisierten Gesellschaften zu verstehen. Diese Kritik kam vorwiegend von den Substantivisten und ließ in ihrer fundamentalen Ablehnung lange keine Gesprächsmöglichkeiten zu. | |
− | + | * Aber auch innerhalb der Formalisten und unter Akzeptanz der 'rational choice' Theorie hatte man Probleme mit dem *'''homo oeconomicus'*' im Sinne eines ausschließlichen Nutzenmaximierers.2 Probleme zeigten sich:'''1.''' Wie lässt sich der "Nutzen" in Gesellschaften messen, in denen es kein Geld im Sinne eines "allgemeinen Äquivalents" gibt. Auch in marktwirtschaftlichen Gesellschaften ist der Nutzen eine "metaphysische Kategorie" (Novy 2003), die sich einer objektiven Messbarkeit entzieht.'''2.''' In Feldforschungssituationen kommt rasch zum Vorschein, dass '''die meisten Menschen schlichtweg nichts maximieren'''. Offenbar zufrieden mit ihrem Leben streben sie weder nach Reichtum und Geld, Macht, Prestige oder Ehre. | |
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===3.3.3.1 Kritik am homo oeconomicus aus nicht-formalistischer Perspektive=== | ===3.3.3.1 Kritik am homo oeconomicus aus nicht-formalistischer Perspektive=== | ||
+ | ---- | ||
− | Bis heute ist der | + | Bis heute ist der ''homo oeconomicus'' der Formalisten Gegenstand von |
− | Auseinandersetzungen (vgl. Ensminger 2002: XI). Bereits | + | Auseinandersetzungen (vgl. Ensminger 2002: XI). Bereits '''Raymond |
− | Firth | + | Firth''' hatte auf den augenfälligen Umstand, dass in vielen |
Gesellschaften keineswegs Reichtum oder Kapital akkumuliert würde, mit | Gesellschaften keineswegs Reichtum oder Kapital akkumuliert würde, mit | ||
− | der Einführung der | + | der Einführung der ''institutionellen'' Gegebenheiten reagiert. Es |
wird überall maximiert, aber eben nicht nur Geld, sondern Macht, | wird überall maximiert, aber eben nicht nur Geld, sondern Macht, | ||
Prestige, Lust, Gottgefälligkeit (bei Asketen zum Beispiel) und vieles | Prestige, Lust, Gottgefälligkeit (bei Asketen zum Beispiel) und vieles | ||
andere mehr (besonders bei Burling 1962). Dazu meinte Maurice Godelier | andere mehr (besonders bei Burling 1962). Dazu meinte Maurice Godelier | ||
− | bereits 1965: | + | bereits 1965: "wenn so theoretisch jedes zweckbestimmte Handeln |
− | ökonomisch wird, ist faktisch keines mehr ökonomisch" | + | ökonomisch wird, ist faktisch keines mehr ökonomisch" (Godelier 1972: |
292). | 292). | ||
− | Die formale Theorie ist ein Komplex | + | Die formale Theorie ist ein Komplex '''mathematischer Verfahrensweisen''', |
der indifferent gegenüber dem Gegenstand ist, mit dem er umgeht, denn | der indifferent gegenüber dem Gegenstand ist, mit dem er umgeht, denn | ||
die Logik des Kalküls bleibt überall dieselbe (Godelier 1972: 294). Das | die Logik des Kalküls bleibt überall dieselbe (Godelier 1972: 294). Das | ||
Line 2,264: | Line 2,032: | ||
heute noch genau so kritisiert wie in den 1960er Jahren: | heute noch genau so kritisiert wie in den 1960er Jahren: | ||
− | + | <blockquote>If you are sufficiently determined, you can always identify something that people try to maximize. But if all maximizing models are really arguing is that 'people will always seek to maximize something,' then they obviously can't predict anything, which means employing them can hardly be said to make anthropology more scientific. All they really add to analysis is a set of assumptions about human nature. The assumption, most of all, that no one ever does anything primarily out of concern for others; that whatever one does, one is only trying to get something out of it for oneself. In common English, there is a word for this attitude. It's called 'cynicism.' Most of us try to avoid people who take it too much to heart. In economics, apparently, they call it 'science'." (Graeber 2001: 8) </blockquote> | |
− | that people try to maximize. But if all maximizing models are really | ||
− | arguing is that 'people will always seek to maximize something,' then | ||
− | they obviously can't predict anything, which means employing them can | ||
− | hardly be said to make anthropology more scientific. All they really add | ||
− | to analysis is a set of assumptions about human nature. The assumption, | ||
− | most of all, that no one ever does anything primarily out of concern for | ||
− | others; that whatever one does, one is only trying to get something out | ||
− | of it for oneself. In common English, there is a word for this attitude. | ||
− | It's called 'cynicism.' Most of us try to avoid people who take it too | ||
− | much to heart. In economics, apparently, they call it 'science'." | ||
− | (Graeber 2001: 8) | ||
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===3.3.3.2 Revisionen der formalistischen Theorie: Ian Prattis und sein strategising man=== | ===3.3.3.2 Revisionen der formalistischen Theorie: Ian Prattis und sein strategising man=== | ||
+ | ---- | ||
Einen Versuch, diesem Dilemma zu entkommen und trotzdem im | Einen Versuch, diesem Dilemma zu entkommen und trotzdem im | ||
− | formallogischen System der Neoklassik zu verbleiben, hat z.B. | + | formallogischen System der Neoklassik zu verbleiben, hat z.B. '''Ian |
− | Prattis | + | Prattis''' 1973 in einem einflussreichen Artikel unternommen. Seiner |
− | Ansicht nach ist | + | Ansicht nach ist 'maximising' als einziges Ziel aller Handlungen |
tatsächlich unvollständig. Er plädiert daher für eine Sicht des | tatsächlich unvollständig. Er plädiert daher für eine Sicht des | ||
− | + | ''strategising'', worunter er versteht, dass dem handelndem Individuum | |
− | in einer Entscheidungssituation | + | in einer Entscheidungssituation '''mehrere Möglichkeiten [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.3.3 Optimierung|[1]]]''' offen |
stehen: | stehen: | ||
− | + | '''1. Maximising =''' Maximierung des Nutzens | |
− | + | '''2. Minimaxing =''' Minimierung der Wahrscheinlichkeit von maximalem | |
Verlust | Verlust | ||
− | + | '''3. Satisfising =''' Ergreifen der ersten Alternative, die die | |
Minimalanforderungen für die Bedürfnisbefriedigung erfüllt | Minimalanforderungen für die Bedürfnisbefriedigung erfüllt | ||
− | Um aber auf diese | + | Um aber auf diese '''Diversifizierung der Handlungsmotivationen''' wieder |
mathematische Prognosemodelle aufsetzen zu können, bedarf es nunmehr | mathematische Prognosemodelle aufsetzen zu können, bedarf es nunmehr | ||
einer Spezifizierung der Umstände, die bei einem Individuum die Wahl | einer Spezifizierung der Umstände, die bei einem Individuum die Wahl | ||
Line 2,308: | Line 2,065: | ||
kommt zum Ergebnis, dass | kommt zum Ergebnis, dass | ||
− | + | ''maximising'' die bevorzugte Strategie der Häuptlinge ist, | |
− | + | ''minimaxing'' jene von Personen auf mittlerer Prestigeebene, und | |
− | + | ''satisfising'' wird von den jungen Männern am untersten Ende der | |
Prestigehierarchie praktiziert. | Prestigehierarchie praktiziert. | ||
Line 2,318: | Line 2,075: | ||
formalen Logik verlassen. | formalen Logik verlassen. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.3.3 Optimierung|[1] Siehe Kapitel 2.2.5.3.3 der Lernunterlage ''Internationale Politische Ökonomie'']]<br/> | + | |
+ | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2.5.3.3 Optimierung|[1] Siehe Kapitel 2.2.5.3.3 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> | ||
Line 2,327: | Line 2,085: | ||
− | [[Neoklassik/Der_Grosse_Streit#3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit| Vorheriges Kapitel: 3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit]]<br/> | + | '''[[Neoklassik/Der_Grosse_Streit#3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit| Vorheriges Kapitel: 3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit]]'''<br/> |
=3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur= | =3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
Burling, Robbins 1962: "Maximization Theories and the Study of Economic | Burling, Robbins 1962: "Maximization Theories and the Study of Economic | ||
− | Anthropology." | + | Anthropology." 'American Anthropologist' 64, S. 802-821. |
− | Ensminger, Jean 2002: | + | Ensminger, Jean 2002: 'Theory in Economic Anthropology'. Walnut Creek: |
AltaMira Press. | AltaMira Press. | ||
− | Epstein, Scarlett 1968: | + | Epstein, Scarlett 1968: 'Capitalism, Primitive and Modern'. Michigan: |
Michigan State University. | Michigan State University. | ||
− | Firth, Raymond 1965/1939: | + | Firth, Raymond 1965/1939: 'Primitive Polynesian Economy'. London: |
Routledge. | Routledge. | ||
− | --- 1967a: | + | --- 1967a: 'Themes in Economic Anthropology'. London: Tavistock |
Publications. | Publications. | ||
--- 1967b: Themes in Economic Anthropology: A General Comment. In R. | --- 1967b: Themes in Economic Anthropology: A General Comment. In R. | ||
− | Firth (Hrsg.) | + | Firth (Hrsg.) 'Themes in Economic Anthropology'. London: Tavistock |
Publications, S. 1-28. | Publications, S. 1-28. | ||
Line 2,356: | Line 2,114: | ||
False Coin of Our Own Dreams*. New York: Palgrave. | False Coin of Our Own Dreams*. New York: Palgrave. | ||
− | Halperin, Rhoda H. 1994: | + | Halperin, Rhoda H. 1994: 'Cultural Economies Past and Present'. Austin: |
University of Texas Press. | University of Texas Press. | ||
Herskovits, Melville 1926: "The Cattle Complex in East Africa." | Herskovits, Melville 1926: "The Cattle Complex in East Africa." | ||
− | + | 'American Anthropologist' 28, S. 361-388, 494-528, 633-664. | |
--- 1952/1940: *Economic Anthropology. A Study of Comperative | --- 1952/1940: *Economic Anthropology. A Study of Comperative | ||
Economics*. New York: Knopf. | Economics*. New York: Knopf. | ||
− | Malinowski, Bronislaw 1961/1922: | + | Malinowski, Bronislaw 1961/1922: 'Argonauts of the Western Pacific'. New |
York: Dutton Press. | York: Dutton Press. | ||
Novy, Andreas 2003: Internationale Politische Ökonomie: Neoklassik. | Novy, Andreas 2003: Internationale Politische Ökonomie: Neoklassik. | ||
− | Wirtschaftsuniversität Wien, Abt. Stadt und Regionalentwicklung. [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[1]]] | + | Wirtschaftsuniversität Wien, Abt. Stadt und Regionalentwicklung. [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[1]]]''' |
− | Petermann, Werner 2004: | + | Petermann, Werner 2004: 'Die Geschichte der Ethnologie'. Wuppertal: |
Peter Hammer Verlag. | Peter Hammer Verlag. | ||
− | Plattner, Stuart 1989: | + | Plattner, Stuart 1989: 'Economic Anthropology'. Stanford: Stanford |
University Press. | University Press. | ||
Polanyi, Karl 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton: | Polanyi, Karl 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton: | ||
− | + | 'Primitve, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi'. New | |
York: Doubleday, S. 139-174. | York: Doubleday, S. 139-174. | ||
Line 2,388: | Line 2,146: | ||
Market in the Early Empires*. New York: Free Press. | Market in the Early Empires*. New York: Free Press. | ||
− | Prattis, J. Iain: 1973: "Strategising Man." | + | Prattis, J. Iain: 1973: "Strategising Man." 'Man' (N.S.) 8, S. 46-58. |
− | Rössler, Martin 1999: | + | Rössler, Martin 1999: 'Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung'. Berlin: |
Reimer Verlag. | Reimer Verlag. | ||
− | Tax, Sol 1953: | + | Tax, Sol 1953: 'Penny Capitalism. A Guatemalan Indian Economy'. |
Washington: Government Printing Office. | Washington: Government Printing Office. | ||
Line 2,399: | Line 2,157: | ||
Anthropology*. Boulder: Westview Press. | Anthropology*. Boulder: Westview Press. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
+ | [[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[1] Siehe Kapitel 2.2 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> | ||
− | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/> ''' | + | |
+ | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/>''' | ||
---- | ---- | ||
[[#3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur|↑ Nach oben]]<br/> | [[#3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur|↑ Nach oben]]<br/> | ||
− | [[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/> | + | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]'''<br/> |
=4 Institutionalismus und Substantivismus= | =4 Institutionalismus und Substantivismus= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
+ | <div><ul> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-74_1.jpg|thumb|none|Rinderopfer bei Hochzeitsfest der Toraja (Indonesien). Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-74_2.jpg|thumb|none|Festessen in einem Dorf der Shuar (Ecuador). Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | </ul></div> | ||
− | + | Unter '''Institutionalismus''' oder spezifischer '''Substantivismus''' wird | |
− | |||
− | |||
− | Unter | ||
eine wirtschaftsanthropologische Ideenrichtung verstanden, die davon | eine wirtschaftsanthropologische Ideenrichtung verstanden, die davon | ||
ausgeht, dass die Ökonomie zumindest in nicht-industrialisierten | ausgeht, dass die Ökonomie zumindest in nicht-industrialisierten | ||
− | Gesellschaften in die | + | Gesellschaften in die '''Gesamtheit aller Institutionen''' eingebetet ist. |
Sie kann nicht auf eine Handlungsmotivation wie maximieren oder | Sie kann nicht auf eine Handlungsmotivation wie maximieren oder | ||
optimieren reduziert werden (Gudeman 1996: 173). | optimieren reduziert werden (Gudeman 1996: 173). | ||
Line 2,501: | Line 2,261: | ||
[[Neoklassik#3 Neoklassik oder Rational Choice|3 Neoklassik oder Rational Choice]]<br/> | [[Neoklassik#3 Neoklassik oder Rational Choice|3 Neoklassik oder Rational Choice]]<br/> | ||
[[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | [[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | ||
+ | |||
+ | |||
+ | |||
'''[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1 Vordenker| Nächstes Kapitel: 4.1 Vordenker]]<br/>''' | '''[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1 Vordenker| Nächstes Kapitel: 4.1 Vordenker]]<br/>''' | ||
Line 2,507: | Line 2,270: | ||
− | [[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus| Vorheriges Kapitel: 4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | + | '''[[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus| Vorheriges Kapitel: 4 Institutionalismus und Substantivismus]]'''<br/> |
=4.1 Vordenker= | =4.1 Vordenker= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-75_1.jpg|frame|right]] | |
Wesentliche Grundlagen des Institutionalismus bzw. des Substantivismus | Wesentliche Grundlagen des Institutionalismus bzw. des Substantivismus | ||
− | in der Ökonomischen Anthropologie wurden von | + | in der Ökonomischen Anthropologie wurden von '''Begründern der Soziologie |
− | und der Sozialanthropologie | + | und der Sozialanthropologie''' entwickelt. Besondere Bedeutung kommt |
− | dabei | + | dabei '''Émile Durkheim und Max Weber''' zu. Beide Wissenschafter |
beschäftigen sich mit einer Vielzahl von Fragen in Zusammenhang mit der | beschäftigen sich mit einer Vielzahl von Fragen in Zusammenhang mit der | ||
Konstitution von Gesellschaft, wobei wirtschaftliche Prozesse für sie | Konstitution von Gesellschaft, wobei wirtschaftliche Prozesse für sie | ||
Line 2,523: | Line 2,286: | ||
Weltbilds bzw. der Religion und seiner Bedeutung für soziales und | Weltbilds bzw. der Religion und seiner Bedeutung für soziales und | ||
ökonomisches Handeln. | ökonomisches Handeln. | ||
− | |||
− | |||
==Inhalt== | ==Inhalt== | ||
Line 2,554: | Line 2,315: | ||
==4.1.1 Émile Durkheim== | ==4.1.1 Émile Durkheim== | ||
− | [[File:theogrundlagen-76_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-76_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html [https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html [1]]''']] |
− | + | '''Émile Durkheim (1858 -- 1917)''' | |
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1893: De la division du travail social (Über soziale Arbeitsteilung) | 1893: De la division du travail social (Über soziale Arbeitsteilung) | ||
Line 2,564: | Line 2,325: | ||
1912: Die elementaren Formen des religiösen Lebens | 1912: Die elementaren Formen des religiösen Lebens | ||
− | Der französische Wissenschafter | + | Der französische Wissenschafter '''Émile Durkheim''' gehört zu den |
− | Begründern der | + | Begründern der '''Soziologie und Sozialanthropologie'''. Im Mittelpunkt |
− | seiner Theorie steht die | + | seiner Theorie steht die '''gesellschaftliche Natur des Menschen'''. |
Menschen sind soziale Wesen, sie leben in Gruppen und ihr Bewusstsein | Menschen sind soziale Wesen, sie leben in Gruppen und ihr Bewusstsein | ||
wird durch Interaktionen mit Anderen geprägt. Daher kann menschliches | wird durch Interaktionen mit Anderen geprägt. Daher kann menschliches | ||
Denken und Handeln nur dann zielführend untersucht bzw. verstanden | Denken und Handeln nur dann zielführend untersucht bzw. verstanden | ||
− | werden, wenn | + | werden, wenn '''nicht das Individuum, sondern die Gruppe bzw. die |
− | Gesellschaft den Forschungsgegenstand bildet | + | Gesellschaft den Forschungsgegenstand bildet'''. |
Durkheim wendet diese Grundannahmen auf verschiedene Dimensionen des | Durkheim wendet diese Grundannahmen auf verschiedene Dimensionen des | ||
Denkens und Handelns an, insbesondere auf die Gestaltung von sozialen | Denkens und Handelns an, insbesondere auf die Gestaltung von sozialen | ||
− | Gruppen und gesellschaftlichen Institutionen, auf | + | Gruppen und gesellschaftlichen Institutionen, auf '''Wirtschaft''' sowie |
− | auf Religion. Im Rahmen seiner | + | auf Religion. Im Rahmen seiner '''"sozialen Ökonomie"''' entwickelt |
Durkheim drei Themen, die für die Weiterentwicklung der ökonomischen | Durkheim drei Themen, die für die Weiterentwicklung der ökonomischen | ||
Anthropologie von besonderer Bedeutung sind: | Anthropologie von besonderer Bedeutung sind: | ||
− | + | * '''Anti-Utilitarismus''' | |
− | + | * '''Anti-Individualismus''' | |
− | + | * '''Typologischer Evolutionismus''' | |
− | Durkheim vertritt einen | + | Durkheim vertritt einen '''systemorientierten Ansatz''' und ist ein |
Vorläufer der Strukturalisten. In seinen verschiedenen Forschungsfeldern | Vorläufer der Strukturalisten. In seinen verschiedenen Forschungsfeldern | ||
− | geht er vom Modell einer grundsätzlich | + | geht er vom Modell einer grundsätzlich '''homogenen Gesellschaft mit |
− | gemeinsamen Interessen | + | gemeinsamen Interessen''' aus (vgl. Wilk 1996: 77-83). |
− | + | '''Émile Durkheim im WWW:''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html [https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html [2]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051224210427/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/index.html [https://web.archive.org/web/20051224210427/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/index.html [3]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html [https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html [1]]''' | |
− | + | '''http://www.chez.com/sociol/socio/autob/durkheim.htm [http://www.chez.com/sociol/socio/autob/durkheim.htm [4]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051225230057/http://www.emile-durkheim.com/ [https://web.archive.org/web/20051225230057/http://www.emile-durkheim.com/ [5]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060425232745/http://www.emile-durkheim.com/emile_durkheim_resources.htm [https://web.archive.org/web/20060425232745/http://www.emile-durkheim.com/emile_durkheim_resources.htm [6]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20050826125237/http://www.sociologyonline.co.uk/soc_essays/DurkIntro.htm [https://web.archive.org/web/20050826125237/http://www.sociologyonline.co.uk/soc_essays/DurkIntro.htm [7]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html [1] https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html [1] https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html [2] https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html [2] https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html]<br/> | ||
Line 2,617: | Line 2,379: | ||
===4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität=== | ===4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-77_1.jpg|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-77_1.jpg|frame|right]] | ||
− | In den Werken von | + | In den Werken von '''Émile Durkheim''' stehen die sozialen Beziehungen im |
Vordergrund des menschlichen Denkens und Handelns und prägen alle | Vordergrund des menschlichen Denkens und Handelns und prägen alle | ||
− | Lebensbereiche. Dieser | + | Lebensbereiche. Dieser '''Primat der Gesellschaft bestimmt auch |
− | wirtschaftliche Prozesse | + | wirtschaftliche Prozesse''': Im Gegensatz zum rational choice Ansatz |
vertritt Durkheim die These, dass nicht das Eigeninteresse menschliches | vertritt Durkheim die These, dass nicht das Eigeninteresse menschliches | ||
(ökonomisches) Handeln bestimmt, sondern dass Menschen kooperieren und | (ökonomisches) Handeln bestimmt, sondern dass Menschen kooperieren und | ||
Line 2,629: | Line 2,392: | ||
die Gesellschaft durch ein System von Werten und Gefühlen: | die Gesellschaft durch ein System von Werten und Gefühlen: | ||
− | + | <blockquote>Wenn sich eine Gruppe zu einem gemeinsamen Ziel zusammenschließt, wenn ihre Mitglieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit verspüren, so stellen sie ihre eigenen persönlichen Interessen zurück, um der gemeinsamen Sache zu dienen." (Durkheim 1899 in Wilk 1996: 78, Übersetzung: Gertraud Seiser).</blockquote> | |
− | wenn ihre Mitglieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit verspüren, so stellen | ||
− | sie ihre eigenen persönlichen Interessen zurück, um der gemeinsamen | ||
− | Sache zu dienen." | ||
− | Gertraud Seiser). | ||
− | Auf diese Weise entsteht | + | Auf diese Weise entsteht '''Solidarität''': Solidarität im Bereich der Wirtschaft ist ein Produkt des sozialen Lebens. Daraus ergeben sich folgende Thesen: |
− | Wirtschaft ist ein Produkt des sozialen Lebens. Daraus ergeben sich | ||
− | folgende Thesen: | ||
− | + | * Wirtschaft und Gesellschaft sind eng miteinander verflochten. | |
− | + | * Ökonomisches Handeln war im Lauf der Geschichte politischen, religiösen und sozialen Institutionen untergeordnet. | |
− | |||
- ergo - | - ergo - | ||
− | + | * '''Die Gesellschaft bzw. das Soziale bestimmen die Wirtschaft.''' | |
===4.1.1.2 Von der sozialen Teilung der Arbeit=== | ===4.1.1.2 Von der sozialen Teilung der Arbeit=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-78_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-78_1.gif|frame|right]] | ||
In einem seiner wichtigsten Werke für die Entwicklung der ökonomischen | In einem seiner wichtigsten Werke für die Entwicklung der ökonomischen | ||
− | Anthropologie | + | Anthropologie '''"Über soziale Arbeitsteilung"''' (De la division du |
− | travail social, 1893) geht Durkheim der Frage nach, | + | travail social, 1893) geht Durkheim der Frage nach, '''wie eine Masse von |
− | Individuen eine Gesellschaft bilden | + | Individuen eine Gesellschaft bilden''', d.h. einen Konsens über ihr |
Zusammenleben finden kann. | Zusammenleben finden kann. | ||
− | Die Antwort liegt für Durkheim in der | + | Die Antwort liegt für Durkheim in der '''gesellschaftlichen Teilung der |
− | Arbeit | + | Arbeit''': Fast alle Gesellschaften praktizieren irgendeine Form der |
Arbeitsteilung, beispielsweise | Arbeitsteilung, beispielsweise | ||
− | + | * zwischen alt und jung, | |
− | + | * zwischen der einen und der anderen Gemeinschaft (z.B. Klassen, Kasten, ethnische Gruppen) | |
− | + | * zwischen den Geschlechtern. | |
− | |||
Die einzelnen Formen der Arbeitsteilung sind in ihrer konkreten | Die einzelnen Formen der Arbeitsteilung sind in ihrer konkreten | ||
− | + | '''Ausformung sehr verschieden''' und keineswegs "naturwüchsig", sie | |
− | sind mit | + | sind mit '''verschiedenen gesellschaftlichen Organisationsformen''' |
verbunden. So sind etwa einige Formen der Arbeitsteilung, die uns | verbunden. So sind etwa einige Formen der Arbeitsteilung, die uns | ||
selbstverständlich sind, wie die Trennung von Kopf- und Handarbeit oder | selbstverständlich sind, wie die Trennung von Kopf- und Handarbeit oder | ||
Line 2,685: | Line 2,441: | ||
===4.1.1.3 Anti-Individualismus und Kollektive Repräsentationen=== | ===4.1.1.3 Anti-Individualismus und Kollektive Repräsentationen=== | ||
− | + | ---- | |
− | [[File:theogrundlagen-79_1.jpg| | + | <div><ul> |
− | [[File:theogrundlagen-79_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-79_1.jpg|thumb|none|Palmsonntag in Ecuador. Foto: Elke Mader]] </li> |
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-79_2.jpg|thumb|none|Osterfest der Tarahumara. Foto: Evelyne Puchegger-Ebner]] </li> | ||
+ | </ul></div> | ||
Das Entscheidende für die Herausbildung der industriellen Arbeitswelt | Das Entscheidende für die Herausbildung der industriellen Arbeitswelt | ||
− | ist für Durkheim die | + | ist für Durkheim die '''soziale Ordnung'''. Das Individuum ist bei |
Durkheim (und in seiner gesamten nachfolgenden Denktradition) primär ein | Durkheim (und in seiner gesamten nachfolgenden Denktradition) primär ein | ||
Produkt der Gesellschaft, wenn auch eines mit großer Eigenständigkeit. | Produkt der Gesellschaft, wenn auch eines mit großer Eigenständigkeit. | ||
Line 2,699: | Line 2,457: | ||
Gesellschaft wird im Glaubenssystem, in Regeln, Werten und Gefühlen | Gesellschaft wird im Glaubenssystem, in Regeln, Werten und Gefühlen | ||
sichtbar, in "heiligen" und zeitlosen Traditionen. Durkheim nennt das | sichtbar, in "heiligen" und zeitlosen Traditionen. Durkheim nennt das | ||
− | + | '''"kollektive Repräsentationen"'''. Dieses System '''bestimmt auch die | |
− | Arbeitsteilung und andere Aspekte der Wirtschaft | + | Arbeitsteilung und andere Aspekte der Wirtschaft'''. Das Religiöse wirkt |
in den sozialen Alltag hinein; es besitzt eine Eigendynamik (vgl. auch | in den sozialen Alltag hinein; es besitzt eine Eigendynamik (vgl. auch | ||
Durkheim 1912). Das Religiöse ist für Durkheim nicht - wie etwa für Marx | Durkheim 1912). Das Religiöse ist für Durkheim nicht - wie etwa für Marx | ||
Line 2,706: | Line 2,464: | ||
wirkt ständig und unmittelbar auf den Rest der Gesellschaft zurück. | wirkt ständig und unmittelbar auf den Rest der Gesellschaft zurück. | ||
− | Durkheim betont den | + | Durkheim betont den '''ordnungsstiftenden Charakter''' sowie die |
Bindekraft und Geltungskraft von Weltbildern und Religion in den | Bindekraft und Geltungskraft von Weltbildern und Religion in den | ||
Lebensalltag der Menschen hinein. Die kollektiven Vorstellungen werden | Lebensalltag der Menschen hinein. Die kollektiven Vorstellungen werden | ||
− | im selbstverständlichen, | + | im selbstverständlichen, '''kleinen Alltag ebenso tradiert wie in großen |
− | Ritualen | + | Ritualen'''. Oft werden sie aber erst beim Kulturkontakt, in der |
Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, bewusst. Er ist damit auch | Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, bewusst. Er ist damit auch | ||
Vordenker für eine Forschungstradition der Sozial- und | Vordenker für eine Forschungstradition der Sozial- und | ||
Line 2,721: | Line 2,479: | ||
===4.1.1.4 Wert, Gesellschaft, Symbol=== | ===4.1.1.4 Wert, Gesellschaft, Symbol=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-85_1.jpg|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-85_1.jpg|frame|right]] | ||
− | + | '''Wert''' konstituiert sich für Durkheim nicht aus der Vernunft (also | |
− | einem rational handelnden Individuum), sondern aus | + | einem rational handelnden Individuum), sondern aus '''sozialen |
− | Konventionen | + | Konventionen'''. Menschen bewerten Dinge nicht auf Grund ihrer |
− | (objektiven) Nützlichkeit, sondern sind durch die | + | (objektiven) Nützlichkeit, sondern sind durch die '''Macht der |
− | kollektiven Repräsentationen | + | kollektiven Repräsentationen''' vom Wert bestimmter Dinge überzeugt. |
− | + | '''Wert bzw. Unwert ist demnach eine kollektive soziale und symbolische | |
− | Konstruktion. | + | Konstruktion.''' Diese These Durkheims wird später von vielen |
WissenschafterInnen aufgegriffen und in verschiedene Richtungen hin | WissenschafterInnen aufgegriffen und in verschiedene Richtungen hin | ||
erweitert, sie bildet bis heute die Basis für eine bedeutende | erweitert, sie bildet bis heute die Basis für eine bedeutende | ||
Line 2,741: | Line 2,500: | ||
===4.1.1.5 Kontrollierte Bedürfnisse, kontrollierte Ökonomie=== | ===4.1.1.5 Kontrollierte Bedürfnisse, kontrollierte Ökonomie=== | ||
+ | ---- | ||
Die gesellschaftliche Konstruktion von Wert macht die Menschen | Die gesellschaftliche Konstruktion von Wert macht die Menschen | ||
unabhängig von den "unsozialen unbegrenzten Begierden des Marktes" | unabhängig von den "unsozialen unbegrenzten Begierden des Marktes" | ||
− | (Durkheim 1925/1961 in Wilk 1996: 79). | + | (Durkheim 1925/1961 in Wilk 1996: 79). '''Die Befriedigung der |
− | Bedürfnisse durch Individuen | + | Bedürfnisse durch Individuen''' im Rahmen eines Marktes stellt für |
Durkheim (im Gegensatz zu den Vertretern des rational choice Modells) | Durkheim (im Gegensatz zu den Vertretern des rational choice Modells) | ||
nicht die Basis der Gesellschaft dar. Vielmehr sieht er in den | nicht die Basis der Gesellschaft dar. Vielmehr sieht er in den | ||
Bedürfnissen und (ökonomischen) Begierden die Wurzel allen Übels. Sie | Bedürfnissen und (ökonomischen) Begierden die Wurzel allen Übels. Sie | ||
führen zu einem anarchistischen Kampf zwischen verschiedenen Interessen | führen zu einem anarchistischen Kampf zwischen verschiedenen Interessen | ||
− | und | + | und '''zerstören die Gesellschaft'''. Nur durch verbindende kollektive |
Repräsentationen und soziale Regeln können sie kontrolliert werden. | Repräsentationen und soziale Regeln können sie kontrolliert werden. | ||
− | Durkheim befürwortete daher die Kontrolle von bzw. das | + | Durkheim befürwortete daher die Kontrolle von bzw. das '''Eingreifen in |
− | wirtschaftliche Angelegenheiten | + | wirtschaftliche Angelegenheiten''' durch den Staat (Regierung). Er war |
der Ansicht, dass im Lauf der Geschichte die Wirtschaft zum Wohle der | der Ansicht, dass im Lauf der Geschichte die Wirtschaft zum Wohle der | ||
Gesellschaft immer den politischen, religiösen und sozialen | Gesellschaft immer den politischen, religiösen und sozialen | ||
Institutionen untergeordnet war und von ihnen kontrolliert wurde. Die | Institutionen untergeordnet war und von ihnen kontrolliert wurde. Die | ||
− | + | '''Probleme der europäischen Industriegesellschaft''' seiner Zeit führt er | |
− | vor allem auf einen | + | vor allem auf einen '''Kontrollverlust über ökonomische Prozesse''' zurück |
(vgl. Wilk 1996: 79-80). | (vgl. Wilk 1996: 79-80). | ||
Line 2,765: | Line 2,525: | ||
===4.1.1.6 Typologischer Evolutionismus: Organische und mechanische Solidarität=== | ===4.1.1.6 Typologischer Evolutionismus: Organische und mechanische Solidarität=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-87_1.jpg|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-87_1.jpg|frame|right]] | ||
Line 2,778: | Line 2,539: | ||
orientieren Gesellschaften der damaligen Kolonien. | orientieren Gesellschaften der damaligen Kolonien. | ||
− | + | * Die intensive Arbeitsteilung ergibt in unserer Gesellschaft durch ihr bloßes Vorhandensein ein Aufeinander-angewiesen-Sein der einzelnen Individuen, sie wird somit zum "Kitt", der die Gesellschaft zusammenhält. Die '''Arbeitsteilung''' schafft laut Durkheim eine '''"organische Solidarität"'''. Konsens resultiert aus einer Differenzierung der einzelnen Mitglieder, die einander nicht ähnlich, aber aufeinander angewiesen sind. In Analogie zum menschlichen Organismus haben die einzelnen Teile der Gesellschaft wie menschliche Organe jeweils verschiedene Funktionen, die nur in ihrer Gesamtheit ein Ganzes bilden. | |
− | + | * Durkheim argumentiert nun, dass der Zusammenhalt in Gesellschaften, die nicht auf einer derartig intensiven Arbeitsteilung aufbauen, in der die einzelnen Mitglieder oder kleinere Einheiten alle Arbeiten gleichermaßen verrichten und daher nicht auf andere angewiesen sind, durch etwas anderes gewährleistet werden muss. Der gesellschaftliche Konsens wird über die Religion hergestellt. Durkheim nennt dies '''"mechanische Solidarität"'''. | |
− | |||
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Während viele Fragestellungen in diesem Zusammenhang weiterhin Relevanz | Während viele Fragestellungen in diesem Zusammenhang weiterhin Relevanz | ||
− | haben, entspricht der | + | haben, entspricht der '''typologische''' '''Evolutionismus[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Evolutionismus#2.2 Evolutionismus|[1]]]''', der in |
diesem Ansatz zum Ausdruck kommt, zwar der Theorienbildung seiner Zeit, | diesem Ansatz zum Ausdruck kommt, zwar der Theorienbildung seiner Zeit, | ||
− | ist aber | + | ist aber '''heute in dieser Form überholt'''. |
− | Eine deutliche | + | Eine deutliche '''Unterscheidung zwischen sakralen, nicht-industriellen |
Gesellschaften und säkularen Industriegesellschaften ist nicht | Gesellschaften und säkularen Industriegesellschaften ist nicht | ||
− | möglich | + | möglich'''. Die gegenwärtige Industriegesellschaft kann keineswegs als |
ausschließlich säkular betrachtet werden, Weltbild und Religion stellen | ausschließlich säkular betrachtet werden, Weltbild und Religion stellen | ||
auch hier und heute handlungsleitende Wertsysteme dar. | auch hier und heute handlungsleitende Wertsysteme dar. | ||
Line 2,813: | Line 2,559: | ||
aufgegriffen wurden. | aufgegriffen wurden. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Evolutionismus#2.2 Evolutionismus|[1] Siehe Kapitel 2.2]]<br/> | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Evolutionismus#2.2 Evolutionismus|[1] Siehe Kapitel 2.2]]<br/> | ||
Line 2,820: | Line 2,567: | ||
==4.1.2 Max Weber== | ==4.1.2 Max Weber== | ||
− | [[File:theogrundlagen-88_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-88_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050922063640/http://www.uni-heidelberg.de/presse/news04/2412weber.html [https://web.archive.org/web/20050922063640/http://www.uni-heidelberg.de/presse/news04/2412weber.html [1]]''']] |
− | + | '''Max Weber (1864-1920)''' | |
1905: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus | 1905: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus | ||
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Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus geschaffen? | Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus geschaffen? | ||
− | + | '''Max Weber''' leistete wichtige Beiträge zu verschiedenen | |
− | wissenschaftlichen Disziplinen, gilt jedoch primär als | + | wissenschaftlichen Disziplinen, gilt jedoch primär als '''Soziologe'''. Er |
grenzt sich von dominanten Geistesströmungen und Menschenbildern seiner | grenzt sich von dominanten Geistesströmungen und Menschenbildern seiner | ||
Zeit ab: Weber betrachtet den Menschen als komplexes soziales und | Zeit ab: Weber betrachtet den Menschen als komplexes soziales und | ||
Line 2,837: | Line 2,584: | ||
Impulse bestimmt ist. | Impulse bestimmt ist. | ||
− | Weber geht davon aus, dass | + | Weber geht davon aus, dass '''menschliches Handeln von verschiedenen |
− | Motiven geleitet | + | Motiven geleitet''' werden kann, die in '''unterschiedlichen historischen, |
− | sozialen und politischen Kontexten | + | sozialen und politischen Kontexten''' zum Tragen kommen: Manchmal werden |
− | Menschen in ihren Handlungen von kollektiven | + | Menschen in ihren Handlungen von kollektiven '''Wertvorstellungen''' |
− | bestimmt, in anderen Fällen handeln sie | + | bestimmt, in anderen Fällen handeln sie '''individuell und |
− | interessenorientiert | + | interessenorientiert''' oder agieren aufgrund althergebrachter |
− | + | '''Traditionen'''. | |
− | Weiters argumentiert Weber, dass Menschen aus | + | Weiters argumentiert Weber, dass Menschen aus '''verschiedenen Gründen in |
− | sozialen Verbänden leben und handeln | + | sozialen Verbänden leben und handeln''': Zum einen, da sie materielle |
Güter teilen und durch äußere Umstände zu gemeinsamen Aktionen gezwungen | Güter teilen und durch äußere Umstände zu gemeinsamen Aktionen gezwungen | ||
werden, zum anderen weil sie Ideale, Werte und Gefühle teilen (Weber | werden, zum anderen weil sie Ideale, Werte und Gefühle teilen (Weber | ||
Line 2,852: | Line 2,599: | ||
Während Webers Theorien zu Gesellschaft, Wertsystem und Wirtschaft in | Während Webers Theorien zu Gesellschaft, Wertsystem und Wirtschaft in | ||
− | vielen Aspekten mit jenen von | + | vielen Aspekten mit jenen von '''Èmile Durkkeim[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2]]]''' übereinstimmen, |
− | + | '''entwirft Weber ein differenziertes Bild von Mensch und Gemeinschaft''', | |
Durkheim hingegen geht von einem stark homogenisierenden | Durkheim hingegen geht von einem stark homogenisierenden | ||
Gesellschaftsmodell aus. | Gesellschaftsmodell aus. | ||
− | + | '''Max Weber im WWW:''' | |
+ | |||
+ | '''https://web.archive.org/web/20051230111923/http://www.uni-potsdam.de/u/paed/Flitner/Flitner/Weber/ [https://web.archive.org/web/20051230111923/http://www.uni-potsdam.de/u/paed/Flitner/Flitner/Weber/ [3]]''' | ||
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051115124227/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm [https://web.archive.org/web/20051115124227/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm [4]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051231234355/http://www.faculty.rsu.edu/~felwell/Theorists/Weber/Whome.htm [https://web.archive.org/web/20051231234355/http://www.faculty.rsu.edu/~felwell/Theorists/Weber/Whome.htm [5]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051228234902/http://www2.fmg.uva.nl/sociosite/topics/weber.html [https://web.archive.org/web/20051228234902/http://www2.fmg.uva.nl/sociosite/topics/weber.html [6]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060705103048/http://xroads.virginia.edu/~HYPER/WEBER/toc.html [https://web.archive.org/web/20060705103048/http://xroads.virginia.edu/~HYPER/WEBER/toc.html [7]]''' | |
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[https://web.archive.org/web/20050922063640/http://www.uni-heidelberg.de/presse/news04/2412weber.html [1] https://web.archive.org/web/20050922063640/http://www.uni-heidelberg.de/presse/news04/2412weber.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050922063640/http://www.uni-heidelberg.de/presse/news04/2412weber.html [1] https://web.archive.org/web/20050922063640/http://www.uni-heidelberg.de/presse/news04/2412weber.html]<br/> | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | ||
Line 2,881: | Line 2,629: | ||
===4.1.2.1 Kultur und Wert=== | ===4.1.2.1 Kultur und Wert=== | ||
− | + | ---- | |
− | Weber geht davon aus, dass | + | [[File:theogrundlagen-91_1.jpg|frame|right]] |
− | historischen Kontexten | + | Weber geht davon aus, dass '''Ideen und Werte in spezifischen |
− | maßgeblich bestimmen. Dem zu folge stellt jede | + | historischen Kontexten''' entstehen und das Handeln der Menschen |
+ | maßgeblich bestimmen. Dem zu folge stellt jede '''Kultur eine Ganzheit''' | ||
dar, die über eigene Werte und einen eigenen "Geist" verfügt; in | dar, die über eigene Werte und einen eigenen "Geist" verfügt; in | ||
diesem Sinne beeinflusste Weber die Forschungsrichtung des | diesem Sinne beeinflusste Weber die Forschungsrichtung des | ||
− | + | '''Kulturrelativismus''' (insbesondere der US Amerikanischen | |
Kulturanthropologie). | Kulturanthropologie). | ||
Line 2,895: | Line 2,644: | ||
Zivilisation und analysiert deren wirtschaftliches und soziales | Zivilisation und analysiert deren wirtschaftliches und soziales | ||
Verhalten. Der spezifische "Geist" einer Kultur bestimmt Weber zu | Verhalten. Der spezifische "Geist" einer Kultur bestimmt Weber zu | ||
− | folge auch | + | folge auch '''ökonomische Prozesse''', so untersucht er u.a. die |
− | + | '''Auswirkungen des hinduistischen Kastensystems auf die (lokale) | |
− | Ökonomie | + | Ökonomie'''. |
− | |||
− | |||
Eine seiner Thesen in diesem Zusammenhang lautet, dass das Kastensystem | Eine seiner Thesen in diesem Zusammenhang lautet, dass das Kastensystem | ||
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Diese Annahme ist heute - in Hinblick auf neuere Entwicklungen in der | Diese Annahme ist heute - in Hinblick auf neuere Entwicklungen in der | ||
indischen Wirtschaft - jedoch nur mehr begrenzt zutreffend. Seine | indischen Wirtschaft - jedoch nur mehr begrenzt zutreffend. Seine | ||
− | berühmteste Arbeit in diesem Forschungsfeld, die | + | berühmteste Arbeit in diesem Forschungsfeld, die '''Protestantische Ethik |
− | und der "Geist" des Kapitalismus | + | und der "Geist" des Kapitalismus''' (Weber 1904/05) stellt eine Analyse |
europäischer Geistesströmungen und ihrer Implikationen für ökonomisches | europäischer Geistesströmungen und ihrer Implikationen für ökonomisches | ||
Handeln dar. | Handeln dar. | ||
− | |||
− | |||
===4.1.2.2 Wirtschaft, Werte, Religion: "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus"=== | ===4.1.2.2 Wirtschaft, Werte, Religion: "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus"=== | ||
+ | ---- | ||
− | Die | + | Die ''Protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus'' |
(Weber 1904/05) stellt ein zentrales Werk für die Sozial- und | (Weber 1904/05) stellt ein zentrales Werk für die Sozial- und | ||
Geisteswissenschaften dar, das sowohl inhaltlich als auch methodologisch | Geisteswissenschaften dar, das sowohl inhaltlich als auch methodologisch | ||
Line 2,927: | Line 2,673: | ||
keineswegs den Anspruch stellt, eine universelle Erklärung für das | keineswegs den Anspruch stellt, eine universelle Erklärung für das | ||
Phänomen des modernen Kapitalismus zu liefern. Er selbst sieht seine | Phänomen des modernen Kapitalismus zu liefern. Er selbst sieht seine | ||
− | Leistung auf zwei Ebenen: einerseits will er einen | + | Leistung auf zwei Ebenen: einerseits will er einen '''partikulären |
− | Beitrag zum Verständnis des modernen Kapitalismus | + | Beitrag zum Verständnis des modernen Kapitalismus''' und seines |
− | "Geistes" vorlegen, andererseits will er veranschaulichen, | + | "Geistes" vorlegen, andererseits will er veranschaulichen, '''wie |
− | "Ideen" überhaupt in der Geschichte wirksam werden | + | "Ideen" überhaupt in der Geschichte wirksam werden''' (Weber 1988:82). |
− | + | '''Verkürzt die zentrale These:''' | |
− | Im | + | Im '''katholischen mittelalterlichen Weltbild''' war '''Arbeit ein |
− | notwendiges Übel | + | notwendiges Übel''' und '''keineswegs ethisch hoch bewertet'''. Arbeit |
wurde in erster Linie von unteren sozialen Schichten erzwungen. Das | wurde in erster Linie von unteren sozialen Schichten erzwungen. Das | ||
− | ideale Leben war die | + | ideale Leben war die 'Vita contemplativa', das geruhsame und |
kontemplative Leben der Mönche in Armut und Gebet. Auch die | kontemplative Leben der Mönche in Armut und Gebet. Auch die | ||
landbesitzende katholische Aristokratie im 17. Jhdt. bewertete die | landbesitzende katholische Aristokratie im 17. Jhdt. bewertete die | ||
Line 2,944: | Line 2,690: | ||
"Gottes Gnade"). Geringe soziale Mobilität war die Folge. | "Gottes Gnade"). Geringe soziale Mobilität war die Folge. | ||
− | + | '''Der Protestantismus veränderte das europäische und amerikanische | |
− | Wertesystem | + | Wertesystem''' und schafft die geistigen Voraussetzungen für die |
Entstehung des Kapitalismus. | Entstehung des Kapitalismus. | ||
Line 2,951: | Line 2,697: | ||
===4.1.2.3 Form und "Geist" des Kapitalismus=== | ===4.1.2.3 Form und "Geist" des Kapitalismus=== | ||
+ | ---- | ||
+ | [[File:theogrundlagen-93_1.jpg|frame|right|Puritaner in den USA (historische Performance). Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050831215601/http://www.seuss.org/pics/valhgroups.html [https://web.archive.org/web/20050831215601/http://www.seuss.org/pics/valhgroups.html [1]]''']] | ||
+ | Max Weber trifft eine vorläufige Unterscheidung zwischen: | ||
− | + | * dem '''"Erwerbstrieb"''', den er auch '''"Streben nach Gewinn"''' nennt. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass der Erwerb von Geld zum Ausgangspunkt für noch mehr Erwerb wird. Voraussetzung dafür sind Wagemut und Investitionsmentalität. Diese Art der hedonistischen Bereicherung, die als kalkulierende Habgier auftritt, hält Weber für uralt und beinahe universell. So möchte Weber seinen Begriff nicht verstanden wissen, denn dem gegenüber steht eine ausschließlich im Okzident der Neuzeit entwickelte Form des Kapitalismus: "die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit" (Weber 1988: 7). Diese setzt eine spezifische Ethik voraus, den | |
+ | * '''"Geist" des Kapitalismus''', der "[...] den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung [...]" (Weber 1988: 33) annimmt. Dieser "Geist" stellt sozusagen die qualitative Dimension des modernen Kapitalismus dar, bietet ihm den Nährboden zu seiner Ausbreitung, wie auch der "Geist" im Kapitalismus seine entsprechende Daseinsmöglichkeit findet. Der reine Selbstzweck des Gelderwerbs steht hier im Vordergrund, denn Erwerb von Geld erfolgt in diesem Zusammenhang unter strikter Vermeidung von jedweden Genuss. Im erfolgreichen Gelderwerb zeigt sich lediglich die "'Nützlichkeit' der Tugend" (Weber 1988: 35) als eine Folge der '''protestantischen Berufsethik'''. | ||
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[https://web.archive.org/web/20050831215601/http://www.seuss.org/pics/valhgroups.html [1] https://web.archive.org/web/20050831215601/http://www.seuss.org/pics/valhgroups.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050831215601/http://www.seuss.org/pics/valhgroups.html [1] https://web.archive.org/web/20050831215601/http://www.seuss.org/pics/valhgroups.html]<br/> | ||
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===4.1.2.4 Wirkungsweisen und geistige Ursachen des Kapitalismus=== | ===4.1.2.4 Wirkungsweisen und geistige Ursachen des Kapitalismus=== | ||
− | + | ---- | |
− | Weber versteht unter "Geist" des Kapitalismus | + | [[File:theogrundlagen-94_1.jpg|frame|right|Siedlung der Puritaner in Northampton, Massachusetts, USA.Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051106060310/http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/apocalypse/explanation/puritans.html [https://web.archive.org/web/20051106060310/http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/apocalypse/explanation/puritans.html [1]]''']] |
− | Kapitalismus "Bewirkte" | + | Weber versteht unter "Geist" des Kapitalismus '''nicht das vom |
− | allerdings sehr wichtige, | + | Kapitalismus "Bewirkte"''', sondern erachtet diesen als eine, |
+ | allerdings sehr wichtige, '''Ursache''' für den Siegeszug des "modernen" | ||
Kapitalismus. | Kapitalismus. | ||
Line 2,993: | Line 2,720: | ||
kapitalistische Moderne sei ausschließlich ein reines Produkt der | kapitalistische Moderne sei ausschließlich ein reines Produkt der | ||
Aufklärung und der durchgreifenden Rationalisierung auf den Gebieten der | Aufklärung und der durchgreifenden Rationalisierung auf den Gebieten der | ||
− | Ökonomie und der Technik. Vielmehr beruht sie auf einer | + | Ökonomie und der Technik. Vielmehr beruht sie auf einer '''vormals auf |
− | die Religion bezogenen, nunmehr "kapitalistischen" Berufsethik | + | die Religion bezogenen, nunmehr "kapitalistischen" Berufsethik''', die |
sich in ihrer Funktion von ihren ursprünglichen Motiven emanzipiert hat. | sich in ihrer Funktion von ihren ursprünglichen Motiven emanzipiert hat. | ||
Der Kapitalismus zwingt die Akteure, sich im wirtschaftlichen Handeln | Der Kapitalismus zwingt die Akteure, sich im wirtschaftlichen Handeln | ||
Line 3,000: | Line 2,727: | ||
anzupassen. | anzupassen. | ||
− | Damit jene | + | Damit jene '''dem Kapitalismus angepasste Art der Lebensführung''' in |
solcher Weise wirksam werden kann, muss sie zuerst als Lebensweise von | solcher Weise wirksam werden kann, muss sie zuerst als Lebensweise von | ||
Menschengruppen entstanden sein. In diesem Zusammenhang untersucht er | Menschengruppen entstanden sein. In diesem Zusammenhang untersucht er | ||
− | verschiedene Aspekte der | + | verschiedene Aspekte der '''Ethik des Protestantismus'''. |
− | + | '''Verweise:''' | |
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[https://web.archive.org/web/20051106060310/http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/apocalypse/explanation/puritans.html [1] https://web.archive.org/web/20051106060310/http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/apocalypse/explanation/puritans.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051106060310/http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/apocalypse/explanation/puritans.html [1] https://web.archive.org/web/20051106060310/http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/apocalypse/explanation/puritans.html]<br/> | ||
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===4.1.2.5 Askese und wirtschaftliches Handeln=== | ===4.1.2.5 Askese und wirtschaftliches Handeln=== | ||
+ | ---- | ||
Zentral am "Geist" des Kapitalismus ist der für die | Zentral am "Geist" des Kapitalismus ist der für die | ||
− | "traditionalistische" Erwerbswirtschaft neue Gedanke | + | "traditionalistische" Erwerbswirtschaft neue Gedanke '''des |
− | vollständigen Re-Investierens von Kapital, anstatt es zu verbrauchen | + | vollständigen Re-Investierens von Kapital, anstatt es zu verbrauchen'''. |
Im Unterschied zu der Form kapitalistischen Erwerbsstrebens, die | Im Unterschied zu der Form kapitalistischen Erwerbsstrebens, die | ||
keineswegs immer einer ethischen Maxime bedarf, findet sich im Geist des | keineswegs immer einer ethischen Maxime bedarf, findet sich im Geist des | ||
zum Selbstzweck und Lebensinhalt gewordenen kapitalistischen Handels ein | zum Selbstzweck und Lebensinhalt gewordenen kapitalistischen Handels ein | ||
− | wesentlich | + | wesentlich '''irrationales Moment''': die '''Motivation eines Individuums, |
− | die Arbeit um ihrer selbst willen gewissenhaft zu erledigen | + | die Arbeit um ihrer selbst willen gewissenhaft zu erledigen''', ohne den |
unter Umständen reichhaltigen Lohn zu genießen und zur Schau zu stellen. | unter Umständen reichhaltigen Lohn zu genießen und zur Schau zu stellen. | ||
Dies verlangt nach einer asketischen Lebensweise, einer Einstellung zum | Dies verlangt nach einer asketischen Lebensweise, einer Einstellung zum | ||
Line 3,034: | Line 2,759: | ||
===4.1.2.6 Berufsidee und Gnadenwahllehre=== | ===4.1.2.6 Berufsidee und Gnadenwahllehre=== | ||
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[[File:theogrundlagen-96_1.jpg|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-96_1.jpg|frame|right]] | ||
− | Quelle: | + | Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm [https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm [1]]''' |
− | + | '''"'Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir müssen es.'"''' (Weber | |
1904/05: 153) | 1904/05: 153) | ||
In allen protestantischen Glaubensrichtungen findet sich der | In allen protestantischen Glaubensrichtungen findet sich der | ||
Zusammenhang zwischen Beruf und Berufung. Die Bibelübersetzung Martin | Zusammenhang zwischen Beruf und Berufung. Die Bibelübersetzung Martin | ||
− | Luthers gilt als der Ursprung der Betonung des weltlichen | + | Luthers gilt als der Ursprung der Betonung des weltlichen '''Berufes''', |
− | durch den der | + | durch den der '''"Ruf zu Gott"''' erfüllt werden kann. Neu war nicht die |
− | Hochbewertung der weltlichen Alltagsarbeit, sondern | + | Hochbewertung der weltlichen Alltagsarbeit, sondern "die Schätzung der |
Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten | Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten | ||
− | Ideals, den die sittliche Selbstbestätigung überhaupt annehmen könne" | + | Ideals, den die sittliche Selbstbestätigung überhaupt annehmen könne" |
(Weber 1988: 69). | (Weber 1988: 69). | ||
Besondere Bedeutung kommt der weiterführenden Interpretation dieser | Besondere Bedeutung kommt der weiterführenden Interpretation dieser | ||
− | Lehre für die Lebenspraxis zu, die vor allem im | + | Lehre für die Lebenspraxis zu, die vor allem im '''Calvinismus''' und |
anderen protestantischen Gruppen eine neue Form annahm. Das Streben nach | anderen protestantischen Gruppen eine neue Form annahm. Das Streben nach | ||
− | Erwerb scheint in der | + | Erwerb scheint in der '''Lehre von der Gnadenwahl''' alleine auf das |
− | + | '''Streben nach Seelenheil''' und auf die Erkenntnis des Gnadenstandes | |
ausgerichtet zu sein. Die kapitalistische Geisteshaltung ist nach Weber | ausgerichtet zu sein. Die kapitalistische Geisteshaltung ist nach Weber | ||
in diesem Zusammenhang, und nur in diesem, Konsequenz rein religiöser | in diesem Zusammenhang, und nur in diesem, Konsequenz rein religiöser | ||
Line 3,088: | Line 2,814: | ||
Daraus folgt: | Daraus folgt: | ||
− | + | * '''Die Pflicht, sich für erwählt zu halten und''' | |
− | + | * '''ruhelose Berufsarbeit, um sich der Gewissheit des Gnadenstandes zu versichern'''. | |
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Der Glaube muss sich also an seiner Wirkung messen, und je effizienter | Der Glaube muss sich also an seiner Wirkung messen, und je effizienter | ||
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Gnadenstand. | Gnadenstand. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm [1] https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm [1] https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm]<br/> | ||
Line 3,106: | Line 2,829: | ||
===4.1.2.7 Zeit ist Geld=== | ===4.1.2.7 Zeit ist Geld=== | ||
+ | ---- | ||
− | [[File:theogrundlagen-97_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-97_1.jpg|frame|right|Quelle: '''www.three18.com/ p_faq.html[www.three18.com/ p_faq.html [1]]''']] |
Bei den Vertretern des Puritanismus findet man eine aus der | Bei den Vertretern des Puritanismus findet man eine aus der | ||
traditionalistischen Moraltheologie entstandene Bewertung von Reichtum: | traditionalistischen Moraltheologie entstandene Bewertung von Reichtum: | ||
− | + | * '''Reichtum an sich gilt zwar als sittliche Gefahr''', die Askese des Puritanismus wendet sich scheinbar gegen jedes Streben nach Vermehrung des Reichtums, doch die eigentliche Ablehnung richtet sich gegen das Ausruhen auf und das Genießen von Besitz, da beides eine "[...] Ablenkung von dem Streben nach ‚heiligem' Leben [bedeutet]. Und nur weil der Besitz die Gefahr des Ausruhens mit sich bringt, ist er bedenklich" (Weber 1988: 167). | |
− | + | * Nur das Handeln und nicht Muße dient der Vermehrung von Gottes Ruhm. Zeitvergeudung wird somit zur schweren Sünde. Der von Benjamin Franklin (einem Puritaner) stammende Ausdruck '''"Zeit ist Geld"''' ist in diesem Sinne zu verstehen: '''Jede verschwendete Stunde ohne Arbeit, ist die verlorene Zeit, Gottes Ruhm zu vermehren.''' Daher kommen auch die puritanische Wertschätzung der Arbeit und die Auforderung der Moraltheologen, hart im Beruf zu arbeiten. '''"Die Arbeitsunlust ist Symptom fehlenden Gnadenstandes"''' (Weber 1988: 171), und der Reichtum entbindet in keiner Weise von den oben angeführten Pflichten. | |
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[www.three18.com/ p_faq.html [1] www.three18.com/ p_faq.html]<br/> | [www.three18.com/ p_faq.html [1] www.three18.com/ p_faq.html]<br/> | ||
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===4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus=== | ===4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus=== | ||
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Die protestantische Ethik greift einerseits mit voller Wucht den | Die protestantische Ethik greift einerseits mit voller Wucht den | ||
− | unbefangenen Genuss des Besitzes an, doch entlastet sie den | + | unbefangenen Genuss des Besitzes an, doch entlastet sie den '''Erwerb''' |
an sich von den traditionalistischen Hemmnissen und macht ihn geradezu | an sich von den traditionalistischen Hemmnissen und macht ihn geradezu | ||
− | zur | + | zur '''Maxime des sittlichen Strebens'''. |
Max Weber sieht jedoch in den Geistesströmungen des Protestantismus | Max Weber sieht jedoch in den Geistesströmungen des Protestantismus | ||
keineswegs die einzige oder die ausschlaggebende Ursache für die | keineswegs die einzige oder die ausschlaggebende Ursache für die | ||
− | Entwicklung des Kapitalismus. Er geht von einer | + | Entwicklung des Kapitalismus. Er geht von einer '''multikausalen |
Vernetzung verschiedener historischer, materieller und immaterieller | Vernetzung verschiedener historischer, materieller und immaterieller | ||
− | Gegebenheiten | + | Gegebenheiten''' aus: Die Genese des kapitalistischen Geistes, oder noch |
schlimmer - des Kapitalismus überhaupt - ausschließlich der Reformation | schlimmer - des Kapitalismus überhaupt - ausschließlich der Reformation | ||
zu zuschreiben wäre - laut Max Weber - genauso töricht, wie zu | zu zuschreiben wäre - laut Max Weber - genauso töricht, wie zu | ||
Line 3,155: | Line 2,866: | ||
===4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild=== | ===4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild=== | ||
− | + | ---- | |
− | [[File:theogrundlagen-99_1.jpg| | + | <div><ul> |
− | Elke Mader]] | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-99_1.jpg|thumb|none|Rituelle Waren: Christbaumschmuck. Foto: Elke Mader]] </li> |
− | [[File:theogrundlagen-99_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-99_2.jpg|thumb|none|Rituelle Waren: Gebetsfahnen. Foto: Elke Mader]] </li> |
− | Elke Mader]] | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-99_3.jpg|thumb|none|Rituelle Waren: Santa Claus. Foto: Elke Mader]] </li> |
− | [[File:theogrundlagen-99_3.jpg| | + | </ul></div> |
− | Elke Mader]] | ||
Wenngleich viele Aspekte der Arbeiten von Max Weber immer wieder | Wenngleich viele Aspekte der Arbeiten von Max Weber immer wieder | ||
heftiger Kritik ausgesetzt waren (etwa sowohl die historischen Aspekte | heftiger Kritik ausgesetzt waren (etwa sowohl die historischen Aspekte | ||
der "Protestantischen Ethik" als auch ihre Schlussfolgerungen), setzte | der "Protestantischen Ethik" als auch ihre Schlussfolgerungen), setzte | ||
− | er | + | er '''wesentliche Impulse''' für folgende Generationen von '''Sozial- und |
− | KulturwissenschafterInnen | + | KulturwissenschafterInnen'''. Die Wechselwirkungen von gesellschaftlichen |
und kulturellen Konventionen, kosmologischen Vorstellungen sowie | und kulturellen Konventionen, kosmologischen Vorstellungen sowie | ||
religiös-moralischen Regelsystemen und verschiedenen Dimensionen des | religiös-moralischen Regelsystemen und verschiedenen Dimensionen des | ||
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heute zentrale Themen der Kultur- und Sozialanthropologie. | heute zentrale Themen der Kultur- und Sozialanthropologie. | ||
− | Weber übte | + | Weber übte '''nachhaltigen Einfluss''' auf die '''Fragestellungen und |
− | Arbeitsfelder der ökonomischen Anthropologie | + | Arbeitsfelder der ökonomischen Anthropologie''' aus: So stellen etwa die |
− | vielfältigen Verbindungsweisen zwischen | + | vielfältigen Verbindungsweisen zwischen '''(lokalen) symbolischen |
− | Systemen | + | Systemen''' (Bedeutungen, Werten, "Geist") und '''wirtschaftlichen |
− | Prozessen in einem globalisierten Handlungs- und Bedeutungsraum | + | Prozessen in einem globalisierten Handlungs- und Bedeutungsraum''' |
gegenwärtig wichtige Forschungsfelder dar, zu deren Vordenkern Max Weber | gegenwärtig wichtige Forschungsfelder dar, zu deren Vordenkern Max Weber | ||
zählt (vgl. z.B. Spittler 2002). | zählt (vgl. z.B. Spittler 2002). | ||
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==4.1.3 Weber und Durkheim== | ==4.1.3 Weber und Durkheim== | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-100_1.jpg|frame|right]] | |
Weber und Durkheim dürften einander persönlich nicht gekannt, aber | Weber und Durkheim dürften einander persönlich nicht gekannt, aber | ||
registriert haben. Beide werfen (Durkheim vom Standpunkt der Soziologie | registriert haben. Beide werfen (Durkheim vom Standpunkt der Soziologie | ||
und Anthropologie - Weber vom Standpunkt der Soziologie und | und Anthropologie - Weber vom Standpunkt der Soziologie und | ||
− | Religionssoziologie) einen | + | Religionssoziologie) einen '''breiten sozialwissenschaftlichen Blick auf |
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von menschlichen Gesellschaften und | die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von menschlichen Gesellschaften und | ||
− | Kulturen | + | Kulturen'''. Beide repräsentieren auch eine Reaktion auf das Schaffen von |
Karl Marx. | Karl Marx. | ||
Line 3,204: | Line 2,914: | ||
In Bezug auf Fragen der ökonomischen Anthropologie verfügen die beiden | In Bezug auf Fragen der ökonomischen Anthropologie verfügen die beiden | ||
Wissenschafter über folgende Gemeinsamkeiten: | Wissenschafter über folgende Gemeinsamkeiten: | ||
− | |||
− | |||
− | |||
===4.1.3.1 Religiöse Weltbilder und die "Entzauberung der Welt"=== | ===4.1.3.1 Religiöse Weltbilder und die "Entzauberung der Welt"=== | ||
+ | ---- | ||
− | + | '''Durkheim''' wurde im Elsaß als Sohn einer jüdischen, streng religiösen | |
Familie geboren. Er studiert in Paris und macht persönliche | Familie geboren. Er studiert in Paris und macht persönliche | ||
− | Bekanntschaft mit | + | Bekanntschaft mit '''Jean Jaurès''', dem späteren Führer der französischen |
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Durkheim wird dadurch zum | sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Durkheim wird dadurch zum | ||
− | Anhänger eines | + | Anhänger eines '''säkular modernistischenWeltbildes''', aber die Spannung |
seiner Jugendzeit zwischen streng religiösem Hintergrund im Elsaß und | seiner Jugendzeit zwischen streng religiösem Hintergrund im Elsaß und | ||
den intellektuellen Pariser Studienjahren sowie die Freundschaft mit | den intellektuellen Pariser Studienjahren sowie die Freundschaft mit | ||
Jaurès prägen wichtige Aspekte seines Werkes. Der von ihm postulierte | Jaurès prägen wichtige Aspekte seines Werkes. Der von ihm postulierte | ||
− | + | '''Gegensatz zwischen Sakralem und Profanem''', zwischen Religiösem und | |
Nicht-Religiösem wird dadurch erklärbar. | Nicht-Religiösem wird dadurch erklärbar. | ||
Line 3,228: | Line 2,936: | ||
Religiöse zu verstehen. Er versucht herauszuarbeiten - was ihm nach | Religiöse zu verstehen. Er versucht herauszuarbeiten - was ihm nach | ||
heutigem Forschungsstand gründlich misslingt -, dass es diesen | heutigem Forschungsstand gründlich misslingt -, dass es diesen | ||
− | + | '''Gegensatz in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten''' gegeben habe. | |
− | Dies ist auch ein entscheidender Unterschied zu | + | Dies ist auch ein entscheidender Unterschied zu '''Max Weber''', der in |
einem Teil seines Werkes darauf hinweist, dass der westliche Sonderweg | einem Teil seines Werkes darauf hinweist, dass der westliche Sonderweg | ||
über die religiöse Reform, die Industrialisierung hin zur Aufklärung zu | über die religiöse Reform, die Industrialisierung hin zur Aufklärung zu | ||
− | einem einzigartigen Ergebnis führt: zur | + | einem einzigartigen Ergebnis führt: zur '''Säkularisierung'''. Keine |
andere Gesellschaftsform oder Kultur der Gegenwart oder Vergangenheit | andere Gesellschaftsform oder Kultur der Gegenwart oder Vergangenheit | ||
sonst hat ein vorherrschend säkulares Weltbild aus sich heraus | sonst hat ein vorherrschend säkulares Weltbild aus sich heraus | ||
hervorgebracht. Weber bezeichnet diesen europäischen Sonderweg als die | hervorgebracht. Weber bezeichnet diesen europäischen Sonderweg als die | ||
− | + | '''"Entzauberung der Welt"'''. | |
− | |||
− | |||
==4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ==4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ||
Line 3,252: | Line 2,958: | ||
an Anthropology of Consumption*. London, New York: Routledge. | an Anthropology of Consumption*. London, New York: Routledge. | ||
− | Durkheim, Emile 1893/1933: | + | Durkheim, Emile 1893/1933: 'The Division of Labour in Society'. New |
York: Macmillan. | York: Macmillan. | ||
− | -- 1893/2004: | + | -- 1893/2004: 'Über soziale Arbeitsteilung'. Frankfurt/Main: Suhrkamp. |
− | -- 1899/1953: | + | -- 1899/1953: 'Professional Ethics and and Civic Morals'. Glencoe, IL: |
Free Press. | Free Press. | ||
− | -- 1912/1994: | + | -- 1912/1994: 'Die elementaren Formen des religiösen Lebens'. |
Frankfurt/Main: Suhrkamp. | Frankfurt/Main: Suhrkamp. | ||
Line 3,266: | Line 2,972: | ||
the Sociology of Educadion*. Glencoe (IL): Free Press. | the Sociology of Educadion*. Glencoe (IL): Free Press. | ||
− | Friedman, Jonathan 1994: | + | Friedman, Jonathan 1994: 'Cultural Identity and Global Process' (Theory, |
Culture & Society). London: Sage. | Culture & Society). London: Sage. | ||
Line 3,282: | Line 2,988: | ||
Spittler, Gerd 2002: Globale Waren - lokale Aneignungen. In: B. | Spittler, Gerd 2002: Globale Waren - lokale Aneignungen. In: B. | ||
− | Hauser-Schäublin, U. Braukämper (Hg.), | + | Hauser-Schäublin, U. Braukämper (Hg.), 'Ethnologie der Globalisierung', |
Berlin: Reimer | Berlin: Reimer | ||
Line 3,299: | Line 3,005: | ||
− | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1 Vordenker| Vorheriges Kapitel: 4.1 Vordenker]]<br/> | + | '''[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1 Vordenker| Vorheriges Kapitel: 4.1 Vordenker]]'''<br/> |
=4.2 Frühe VertreterInnen= | =4.2 Frühe VertreterInnen= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | Der Begriff | + | Der Begriff '''Substantivisten''' wurde erst 1957 durch Karl Polanyi |
− | geprägt. Durch die | + | geprägt. Durch die '''Auseinandersetzung[[Neoklassik/Der_Grosse_Streit#3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit|[1]]]''' zwischen Substantivisten |
und Formalisten in den späten 1950er und 1960er Jahren ist es erst zur | und Formalisten in den späten 1950er und 1960er Jahren ist es erst zur | ||
Formierung der Ökonomischen Anthropologie als eigener Subdisziplin | Formierung der Ökonomischen Anthropologie als eigener Subdisziplin | ||
Line 3,314: | Line 3,020: | ||
maßgeblich beeinflussten: | maßgeblich beeinflussten: | ||
− | + | * '''Richard Thurnwald''' | |
− | + | * '''Bronislaw Malinowski''' | |
− | + | * '''Marcel Mauss''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
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[[Neoklassik/Der_Grosse_Streit#3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit|[1] Siehe Kapitel 3.3]]<br/> | [[Neoklassik/Der_Grosse_Streit#3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit|[1] Siehe Kapitel 3.3]]<br/> | ||
Line 3,347: | Line 3,054: | ||
Die frühe ökonomische Anthropologie (Malinowski, Mauss, Firth, | Die frühe ökonomische Anthropologie (Malinowski, Mauss, Firth, | ||
− | Herskovits) wurde entscheidend von | + | Herskovits) wurde entscheidend von '''deutschsprachigen Autoren und |
− | insbesondere dem gebürtigen Österreicher Richard Thurnwald (1869-1954) | + | insbesondere dem gebürtigen Österreicher Richard Thurnwald (1869-1954)''' |
beeinflusst. | beeinflusst. | ||
So schreibt Marcel Mauss in seiner berühmten Gabe: | So schreibt Marcel Mauss in seiner berühmten Gabe: | ||
− | + | <blockquote>Das Buch von Malinowski, wie das von Thurnwald, zeugt von der meisterhaften Beobachtung eines wirklichen Soziologen. Es sind im übrigen die Beobachtungen von Thurnwald über das mamoko (...), die uns auf die Spur eines Teils dieser Fakten gebracht haben." (Mauss 1990: 65, FN 60)</blockquote> | |
− | meisterhaften Beobachtung eines wirklichen Soziologen. Es sind im | ||
− | übrigen die Beobachtungen von Thurnwald über das mamoko (...), die uns | ||
− | auf die Spur eines Teils dieser Fakten gebracht haben." | ||
− | 65, FN 60) | ||
Thurnwald lehnte sowohl den Evolutionismus als auch die Kulturkreislehre | Thurnwald lehnte sowohl den Evolutionismus als auch die Kulturkreislehre | ||
seiner Zeitgenossen ab. Er plädierte für die Herausarbeitung von | seiner Zeitgenossen ab. Er plädierte für die Herausarbeitung von | ||
− | + | '''"repräsentativen Lebensbildern"auf empirischer Grundlage''', die | |
weder evolutionäre Stufen, noch Kulturkreise, noch Idealtypen darstellen | weder evolutionäre Stufen, noch Kulturkreise, noch Idealtypen darstellen | ||
sollten (Köcke 1979: 145ff). | sollten (Köcke 1979: 145ff). | ||
Die Ökonomie ist bei Thurnwald sozial determiniert. Die einzelnen | Die Ökonomie ist bei Thurnwald sozial determiniert. Die einzelnen | ||
− | Wirtschaftsarten sind | + | Wirtschaftsarten sind '''Resultate von permanenten Anpassungsprozessen an |
− | verschiedene Umweltbedingungen | + | verschiedene Umweltbedingungen'''. Gleichzeitig sind sie '''in |
− | unterschiedliche politische und soziale Konfigurationen eingebettet | + | unterschiedliche politische und soziale Konfigurationen eingebettet'''. |
Aus der Kombination verschiedener Wirtschaftsarten und unterschiedlicher | Aus der Kombination verschiedener Wirtschaftsarten und unterschiedlicher | ||
politischer und sozialer Systeme ergeben sich die | politischer und sozialer Systeme ergeben sich die | ||
− | + | 'Wirtschaftscharaktere', die aber keiner historischen Stufenfolge | |
entsprechen. (Link zu Steward) | entsprechen. (Link zu Steward) | ||
− | + | '''ThurnwaldsKernkonzept''' (1932a, 1932b) bezieht sich auf die | |
Verschränkung des Ökonomischen mit dem Politischen. Zunehmende | Verschränkung des Ökonomischen mit dem Politischen. Zunehmende | ||
Arbeitsteilung innerhalb einer Gruppe und Kontakte zwischen | Arbeitsteilung innerhalb einer Gruppe und Kontakte zwischen | ||
verschiedenen Gruppen führen zu Differenzierung in der Gruppe und setzen | verschiedenen Gruppen führen zu Differenzierung in der Gruppe und setzen | ||
− | + | '''Prozesse sozialer Stratifizierung''' in Gang. Aus kleinen, homogenen | |
Gemeinschaften können so größere heterogene Gruppen entstehen. Gemeinsam | Gemeinschaften können so größere heterogene Gruppen entstehen. Gemeinsam | ||
mit einer Akkumulation von Fertigkeiten und Wissen im Umgang mit der | mit einer Akkumulation von Fertigkeiten und Wissen im Umgang mit der | ||
Line 3,387: | Line 3,090: | ||
gesellschaftliches Wesen ist und von der Gemeinschaft, in der er lebt, | gesellschaftliches Wesen ist und von der Gemeinschaft, in der er lebt, | ||
abhängt. Eine Interaktion zwischen Personen folgt in homogenen | abhängt. Eine Interaktion zwischen Personen folgt in homogenen | ||
− | Gemeinschaften dem Prinzip der | + | Gemeinschaften dem Prinzip der ''Reziprozität'' und in stratifizierten |
− | Gesellschaften dem Prinzip der | + | Gesellschaften dem Prinzip der ''(Re)Distribution'' (Thurnwald 1912). |
"Primitive" Ökonomien beruhen wie unsere Ökonomie auf denselben | "Primitive" Ökonomien beruhen wie unsere Ökonomie auf denselben | ||
allgemeinen Prinzipien des sozialen Lebens, nämlich Reziprozität und | allgemeinen Prinzipien des sozialen Lebens, nämlich Reziprozität und | ||
Line 3,398: | Line 3,101: | ||
==4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie== | ==4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie== | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-106_1.jpg|frame|right]] | |
− | Die VertreterInnen der | + | Die VertreterInnen der '''ökonomischen Anthropologie''' gehen prinzipiell |
− | von einer | + | von einer '''starken Vernetzung von Gesellschaft bzw. Kultur und |
− | ökonomischem Handeln | + | ökonomischem Handeln''' aus. Je nach ihren generellen Standpunkten im |
Rahmen der kultur- und sozialanthropologischen Theorienbildung wird dem | Rahmen der kultur- und sozialanthropologischen Theorienbildung wird dem | ||
Individuum oder der Gemeinschaft mehr oder weniger Bedeutung bei der | Individuum oder der Gemeinschaft mehr oder weniger Bedeutung bei der | ||
Line 3,411: | Line 3,114: | ||
Sozialanthropologie als eigenständige Disziplin betrugen: | Sozialanthropologie als eigenständige Disziplin betrugen: | ||
− | + | * '''Bronislaw Malinowski''' | |
− | + | * '''Marcel Mauss''' | |
Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Fragen der Distribution und des | Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Fragen der Distribution und des | ||
Austausches von Produkten. Ihre Analysen dieser Prozesse betonen die | Austausches von Produkten. Ihre Analysen dieser Prozesse betonen die | ||
− | + | '''Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft''', von '''sozialen und | |
− | religiösen Institutionen und Konzepten | + | religiösen Institutionen und Konzepten''' sowie von individuellen |
Bedürfnissen und Interessen. | Bedürfnissen und Interessen. | ||
− | + | * '''Bronislaw Malinowski''' liefert eine genaue '''ethnographische Beschreibung''' der Institution ''Kula'' in all ihren Dimensionen und analysiert sie im Rahmen des Funktionalismus. Seine Erkenntnisse basieren auf langjährigen Feldforschungen auf den Trobriand Inseln. | |
− | + | * '''Marcel Mauss''' erstellt '''vergleichende Analysen und theoretische Überlegungen zum Konzept des Tausches''' bzw. der Gabe, wobei er (aufbauend auf der Arbeit von Malinowski) Kula zu anderen Formen von Austausch in verschiedenen Regionen und historischen Epochen (z.B. Potlatch in Nordwestamerika, Geschenksaustausch in Polynesien, Neuseeland und auf den Andamanen sowie im alten römischen und germanischen Recht) in Beziehung setzt. | |
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===4.2.2.1 Bronislaw Malinowski=== | ===4.2.2.1 Bronislaw Malinowski=== | ||
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− | [[File:theogrundlagen-107_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-107_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm [https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm [1]]''']] |
− | + | '''Bronislaw Malinowski (1884-1942)''' | |
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1922: Argonauts of the Western Pacific | 1922: Argonauts of the Western Pacific | ||
Line 3,448: | Line 3,141: | ||
1935: Coral Gardens and Their Magic | 1935: Coral Gardens and Their Magic | ||
− | + | '''Bronislaw Malinowski''' ist einer der bekanntesten Anthropologen des | |
20. Jahrhunderts. Seine methodischen und theoretischen Überlegungen | 20. Jahrhunderts. Seine methodischen und theoretischen Überlegungen | ||
sowie vor allem seine ethnographischen Beschreibungen etablierten | sowie vor allem seine ethnographischen Beschreibungen etablierten | ||
Line 3,454: | Line 3,147: | ||
Sozialanthropologie im besonderen. | Sozialanthropologie im besonderen. | ||
− | Er gilt als | + | Er gilt als '''"Erfinder" der ethnologischen Feldforschung''', dem |
methodischen Charakteristikum der Disziplin. Von seinen persönlichen | methodischen Charakteristikum der Disziplin. Von seinen persönlichen | ||
Feldaufenthalten in Ozeanien (Trobriand-Inseln) stammen mehrere | Feldaufenthalten in Ozeanien (Trobriand-Inseln) stammen mehrere | ||
− | ausführliche | + | ausführliche '''Monographien''' über verschiedene Facetten der lokalen |
Kultur (u.a. Wirtschaft, Tausch und Handel 1922, Arbeit, Magie und Recht | Kultur (u.a. Wirtschaft, Tausch und Handel 1922, Arbeit, Magie und Recht | ||
1935, Sexualität, Liebe, Ehe 1929), die bis in die Gegenwart den Stil | 1935, Sexualität, Liebe, Ehe 1929), die bis in die Gegenwart den Stil | ||
Line 3,465: | Line 3,158: | ||
Dimensionen seiner Datenerhebungen gab. | Dimensionen seiner Datenerhebungen gab. | ||
− | Malinowki steht - gemeinsam mit | + | Malinowki steht - gemeinsam mit '''A.R. Radcliffe-Brown [http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown [2]]''' - im |
− | Mittelpunkt der | + | Mittelpunkt der '''funktionalistischen bzw. |
− | struktural-funktionalistischen Theorienbildung | + | struktural-funktionalistischen Theorienbildung'''. Diese |
− | Betrachtungsweisen gehen vom | + | Betrachtungsweisen gehen vom '''Grundsatz''' aus, '''dasseine Gesellschaft |
eine organisierte, systematische und integrale Ganzheit darstellt, deren | eine organisierte, systematische und integrale Ganzheit darstellt, deren | ||
einzelne Teile funktional miteinander verbunden sind und | einzelne Teile funktional miteinander verbunden sind und | ||
− | zusammenwirken | + | zusammenwirken'''. |
− | + | '''Bronislaw Malinowski im WWW:''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html [https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html [3]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html [https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html [4]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm [https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm [5]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm [1] https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm [1] https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm]<br/> | ||
[http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown [2] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown]<br/> | [http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown [2] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown]<br/> | ||
Line 3,491: | Line 3,185: | ||
====4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie==== | ====4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie==== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-108_1.jpg|frame|right|Anhäufen von Yams, Foto: Bronislaw Malinowski. Quelle: Young 1997, Abb. 5.]] | [[File:theogrundlagen-108_1.jpg|frame|right|Anhäufen von Yams, Foto: Bronislaw Malinowski. Quelle: Young 1997, Abb. 5.]] | ||
− | Der | + | Der '''Funktionalismus''' bildete eine wichtige theoretische Strömung der |
Anthropologie im 20.Jahrhundert und formulierte eine holistische und | Anthropologie im 20.Jahrhundert und formulierte eine holistische und | ||
integrative Gesellschaftstheorie. | integrative Gesellschaftstheorie. | ||
Line 3,500: | Line 3,195: | ||
Er betrachtet sozio-kulturelle Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt | Er betrachtet sozio-kulturelle Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt | ||
ihrer Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft wird | ihrer Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft wird | ||
− | dabei als ein organisches Ganzes verstanden, als | + | dabei als ein organisches Ganzes verstanden, als '''ein Gefüge von |
Komponenten, die miteinander verbunden sind und sinnvoll | Komponenten, die miteinander verbunden sind und sinnvoll | ||
− | zusammenwirken | + | zusammenwirken'''. Wichtige Fragestellungen des Funktionalismus beziehen |
sich auf die Prinzipien dieses Zusammenwirkens, z.B. auf die soziale | sich auf die Prinzipien dieses Zusammenwirkens, z.B. auf die soziale | ||
Organisation. Einzelne Aspekte einer Gesellschaft werden nicht isoliert | Organisation. Einzelne Aspekte einer Gesellschaft werden nicht isoliert | ||
Line 3,509: | Line 3,204: | ||
kulturellen Gefüges untersucht und analysiert. | kulturellen Gefüges untersucht und analysiert. | ||
− | + | '''Ökonomie bzw. ökonomische Handlungen bilden in diesem Sinn einen | |
integralen Bestandteil des sozialen und kulturellen Gefüges einer | integralen Bestandteil des sozialen und kulturellen Gefüges einer | ||
Gemeinschaft, erfüllen bestimmte Funktionen und sind eng mit anderen | Gemeinschaft, erfüllen bestimmte Funktionen und sind eng mit anderen | ||
− | Gesellschaftsbereichen verbunden. | + | Gesellschaftsbereichen verbunden.''' Die Studie Malinowski´s über das |
Tauschsystem des Kula-Rings bildet ein klassisches Beispiel für diese | Tauschsystem des Kula-Rings bildet ein klassisches Beispiel für diese | ||
Forschungsrichtung. | Forschungsrichtung. | ||
− | Der Funktionalismus wurde mit Aspekten des | + | Der Funktionalismus wurde mit Aspekten des '''Strukturalismus''' |
kombiniert (Struktural-Funktionalismus) und war lange Zeit ein zentrales | kombiniert (Struktural-Funktionalismus) und war lange Zeit ein zentrales | ||
Paradigma der europäischen (vor allem der britischen) | Paradigma der europäischen (vor allem der britischen) | ||
Sozialanthropologie. Viele Thesen des (Struktural-) Funktionalismus | Sozialanthropologie. Viele Thesen des (Struktural-) Funktionalismus | ||
− | bauen auf den Theorien des Soziologen und Anthropologen | + | bauen auf den Theorien des Soziologen und Anthropologen '''Émile |
− | Durkheim[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1]]] | + | Durkheim[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1]]]''' auf, wichtige Vertreter dieser Schule sind u.a. |
− | Bronislaw Malinowski, A.R. Radcliffe-Brown, | + | Bronislaw Malinowski, A.R. Radcliffe-Brown, '''Raymond Firth[[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth|[2]]]''' (vgl. |
auch Kuper 1975). | auch Kuper 1975). | ||
Kritik am (Struktural-) Funktionalismus bezieht sich u.a. auf die | Kritik am (Struktural-) Funktionalismus bezieht sich u.a. auf die | ||
− | holistische Betrachtung einzelner Kulturen und auf das | + | holistische Betrachtung einzelner Kulturen und auf das '''Vernachlässigen |
− | transkultureller Interaktionen und Veränderungsprozesse | + | transkultureller Interaktionen und Veränderungsprozesse'''. |
− | Das Buch | + | Das Buch ''"Die Argonauten des westlichen Pazifik"'' (Malinowski |
1922) gilt als eine der ersten großen Monographien im Forschungsfeld der | 1922) gilt als eine der ersten großen Monographien im Forschungsfeld der | ||
ökonomischen Anthropologie. | ökonomischen Anthropologie. | ||
Line 3,539: | Line 3,234: | ||
pazifischen Trobriand Inseln durchgeführte. | pazifischen Trobriand Inseln durchgeführte. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | ||
[[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth|[2] Siehe Kapitel 3.1]]<br/> | [[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth|[2] Siehe Kapitel 3.1]]<br/> | ||
Line 3,546: | Line 3,242: | ||
====4.2.2.1.2 Kula==== | ====4.2.2.1.2 Kula==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-110_1.gif|frame|right|Der Kula-Ring. Quelle: Malinowski (1984), Karte V: 82.]] | |
− | + | '''Kula ist ein Tauschsystem''' und erstreckt sich auf 14 Inselgruppen vor | |
+ | '''Ost-Papua Neuguinea''' (Trobriand). Es stellt keineswegs die einzige | ||
Form des Tausches in der Region dar (in Trobriand existieren ca. 80 | Form des Tausches in der Region dar (in Trobriand existieren ca. 80 | ||
verschiedene Formen des Tausches), es ist vielmehr die wichtigste | verschiedene Formen des Tausches), es ist vielmehr die wichtigste | ||
Line 3,557: | Line 3,254: | ||
auch vom "Kula Ring". | auch vom "Kula Ring". | ||
− | + | Der Tausch der Kula-Objekte ist in ein '''komplexes Gefüge von sozialen | |
− | + | Prozessen und religiösen Ritualen''' eingebunden. Im Rahmen des | |
− | Der Tausch der Kula-Objekte ist in ein | ||
− | Prozessen und religiösen Ritualen | ||
Kula-Tausches wird Reichtum transferiert, Status erworben, Allianzen | Kula-Tausches wird Reichtum transferiert, Status erworben, Allianzen | ||
zwischen Personen und Gruppen werden geschlossen oder in Frage gestellt. | zwischen Personen und Gruppen werden geschlossen oder in Frage gestellt. | ||
− | + | <blockquote>Every movement of the Kula articles, every detail of the transactions is fixed and regulated by a set of traditional rules and conventions, and some acts of the Kula are accompanied by an elaborate magical ritual and public ceremonies." (Malinowski 1922: 81)</blockquote> | |
− | is fixed and regulated by a set of traditional rules and conventions, | ||
− | and some acts of the Kula are accompanied by an elaborate magical ritual | ||
− | and public ceremonies." | ||
− | |||
− | |||
====4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen==== | ====4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen==== | ||
− | + | ---- | |
− | [[File:theogrundlagen-111_1.jpg| | + | <div><ul> |
− | [[File:theogrundlagen-111_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-111_1.jpg|thumb|none|Kula-Tauschobjekte. Quelle: Leach & Leach 1983.]] </li> |
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-111_2.jpg|thumb|none|Kula-Tauschobjekte. Quelle: Leach & Leach 1983.]] </li> | ||
+ | </ul></div> | ||
Im Rahmen des Kula werden soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten) und | Im Rahmen des Kula werden soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten) und | ||
Line 3,581: | Line 3,273: | ||
Ziel ist nicht die Akkumulation der Kula-Objekte, die immer nur im | Ziel ist nicht die Akkumulation der Kula-Objekte, die immer nur im | ||
temporären Besitz einer Person sind, sondern das Etablieren von | temporären Besitz einer Person sind, sondern das Etablieren von | ||
− | + | '''Tauschpartnerschaften'''. | |
− | + | <blockquote> ... thus no man keeps any of the articles for any length of time in his possession. One transaction does not finish the Kula relationship, the rule being 'once in the Kula, always in the Kula'", and a partnership between two men is a permanent and lifelong affair." (Malinowski 1922: 81)</blockquote> | |
− | his possession. One transaction does not finish the Kula relationship, | ||
− | the rule being 'once in the Kula, always in the Kula'", and a | ||
− | partnership between two men is a permanent and lifelong affair." | ||
− | (Malinowski 1922: 81) | ||
− | Wenn eine Person z.B. | + | Wenn eine Person z.B. 'soulawa' - Ketten erhält, so muss sie eine |
− | entsprechende Menge | + | entsprechende Menge 'mwali' - Armbänder zurückgeben. Da eine |
gleichwertige Rückgabe die Kula-Transaktion und die Tauschpartnerschaft | gleichwertige Rückgabe die Kula-Transaktion und die Tauschpartnerschaft | ||
beenden würde, wird immer ein höherer Wert als jener der Gabe | beenden würde, wird immer ein höherer Wert als jener der Gabe | ||
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Tauschbeziehung wird fortgesetzt. | Tauschbeziehung wird fortgesetzt. | ||
− | Das | + | Das '''Etablieren und Erhalten von Tauschpartnerschaften''' in |
verschiedenen sozialen und geographischen Räumen ist mit komplexen | verschiedenen sozialen und geographischen Räumen ist mit komplexen | ||
ökonomischen, sozialen und rituellen Handlungen verknüpft. | ökonomischen, sozialen und rituellen Handlungen verknüpft. | ||
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====4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte==== | ====4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte==== | ||
+ | ---- | ||
− | + | <blockquote>Side by side with the Kula, the subsidiary trade goes on, the visitors acquiring a great number of articles of minor value, but of great utility, some of them unprocurable in Kiriwina, as, for instance, rattan, fibre, belts, cassowary feathers, certain kinds of spear wood, obsidian, red ochre and many other articles." (Malinowski 1922: 105).</blockquote> | |
− | visitors acquiring a great number of articles of minor value, but of | ||
− | great utility, some of them unprocurable in Kiriwina, as, for instance, | ||
− | rattan, fibre, belts, cassowary feathers, certain kinds of spear wood, | ||
− | obsidian, red ochre and many other articles." | ||
− | + | '''Kula-Transaktionen''' beschränken sich nicht auf den Tausch der Kula-Objekte im engeren Sinn ('soulawa' und 'mwali'). Sie beinhalten - | |
− | Kula-Objekte im engeren Sinn ( | ||
wie aus der obigen Beschreibung einer Kula-Expedition hervorgeht - ein | wie aus der obigen Beschreibung einer Kula-Expedition hervorgeht - ein | ||
breites Spektrum von "sekundären Tauschartikeln" bzw. Handelsgütern. | breites Spektrum von "sekundären Tauschartikeln" bzw. Handelsgütern. | ||
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====4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel==== | ====4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel==== | ||
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− | Kula-Tausch findet in | + | [[File:theogrundlagen-113_1.jpg|frame|right|Segelschiff, Foto: Bronislaw Malinowski.Quelle: Young 1997, Abb. 5.]] |
− | Räumen | + | Kula-Tausch findet in '''verschiedenen sozialen und geographischen |
+ | Räumen''' statt. Eine Person verfügt immer über mehrere | ||
Tauschpartnerschaften, und zwar entsprechend Alter und Prestige, über | Tauschpartnerschaften, und zwar entsprechend Alter und Prestige, über | ||
eine unterschiedliche Zahl von Partnern in verschiedenen geographischen | eine unterschiedliche Zahl von Partnern in verschiedenen geographischen | ||
Zonen. | Zonen. | ||
− | + | * '''Inland-Kula''': Getauscht wird innerhalb einer Kula-Gemeinschaft - zwischen verschiedenen Personen bzw. zwischen verschiedenen Dörfern einer Insel. Durch die Tauschbeziehungen werden soziale und ökonomische Netzwerke aufgebaut und persönlicher Status in der Gemeinschaft erlangt. | |
− | + | * '''Kula-Gemeinschaft''': Sie besteht aus einem Dorf oder einer Reihe von Dörfern, die gemeinsam im Kula-System nach außen agieren, d.h. gemeinsam Übersee -- Kula Expeditionen durchführen, die entsprechenden Rituale veranstalten etc. | |
− | + | * '''Übersee-Kula''': Getauscht wird zwischen Inseln bzw. Inselgruppen. Die Transaktionen auf dieser Ebene erfordern groß angelegte Schiffsreisen, die Tauschpartner sind Personen mit hohem sozialen Status bzw. politische Führer. Der Kula ist auf dieser Ebene mit weitreichenden sozialen und politischen Allianzen verbunden. | |
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+ | <blockquote>Thus the Kula partnership provides every man within its ring with a few friends near at hand, and with some friendly allies in the far- away, dangerous foreign districts. ... We see that all around the ring of Kula there is a network of relationsships, and that naturally the whole forms one interwoven fabric." (Malinowski 1922:92)</blockquote> | ||
====4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum==== | ====4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum==== | ||
− | + | ---- | |
[[File:theogrundlagen-114_1.jpg|frame|right|Männer bei Kula-Tausch, Foto: Bronislaw Malinowski.Quelle: Young 1997, Abb. 7.]] | [[File:theogrundlagen-114_1.jpg|frame|right|Männer bei Kula-Tausch, Foto: Bronislaw Malinowski.Quelle: Young 1997, Abb. 7.]] | ||
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Person Ruhm, Macht und Reichtum erlangen. | Person Ruhm, Macht und Reichtum erlangen. | ||
− | + | * '''Ruhm''': Der soziale Aufstieg in der Gesellschaft der Trobriander besteht darin, sich "auf der Straße des Kula" einen Namen zu machen. Die Geschichten der großen Kula-Fahrten der Vorfahren werden in Mythen besungen und tradiert. Der temporäre Besitz und ein möglichst großer "flow" vieler Kula-Objekte sowie die "Kunst des Kula" - das Erlangen und die Weitergabe der Objekte in einem komplexen Netzwerk - schaffen Prestige. | |
− | + | * '''Macht''': Erfolg im Kula wird einer besonderen, persönlichen Macht bzw. "Magie" zugeschrieben. Das Konzept von persönlicher spiritueller Macht ist in Ozeanien weit verbreitet (z.B. mana). Aufgrund solcher Fähigkeiten (oder Begabungen) kann sich eine Person im Kula profilieren. | |
− | + | * '''Reichtum''': Je höher der Rang einer Person ist, je mehr Tauschpartner sie hat, umso mehr Güter befinden sich (temporär) in ihrem Besitz. Das wesentliche am Besitz ist die Möglichkeit, ihn an Andere zu verteilen. Jeder, der etwas besitzt, ist dazu verpflichtet, es zu teilen - je höher sein Rang ist, umso größer ist diese Verpflichtung. Großzügigkeit bei der Verteilung von Gütern bringt wiederum Prestige. | |
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+ | <blockquote>Thus the main symptom of being powerful is to be wealthy, and of wealth is to be generous." (Malinowski 1922: 97)</blockquote> | ||
====4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol==== | ====4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol==== | ||
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− | + | [[File:theogrundlagen-115_1.jpg|frame|right|Frauen tragen Kula-Halsketten, Foto: Bronislaw Malinowski. Quelle: Young 1997, Abb. 6.]] | |
− | als soziales Phänomen | + | '''Bronislaw Malinowski''' bezeichnet '''ökonomische Aktivitäten explizit |
− | an und wird in vieler Hinsicht als | + | als soziales Phänomen'''; er schließt hiermit an '''Èmile Durkheim[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1]]]''' |
+ | an und wird in vieler Hinsicht als '''Wegbereiter der Substantivisten''' | ||
bewertet. Mit seiner Studie trägt Malinowksi auch wesentlich zu späteren | bewertet. Mit seiner Studie trägt Malinowksi auch wesentlich zu späteren | ||
Debatten um das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft bei: | Debatten um das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft bei: | ||
− | + | * Grundsätzlich geht er von der Annahme aus, dass alle Menschen '''auf rationale Weise ihre Bedürfnisse befriedigen wollen''', dazu benutzen sie unterschiedliche Modelle und Lösungen, deren "Rationalität" nur im Rahmen spezifischer kultureller Parameter zu verstehen ist. Konkret wandte sich Malinowski mit diesem Ansatz gegen eine Reihe von Kolonialbeamten und Missionare, welche den Kula und andere Aspekte der Kultur der Trobriander als "verrückte und sinnlose Bräuche" abwerteten. | |
− | + | * Malinowski stellt die universelle Gültigkeit der Prinzipien neoklassischer Ökonomie in Frage oder lehnt sie generell ab. '''Das Prinzip des Eigeninteresses im ökonomischen System der Trobriander erachtet er als irrelevant'*, den Begriff eines universellen 'homo economicus* ("Primitive Economic Man") hält er für unbrauchbar, um das ökonomische Handeln in verschiedenen Gesellschaften zu erklären. Eine Dominanz des utilitaristischen Handelns ist laut Malinowski weder für die Trobriander noch für den westlichen Kapitalismus zutreffend: Beide Systeme sind "voll von Magie und Symbolismus" (Malinowksi 1931: 636), handlungsleitend für ökonomische Aktivitäten sind generell Fragen von Prestige und Macht, von Glauben und Magie. In diesem Sinne - sowie in Hinblick auf das Konzept von Kultur - steht Malinowski auch in der Tradition von '''Max Weber[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.2 Max Weber|[2]]]''' (vgl. Rössler 1999:77, Wilk 1996:113-114). | |
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− | + | '''Verweise:''' | |
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[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.2 Max Weber|[2] Siehe Kapitel 4.1.2]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.2 Max Weber|[2] Siehe Kapitel 4.1.2]]<br/> | ||
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====4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie==== | ====4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie==== | ||
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Die Institution des Kula steht im Mittelpunkt vieler sozial- und | Die Institution des Kula steht im Mittelpunkt vieler sozial- und | ||
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ökonomische Anthropologie sind vor allem folgende Themenfelder relevant. | ökonomische Anthropologie sind vor allem folgende Themenfelder relevant. | ||
− | + | * '''Tausch''': Malinowski betont die enge Verbindung von Formen des Tausches mit einem spezifischen sozialen und symbolischen System: So existieren in Trobriand ca. 80 verschiedene Formen des Tausches, die mit bestimmten Objekten und sozialen Beziehungen verknüpft sind. Die Verbindungsweisen von (dominanter) Tauschform und Gesellschaftsform bilden eine der zentralen Fragestellungen (und Debatten) der ökonomischen Anthropologie (vgl. Davis 1992). | |
− | + | * '''Reziprozität''': Kula bildet einen ethnographischen Prototyp für Theorien über Reziprozität. Beginnend mit Marcel Mauss wurde (am Beispiel des Kula) die ökonomische und soziale Bedeutung von Gabe und Gegengabe immer wieder aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven untersucht. | |
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- Tausch und Reziprozität gelten vielen Theoretikern als Basis der | - Tausch und Reziprozität gelten vielen Theoretikern als Basis der | ||
− | menschlichen Gesellschaft (z.B. | + | menschlichen Gesellschaft (z.B. '''Marcel Mauss[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.2 Marcel Mauss|[1]]]''', '''Claude |
− | Lévi-Strauss [[Die_Struktur_der_Mythen/Methodische_Elemente#10.3 Methodische Elemente der strukturalen Mythologie von Claude Lévi-Strauss|[2]]] | + | Lévi-Strauss [[Die_Struktur_der_Mythen/Methodische_Elemente#10.3 Methodische Elemente der strukturalen Mythologie von Claude Lévi-Strauss|[2]]]'''). |
- Die Formen und der Stellenwert von Reziprozität für ein ökonomisches | - Die Formen und der Stellenwert von Reziprozität für ein ökonomisches | ||
System wurden in einer großen Bandbreite von Kontexten analysiert und | System wurden in einer großen Bandbreite von Kontexten analysiert und | ||
− | diskutiert (z.B. | + | diskutiert (z.B. '''Karl Polanyi[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1 Karl Polanyi|[3]]]''''', '''Marshall Sahlins''[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.3 Marshall Sahlins|[4]]]'''). |
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+ | * '''Gegensatz zwischen "primitiver" und "moderner" Ökonomie''': Malinowski betont immer wieder die kulturelle Gebundenheit des (ökonomischen) Denkens und Handelns der Trobriander. Die "andere Kultur" geht Hand in Hand mit einer "anderen Wirtschaftsform" (oft auch als "primitive Ökonomie" bezeichnet) - auch wenn alle Formen der Ökonomie dasselbe Ziel verfolgen (nämlich die Befriedigung von Grundbedürfnissen). | ||
+ | * Dieser Ansatz wurde von vielen Autoren aufgegriffen und in diversen theoretischen Zusammenhängen erörtert und weiterentwickelt. Er bildet einen wichtigen Aspekt der Theorien der '''Substantivisten''', die von einer substanziellen Differenz zwischen verschiedenen Typen von Ökonomien ausgehen (z.B. '''Karl Polanyi[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1 Karl Polanyi|[5]]]''', '''George Dalton[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.2 George Dalton|[6]]]'''). Sie postulieren einen grundsätzlichen Unterschied zwischen jenen Wirtschaftsformen, die auf reziprokem Tausch basieren, und der "Marktwirtschaft", in welcher der Warentausch in einem Marktsystem vorherrscht. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.2 Marcel Mauss|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.2 Marcel Mauss|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2]]<br/> | ||
− | [[Die_Struktur_der_Mythen/Methodische_Elemente#10.3 Methodische Elemente der strukturalen Mythologie von Claude Lévi-Strauss|[2] Siehe Kapitel 10.3 der Lernunterlage ''Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung'']]<br/>[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1 Karl Polanyi|[3] Siehe Kapitel 4.3.1]]<br/> | + | [[Die_Struktur_der_Mythen/Methodische_Elemente#10.3 Methodische Elemente der strukturalen Mythologie von Claude Lévi-Strauss|[2] Siehe Kapitel 10.3 der Lernunterlage '''Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung''']]<br/> |
+ | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1 Karl Polanyi|[3] Siehe Kapitel 4.3.1]]<br/> | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.3 Marshall Sahlins|[4] Siehe Kapitel 4.3.3]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.3 Marshall Sahlins|[4] Siehe Kapitel 4.3.3]]<br/> | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1 Karl Polanyi|[5] Siehe Kapitel 4.3.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1 Karl Polanyi|[5] Siehe Kapitel 4.3.1]]<br/> | ||
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===4.2.2.2 Marcel Mauss=== | ===4.2.2.2 Marcel Mauss=== | ||
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− | [[File:theogrundlagen-117_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-117_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html [https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html [1]]''']] |
− | + | '''Marcel Mauss (1872 -- 1950)''' | |
1923/24: Essai sur le don, dt.: Die Gabe | 1923/24: Essai sur le don, dt.: Die Gabe | ||
− | + | <blockquote>In der skandinavischen und in vielen anderen Kulturen finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen.[ ... ] Und da wir feststellen werden, dass diese Moral und diese Ökonomie sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken und da wir glauben, hier einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen, können wir daraus einige moralische Schlußfolgerungen bezüglich einiger Probleme ziehen, vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wirtschaft stellt." (Mauss 1990: 17;19)</blockquote> | |
− | Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch | ||
− | freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert | ||
− | werden müssen.[ ... ] Und da wir feststellen werden, dass diese Moral | ||
− | und diese Ökonomie sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen | ||
− | Gesellschaften wirken und da wir glauben, hier einen der Felsen gefunden | ||
− | zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen, können wir daraus | ||
− | einige moralische Schlußfolgerungen bezüglich einiger Probleme ziehen, | ||
− | vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wirtschaft stellt." | ||
− | (Mauss 1990: 17;19) | ||
− | Der | + | Der '''französische Sozialwissenschafter Marcel Mauss''', Neffe von |
− | + | '''Èmile Durkheim[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2]]]''' und Onkel von Claude Lévi-Strauss, ist ein | |
maßgeblicher Vertreter der Sozialanthropologie des 20. Jahrhunderts. | maßgeblicher Vertreter der Sozialanthropologie des 20. Jahrhunderts. | ||
Seine Arbeiten umfassen ein breites Spektrum von thematischen Feldern | Seine Arbeiten umfassen ein breites Spektrum von thematischen Feldern | ||
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1902 [1972]). | 1902 [1972]). | ||
− | + | '''Im Mittelpunkt seines Interesses steht das Verständnis sozialer | |
− | Systeme | + | Systeme''', Mauss führt dabei in vieler Hinsicht die Ansätze Durkheims |
weiter aus. Verstehen bedeutet für ihn, soziale Phänomene in ihrer | weiter aus. Verstehen bedeutet für ihn, soziale Phänomene in ihrer | ||
Totalität zu sehen, d.h. im Bezugsrahmen einer gesamtgesellschaftlichen | Totalität zu sehen, d.h. im Bezugsrahmen einer gesamtgesellschaftlichen | ||
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so beliebten Begriff des "Primitiven" nicht. | so beliebten Begriff des "Primitiven" nicht. | ||
− | + | '''Soziale Systeme sind für Mauss Netzwerke von reziproken | |
− | Verpflichtungen | + | Verpflichtungen''', die im rituellen Austausch von Gütern und |
Dienstleistungen verwirklicht werden. Beziehungen zwischen verschiedenen | Dienstleistungen verwirklicht werden. Beziehungen zwischen verschiedenen | ||
Gruppen können entweder durch Kriege oder durch Geschenke geregelt | Gruppen können entweder durch Kriege oder durch Geschenke geregelt | ||
Line 3,828: | Line 3,424: | ||
Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen." (Mauss 1990: 181) | Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen." (Mauss 1990: 181) | ||
− | + | '''Marcel Mauss im WWW:''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm [https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm [3]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm [https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm [4]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm [https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm [5]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html [1] https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html [1] https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html]<br/> | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | ||
Line 3,846: | Line 3,443: | ||
====4.2.2.2.1 Die Gabe==== | ====4.2.2.2.1 Die Gabe==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-118_1.jpg|frame|right|Sitka Potlach (Tlingit Indianer, 1904 Potlatch in Sitka, Alaska.) Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg [https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg [2]]''']] | |
+ | ''"Die Gabe"'' ('Essai sur le don' 1923/24) ist einer der | ||
einflussreichsten Aufsätze der Kultur- und Sozialanthropologie | einflussreichsten Aufsätze der Kultur- und Sozialanthropologie | ||
schlechthin. | schlechthin. | ||
− | + | '''Mauss''' geht davon aus, dass das soziale Leben eine relativ autonome | |
Ebene der Untersuchung konstituiert. Die Gesellschaft entwickelt | Ebene der Untersuchung konstituiert. Die Gesellschaft entwickelt | ||
strukturelle Vorkehrungen, mit deren Hilfe das menschliche Zusammenleben | strukturelle Vorkehrungen, mit deren Hilfe das menschliche Zusammenleben | ||
Line 3,860: | Line 3,458: | ||
von Marcel Mauss, "Die Gabe". | von Marcel Mauss, "Die Gabe". | ||
− | + | '''Die Gabe im Mauss'schen Sinn ist ein "totales soziales Phänomen"''', | |
das alle Mitglieder einer Gesellschaft zueinander in Beziehung setzt und | das alle Mitglieder einer Gesellschaft zueinander in Beziehung setzt und | ||
integriert. Er versteht dabei unter "Gabe" primär Phänomene | integriert. Er versteht dabei unter "Gabe" primär Phänomene | ||
Line 3,866: | Line 3,464: | ||
Individuen und zwischen Gruppen ausgetauscht werden. Als klassische | Individuen und zwischen Gruppen ausgetauscht werden. Als klassische | ||
Beispiele aus der Literatur zieht er dafür den "Kula-Austausch" unter | Beispiele aus der Literatur zieht er dafür den "Kula-Austausch" unter | ||
− | den Trobriandern ( | + | den Trobriandern ('''Malinowski's Argonauten[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie|[1]]]''') oder den von Boas in |
vielen Arbeiten beschriebenen "Potlatch" bei nordamerikanischen | vielen Arbeiten beschriebenen "Potlatch" bei nordamerikanischen | ||
Indianern heran. Anhand von zahlreichen weiteren Belegen aus | Indianern heran. Anhand von zahlreichen weiteren Belegen aus | ||
unterschiedlichen, gut dokumentierten Gesellschaften entwickelt Mauss | unterschiedlichen, gut dokumentierten Gesellschaften entwickelt Mauss | ||
− | das | + | das '''Reziprozitäts- und Tauschprinzip'''. |
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1]]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg [2] https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg [2] https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg]<br/> | ||
− | |||
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====4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip==== | ====4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip==== | ||
− | + | ---- | |
− | Laut | + | [[File:theogrundlagen-119_1.gif|frame|right]] |
+ | Laut '''Marcel Mauss''' begründet die '''Gabe eine Schuld'''; d.h., der | ||
Beschenkte fühlt sich in der Schuld des Schenkenden. Er ist bestrebt, | Beschenkte fühlt sich in der Schuld des Schenkenden. Er ist bestrebt, | ||
diese Schuld durch ein Gegengeschenk auszugleichen. Ist ihm dies aus | diese Schuld durch ein Gegengeschenk auszugleichen. Ist ihm dies aus | ||
Line 3,888: | Line 3,484: | ||
Zeitraum zwischen Gabe und Gegengabe, so wird zwischen Schenkendem und | Zeitraum zwischen Gabe und Gegengabe, so wird zwischen Schenkendem und | ||
Beschenktem ein soziales Band geknüpft, ein Band von gegenseitigen | Beschenktem ein soziales Band geknüpft, ein Band von gegenseitigen | ||
− | Verpflichtungen. | + | Verpflichtungen. '''Genau dadurch wird die Gabe zu einem strukturellen |
Element, das den sozialen Zusammenhalt über große Distanzen hinweg und | Element, das den sozialen Zusammenhalt über große Distanzen hinweg und | ||
− | auch außerhalb des vertrauten, intimen Familienkreises ermöglicht. | + | auch außerhalb des vertrauten, intimen Familienkreises ermöglicht.''' |
− | Mauss versucht nachzuweisen, dass das | + | Mauss versucht nachzuweisen, dass das '''Reziprozitäts- und |
− | Tauschprinzip | + | Tauschprinzip''' universell ist. Geben, Nehmen und Zurückerstatten werden |
− | bei ihm -- unter Verwendung eines Begriffs von Durkheim -- zum | + | bei ihm -- unter Verwendung eines Begriffs von Durkheim -- zum '''"fait |
− | social total" | + | social total"''', zur totalen sozialen Tatsache, die über allem steht. |
Es gibt bei Mauss natürlich noch andere soziale Tatsachen, aber dieses | Es gibt bei Mauss natürlich noch andere soziale Tatsachen, aber dieses | ||
Tauschprinzip ist das elementarste. Ohne dieses Tauschprinzip kann eine | Tauschprinzip ist das elementarste. Ohne dieses Tauschprinzip kann eine | ||
Line 3,909: | Line 3,505: | ||
finden; und zwar religiöse, moralische, rechtliche und ökonomische | finden; und zwar religiöse, moralische, rechtliche und ökonomische | ||
Institutionen. | Institutionen. | ||
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
====4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe==== | ====4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe==== | ||
+ | ---- | ||
− | Wie schon für | + | Wie schon für '''Durkheim[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1]]]''' ist auch für '''Mauss''' klar, dass |
derartige systematische Elemente des sozialen Zusammenhalts wie die Gabe | derartige systematische Elemente des sozialen Zusammenhalts wie die Gabe | ||
− | + | '''nicht nur einen praktischen und einen Orientierungsaspekt haben, | |
− | sondern immer zugleich auch einen ideellen, einen mentalen Aspekt | + | sondern immer zugleich auch einen ideellen, einen mentalen Aspekt'''. |
Durkheim spricht von Repräsentationen, die den sozialen Zusammenhalt | Durkheim spricht von Repräsentationen, die den sozialen Zusammenhalt | ||
auch dort gewährleisten, wo die Arbeitsteilung noch nicht sehr stark | auch dort gewährleisten, wo die Arbeitsteilung noch nicht sehr stark | ||
Line 3,927: | Line 3,520: | ||
nachher auch darüber nachdenken, was diese Handlungen zu bedeuten haben. | nachher auch darüber nachdenken, was diese Handlungen zu bedeuten haben. | ||
Insofern gehen Handlungen, wie der Geschenkaustausch, immer auch mit | Insofern gehen Handlungen, wie der Geschenkaustausch, immer auch mit | ||
− | + | '''Klassifikationssystemen''' einher, mit Vorstellungssystemen, mit | |
Ideengebäuden der jeweiligen Gesellschaft und müssen im Zusammenhang | Ideengebäuden der jeweiligen Gesellschaft und müssen im Zusammenhang | ||
damit auch von der Kultur- und Sozialanthropologie untersucht werden. | damit auch von der Kultur- und Sozialanthropologie untersucht werden. | ||
Line 3,935: | Line 3,528: | ||
hingewiesen, dass die Arbeitsteilung zwischen Gruppen -- die etwa | hingewiesen, dass die Arbeitsteilung zwischen Gruppen -- die etwa | ||
Geschenke austauschen -- immer auch das Modell vorgibt, wie man sich den | Geschenke austauschen -- immer auch das Modell vorgibt, wie man sich den | ||
− | Austausch der Gaben vorstellt. Die | + | Austausch der Gaben vorstellt. Die '''Arbeitsteilung ist also quasi die |
− | Vorlage, nach der der Geschenkaustausch gedacht wird | + | Vorlage, nach der der Geschenkaustausch gedacht wird'''. |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[1] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | ||
Line 3,944: | Line 3,538: | ||
===4.2.2.3 Mauss und Malinowski=== | ===4.2.2.3 Mauss und Malinowski=== | ||
+ | ---- | ||
− | + | * '''Malinowski''' hat im Kula-Tausch vor allem die soziale Funktion für den Einzelnen gesehen: Welche Stellung hat die einzelne Person im Netzwerk der Kula-Partner? Als junger Mann tauscht man sich in das Netzwerk hinein, baut dieses aus und verschafft sich mit der Zeit hohes Ansehen. | |
− | + | * '''Mauss''' interpretiert Malinowskis Daten nicht aus der Perspektive des Individuums, sondern aus jener der Gesellschaft. Er sieht Geben -- Annehmen -- Erwidern als den Mechanismus, der Menschen, die an sich autark sind, miteinander verbindet. | |
− | |||
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==4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ==4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ||
Line 3,963: | Line 3,549: | ||
Ethnography*. Berkeley: University of California Press. S. 1-26. | Ethnography*. Berkeley: University of California Press. S. 1-26. | ||
− | Davis, John 1992: | + | Davis, John 1992: 'Exchange'. Minneapolis: University of Minnesota |
Press. | Press. | ||
Durkheim, Emil; Mauss, Marcel 1903: "De quelques formes primitives de | Durkheim, Emil; Mauss, Marcel 1903: "De quelques formes primitives de | ||
classifications. Contributions à l' étude des représentations | classifications. Contributions à l' étude des représentations | ||
− | collectives." In | + | collectives." In 'L' Année Sociologique' 6, S. 1-72. |
Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The | Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The | ||
Line 3,974: | Line 3,560: | ||
Köcke, Jasper 1979: Some Early German Contributions to Economic | Köcke, Jasper 1979: Some Early German Contributions to Economic | ||
− | Anthropology. In G. Dalton (Hg.): | + | Anthropology. In G. Dalton (Hg.): 'Research in Economic Anthropology'. A |
Research Annual. Greenwich, Connecticut: JAI Press Inc, S. 119-167. | Research Annual. Greenwich, Connecticut: JAI Press Inc, S. 119-167. | ||
Line 3,984: | Line 3,570: | ||
Malinowski, Bronislaw 1921: "The Primitive Economics of the Trobriand | Malinowski, Bronislaw 1921: "The Primitive Economics of the Trobriand | ||
− | Islanders." | + | Islanders." 'Economic Journal' 31, S. 1-16. |
--- 1929: *Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien. | --- 1929: *Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien. | ||
Line 3,990: | Line 3,576: | ||
Britisch-Neuguinea*. Frankfurt am Main: Syndikat. | Britisch-Neuguinea*. Frankfurt am Main: Syndikat. | ||
− | --- 1931: Culture. In | + | --- 1931: Culture. In 'Encyclopedia of the Social Sciences', S. 621-646. |
− | --- 1935: | + | --- 1935: 'Coral Gardens and Their Magic'. Bloomington: Indiana |
University Press. | University Press. | ||
− | --- 1961 (1922): | + | --- 1961 (1922): 'Argonauts of the Western Pacific'. New York: Dutton |
Press. | Press. | ||
− | --- 1967: | + | --- 1967: 'A Diary in the Strict Sense of the Term'. New York: Harcourt, |
Brace, & World. | Brace, & World. | ||
− | --- 1984 (1922): | + | --- 1984 (1922): 'Argonauts of the Western Pacific'. Prospect Heights: |
Waveland Press. | Waveland Press. | ||
Line 4,011: | Line 3,597: | ||
archaischen Gesellschaften*. Frankfurt am Main: Suhrkamp. | archaischen Gesellschaften*. Frankfurt am Main: Suhrkamp. | ||
− | Mauss, Marcel; Hubert, Henri 1972 (1904): | + | Mauss, Marcel; Hubert, Henri 1972 (1904): 'A General Theory of Magic'. |
London: Routledge & Kegan Paul. | London: Routledge & Kegan Paul. | ||
Line 4,017: | Line 3,603: | ||
Society*. London; Henley: Routledge & Kegan Paul. | Society*. London; Henley: Routledge & Kegan Paul. | ||
− | Rössler, Martin 1999: | + | Rössler, Martin 1999: 'Wirtschaftsethnologie'. Eine Einführung. Berlin: |
Reimer Verlag. | Reimer Verlag. | ||
Line 4,026: | Line 3,612: | ||
Grundlagen*. Berlin, Leipzig. | Grundlagen*. Berlin, Leipzig. | ||
− | --- 1932b: | + | --- 1932b: 'Economics in Primitive Communities'. London: Oxford |
University Press. | University Press. | ||
Line 4,042: | Line 3,628: | ||
− | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2 Frühe VertreterInnen| Vorheriges Kapitel: 4.2 Frühe VertreterInnen]]<br/> | + | '''[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2 Frühe VertreterInnen| Vorheriges Kapitel: 4.2 Frühe VertreterInnen]]'''<br/> |
=4.3 Substantivisten= | =4.3 Substantivisten= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
Line 4,077: | Line 3,663: | ||
==4.3.1 Karl Polanyi== | ==4.3.1 Karl Polanyi== | ||
− | [[File:theogrundlagen-271_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-271_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif [https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif [1]]''']] |
− | + | '''Karl Polanyi (1886 -- 1964)''' | |
1944: The Great Transformation | 1944: The Great Transformation | ||
Line 4,087: | Line 3,673: | ||
1979: Ökonomie und Gesellschaft | 1979: Ökonomie und Gesellschaft | ||
− | + | '''Karl Polyanis''' These besagt, dass '''die neoklassische | |
Wirtschaftstheorie nur auf die moderne Marktwirtschaft | Wirtschaftstheorie nur auf die moderne Marktwirtschaft | ||
− | industrialisierter Systeme anzuwenden | + | industrialisierter Systeme anzuwenden''' ist. In dieser ist die |
Wirtschaft aus der Gesellschaft herausgelöst, wohingegen in früheren | Wirtschaft aus der Gesellschaft herausgelöst, wohingegen in früheren | ||
oder weniger entwickelten Gesellschaften die ökonomischen Beziehungen im | oder weniger entwickelten Gesellschaften die ökonomischen Beziehungen im | ||
Gesellschaftssystem eingebettet sind. Hier gibt es also nicht graduelle | Gesellschaftssystem eingebettet sind. Hier gibt es also nicht graduelle | ||
Systemunterschiede ("große und kleine Äpfel"), wie Firth behauptet, | Systemunterschiede ("große und kleine Äpfel"), wie Firth behauptet, | ||
− | sondern es | + | sondern es '''variiert die Art''' ("Äpfel und Birnen") '''des |
− | wirtschaftlichen Handelns | + | wirtschaftlichen Handelns'''. Im Gegensatz zu '''Firth[[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth|[2]]]''' sieht |
− | Polanyi | + | Polanyi '''die institutionellen Gegebenheiten ("substantial |
propositions") als universell gültig an, wohingegen die Art des | propositions") als universell gültig an, wohingegen die Art des | ||
− | wirtschaftlichen Handelns variabel ist | + | wirtschaftlichen Handelns variabel ist'''. |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif [1] https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif]<br/> | [https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif [1] https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif]<br/> | ||
[[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth|[2] Siehe Kapitel 3.1]]<br/> | [[Neoklassik/Firth#3.1 Raymond Firth|[2] Siehe Kapitel 3.1]]<br/> | ||
Line 4,107: | Line 3,694: | ||
===4.3.1.1 The Great Transformation=== | ===4.3.1.1 The Great Transformation=== | ||
+ | ---- | ||
*Wir vertreten die These, daß die Idee des selbstregulierenden Marktes | *Wir vertreten die These, daß die Idee des selbstregulierenden Marktes | ||
eine krasse Utopie bedeutete.* (Polanyi 1978: 19) | eine krasse Utopie bedeutete.* (Polanyi 1978: 19) | ||
− | + | '''Polanyi geht davon aus, dass der selbstregulierende Markt in seiner | |
reinen Form Mensch und Gesellschaft zerstört. Staatliche und andere | reinen Form Mensch und Gesellschaft zerstört. Staatliche und andere | ||
institutionelle Eingriffe in den Markt seien daher Selbstschutzmaßnahmen | institutionelle Eingriffe in den Markt seien daher Selbstschutzmaßnahmen | ||
− | der Gesellschaft. | + | der Gesellschaft.''' |
− | Die | + | Die 'Great Transformation' ist 1944 erstmals erschienen, also zu einem |
Zeitpunkt, zu dem Terror und Zerstörungswut einen historischen Höhepunkt | Zeitpunkt, zu dem Terror und Zerstörungswut einen historischen Höhepunkt | ||
erreicht hatten. Polanyis explizites Ziel war, über die Befassung mit | erreicht hatten. Polanyis explizites Ziel war, über die Befassung mit | ||
Line 4,125: | Line 3,713: | ||
Zwischenkriegszeit geführt hatten. | Zwischenkriegszeit geführt hatten. | ||
− | + | '''Seine zentrale These lautet: Die Ursprünge der Katastrophe liegen im | |
utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus, ein selbstregulierendes | utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus, ein selbstregulierendes | ||
− | Marktsystem zu errichten. | + | Marktsystem zu errichten.''' |
Marktsystem nach Polanyi: | Marktsystem nach Polanyi: | ||
− | + | * Was auch immer die tatsächliche Einkommensquelle einer Person ist, sie ist das Ergebnis eines Verkaufs. | |
− | + | * Marktwirtschaft: Dieses System müsse nach seiner Einführung sich selbst überlassen bleiben. Die Preise regulieren sich selbst. | |
− | + | * Der Verkauf eines Kaufmanns umfasst nur Erzeugnisse. Dies hat noch keinen massiven Einfluss auf eine Gesellschaft. | |
− | + | * Einkauf im Marktsystem: Rohstoffe und Arbeitskraft, also Mensch und Natur. "Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nicht Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren." Polanyi 1978: 70 | |
− | + | * Vor dem 19. Jahrhundert gab es keine Wirtschaftsform, die vom Markt gelenkt worden wäre. '''Adam Smiths[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[1]]]''homo oeconomicus' ist nicht als Analyse der Vergangenheit, sondern als Projektion in die Zukunft entstanden. | |
− | + | * Das Gemeinsame aller nicht-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsformen besteht darin, daß sie in die Gesamtgesellschaft eingebettet sind. Der Mensch wurde als gesellschaftliches Wesen konstituiert. | |
− | + | * Die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen ist in seine Sozialbeziehungen eingebettet. | |
− | + | * Nicht individuelles Interesse an materiellem Besitz, sondern an der Sicherung des gesellschaftlichen Ranges, der gesellschaftlichen Ansprüche und Wertvorstellungen bestimmt sein Handeln. Die genauen Ausformungen sind sehr verschieden, aber das Wirtschaftssystem wird in jedem Fall von nicht-ökonomischen Motiven getragen. | |
− | + | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[1] Siehe Kapitel 1.3.2]]<br/> | [[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[1] Siehe Kapitel 1.3.2]]<br/> | ||
+ | [[File:theogrundlagen-273_1.gif|frame|right]] | ||
===4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi=== | ===4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi=== | ||
− | + | ---- | |
− | Polanyi postuliert | + | Polanyi postuliert '''vier Typen institutioneller wirtschaftlicher |
− | Gestaltungen | + | Gestaltungen''', wobei die ersten drei sich grundlegend vom vierten |
unterschieden: | unterschieden: | ||
− | 1. | + | 1. '''Reziprozität''' |
− | 2. | + | 2. '''Redistribution''' |
− | 3. | + | 3. '''Haushaltung''' |
− | 4. | + | 4. '''Markttausch'''. |
− | |||
− | |||
====4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität==== | ====4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-274_1.jpg|frame|left|In Agrarritualen in den Anden wird ein reziprokes Verhältnis zwischen Menschen und Gottheiten angestrebt (Abb.: Alberdi 1992)]] | |
+ | '''Darunter versteht Polanyi alle Formen von Austausch, die auf der | ||
sozialen Ebene in einer symmetrischen, äquivalenten Beziehung ablaufen, | sozialen Ebene in einer symmetrischen, äquivalenten Beziehung ablaufen, | ||
− | wie Gabe und Gegengabe. | + | wie Gabe und Gegengabe.''' |
Dabei herrscht kein Gewinnstreben, kein Prinzip der Arbeit gegen | Dabei herrscht kein Gewinnstreben, kein Prinzip der Arbeit gegen | ||
Line 4,197: | Line 3,769: | ||
jeder Mann zu allererst für seine Schwester und deren Kinder zu sorgen. | jeder Mann zu allererst für seine Schwester und deren Kinder zu sorgen. | ||
− | + | '''Reziprozität bedeutet also nicht, dass die Verpflichtung zur | |
Erwiderung der Gabe dieselbe Person trifft, die etwas erhalten hat. Es | Erwiderung der Gabe dieselbe Person trifft, die etwas erhalten hat. Es | ||
ist ein sehr viel abstrakteres Prinzip, das auf der Ebene der | ist ein sehr viel abstrakteres Prinzip, das auf der Ebene der | ||
Gesamtgesellschaft wirkt und sich nicht auf die Interaktion zwischen | Gesamtgesellschaft wirkt und sich nicht auf die Interaktion zwischen | ||
− | zwei konkreten Personen beschränken lässt | + | zwei konkreten Personen beschränken lässt''' (vgl. Polanyi 1978: 77ff). |
− | |||
− | |||
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− | |||
====4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution==== | ====4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-275_1.jpg|frame|right|Tribute an den Großkönig. Relief aus Persepolis. Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/ [https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/ [1]]''']] | |
+ | '''Dieses Prinzip bezieht sich auf wirtschaftliche Bewegungen in Richtung | ||
auf ein Zentrum und zurück. Es beschreibt Güterflüsse in pyramidal | auf ein Zentrum und zurück. Es beschreibt Güterflüsse in pyramidal | ||
geschichteten Gesellschaften. Redistribution ist ein Kennzeichen | geschichteten Gesellschaften. Redistribution ist ein Kennzeichen | ||
feudaler Systeme, bezieht sich auf ein Territorium und ist damit Teil | feudaler Systeme, bezieht sich auf ein Territorium und ist damit Teil | ||
− | des Bereichs der Politik. | + | des Bereichs der Politik.''' |
Tribute, Steuern, oder Arbeitsleistungen gehen vom "gemeinen Volk" zum | Tribute, Steuern, oder Arbeitsleistungen gehen vom "gemeinen Volk" zum | ||
Line 4,223: | Line 3,792: | ||
Zentralgewalt abgegeben, die diese hortet und wieder umverteilt. | Zentralgewalt abgegeben, die diese hortet und wieder umverteilt. | ||
− | + | '''Das Prinzip der Redistribution gibt aber noch keinen Aufschluss über | |
− | die Herrschaftsform | + | die Herrschaftsform''', diese kann despotisch und ausbeuterisch sein, |
aber auch auf Konsens beruhen. Wesentlich ist die Orientierung an einem | aber auch auf Konsens beruhen. Wesentlich ist die Orientierung an einem | ||
Zentrum, auf das sich Güter und Leistungen richten, und das diese wieder | Zentrum, auf das sich Güter und Leistungen richten, und das diese wieder | ||
Line 4,232: | Line 3,801: | ||
Stadtstaaten. | Stadtstaaten. | ||
− | + | <blockquote>Die Produktion und Distribution von Gütern wird hauptsächlich durch Einsammlung, Lagerung und Redistribution organisiert, wobei der Häuptling, der Tempel, der Despot oder der Lord im Mittelpunkt dieses Systems steht. Da das Verhältnis zwischen den Führenden und den Geführten, je nach der Grundlage der jeweiligen politischen Macht, verschieden ist, wird auch das Prinzip der Redistribution so völlig verschiedene individuelle Motivationen berücksichtigen wie die freiwillige Aufteilung der Beute durch die Jäger bis zur Angst vor Strafe, die den Fellachen zur Ablieferung einer Art Steuern, der Naturalabgaben, veranlaßt." (Polanyi 1978: 83f)</blockquote> | |
− | Einsammlung, Lagerung und Redistribution organisiert, wobei der | ||
− | Häuptling, der Tempel, der Despot oder der Lord im Mittelpunkt dieses | ||
− | Systems steht. Da das Verhältnis zwischen den Führenden und den | ||
− | Geführten, je nach der Grundlage der jeweiligen politischen Macht, | ||
− | verschieden ist, wird auch das Prinzip der Redistribution so völlig | ||
− | verschiedene individuelle Motivationen berücksichtigen wie die | ||
− | freiwillige Aufteilung der Beute durch die Jäger bis zur Angst vor | ||
− | Strafe, die den Fellachen zur Ablieferung einer Art Steuern, der | ||
− | Naturalabgaben, veranlaßt." | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/ [1] https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/ [1] https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/]<br/> | ||
− | |||
− | |||
====4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung==== | ====4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-276_1.jpg|frame|right|Gehöft von Bergbauern in Nepal, deren Wirtschaften stark auf den Eigenbedarf ausgerichtet ist. Foto: Elke Mader]] | |
− | Kleingruppe, die in sich möglichst geschlossen und autark ist. | + | '''Darunter versteht Polanyi die Produktion des Eigenbedarfs der |
+ | Kleingruppe, die in sich möglichst geschlossen und autark ist.''' | ||
Wie diese Gruppe in sich organisiert ist, spielt dabei keine Rolle. | Wie diese Gruppe in sich organisiert ist, spielt dabei keine Rolle. | ||
Polanyi bezieht sich auf die Unterscheidung von Aristoteles in | Polanyi bezieht sich auf die Unterscheidung von Aristoteles in | ||
− | Haushaltsführung ( | + | Haushaltsführung ('oikonomía') und Gelderwerb. Aristoteles war davon |
überzeugt, dass die Produktion für den Gebrauch und der Verkauf von | überzeugt, dass die Produktion für den Gebrauch und der Verkauf von | ||
überschüssigen Gebrauchsgütern auf dem Markt einander nicht ausschließen | überschüssigen Gebrauchsgütern auf dem Markt einander nicht ausschließen | ||
und die Autarkie des Haushalts nicht gefährden würden. | und die Autarkie des Haushalts nicht gefährden würden. | ||
− | + | <blockquote>Nur ein Genie der praktischen Vernunft konnte, wie er erkannt haben, daß das Gewinnstreben ein für die Marktproduktion charakteristisches Motiv ist und daß der Geldfaktor ein neues Element einführte; daß aber das Prinzip der Produktion für den Gebrauch weiterhin funktionieren würde, solange Märkte und Geld bloß Anhängsel eines ansonsten autarken Haushalts blieben." (Polanyi 1978: 85)</blockquote> | |
− | daß das Gewinnstreben ein für die Marktproduktion charakteristisches | ||
− | Motiv ist und daß der Geldfaktor ein neues Element einführte; daß aber | ||
− | das Prinzip der Produktion für den Gebrauch weiterhin funktionieren | ||
− | würde, solange Märkte und Geld bloß Anhängsel eines ansonsten autarken | ||
− | Haushalts blieben." | ||
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− | + | Diese drei Prinzipien unterscheiden sich aber grundsätzlich vom vierten, denn: | |
+ | <blockquote>Im weiteren Sinn gilt jedoch die These, dass alle uns bekannten Wirtschaftssysteme bis zum Ende des Feudalismus in Westeuropa auf den Prinzipien der Reziprozität oder Redistribution oder aber der Haushaltung beziehungsweise einer Kombination dieser drei beruhte. Diese Prinzipien waren mit Hilfe gesellschaftlicher Organisationen institutionalisiert, die sich '''inter alia''' auch die Formen der Symmetrie, der Zentrizität und der Autarkie zunutze machten. In diesem Rahmen wurde die geordnete Produktion und Distribution von Gütern durch eine Vielfalt von individuellen Motivationen gesichert, die ihrerseits durch allgemeine Verhaltensnormen in Schranken gehalten wurden. Bei diesen Motivationen spielte das Gewinnstreben keine hervorragende Rolle. Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen, um den einzelnen zu Verhaltensnormen zu veranlassen, die letztlich seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten." (Polanyi 1978: 86f)</blockquote> | ||
+ | Sowohl dort wo Reziprozität vorherrscht als auch dort, wo Redistribution dominiert, ist das ökonomische System eine Funktion der gesellschaftlichen Organisation. | ||
====4.3.1.2.4 Marktprinzip==== | ====4.3.1.2.4 Marktprinzip==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-277_1.jpg|frame|right|Altar umgeben von Pepsi-Cola Werbung, Nepal. Foto: Elke Mader]] | |
+ | '''Beim (Markt)Tausch handelt es sich um Transaktionen zwischen | ||
Individuen nach dem Zufallsprinzip, die unabhängig von ihrer | Individuen nach dem Zufallsprinzip, die unabhängig von ihrer | ||
gesellschaftlichen Beziehung sind. Nur diese beruhen auf rationaler | gesellschaftlichen Beziehung sind. Nur diese beruhen auf rationaler | ||
− | Entscheidung und Nutzenmaximierung. | + | Entscheidung und Nutzenmaximierung.''' |
Was das Prinzip des Tauschhandels von den anderen fundamental | Was das Prinzip des Tauschhandels von den anderen fundamental | ||
Line 4,332: | Line 3,866: | ||
Die Nicht-Marktgesellschaft mit den Integrationsformen Reziprozität und | Die Nicht-Marktgesellschaft mit den Integrationsformen Reziprozität und | ||
Redistribution sah er als absolutes Gegenteil des Markttauschsystems. | Redistribution sah er als absolutes Gegenteil des Markttauschsystems. | ||
− | 1944, in | + | 1944, in 'The great Transformation' stellte er noch eine weitere |
Nicht-Marktintegrationsform auf, das "Haushalten" auf der Ebene von | Nicht-Marktintegrationsform auf, das "Haushalten" auf der Ebene von | ||
autarken Einzelhaushalten. Diese Prinzipien existieren meist | autarken Einzelhaushalten. Diese Prinzipien existieren meist | ||
nebeneinander. | nebeneinander. | ||
− | + | '''Die Nicht-Marktökonomien zeichnen sich durch folgende Prinzipien | |
− | aus: | + | aus:''' |
− | + | * es gibt kein Gewinnmotiv; | |
− | + | * keine Nutzenmaximierung durch die Einzelnen; | |
− | + | * es gibt keine Lohnarbeit und keine spezifisch ökonomischen Institutionen. | |
− | |||
Für Polanyi hat die kapitalistische Ökonomie Ende des 18. Jhds eine | Für Polanyi hat die kapitalistische Ökonomie Ende des 18. Jhds eine | ||
Line 4,349: | Line 3,882: | ||
der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte keine Entsprechung hat. | der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte keine Entsprechung hat. | ||
Und diese Organisationsform ist das Marktsystem. | Und diese Organisationsform ist das Marktsystem. | ||
− | |||
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===4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt=== | ===4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt=== | ||
+ | ---- | ||
− | + | '''Karl Polanyi hält das Marktprinzip für einen grundsätzlich die | |
− | Gesellschaft zerstörenden Faktor. | + | Gesellschaft zerstörenden Faktor.''' Seine Argumentationslinie lässt sich |
diesbezüglich wie folgt zusammenfassen: | diesbezüglich wie folgt zusammenfassen: | ||
Line 4,376: | Line 3,906: | ||
Marktes -- funktionieren kann. | Marktes -- funktionieren kann. | ||
− | + | '''Dieser sich selbst regulierende Markt entstand allerdings keineswegs | |
einfach so aus sich selbst heraus. Er bedurfte und bedarf enormer | einfach so aus sich selbst heraus. Er bedurfte und bedarf enormer | ||
− | Machtmittel, um ihn durchzusetzen und zu schützen. | + | Machtmittel, um ihn durchzusetzen und zu schützen.''' |
===4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld=== | ===4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld=== | ||
− | + | ---- | |
− | Die | + | [[File:theogrundlagen-279_1.jpg|frame|right|Warenangebot für TouristInnen, Nepal. Foto: Elke Mader]] |
− | Marktsystems | + | Die '''wesentlichste Voraussetzung für die Errichtung eines |
+ | Marktsystems''', also eines selbst regulierenden Marktes, '''ist die | ||
institutionelle Abtrennung der Sphäre der Wirtschaft aus den anderen | institutionelle Abtrennung der Sphäre der Wirtschaft aus den anderen | ||
− | Institutionen der Gesellschaft | + | Institutionen der Gesellschaft'''. Dies konnte nur erreicht werden durch |
die Transformation von Boden, Rohstoffen und Arbeit, also von Mensch und | die Transformation von Boden, Rohstoffen und Arbeit, also von Mensch und | ||
Natur in Waren, deren Preise über den Markt sich selbst regeln. Dazu | Natur in Waren, deren Preise über den Markt sich selbst regeln. Dazu | ||
müssen alle Elemente der wirtschaftlichen Tätigkeit -- auch Boden, | müssen alle Elemente der wirtschaftlichen Tätigkeit -- auch Boden, | ||
Arbeit und Geld -- dem Marktsystem unterliegen. Dies war nach Polanyi | Arbeit und Geld -- dem Marktsystem unterliegen. Dies war nach Polanyi | ||
− | vor dem Europa des 19. Jahrhunderts nie und nirgends der Fall. | + | vor dem Europa des 19. Jahrhunderts nie und nirgends der Fall. '''Waren |
sind nach Polanyi Objekte, die für den Verkauf auf dem Markt produziert | sind nach Polanyi Objekte, die für den Verkauf auf dem Markt produziert | ||
− | werden. Sie unterliegen dem Angebots- und Nachfragemechanismus. | + | werden. Sie unterliegen dem Angebots- und Nachfragemechanismus.''' |
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
===4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi=== | ===4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi=== | ||
+ | ---- | ||
+ | [[File:theogrundlagen-280_1.jpg|frame|left|Chilis auf einem Markt in Burma. Foto: Elke Mader]] | ||
+ | Dementsprechend gibt es für ihn auch '''drei Formen des Handels''': | ||
− | + | 1. '''Gabenhandel''' (Reziprozität), ('gift trade'): Jegliche Form von | |
− | |||
− | 1. | ||
Gütertransaktion wird als Gabentausch inszeniert. | Gütertransaktion wird als Gabentausch inszeniert. | ||
− | 2. | + | 2. '''Verwalteter Handel''' (Redistribution), Preisregelung im |
"verwalteten Handel": Festsetzung von Festpreisen entweder durch eine | "verwalteten Handel": Festsetzung von Festpreisen entweder durch eine | ||
Gruppenentscheidung von Anbietern oder von der Marktbehörde im | Gruppenentscheidung von Anbietern oder von der Marktbehörde im | ||
Einvernehmen mit den Anbietern. Z. B. wurde im alten Athen der Preis von | Einvernehmen mit den Anbietern. Z. B. wurde im alten Athen der Preis von | ||
Mehl und Brot durch Gesetz im Verhältnis zum Getreidepreis festgesetzt. | Mehl und Brot durch Gesetz im Verhältnis zum Getreidepreis festgesetzt. | ||
− | Handelsplätze ( | + | Handelsplätze ('Ports of Trade'): "Handelsplatz" ist Polanyis |
Bezeichnung für eine Niederlassung, die als Kontrollpunkt im Handel | Bezeichnung für eine Niederlassung, die als Kontrollpunkt im Handel | ||
zwischen zwei Kulturen mit verschiedenartig strukturierten ökonomischen | zwischen zwei Kulturen mit verschiedenartig strukturierten ökonomischen | ||
Line 4,427: | Line 3,955: | ||
Örtliches Marktgeschäft und Fernhandel sind streng voneinander getrennt. | Örtliches Marktgeschäft und Fernhandel sind streng voneinander getrennt. | ||
− | 3. | + | 3. '''Markthandel''' existiert seit Ende des 18. Jhds (in Europa und |
Nordamerika). Reguliert sich selbst und jegliche Einflussnahme durch | Nordamerika). Reguliert sich selbst und jegliche Einflussnahme durch | ||
Gesellschaft und Staat wirkt verfälschend auf die Preise und die | Gesellschaft und Staat wirkt verfälschend auf die Preise und die | ||
Produktion. | Produktion. | ||
− | [[File:theogrundlagen- | + | ==4.3.2 George Dalton== |
− | + | [[File:theogrundlagen-281_1.jpg|frame|right|Maniok auf einem Markt in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski.]] | |
− | + | '''George Dalton war Schüler von Polanyi''', er promovierte in den 50er | |
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
Jahren an der Columbia University. | Jahren an der Columbia University. | ||
− | + | 'Economic Theory and Primitive Society' (1961) gilt als das theoretische | |
− | Credo der substantivistischen Position. Er arbeite mit | + | Credo der substantivistischen Position. Er arbeite mit '''Paul Bohannan''' |
− | ( | + | ('spheres of exchange') zusammen, mit dem er, aufgrund von Forschungen |
in afrikanischen Ländern, drei Gesellschaftsformen unterschied: | in afrikanischen Ländern, drei Gesellschaftsformen unterschied: | ||
− | 1. | + | 1. '''Marktlose Gesellschaften:''' |
Gekennzeichnet durch die Prinzipien der Reziprozität und -- seltener -- | Gekennzeichnet durch die Prinzipien der Reziprozität und -- seltener -- | ||
Line 4,452: | Line 3,976: | ||
Ethnologie durch z.B. Malinowski, Firth und Herskovits. | Ethnologie durch z.B. Malinowski, Firth und Herskovits. | ||
− | 2. | + | 2. '''Gesellschaften mit peripheren Märkten:''' |
Orientieren sich teilweise an Angebot und Nachfrage; die Preise sind an | Orientieren sich teilweise an Angebot und Nachfrage; die Preise sind an | ||
Line 4,459: | Line 3,983: | ||
Kommunikationswert des Marktes ist wichtig. | Kommunikationswert des Marktes ist wichtig. | ||
− | 3. | + | 3. '''Westlich beeinflusste Gesellschaften (oder "soziale Situationen" |
− | wie moderne Städte): | + | wie moderne Städte):''' |
Der Markt wird von abstrakten Preismechanismen, von Angebot und | Der Markt wird von abstrakten Preismechanismen, von Angebot und | ||
Nachfrage bestimmt. | Nachfrage bestimmt. | ||
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
==4.3.3 Marshall Sahlins== | ==4.3.3 Marshall Sahlins== | ||
− | [[File:theogrundlagen-282_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-282_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml [https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml [1]]''']] |
− | + | '''Marshall Sahlins (geb. 1930)''' | |
Keiner quot;Schule" zuzuordnen | Keiner quot;Schule" zuzuordnen | ||
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1965: On the Sociology of Primitive Exchange | 1965: On the Sociology of Primitive Exchange | ||
Line 4,483: | Line 4,003: | ||
1972: Stone Age Economics | 1972: Stone Age Economics | ||
− | + | '''Marshall Sahlins''' gilt als einer der einflussreichsten und | |
originellsten amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart | originellsten amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart | ||
(Barnard/Spencer 1996: 589). Er hat sich seit den 1960er Jahren zu einer | (Barnard/Spencer 1996: 589). Er hat sich seit den 1960er Jahren zu einer | ||
Vielzahl von Themen zu Wort gemeldet. Im Rahmen der ökonomischen | Vielzahl von Themen zu Wort gemeldet. Im Rahmen der ökonomischen | ||
Anthropologie ist insbesondere seine 1972 erschienene Aufsatzsammlung | Anthropologie ist insbesondere seine 1972 erschienene Aufsatzsammlung | ||
− | + | 'Stone Age Economics' zu einem Klassiker geworden. | |
− | + | 'Stone Age Economics' ist eine Verteidigungsschrift des Substantivismus | |
und eine Auseinandersetzung mit marxistischen Modellen. Trotzdem kann | und eine Auseinandersetzung mit marxistischen Modellen. Trotzdem kann | ||
Sahlins aber keiner speziellen Schule zugeordnet werden. Er argumentiert | Sahlins aber keiner speziellen Schule zugeordnet werden. Er argumentiert | ||
substantivistisch, formalistisch, strukturalistisch, marxistisch und | substantivistisch, formalistisch, strukturalistisch, marxistisch und | ||
− | neoevolutionistisch. | + | neoevolutionistisch. '''Seine Arbeiten spiegeln Öffnung bzw. das Ende der |
Debatte zwischen den festgelegten Lagern der Formalisten und | Debatte zwischen den festgelegten Lagern der Formalisten und | ||
− | Substantivisten wider. | + | Substantivisten wider.''' |
− | + | '''Sahlins im WWW:''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html [https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html [2]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml [https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml [3]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html [https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html [4]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml [1] https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml [1] https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html [2] https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html [2] https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html]<br/> | ||
Line 4,515: | Line 4,036: | ||
===4.3.3.1 Beispiel Tausch=== | ===4.3.3.1 Beispiel Tausch=== | ||
+ | ---- | ||
Ausgehend von einer substantivistischen Sicht der Ökonomie stellt | Ausgehend von einer substantivistischen Sicht der Ökonomie stellt | ||
− | Sahlins in | + | Sahlins in 'On the Sociology of Primitive Exchange' (1965/1972) die |
− | These auf, dass | + | These auf, dass '''ein Tausch nicht ein eigenständiges Ereignis, sondern |
− | eine Momentaufnahme aus einer kontinuierlichen sozialen Beziehung ist | + | eine Momentaufnahme aus einer kontinuierlichen sozialen Beziehung ist'''. |
Materielle Transaktionen sind Teil von sozialen Beziehungen, sie lassen | Materielle Transaktionen sind Teil von sozialen Beziehungen, sie lassen | ||
sich nicht isoliert betrachten. "If friends make gifts, gifts make | sich nicht isoliert betrachten. "If friends make gifts, gifts make | ||
friends" (1972: 186). | friends" (1972: 186). | ||
− | Sahlins übernimmt | + | Sahlins übernimmt '''Polanyis Begriffe''' der '''Reziprozität[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität|[1]]]''' und |
− | der | + | der '''Redistribution[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution|[2]]]''' (oder 'pooling'), verfeinert sie jedoch und |
erstellt eine detaillierte Klassifikation: | erstellt eine detaillierte Klassifikation: | ||
+ | '''Reziprozität''' ist eine 'between relation', sie erfordert das | ||
+ | Vorhandensein von zwei Parteien. | ||
[[File:theogrundlagen-283_1.gif|frame|center]] | [[File:theogrundlagen-283_1.gif|frame|center]] | ||
− | |||
− | |||
+ | '''Redistribution''' ist eine 'within relation', sie verlangt kollektive | ||
+ | Handlungen innerhalb einer Gruppe. | ||
[[File:theogrundlagen-283_2.gif|frame|center]] | [[File:theogrundlagen-283_2.gif|frame|center]] | ||
− | |||
− | |||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität|[1] Siehe Kapitel 4.3.1.2.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität|[1] Siehe Kapitel 4.3.1.2.1]]<br/> | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution|[2] Siehe Kapitel 4.3.1.2.2]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution|[2] Siehe Kapitel 4.3.1.2.2]]<br/> | ||
Line 4,545: | Line 4,068: | ||
====4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins==== | ====4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins==== | ||
+ | ---- | ||
− | + | '''Karl Polanyi''' war der Ansicht, dass die Interaktion in reziproken | |
Austauschbeziehungen grundsätzlich symmetrisch verlaufen würde. | Austauschbeziehungen grundsätzlich symmetrisch verlaufen würde. | ||
− | + | '''Sahlins''' bezweifelt das und '''unterscheidet in''': | |
− | + | '''Generalisierte Reziprozität, Balancierte Reziprozität, Negative | |
− | Reziprozität. | + | Reziprozität.''' |
Diese Einteilung trifft er anhand von drei Kriterien | Diese Einteilung trifft er anhand von drei Kriterien | ||
− | + | * Zeitpunkt der Rückgabe | |
− | + | * Äquivalenz der Gegengabe | |
− | + | * Materielle und nicht-materielle Dimensionen des Austauschs. | |
− | 1. | + | 1. '''Generalisierte Reziprozität:''' |
− | + | '''A''' gibt eine Gabe/Leistung an '''B''', die Beziehung bleibt aufrecht, | |
− | auch wenn von | + | auch wenn von '''B''' lange nichts zurückkommt. Typischer Fall: Beziehung |
zwischen Eltern und Kinder. Die Eltern bezahlen eine | zwischen Eltern und Kinder. Die Eltern bezahlen eine | ||
"Versicherungsprämie" an die Kinder (Unterhalt, Ausbildung) und | "Versicherungsprämie" an die Kinder (Unterhalt, Ausbildung) und | ||
erhalten die "Versicherungssumme" zurück, wenn sie alt und | erhalten die "Versicherungssumme" zurück, wenn sie alt und | ||
pflegebedürftig sind. | pflegebedürftig sind. | ||
− | |||
− | |||
Die "Gabe" erscheint "interesselos", der Zeitpunkt der Rückgabe ist | Die "Gabe" erscheint "interesselos", der Zeitpunkt der Rückgabe ist | ||
Line 4,574: | Line 4,096: | ||
nicht-materielle Dimension des Austauschs (z.B. "Elternliebe") steht | nicht-materielle Dimension des Austauschs (z.B. "Elternliebe") steht | ||
im Vordergrund. | im Vordergrund. | ||
+ | [[File:theogrundlagen-284_1.gif|frame|center]] | ||
+ | 2. '''Balancierte Reziprozität:''' | ||
− | + | Güter und Leistungen wandern symmetrisch und äquivalent von '''A''' zu | |
− | + | '''B''' und von '''B''' zu '''A'''. | |
− | Güter und Leistungen wandern symmetrisch und äquivalent von | ||
− | |||
− | |||
− | |||
Typischer Fall Tauschhandel: | Typischer Fall Tauschhandel: | ||
Line 4,593: | Line 4,113: | ||
aus. Diese Art der Transaktion ist im Gegensatz zum Tauschhandel | aus. Diese Art der Transaktion ist im Gegensatz zum Tauschhandel | ||
gänzlich nicht-ökonomisch. | gänzlich nicht-ökonomisch. | ||
+ | [[File:theogrundlagen-284_2.gif|frame|center]] | ||
+ | 3. '''Negative Reziprozität:''' | ||
− | + | '''A''' gibt unfreiwillig durch z.B. Raub oder Diebstahl, '''B''' gibt | |
− | |||
− | |||
nichts (z. B. Stämme überfallen einander und rauben sich die Frauen und | nichts (z. B. Stämme überfallen einander und rauben sich die Frauen und | ||
anderes). | anderes). | ||
− | + | '''Negative Reziprozität ist im formalistischen Sinn am ökonomischsten''': | |
− | |||
− | |||
In einer Situation gegensätzlicher Interessen versuchen Individuen oder | In einer Situation gegensätzlicher Interessen versuchen Individuen oder | ||
Gruppen ihren Nutzen auf Kosten anderer zu maximieren. | Gruppen ihren Nutzen auf Kosten anderer zu maximieren. | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-284_3.gif|frame|center]] | |
− | + | '''Sahlins geht nun davon aus, dass in den meisten Gesellschaften alle | |
− | drei Formen gleichermaßen vorkommen | + | drei Formen gleichermaßen vorkommen''' und auch, dass es fließende |
Übergänge zwischen ihnen gibt. Er ist auch der Ansicht, dass diese drei | Übergänge zwischen ihnen gibt. Er ist auch der Ansicht, dass diese drei | ||
− | Formen überall moralisch bewertet sind: | + | Formen überall moralisch bewertet sind: |
− | positive and negative in a moral sense. The intervals between them are | + | <blockquote>The extremes are notably positive and negative in a moral sense. The intervals between them are not merely so many gradations of material balance in exchange, they are intervals of sociability. The distance between poles of reciprocity is, among other things, social distance" (Sahlins 1972: 191).</blockquote> |
− | not merely so many gradations of material balance in exchange, they are | ||
− | intervals of sociability. The distance between poles of reciprocity is, | ||
− | among other things, social distance" | ||
− | |||
− | |||
====4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins==== | ====4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins==== | ||
− | + | ---- | |
Wenn alle Formen der Reziprozität in fast allen Gesellschaften inklusive | Wenn alle Formen der Reziprozität in fast allen Gesellschaften inklusive | ||
unserer vorkommen, stellt sich die Frage, ob es Regelmäßigkeiten im | unserer vorkommen, stellt sich die Frage, ob es Regelmäßigkeiten im | ||
− | Auftreten der drei Formen gibt. | + | Auftreten der drei Formen gibt. '''Sahlins meint''' ja: '''Die soziale |
− | Distanz bestimmt den Tauschmodus | + | Distanz bestimmt den Tauschmodus'''. |
− | + | '''==> Je enger das verwandtschaftliche Verhältnis und je geringer die | |
− | räumliche Entfernung, umso generalisierter ist der Austausch. | + | räumliche Entfernung, umso generalisierter ist der Austausch.''' |
==> Sind keinerlei verwandtschaftliche, tribale oder räumliche | ==> Sind keinerlei verwandtschaftliche, tribale oder räumliche | ||
Line 4,631: | Line 4,144: | ||
Reziprozität um. | Reziprozität um. | ||
− | + | '''Nach Sahlins inkludiert dies auch die Moral''': Moralische Normen sind | |
− | |||
− | |||
meist situativ und relativ, nicht abstrakt und universell. Handlungen | meist situativ und relativ, nicht abstrakt und universell. Handlungen | ||
sind daher nicht "an sich" gut oder böse, sondern es hängt auch davon | sind daher nicht "an sich" gut oder böse, sondern es hängt auch davon | ||
Line 4,639: | Line 4,150: | ||
den meisten Gesellschaften als schwere Verfehlung betrachtet, außerhalb | den meisten Gesellschaften als schwere Verfehlung betrachtet, außerhalb | ||
der Gruppe aber bewundert. | der Gruppe aber bewundert. | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-285_1.gif|frame|center|Quelle: Sahlins (1972: 199)]] | |
− | |||
====4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität==== | ====4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität==== | ||
+ | ---- | ||
− | + | '''Sahlins' Modell der mit wachsender sozialer und räumlicher Entfernung | |
abnehmenden generalisierten Reziprozität wurde z.B. von Tim Ingold | abnehmenden generalisierten Reziprozität wurde z.B. von Tim Ingold | ||
− | (1986) kritisiert und weiter entwickelt. | + | (1986) kritisiert und weiter entwickelt.''' Ingold argumentiert, dass |
negative Reziprozität unabhängig ist von verwandtschaftlicher | negative Reziprozität unabhängig ist von verwandtschaftlicher | ||
Entfernung. Es lässt sich ethnographisch belegen, dass "positive" und | Entfernung. Es lässt sich ethnographisch belegen, dass "positive" und | ||
Line 4,653: | Line 4,164: | ||
genau so wie es im Kontakt mit anderen Gesellschaften nicht nur den | genau so wie es im Kontakt mit anderen Gesellschaften nicht nur den | ||
Diebstahl, sondern auch das Geschenk, den Vertrag, etc. gibt. | Diebstahl, sondern auch das Geschenk, den Vertrag, etc. gibt. | ||
− | |||
− | |||
Sowohl Sahlins' Modell als auch Ingolds Variation davon werden durch | Sowohl Sahlins' Modell als auch Ingolds Variation davon werden durch | ||
Line 4,660: | Line 4,169: | ||
Hierarchisierung z.B. wirken auf die Tauschmodi ein und verändern sie in | Hierarchisierung z.B. wirken auf die Tauschmodi ein und verändern sie in | ||
Richtung Redistributionsmodi (vgl.: Gregory 1998: 924f). | Richtung Redistributionsmodi (vgl.: Gregory 1998: 924f). | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-286_1.gif|frame|center|Quelle: Ingold (1986: 232)]] | |
− | |||
===4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society=== | ===4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society=== | ||
+ | ---- | ||
+ | [[File:theogrundlagen-287_1.jpg|frame|right|!Kung San: JägerInnen und SammerInnen-Gemeinschaften im südlichen Afrika. Quelle: '''https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html [https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html [1]]''']] | ||
− | + | Als Angriff auf den 'homo oeconomicus' par excellence gilt '''Sahlins' | |
− | + | Aufsatz über die ursprüngliche Überflussgesellschaft''', in erster | |
− | Als Angriff auf den | ||
− | Aufsatz über die ursprüngliche Überflussgesellschaft | ||
Fassung 1968 auf Französisch publiziert. Der Mainstream der | Fassung 1968 auf Französisch publiziert. Der Mainstream der | ||
Anthropologie der damaligen Zeit war einhellig der Ansicht, dass Jäger- | Anthropologie der damaligen Zeit war einhellig der Ansicht, dass Jäger- | ||
Line 4,679: | Line 4,187: | ||
beschränken. | beschränken. | ||
− | + | '''Argumentation:''' | |
− | + | * Annahme seit '''Adam Smith[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[2]]]''' und länger: Bedürfnisse sind unendlich, aber die Mittel knapp. | |
− | |||
− | + | * Tragödie der Konsumgesellschaft: es sind so viele Güter verfügbar und nur wenige kann man erreichen. Jede Entscheidung für etwas, bedeutet gleichzeitig Verzicht auf etwas anderes. | |
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
− | ==> | + | ==> '''Sahlins dagegen:Was ist, wenn Bedürfnisse sehr beschränkt, die |
Mittel, diese zu befriedigen aber unendlich und im Überfluss vorhanden | Mittel, diese zu befriedigen aber unendlich und im Überfluss vorhanden | ||
− | sind? | + | sind?''' |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html [1] https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html [1] https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html]<br/> | ||
[[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[2] Siehe Kapitel 1.3.2]]<br/> | [[Vorlaeufer/Klassiker#1.3.2 Adam Smith|[2] Siehe Kapitel 1.3.2]]<br/> | ||
Line 4,702: | Line 4,205: | ||
====4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San==== | ====4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San==== | ||
− | + | ---- | |
− | [[File:theogrundlagen-288_1.jpg|frame|right|!Kung San. Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-288_1.jpg|frame|right|!Kung San. Quelle: '''https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg [https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg [1]]''']] |
Sahlins legt nun neues ethnographisches Material dar: Richard Lees | Sahlins legt nun neues ethnographisches Material dar: Richard Lees | ||
Studien über die !Kung San in der Kalahari. | Studien über die !Kung San in der Kalahari. | ||
− | + | '''Lee begleitete 1969 vier Wochen lang ein Gruppe Dobe !Kung''' und | |
zeichnete auf, welche Kalorienmenge in welcher Zeit erwirtschaftet und | zeichnete auf, welche Kalorienmenge in welcher Zeit erwirtschaftet und | ||
verbraucht wurde. | verbraucht wurde. | ||
Line 4,727: | Line 4,230: | ||
Auf die Frage, warum sie ihre Lebensweise nicht den umgebenden | Auf die Frage, warum sie ihre Lebensweise nicht den umgebenden | ||
Ackerbauern und Viehzüchtern anpassten, erhielt Lee zur Antwort: "Why | Ackerbauern und Viehzüchtern anpassten, erhielt Lee zur Antwort: "Why | ||
− | should we plant, when there are so many | + | should we plant, when there are so many 'mongomongo nuts' in the |
world?" (Lee 1968: 33 zit. Nach Sahlins 1972: 27). | world?" (Lee 1968: 33 zit. Nach Sahlins 1972: 27). | ||
Line 4,744: | Line 4,247: | ||
Wert. | Wert. | ||
− | + | '''Sahlins schließt daraus: Nomadismus ist keine Flucht vor Hunger!''' | |
Mobilität und Mäßigung bringen die Ziele der Jäger mit ihren technischen | Mobilität und Mäßigung bringen die Ziele der Jäger mit ihren technischen | ||
Möglichkeiten zusammen (Sahlins 1972: 34). | Möglichkeiten zusammen (Sahlins 1972: 34). | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg [1] https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg]<br/> | [https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg [1] https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg]<br/> | ||
Line 4,754: | Line 4,258: | ||
====4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion==== | ====4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-300_1.jpg|frame|right|Leonard Holman "Homeless, San Francisco" (digital enhanced photography). Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html [https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html [1]]''']] | |
− | Arbeit ermöglicht. | + | '''Jede technische Innovation hat nicht Arbeit erspart, sondern mehr |
+ | Arbeit ermöglicht.''' Die Menge der Arbeit pro Kopf wächst mit der | ||
Entwicklung der Kultur. | Entwicklung der Kultur. | ||
Line 4,767: | Line 4,272: | ||
zur Natur und enteignend in Beziehung zum Menschen. | zur Natur und enteignend in Beziehung zum Menschen. | ||
− | + | '''Armut ist keine Beziehung zur Natur, sie ist ein Verhältnis zwischen | |
− | Menschen! | + | Menschen!''' |
Polemisches Ende dieses Aufsatzes: Als die Kultur sich dem Höhepunkt der | Polemisches Ende dieses Aufsatzes: Als die Kultur sich dem Höhepunkt der | ||
materiellen Errungenschaften näherte, errichtete sie einen Schrein für | materiellen Errungenschaften näherte, errichtete sie einen Schrein für | ||
− | das Unerreichbare: " | + | das Unerreichbare: "'Infinite Needs'" (Sahlins 1972: 39). |
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html [1] https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html [1] https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html]<br/> | ||
Line 4,782: | Line 4,286: | ||
====4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse==== | ====4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse==== | ||
+ | ---- | ||
Sahlins' Portrait der ursprünglichen Überflussgesellschaften verleitet | Sahlins' Portrait der ursprünglichen Überflussgesellschaften verleitet | ||
Line 4,787: | Line 4,292: | ||
werden z.B. über Afrika in Weltbank- und UNO-Berichten vertreten. | werden z.B. über Afrika in Weltbank- und UNO-Berichten vertreten. | ||
− | + | '''Gerd Spittler bringt beide Theorien auf den Punkt:''' | |
− | + | <blockquote>Zwei Theorien stehen sich hier gegenüber, beide haben sie eine lange Tradition. Die eine geht davon aus, daß vorindustrielle Gesellschaften Mangelgesellschaften sind. Ihre geringe Güterausstattung verdammt sie zu Armut und Elend, und sie warten nur darauf, durch die Segnungen der Industrialisierung erlöst zu werden. Die andere Theorie geht von der Prämisse aus, daß die geringe Güterausstattung kein Ausdruck von Mangel ist, sonder den einfachen Bedürfnissen dieser Menschen entspricht." (Spittler 1991: 66)</blockquote> | |
− | Tradition. Die eine geht davon aus, daß vorindustrielle Gesellschaften | ||
− | Mangelgesellschaften sind. Ihre geringe Güterausstattung verdammt sie zu | ||
− | Armut und Elend, und sie warten nur darauf, durch die Segnungen der | ||
− | Industrialisierung erlöst zu werden. Die andere Theorie geht von der | ||
− | Prämisse aus, daß die geringe Güterausstattung kein Ausdruck von Mangel | ||
− | ist, sonder den einfachen Bedürfnissen dieser Menschen entspricht." | ||
− | (Spittler 1991: 66) | ||
− | + | '''Spittler''' plädiert in der Folge für ein differenziertes Bild und für | |
eine Unterscheidung der Sachverhalte: | eine Unterscheidung der Sachverhalte: | ||
Line 4,809: | Line 4,307: | ||
d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion | d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion | ||
− | + | '''a) Einfache und begrenzte Bedürfnisse''' | |
Einfache Bedürfnisse entsprechen in etwa dem, was Sahlins in seiner | Einfache Bedürfnisse entsprechen in etwa dem, was Sahlins in seiner | ||
Line 4,819: | Line 4,317: | ||
Bedürfnisse "werden begrenzt". | Bedürfnisse "werden begrenzt". | ||
− | + | '''b) Mangel, der aber nicht mit Armut gleichzusetzen ist''' | |
Mangel ohne Armut setzt Spittler mit Gesellschaften in Verbindung, die | Mangel ohne Armut setzt Spittler mit Gesellschaften in Verbindung, die | ||
Line 4,830: | Line 4,328: | ||
Form gibt. | Form gibt. | ||
− | + | '''c) Armut im Rahmen von einfachen Bedürfnissen''' | |
Armut trotz einfacher Bedürfnisse tritt dann auf, wenn selbst einfache | Armut trotz einfacher Bedürfnisse tritt dann auf, wenn selbst einfache | ||
Line 4,837: | Line 4,335: | ||
Not. | Not. | ||
− | + | '''d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion''' | |
Die moderne Armut beruht auf gestiegenen Ansprüchen ohne Aussicht auf | Die moderne Armut beruht auf gestiegenen Ansprüchen ohne Aussicht auf | ||
Line 4,853: | Line 4,351: | ||
haben. | haben. | ||
− | Spittler setzt dem entgegen: | + | Spittler setzt dem entgegen: <blockquote>Ich vertrete die These, daß der Prozeß umgekehrt verläuft, wie es Lerner postuliert. Es sind nicht durch Kommunikation bewirkte neue Bedürfnisse, die bei Nichterfüllung zu Armut und Marginalisierung führen, sondern der Prozeß beginnt mit der Marginalisierung. Dabei wird das traditionelle Wertesystem aufgelöst, und die neuen Bedürfnisse der modernen Welt werden übernommen." (Spittler 1991: 83)</blockquote> |
− | umgekehrt verläuft, wie es Lerner postuliert. Es sind nicht durch | ||
− | Kommunikation bewirkte neue Bedürfnisse, die bei Nichterfüllung zu Armut | ||
− | und Marginalisierung führen, sondern der Prozeß beginnt mit der | ||
− | Marginalisierung. Dabei wird das traditionelle Wertesystem aufgelöst, | ||
− | und die neuen Bedürfnisse der modernen Welt werden übernommen." | ||
− | (Spittler 1991: 83) | ||
Am Beispiel der Errichtung von Schulen zeigt er, dass plötzlich alle, | Am Beispiel der Errichtung von Schulen zeigt er, dass plötzlich alle, | ||
Line 4,866: | Line 4,358: | ||
neuen Behörden und ihren sich vervielfachenden Verwaltungsakten | neuen Behörden und ihren sich vervielfachenden Verwaltungsakten | ||
ausgesetzt! | ausgesetzt! | ||
− | |||
− | |||
===4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production=== | ===4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production=== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-302_1.jpg|frame|right|Viele indigene Gemeinschaften des Amazonasraums (z.B. die Achuar) können dem "Domestic Mode of Production" zugeordnet werden. Foto: Elke Mader]] | |
+ | '''Marshall Sahlins(1972) zeigt weiters, dass in vielen kleinen, | ||
überschaubaren (= wenig stratifizierten) Gesellschaften die | überschaubaren (= wenig stratifizierten) Gesellschaften die | ||
− | Produktionsweise auf den Haushalt beschränkt ist. | + | Produktionsweise auf den Haushalt beschränkt ist.''' Dieser ist eine |
Produktionseinheit von mehreren Generationen. In der Hausgemeinschaft | Produktionseinheit von mehreren Generationen. In der Hausgemeinschaft | ||
gibt es Arbeitsteilung, jedoch nicht nach Kenntnissen, sondern nach | gibt es Arbeitsteilung, jedoch nicht nach Kenntnissen, sondern nach | ||
Line 4,883: | Line 4,374: | ||
noch die Arbeitskraft werden voll ausgenützt. Arbeit und bearbeitete | noch die Arbeitskraft werden voll ausgenützt. Arbeit und bearbeitete | ||
Fläche ändern sich im Verhältnis Produzenten zu Konsumenten ==> | Fläche ändern sich im Verhältnis Produzenten zu Konsumenten ==> | ||
− | + | '''Tschajanow's Gesetz'''. | |
Nicht nur für russische Bauern der Zarenzeit gilt: Die Produktion passt | Nicht nur für russische Bauern der Zarenzeit gilt: Die Produktion passt | ||
Line 4,892: | Line 4,383: | ||
Seither gab es verschiedene Versuche, den Eigenheiten der Häuslichen | Seither gab es verschiedene Versuche, den Eigenheiten der Häuslichen | ||
− | Produktionsweise auf die Spur zu kommen ==> | + | Produktionsweise auf die Spur zu kommen ==> '''Peasant societies'''. |
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
==4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ==4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur== | ||
Line 4,903: | Line 4,390: | ||
Cultural Anthropology.* London, New York: Routledge. | Cultural Anthropology.* London, New York: Routledge. | ||
− | Carrier, James G. (Hg.) 2005: | + | Carrier, James G. (Hg.) 2005: 'A Handbook of Economic Anthropology.' |
Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar. | Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar. | ||
Line 4,913: | Line 4,400: | ||
Life.* London, New York: Routledge, S. 911-939. | Life.* London, New York: Routledge, S. 911-939. | ||
− | Halperin, Rhoda H. 1994: | + | Halperin, Rhoda H. 1994: 'Cultural Economies Past and Present.' Austin: |
University of Texas Press. | University of Texas Press. | ||
Line 4,924: | Line 4,411: | ||
Karl, Polanyi 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton | Karl, Polanyi 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton | ||
− | (Hg.) | + | (Hg.) 'Primitive, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi.' |
New York: Anchor Books, Doubleday & Company, INC., S. 139-174. | New York: Anchor Books, Doubleday & Company, INC., S. 139-174. | ||
Line 4,931: | Line 4,418: | ||
Frankfurt am Main: Suhrkamp. | Frankfurt am Main: Suhrkamp. | ||
− | --- 1979: | + | --- 1979: 'Ökonomie und Gesellschaft.' Frankfurt am Main: Suhrkamp. |
Polanyi, Karl; Arensberg, Conrad M.; Pearson, Harry W. (Hrsg.) 1957: | Polanyi, Karl; Arensberg, Conrad M.; Pearson, Harry W. (Hrsg.) 1957: | ||
− | + | 'Trade and Market in the Early Empires.' New York: Free Press. | |
Richards, Audrey 1995 (1939): *Land, Labour and Diet in Northern | Richards, Audrey 1995 (1939): *Land, Labour and Diet in Northern | ||
Line 4,940: | Line 4,427: | ||
Sahlins, Marshall 1965: On the Sociology of Primitive Exchange. In M. | Sahlins, Marshall 1965: On the Sociology of Primitive Exchange. In M. | ||
− | Banton (Hg.) | + | Banton (Hg.) 'Stone Age Economics.' London: Tavistock, S. 185-275. |
− | --- 1972: | + | --- 1972: 'Stone Age Ecomomics.' London: Tavistock Publications Limited. |
Spittler, Gerd 1991: "Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse." | Spittler, Gerd 1991: "Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse." | ||
− | + | 'Zeitschrift für Ethnologie' 116: S. 65-89. | |
− | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/> ''' | + | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]]<br/>''' |
---- | ---- | ||
[[#4.3 Substantivisten|↑ Nach oben]]<br/> | [[#4.3 Substantivisten|↑ Nach oben]]<br/> | ||
− | [[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht] | + | '''[[Theoretische_Grundlagen_der_Ökonomischen_Anthropologie#Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie|↵ Zurück zur Übersicht]'''<br/> |
=5 Neomarxismus= | =5 Neomarxismus= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
+ | <div><ul> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-227_1.jpg|thumb|none|Produktion von Töpferwaren in Nepal. Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-227_2.jpg|thumb|none|Produktion von Töpferwaren in Nepal. Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | </ul></div> | ||
− | + | Im Zentrum einer '''Politischen Ökonomie aus marxistischer Perspektive''' | |
− | + | steht das Konzept der '''Produktionsweise'''. Daraus ergeben sich | |
− | + | einerseits die '''Fokussierung auf Produktion''' und andererseits die | |
− | Im Zentrum einer | + | Betonung der '''Bedeutung von Geschichte'''. Die Politische Ökonomie ist |
− | steht das Konzept der | + | Teil einer "'broad Enlightenment metanarrative of progress'" (Robotham |
− | einerseits die | ||
− | Betonung der | ||
− | Teil einer " | ||
2005: 41). Einzelne Gesellschaften werden in einem breiteren Kontext der | 2005: 41). Einzelne Gesellschaften werden in einem breiteren Kontext der | ||
sozialen Evolution untersucht. | sozialen Evolution untersucht. | ||
Line 4,977: | Line 4,465: | ||
verpönt (Graeber 2001: 24). | verpönt (Graeber 2001: 24). | ||
− | In Frankreich änderte sich dies durch den Philosophen | + | In Frankreich änderte sich dies durch den Philosophen '''Louis |
− | Althusser | + | Althusser''' in den 1960er Jahren. Er plädierte für eine flexiblere |
Begrifflichkeit rund um das Marx'sche Konzept der Produktionsweisen. | Begrifflichkeit rund um das Marx'sche Konzept der Produktionsweisen. | ||
− | Dies wurde von Sozialanthropologen wie | + | Dies wurde von Sozialanthropologen wie '''Meillassoux[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.1 Claude Meillassoux|[1]]]''', |
− | + | '''Terray[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.3 Emmanuel Terray|[2]]]''''' und '''Godelier''[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.2 Maurice Godelier|[3]]]''' aufgegriffen und ausgebaut. | |
− | Aus dieser | + | Aus dieser '''marxistischen Perspektive''' heraus argumentierten sie, dass |
− | + | '''sowohlFormalisten wie Substantivisten[[Neoklassik/Der_Grosse_Streit#3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit|[4]]]unrecht hätten''', da beide | |
den Ausgangspunkt für ökonomisches Handeln im Austausch und der | den Ausgangspunkt für ökonomisches Handeln im Austausch und der | ||
Distribution sehen. | Distribution sehen. | ||
Line 4,999: | Line 4,487: | ||
Diese gingen von "einer Gesellschaft" aus, und stellten sich dann die | Diese gingen von "einer Gesellschaft" aus, und stellten sich dann die | ||
Frage, wie diese Gesellschaft zusammen gehalten wird. Geschichte hatte | Frage, wie diese Gesellschaft zusammen gehalten wird. Geschichte hatte | ||
− | für sie wenig Bedeutung. | + | für sie wenig Bedeutung. '''Marxistische Ansätze, die sich mit |
Produktionsweisen auseinander setzen, wollen immer auch die Geschichte | Produktionsweisen auseinander setzen, wollen immer auch die Geschichte | ||
der Produktionsweisen, wie sich bestimmte Formen von Ausbeutung und | der Produktionsweisen, wie sich bestimmte Formen von Ausbeutung und | ||
− | Herrschaft entwickelt haben, nachzeichnen | + | Herrschaft entwickelt haben, nachzeichnen''' (vgl. Graeber 2001: 24; |
Robotham 2005). | Robotham 2005). | ||
In den USA gingen insbesondere Schüler des Neoevolutionisten und | In den USA gingen insbesondere Schüler des Neoevolutionisten und | ||
− | Kulturökologen | + | Kulturökologen '''Julian Steward''' (link) der Frage nach der Geschichte |
− | nicht-industrieller Produktionsweisen nach. Anthropologen wie | + | nicht-industrieller Produktionsweisen nach. Anthropologen wie '''Eric |
− | Wolf[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[5]]] | + | Wolf[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[5]]]''''' oder '''Sidney Mintz''[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[6]]]''' stellten dabei die Verflechtungen |
der kapitalistischen mit nicht-kapitalistischen Produktionsweisen in den | der kapitalistischen mit nicht-kapitalistischen Produktionsweisen in den | ||
Vordergrund. | Vordergrund. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.1 Claude Meillassoux|[1] Siehe Kapitel 5.2.1]]<br/> | [[Neomarxismus/Frankreich#5.2.1 Claude Meillassoux|[1] Siehe Kapitel 5.2.1]]<br/> | ||
[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.3 Emmanuel Terray|[2] Siehe Kapitel 5.2.3]]<br/> | [[Neomarxismus/Frankreich#5.2.3 Emmanuel Terray|[2] Siehe Kapitel 5.2.3]]<br/> | ||
Line 5,047: | Line 4,536: | ||
:::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt]]<br/> | :::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt]]<br/> | ||
::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff|5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff]]<br/> | ::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff|5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff]]<br/> | ||
− | :::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als | + | :::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation|5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation]]<br/> |
:::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4 Warenströme|5.3.1.1.2.4 Warenströme]]<br/> | :::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4 Warenströme|5.3.1.1.2.4 Warenströme]]<br/> | ||
::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika|5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika]]<br/> | ::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika|5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika]]<br/> | ||
Line 5,074: | Line 4,563: | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus|4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus#4 Institutionalismus und Substantivismus|4 Institutionalismus und Substantivismus]]<br/> | ||
[[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | [[Neomarxismus#5 Neomarxismus|5 Neomarxismus]]<br/> | ||
+ | |||
+ | |||
+ | |||
'''[[Neomarxismus/Vergleich#5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich| Nächstes Kapitel: 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich]]<br/>''' | '''[[Neomarxismus/Vergleich#5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich| Nächstes Kapitel: 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich]]<br/>''' | ||
Line 5,080: | Line 4,572: | ||
− | [[Neomarxismus#5 Neomarxismus| Vorheriges Kapitel: 5 Neomarxismus]]<br/> | + | '''[[Neomarxismus#5 Neomarxismus| Vorheriges Kapitel: 5 Neomarxismus]]'''<br/> |
=5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich= | =5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
Line 5,087: | Line 4,579: | ||
Frankreich und eine in Amerika (vgl. Wilk 1996: 92ff). | Frankreich und eine in Amerika (vgl. Wilk 1996: 92ff). | ||
− | + | '''Gemeinsamkeiten:''' | |
− | + | * Ausgangspunkt: materielles System der Produktion und Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel | |
− | + | * Fokus auf Fragen der Macht und der Ausbeutung | |
− | + | * Auseinandersetzung mit Konflikt und Wandel | |
− | + | * Analyse von Handlungen und Ereignissen als politische Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen, die durch die Kontrolle über Eigentum entschieden werden | |
− | |||
− | |||
− | |||
− | + | '''Unterschiede:''' | |
− | + | * Frankreich: strukturalistisch beeinflusst | |
− | + | * USA: stark historisch orientiert | |
− | |||
− | |||
− | |||
Line 5,113: | Line 4,599: | ||
− | [[Neomarxismus/Vergleich#5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich| Vorheriges Kapitel: 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich]]<br/> | + | '''[[Neomarxismus/Vergleich#5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich| Vorheriges Kapitel: 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich]]'''<br/> |
=5.2 Französische VertreterInnen= | =5.2 Französische VertreterInnen= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
Line 5,119: | Line 4,605: | ||
Die marxistisch orientierte Gruppe in Frankreich, zu der mit Ausnahme | Die marxistisch orientierte Gruppe in Frankreich, zu der mit Ausnahme | ||
von Maurice Godelier vor allem Afrikaspezialisten gehören, wird aufgrund | von Maurice Godelier vor allem Afrikaspezialisten gehören, wird aufgrund | ||
− | des | + | des '''starken Einflusses des Strukturalismus'* auch als ''Structural |
− | Marxists* | + | Marxists'*' (Robotham 2005: 42f; Wilk 1996: 86) bezeichnet. |
Das Spezifische dieser Gruppe besteht in der Kombination von | Das Spezifische dieser Gruppe besteht in der Kombination von | ||
Line 5,129: | Line 4,615: | ||
der 1960er Jahre versuchte man die ethnographischen Fakten in | der 1960er Jahre versuchte man die ethnographischen Fakten in | ||
vorgefertigte theoretische Schemen zu pressen. Anthropologen wie | vorgefertigte theoretische Schemen zu pressen. Anthropologen wie | ||
− | + | '''Claude Meillassoux, Maurice Godelier, Emmanuel Terray, Pierre-Phillip | |
− | Rey, Georges Dupré oder Marc Augé | + | Rey, Georges Dupré oder Marc Augé''' sehen die Feldforschung als |
notwendigen Ausgangspunkt für Theorienbildung. Sie legen daher auch | notwendigen Ausgangspunkt für Theorienbildung. Sie legen daher auch | ||
feinkörnige und detailreiche ethnographische Beschreibungen der | feinkörnige und detailreiche ethnographische Beschreibungen der | ||
Line 5,158: | Line 4,644: | ||
==5.2.1 Claude Meillassoux== | ==5.2.1 Claude Meillassoux== | ||
− | [[File:theogrundlagen-230_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-230_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [1]]''']] |
− | + | '''Claude Meillassoux (1925 -- 2005)''' | |
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1964: Anthropologie économique des Gouro de Côte d'Ivoire | 1964: Anthropologie économique des Gouro de Côte d'Ivoire | ||
Line 5,168: | Line 4,654: | ||
1975: Femmes, greniers et capitaux | 1975: Femmes, greniers et capitaux | ||
− | + | '''Claude Meillassoux wird als Begründer der Ökonomischen Anthropologie | |
− | in Frankreich bezeichnet | + | in Frankreich bezeichnet''' (vgl. Copans 2005: 1). Er studierte zuerst in |
den USA Ökonomie, dann bei Georges Balandier in Paris, welcher eine | den USA Ökonomie, dann bei Georges Balandier in Paris, welcher eine | ||
gegenwartsbezogene, problemorientierte Afrikaforschung initiierte. | gegenwartsbezogene, problemorientierte Afrikaforschung initiierte. | ||
Line 5,180: | Line 4,666: | ||
politischem Engagement (Schlemmer 2004; Copans 2005). | politischem Engagement (Schlemmer 2004; Copans 2005). | ||
− | + | '''Meillassoux geht davon aus, dass die Konzepte von Marx über | |
Ausbeutung, Ideologie und Macht gleichermaßen dazu verwendet werden | Ausbeutung, Ideologie und Macht gleichermaßen dazu verwendet werden | ||
können, staatenlose Gesellschaften und Gesellschaften ohne elaborierte | können, staatenlose Gesellschaften und Gesellschaften ohne elaborierte | ||
− | politische Hierarchien zu verstehen. | + | politische Hierarchien zu verstehen.''' Er argumentiert, dass |
Verwandtschaft Teil der politischen Ökonomie ist und dass auch in | Verwandtschaft Teil der politischen Ökonomie ist und dass auch in | ||
egalitären Gesellschaften und Haushalten es Gruppen gibt, die andere | egalitären Gesellschaften und Haushalten es Gruppen gibt, die andere | ||
Line 5,190: | Line 4,676: | ||
Ausbeutung zu verstecken und zu rechtfertigen. | Ausbeutung zu verstecken und zu rechtfertigen. | ||
− | + | '''Meillassoux im WWW:''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [1]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [3]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [1] https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [1] https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2] https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm]<br/> | [https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2] https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm]<br/> | ||
Line 5,206: | Line 4,693: | ||
===5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse=== | ===5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse=== | ||
+ | ---- | ||
− | Auf Basis seiner | + | Auf Basis seiner '''Feldforschung bei den Gouro an der Elfenbeinküste''' |
− | (Cote d'Ivoire) stellt | + | (Cote d'Ivoire) stellt '''Meillassoux''' fest, dass '''Verwandtschaft eng |
− | mit den Produktions- und Distributionsverhältnissen verknüpft | + | mit den Produktions- und Distributionsverhältnissen verknüpft''' ist. |
Jagd, Viehzucht, Ackerbau für den eigenen Verbrauch, aber auch der Anbau | Jagd, Viehzucht, Ackerbau für den eigenen Verbrauch, aber auch der Anbau | ||
von Cash-Crops sind entlang der Verwandtschaft organisiert. | von Cash-Crops sind entlang der Verwandtschaft organisiert. | ||
Line 5,220: | Line 4,708: | ||
in der klassenlosen Gesellschaft der Gouro. | in der klassenlosen Gesellschaft der Gouro. | ||
− | Meillassoux definiert eine | + | Meillassoux definiert eine '''häusliche Produktionsweise''' (*domestic |
mode of production*), in der die älteren Männer die jüngeren Männer und | mode of production*), in der die älteren Männer die jüngeren Männer und | ||
die Frauen ausbeuten, in dem sie die Kontrolle über deren Arbeitskraft | die Frauen ausbeuten, in dem sie die Kontrolle über deren Arbeitskraft | ||
Line 5,226: | Line 4,714: | ||
Heiraten der Töchter und Söhne, deren Brautpreis oder Mitgift. | Heiraten der Töchter und Söhne, deren Brautpreis oder Mitgift. | ||
− | Während in der | + | Während in der '''kapitalistischen Produktionsweise''' die Abschöpfung von |
Mehrwert über das Eigentum an Produktionsmittel erfolgt, sind in der | Mehrwert über das Eigentum an Produktionsmittel erfolgt, sind in der | ||
häuslichen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrarbeit und | häuslichen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrarbeit und | ||
Line 5,235: | Line 4,723: | ||
oder Tribute. | oder Tribute. | ||
− | + | '''Für Meillassoux und Godelier ist Verwandtschaft jedenfalls ein | |
− | Machtsystem | + | Machtsystem''', über das Arbeit organisiert und die Produkte von Arbeit |
gesteuert werden. | gesteuert werden. | ||
− | + | <div><ul> | |
− | [[File:theogrundlagen-231_1.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-231_1.jpg|thumb|none|Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] </li> |
− | [[File:theogrundlagen-231_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-231_2.jpg|thumb|none|Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] </li> |
+ | </ul></div> | ||
===5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit=== | ===5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-232_1.jpg|frame|right|"Cash and Carry Ventures", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | [[File:theogrundlagen-232_1.jpg|frame|right|"Cash and Carry Ventures", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | ||
− | In den | + | In den ''"Wilden Früchten der Frauen"'' (1978) arbeitet |
− | + | '''Meillassoux''' im ersten Teil heraus, wie Produktion und Reproduktion | |
in verschiedenen Wirtschaftsweisen organisiert sind, insbesondere die | in verschiedenen Wirtschaftsweisen organisiert sind, insbesondere die | ||
− | Spezifika der | + | Spezifika der '''Haushaltswirtschaft in Getreidebaugesellschaften'''. |
Diese Produktionsform zieht ihre Stabilität aus der Fähigkeit, die | Diese Produktionsform zieht ihre Stabilität aus der Fähigkeit, die | ||
Hausgemeinschaft über Generationen hinweg auf einer ständigen | Hausgemeinschaft über Generationen hinweg auf einer ständigen | ||
Line 5,261: | Line 4,751: | ||
bleiben und wegen des Saatguts bis zur nächsten Aussaat. | bleiben und wegen des Saatguts bis zur nächsten Aussaat. | ||
− | + | <blockquote>In dieser Sicht ist der landwirtschaftliche Zyklus von einer immer wieder erneuerten Zirkulation von Vorschüssen und Rückzahlungen des Produkts zwischen den produzierenden Gruppen der aufeinander folgenden Jahreszeiten begleitet: Die Gesamtheit der Arbeiter einer Saison schießt denen der folgenden Saison Nahrung und Saatgut vor" (Meillassoux 1978: 55).</blockquote> | |
− | wieder erneuerten Zirkulation von Vorschüssen und Rückzahlungen des | ||
− | Produkts zwischen den produzierenden Gruppen der aufeinander folgenden | ||
− | Jahreszeiten begleitet: Die Gesamtheit der Arbeiter einer Saison schießt | ||
− | denen der folgenden Saison Nahrung und Saatgut vor" | ||
− | 55). | ||
Im Laufe der Zeit erfolgt ein Wechsel der Generationen, die Alten | Im Laufe der Zeit erfolgt ein Wechsel der Generationen, die Alten | ||
Line 5,276: | Line 4,761: | ||
daraus, dass die Alten den Jungen immer etwas vorschießen. | daraus, dass die Alten den Jungen immer etwas vorschießen. | ||
− | Dies entspricht auch der | + | Dies entspricht auch der '''Mauss'schen[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.2 Marcel Mauss|[1]]]''' '''Logik der Gabe''', die |
davon ausgeht, dass das Geschenk, die Gabe, immer eine Schuld begründet, | davon ausgeht, dass das Geschenk, die Gabe, immer eine Schuld begründet, | ||
die den Nehmenden in eine untergeordnete Position gegenüber den Gebenden | die den Nehmenden in eine untergeordnete Position gegenüber den Gebenden | ||
setzt. | setzt. | ||
− | + | '''Meillassoux sieht in den internen Dynamiken, die den Produktions- und | |
vor allem den Reproduktionsverhältnissen der Hauswirtschaften im | vor allem den Reproduktionsverhältnissen der Hauswirtschaften im | ||
Ackerbau inhärent sind, das Potenzial für deren Ausbeutbarkeit | Ackerbau inhärent sind, das Potenzial für deren Ausbeutbarkeit | ||
− | angelegt. | + | angelegt.''' Durch die Notwendigkeit, über das Jahr und über die |
Generationen hinweg Vorräte zu erwirtschaften, die zur Risikominimierung | Generationen hinweg Vorräte zu erwirtschaften, die zur Risikominimierung | ||
das Niveau des unbedingt Nötigen überschreiten müssen, wird Mehrarbeit | das Niveau des unbedingt Nötigen überschreiten müssen, wird Mehrarbeit | ||
Line 5,290: | Line 4,775: | ||
abschöpfbar ist. | abschöpfbar ist. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.2 Marcel Mauss|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Früh#4.2.2.2 Marcel Mauss|[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2]]<br/> | ||
Line 5,296: | Line 4,782: | ||
===5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"=== | ===5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-233_1.jpg|frame|right|"Everything is step by step", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | [[File:theogrundlagen-233_1.jpg|frame|right|"Everything is step by step", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | ||
− | Im zweiten Teil der | + | Im zweiten Teil der 'Wilden Früchte der Frauen' überprüft |
− | + | '''Meillassoux''' die '''Theorien des Lohns und der ursprünglichen | |
− | Akkumulation | + | Akkumulation''' (Meillassoux 1978: 113ff). |
− | Die Phase der ursprünglichen | + | Die Phase der ursprünglichen '''Akkumulation''' wurde von Karl Marx als |
Übergangsphase aufgefasst, in der es im Bereich der kapitalistischen | Übergangsphase aufgefasst, in der es im Bereich der kapitalistischen | ||
Produktionsweise zu einem besonders raschen Anwachsen des Kapitals | Produktionsweise zu einem besonders raschen Anwachsen des Kapitals | ||
gekommen ist. Durch den ständigen Zustrom von Arbeitskräften aus den | gekommen ist. Durch den ständigen Zustrom von Arbeitskräften aus den | ||
nicht kapitalisierten Bereichen konnten die Löhne unter den gesamten | nicht kapitalisierten Bereichen konnten die Löhne unter den gesamten | ||
− | Reproduktionskosten der | + | Reproduktionskosten der '''Arbeitskraft[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx|[1]]]''' gehalten werden. |
− | Für die von diesen Prozessen | + | Für die von diesen Prozessen '''betroffenen Menschen[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.1 Historischer Kontext|[2]]]''' bedeutete |
dies Verelendung, Enteignung, Migrationsdruck, Migration in rasch | dies Verelendung, Enteignung, Migrationsdruck, Migration in rasch | ||
wachsende Städte, entfremdete Arbeit unter meist katastrophalen | wachsende Städte, entfremdete Arbeit unter meist katastrophalen | ||
Bedingungen, Slumbildung. | Bedingungen, Slumbildung. | ||
− | Zumindest die | + | Zumindest die '''Produktion der Arbeitskraft''' als solche erfolgte im |
vorkapitalistischen Sektor. Diese Phase der ursprünglichen Akkumulation | vorkapitalistischen Sektor. Diese Phase der ursprünglichen Akkumulation | ||
wurde als Übergangszeit theoretisiert, die mit der vollständigen | wurde als Übergangszeit theoretisiert, die mit der vollständigen | ||
Durchkapitalisierung abgeschlossen sein würde. | Durchkapitalisierung abgeschlossen sein würde. | ||
− | Meillassoux (1978:116f) weist nun darauf hin, dass der | + | Meillassoux (1978:116f) weist nun darauf hin, dass der '''Bereich der |
bäuerlichen Hauswirtschaften keineswegs zur Gänze dem kapitalistischen | bäuerlichen Hauswirtschaften keineswegs zur Gänze dem kapitalistischen | ||
− | Sektor unterworfen ist | + | Sektor unterworfen ist''' und auch hinreichend viel Spielraum erhält, um |
selbst reproduktionsfähig zu sein. Bäuerliche Gesellschaften bleiben | selbst reproduktionsfähig zu sein. Bäuerliche Gesellschaften bleiben | ||
− | qualitativ von der kapitalistischen Produktionsweise verschieden, aber | + | qualitativ von der kapitalistischen Produktionsweise verschieden, aber: |
− | + | <blockquote>die allgemeinen Bedingungen der Reproduktion des sozialen Ganzen dagegen hängen nicht mehr von den der häuslichen Produktionsweise innewohnenden Determinanten ab, sondern von im kapitalistischen Sektor getroffenen Entscheidungen. Durch diesen im Wesen widersprüchlichen Prozess wird die häusliche Produktionsweise sowohl erhalten wie zerstört: Erhalten als soziale Organisationsform, die für den Imperialismus Wert produziert; zerstört, da die Ausbeutung sie allmählich ihrer Reproduktionsmittel beraubt" (Meillassoux 1978: 116).</blockquote> | |
− | dagegen hängen nicht mehr von den der häuslichen Produktionsweise | ||
− | innewohnenden Determinanten ab, sondern von im kapitalistischen Sektor | ||
− | getroffenen Entscheidungen. Durch diesen im Wesen widersprüchlichen | ||
− | Prozess wird die häusliche Produktionsweise sowohl erhalten wie | ||
− | zerstört: Erhalten als soziale Organisationsform, die für den | ||
− | Imperialismus Wert produziert; zerstört, da die Ausbeutung sie | ||
− | allmählich ihrer Reproduktionsmittel beraubt | ||
− | Durch die mehr oder weniger künstliche Aufrechterhaltung eines nicht | + | Durch die mehr oder weniger künstliche Aufrechterhaltung eines nicht vollständig durchkapitalisierten Sektors lässt sich die '''ursprüngliche Akkumulation in ein permanentes Ausbeutungsverhältnis umwandeln''', |
− | vollständig durchkapitalisierten Sektors lässt sich die | ||
− | Akkumulation in ein permanentes Ausbeutungsverhältnis umwandeln | ||
insofern als es Regionen und gesellschaftliche Bereiche gibt, die | insofern als es Regionen und gesellschaftliche Bereiche gibt, die | ||
Arbeitskräfte außerhalb der Zirkulationssphäre der reinen | Arbeitskräfte außerhalb der Zirkulationssphäre der reinen | ||
Line 5,342: | Line 4,820: | ||
Meillassoux bezieht dieses Phänomen insbesondere auf | Meillassoux bezieht dieses Phänomen insbesondere auf | ||
− | + | '''Rotationswanderungen''', wie sie beispielsweise durch das | |
− | + | '''südafrikanische Apartheidsystem''' erzwungen wurden. In den Homelands | |
wurde die häusliche Produktionsweise künstlich aufrechterhalten, um den | wurde die häusliche Produktionsweise künstlich aufrechterhalten, um den | ||
Minenarbeitern nicht die vollen Reproduktionskosten bezahlen zu müssen | Minenarbeitern nicht die vollen Reproduktionskosten bezahlen zu müssen | ||
Line 5,356: | Line 4,834: | ||
Bevölkerungsgruppen gezwungen werden. | Bevölkerungsgruppen gezwungen werden. | ||
− | + | '''Meillassoux''' hat sich damit als '''einer der ersten Anthropologen mit | |
− | Fragen der Arbeitsmigration | + | Fragen der Arbeitsmigration''' und dem Verhältnis zwischen |
kapitalistischer und häuslicher Produktionsweise befasst. Die häusliche | kapitalistischer und häuslicher Produktionsweise befasst. Die häusliche | ||
Produktionsweise geht durch die kapitalistische Produktionsweise nicht | Produktionsweise geht durch die kapitalistische Produktionsweise nicht | ||
Line 5,363: | Line 4,841: | ||
Trotz Kritik in vielen Teilbereichen wurde diese Arbeit von Meillassoux | Trotz Kritik in vielen Teilbereichen wurde diese Arbeit von Meillassoux | ||
− | sowohl in der | + | sowohl in der '''feministischen Anthropologie''' als auch in der |
− | + | '''Migrationsforschung''' und in der '''ökonomischen Anthropologie''' | |
rezipiert und weiter entwickelt. | rezipiert und weiter entwickelt. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx|[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1]]<br/> | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx|[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1]]<br/> | ||
[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.1 Historischer Kontext|[2] Siehe Kapitel 2.1.1]]<br/> | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.1 Historischer Kontext|[2] Siehe Kapitel 2.1.1]]<br/> | ||
Line 5,375: | Line 4,854: | ||
==5.2.2 Maurice Godelier== | ==5.2.2 Maurice Godelier== | ||
− | [[File:theogrundlagen-234_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-234_1.jpg|frame|right|Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html [https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html [1]]''']] |
− | + | '''Maurice Godelier (geb. 1934)''' | |
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1982: La production des Grands Hommes | 1982: La production des Grands Hommes | ||
Line 5,385: | Line 4,864: | ||
1984: L'idéel et le matériel | 1984: L'idéel et le matériel | ||
− | + | '''Maurice Godelier''' studierte zuerst Philosophie, interessierte sich | |
− | dann für Ökonomie und kam durch | + | dann für Ökonomie und kam durch '''Claude Lévi-Strauss''' zur |
− | Sozialanthropologie. Als | + | Sozialanthropologie. Als '''Schüler des marxistischen Philosophen Louis |
− | Althusser | + | Althusser''' und durch den Einfluss von Lévi-Strauss ist er stark |
strukturalistisch geprägt. Zwischen 1966 und 1988 führte Maurice | strukturalistisch geprägt. Zwischen 1966 und 1988 führte Maurice | ||
Godelier mehrere Feldforschungen bei den Baruya im Hochland | Godelier mehrere Feldforschungen bei den Baruya im Hochland | ||
Line 5,397: | Line 4,876: | ||
Über die intensive Beschäftigung mit klassenlosen Gesellschaften wie den | Über die intensive Beschäftigung mit klassenlosen Gesellschaften wie den | ||
− | + | '''Baruya''' kommt er zum Schluss, dass '''soziale Ungleichheit auch über | |
das Verwandtschaftsverhältnis und die Ideologie hergestellt werden | das Verwandtschaftsverhältnis und die Ideologie hergestellt werden | ||
− | kann | + | kann'''. Diese werden zum Produktionsverhältnis, das Alte und Junge, |
Männer und Frauen von einander trennt. Insbesondere die Frauen werden | Männer und Frauen von einander trennt. Insbesondere die Frauen werden | ||
mit ideologischen Konstruktionen ihrer Produktionsmittel beraubt. | mit ideologischen Konstruktionen ihrer Produktionsmittel beraubt. | ||
− | Es gibt nämlich | + | Es gibt nämlich '''keine Beziehung zwischen ökonomischer und politischer |
− | Macht in dieser klassenlosen Gesellschaft | + | Macht in dieser klassenlosen Gesellschaft'''. Manche Baruyamänner werden |
zwar über den Salzhandel, den Gartenbau und die Jagd reich, sie können | zwar über den Salzhandel, den Gartenbau und die Jagd reich, sie können | ||
aber diesen Reichtum nicht in Macht verwandeln und Chefs werden. | aber diesen Reichtum nicht in Macht verwandeln und Chefs werden. | ||
Line 5,415: | Line 4,894: | ||
zuordnet. | zuordnet. | ||
− | + | '''Godelier im WWW:''' | |
− | + | '''https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier [https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier [2]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html [https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html [3]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm [https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm [4]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html [1] https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html [1] https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html]<br/> | ||
[https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier]<br/> | [https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier]<br/> | ||
Line 5,432: | Line 4,912: | ||
===5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer=== | ===5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-235_1.jpg|frame|right|"Großer Mann" der Baruya, Godelier 1986, Abb. 18.]] | [[File:theogrundlagen-235_1.jpg|frame|right|"Großer Mann" der Baruya, Godelier 1986, Abb. 18.]] | ||
− | Die | + | Die '''Baruya''', ein etwa 2000 Menschen zählender Stamm im Hochgebirge |
Papua-Neuguineas, kamen 1951 erstmals mit Weißen "physisch" in | Papua-Neuguineas, kamen 1951 erstmals mit Weißen "physisch" in | ||
Berührung, waren aber bereits ein Jahrzehnt früher von deren materiellen | Berührung, waren aber bereits ein Jahrzehnt früher von deren materiellen | ||
Line 5,443: | Line 4,924: | ||
Godelier, der ab 1966 immer wieder lange und umfangreiche | Godelier, der ab 1966 immer wieder lange und umfangreiche | ||
Feldforschungen bei ihnen durchführte, fasst sein Material 1982 unter | Feldforschungen bei ihnen durchführte, fasst sein Material 1982 unter | ||
− | dem Titel | + | dem Titel ''Die Produktion der Großen Männer'*'. ''Macht und männliche |
− | Vorherrschaft bei den Baruya in Neuguinea* | + | Vorherrschaft bei den Baruya in Neuguinea'*' zusammen. Es geht ihm dabei |
explizit um die Analyse der Mechanismen und Vorstellungen, die in dieser | explizit um die Analyse der Mechanismen und Vorstellungen, die in dieser | ||
klassenlosen und bis 1960 staatenlosen Gesellschaft die männliche | klassenlosen und bis 1960 staatenlosen Gesellschaft die männliche | ||
Line 5,450: | Line 4,931: | ||
sein bedeutet nicht, dass es auch keine Ungleichheiten gibt: | sein bedeutet nicht, dass es auch keine Ungleichheiten gibt: | ||
− | + | <blockquote>Ein Teil der Gesellschaft, die Männer, lenkte den anderen, die Frauen; sie regierten die Gesellschaft zwar nicht ohne die Frauen, aber gegen sie. Damit kommt der Fall der Baruya, einer klassenlosen Gesellschaft, zu all denen hinzu, die bereits deutlich davon zeugen, daß die Ungleichheit unter den Geschlechtern, die Unterordnung, Unterdrückung, ja Ausbeutung der Frauen gesellschaftliche Realitäten sind, die nicht erst mit dem Auftauchen der Klassen entstanden, sondern schon vorher existierten, auch wenn sich die Herrschaft der Männer mit den tausend Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die den unseren vorausgingen, auf tausenderlei Arten gefestigt und erneuert hat." (Godelier 1987: 10)</blockquote> | |
− | Frauen; sie regierten die Gesellschaft zwar nicht ohne die Frauen, aber | ||
− | gegen sie. Damit kommt der Fall der Baruya, einer klassenlosen | ||
− | Gesellschaft, zu all denen hinzu, die bereits deutlich davon zeugen, daß | ||
− | die Ungleichheit unter den Geschlechtern, die Unterordnung, | ||
− | Unterdrückung, ja Ausbeutung der Frauen gesellschaftliche Realitäten | ||
− | sind, die nicht erst mit dem Auftauchen der Klassen entstanden, sondern | ||
− | schon vorher existierten, auch wenn sich die Herrschaft der Männer mit | ||
− | den tausend Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die | ||
− | den unseren vorausgingen, auf tausenderlei Arten gefestigt und erneuert | ||
− | hat." | ||
− | Auch unter den Männern sind nicht alle gleich. Obwohl es keine soziale | + | Auch unter den Männern sind nicht alle gleich. Obwohl es keine soziale Klasse gibt, die sich über eine andere erhebt, existieren doch eine Anzahl von Funktionen, verdient oder ererbt, die Große Männer hervorbringen. |
− | Klasse gibt, die sich über eine andere erhebt, existieren doch eine | ||
− | Anzahl von Funktionen, verdient oder ererbt, die Große Männer | ||
− | hervorbringen. | ||
"Die Produktion »Großer Männer« ist somit die unerläßliche Ergänzung | "Die Produktion »Großer Männer« ist somit die unerläßliche Ergänzung | ||
Line 5,474: | Line 4,942: | ||
====5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya==== | ====5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya==== | ||
+ | ---- | ||
− | Die | + | Die '''Baruya''' leben in zwei Hochtälern im '''östlichen Hochland |
− | Neuguineas | + | Neuguineas''' zwischen 1600 und 2300 Meter Seehöhe auf etwa 17 Dörfer |
verteilt. Es gibt keinen Häuptling, sondern 15 Clans, die wiederum in | verteilt. Es gibt keinen Häuptling, sondern 15 Clans, die wiederum in | ||
Lineages und diese in Segmente unterteilt sind. Die soziale Organisation | Lineages und diese in Segmente unterteilt sind. Die soziale Organisation | ||
der Clans und Untergruppen ist patrilinear und patrilokal. | der Clans und Untergruppen ist patrilinear und patrilokal. | ||
− | Die wesentlichen | + | Die wesentlichen '''Produktionszweige sind Brandrodungsfeldbau und der |
− | Anbau von Süßkartoffeln | + | Anbau von Süßkartoffeln''' in dauerhaften Gärten, sowie die |
Schweinezucht. Ergänzend kommen Jagd- und Sammelwirtschaft hinzu, die | Schweinezucht. Ergänzend kommen Jagd- und Sammelwirtschaft hinzu, die | ||
von hohem zeremoniellen Wert aber geringem Subsistenzwert sind. Große | von hohem zeremoniellen Wert aber geringem Subsistenzwert sind. Große | ||
Line 5,489: | Line 4,958: | ||
und später Stahläxte und Macheten eingetauscht wurde. | und später Stahläxte und Macheten eingetauscht wurde. | ||
− | Alle Tätigkeiten unterliegen einer strengen | + | Alle Tätigkeiten unterliegen einer strengen '''gesellschaftlichen |
− | Arbeitsteilung | + | Arbeitsteilung''' und sind einem bestimmten Geschlecht oder einer |
Altersgruppe zugewiesen. Nur die Salzproduktion bildet ein | Altersgruppe zugewiesen. Nur die Salzproduktion bildet ein | ||
spezialisiertes Handwerk, das auf technischen und magischen Geheimnissen | spezialisiertes Handwerk, das auf technischen und magischen Geheimnissen | ||
Line 5,496: | Line 4,965: | ||
durchgeführt wird. Grund und Boden ist im Besitz einer männlichen | durchgeführt wird. Grund und Boden ist im Besitz einer männlichen | ||
Abstammungsgruppe und kann von Frauen niemals ge- oder vererbt werden. | Abstammungsgruppe und kann von Frauen niemals ge- oder vererbt werden. | ||
− | + | '''Insgesamt sind Frauen vom Zugang zu den wichtigsten | |
− | Produktionsmitteln | + | Produktionsmitteln''' (Grund und Boden, die Herstellung von und Kontrolle |
− | über Werkzeuge) | + | über Werkzeuge) '''und Destruktionsmitteln''' (Waffen), '''sowie von der |
− | Salzproduktion kategorisch ausgeschlossen | + | Salzproduktion kategorisch ausgeschlossen'''. |
Die Unterordnung der Frauen ist in der räumlichen Anordnung der Dörfer, | Die Unterordnung der Frauen ist in der räumlichen Anordnung der Dörfer, | ||
Line 5,514: | Line 4,983: | ||
die Männer vorbeigehen, als wäre da niemand. | die Männer vorbeigehen, als wäre da niemand. | ||
− | + | '''Godelier fragt sich nun, worauf diese offensichtliche Herrschaft der | |
− | Männer über die Frauen begründet ist. | + | Männer über die Frauen begründet ist.''' |
An der Arbeitsteilung kann es nicht liegen, weil diese die Unterordnung | An der Arbeitsteilung kann es nicht liegen, weil diese die Unterordnung | ||
Line 5,531: | Line 5,000: | ||
verheirateten Männern gemeinsam gegessen. | verheirateten Männern gemeinsam gegessen. | ||
− | + | <blockquote>Diese Entnahme und dieser kollektive Verzehr bezeugen deutlich die männliche Herrschaft und bekräftigen die kollektive Kontrolle der Männer über ein Produkt, das sie im wesentlichen der Arbeit der Frauen verdanken." (Godelier 1987: 35f)</blockquote> | |
− | männliche Herrschaft und bekräftigen die kollektive Kontrolle der Männer | ||
− | über ein Produkt, das sie im wesentlichen der Arbeit der Frauen | ||
− | verdanken." | ||
− | |||
====5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit==== | ====5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit==== | ||
− | + | ---- | |
− | Nachdem | + | [[File:theogrundlagen-237_1.jpg|frame|right|Während der Initiationszeremonie der Baruya, Godelier 1986, Abb. 16.]] |
+ | Nachdem '''Godelier''' die Subsistenzweise, die Produktions- und | ||
Arbeitsprozesse, die soziale Struktur der Baruya, die Rituale der Männer | Arbeitsprozesse, die soziale Struktur der Baruya, die Rituale der Männer | ||
-- und Fraueninitiationen, die Vorstellungen über Körper und Sexualität | -- und Fraueninitiationen, die Vorstellungen über Körper und Sexualität | ||
− | dargelegt hat, gelangt er zu folgenden Schlüssen: | + | dargelegt hat, gelangt er zu folgenden Schlüssen: '''Es ist "die |
Maschinerie der männlichen und weiblichen Initiationen", welche die | Maschinerie der männlichen und weiblichen Initiationen", welche die | ||
"allgemeine, prinzipielle Herrschaft der Männer, aller Männer als | "allgemeine, prinzipielle Herrschaft der Männer, aller Männer als | ||
solcher, über die Frauen, alle Frauen als solche, zu instituieren und zu | solcher, über die Frauen, alle Frauen als solche, zu instituieren und zu | ||
− | legitimieren" vermag | + | legitimieren" vermag'''. (Godelier 1987: 111) |
− | |||
− | |||
Was passiert nun in der Knabeninitiation, die insgesamt zehn Jahre | Was passiert nun in der Knabeninitiation, die insgesamt zehn Jahre | ||
Line 5,555: | Line 5,019: | ||
abgeschlossen ist: | abgeschlossen ist: | ||
− | Die | + | Die '''Knabeninitiation''' trennt die etwa zehn Jahre alten Buben von |
ihren Müttern und überführt sie ins Männerhaus, wo sie in einer | ihren Müttern und überführt sie ins Männerhaus, wo sie in einer | ||
ausschließlichen Männerwelt bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr erzogen | ausschließlichen Männerwelt bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr erzogen | ||
Line 5,570: | Line 5,034: | ||
Für die ältern Schwestern eines jüngeren Knaben wird dieser durch die | Für die ältern Schwestern eines jüngeren Knaben wird dieser durch die | ||
− | Initiation zum älteren Bruder. | + | Initiation zum älteren Bruder. <blockquote>Die männliche Initiation verwandelt folglich alle Frauen in die jüngeren Schwestern ihrer jüngeren Brüder und verschiebt aus politischen und ideologischen Gründen den Platz, den die Frauen innerhalb der Genealogien und Verwandtschaftsbeziehungen einnehmen, nach unten" (Godelier 1987: 111).</blockquote> |
− | folglich alle Frauen in die jüngeren Schwestern ihrer jüngeren Brüder | ||
− | und verschiebt aus politischen und ideologischen Gründen den Platz, den | ||
− | die Frauen innerhalb der Genealogien und Verwandtschaftsbeziehungen | ||
− | einnehmen, nach unten" | ||
− | Die Schwelle zum Männerhaus bildet ein bemaltes Brett und dieses Brett | + | Die Schwelle zum Männerhaus bildet ein bemaltes Brett und dieses Brett ist das Symbol für den Körper aller Frauen, den jeder Initiant, jeder erwachsene Mann im Laufe seines Lebens viele hunderte Male überschreitet. Das Geheimnis dieser symbolischen Unterordnung der Frauen wird aber nicht den zehnjährigen Buben, die ins Männerhaus kommen, |
− | ist das Symbol für den Körper aller Frauen, den jeder Initiant, jeder | ||
− | erwachsene Mann im Laufe seines Lebens viele hunderte Male | ||
− | überschreitet. Das Geheimnis dieser symbolischen Unterordnung der Frauen | ||
− | wird aber nicht den zehnjährigen Buben, die ins Männerhaus kommen, | ||
mitgeteilt, dieses Geheimnis erfahren sie erst kurz bevor sie mit etwas | mitgeteilt, dieses Geheimnis erfahren sie erst kurz bevor sie mit etwas | ||
über zwanzig das Männerhaus verlassen, um dann als erster Frau ihrer | über zwanzig das Männerhaus verlassen, um dann als erster Frau ihrer | ||
Line 5,591: | Line 5,047: | ||
die Abwertung und Unterordnung der Frauen. | die Abwertung und Unterordnung der Frauen. | ||
− | Verstärkt wird dies durch die | + | Verstärkt wird dies durch die '''Mädcheninitiation''', die nach der ersten |
Menstruation durchgeführt wird, und in der alle Frauen dem jungen | Menstruation durchgeführt wird, und in der alle Frauen dem jungen | ||
Mädchen nur eines versuchen zu vermitteln: Dass sie die Unterordnung | Mädchen nur eines versuchen zu vermitteln: Dass sie die Unterordnung | ||
unter die Männer zu akzeptieren haben. | unter die Männer zu akzeptieren haben. | ||
− | |||
− | |||
====5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer==== | ====5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer==== | ||
− | + | ---- | |
− | Im letzten Teil der | + | [[File:theogrundlagen-238_1.gif|frame|right|Ritueller Übergang von der weiblichen zur männlichen Welt, Godelier 1986, Abb. 9.]] |
− | + | Im letzten Teil der ''Produktion der Großen Männer'', den Godelier mit | |
+ | 'Die Bauchrednermaschine' übertitelt, geht er auf die Beteiligung der | ||
Frauen an der Herrschaft der Männer ein: | Frauen an der Herrschaft der Männer ein: | ||
− | + | <blockquote>Dieser Glaube [an die Überlegenheit der Männer] aber wurde von beiden Geschlechtern geteilt, den eben diese gemeinsamen Vorstellungen bildeten die wichtigste, stumme und unsichtbare Kraft der männlichen Herrschaft" (Godelier 1987: 299).</blockquote> | |
− | beiden Geschlechtern geteilt, den eben diese gemeinsamen Vorstellungen | ||
− | bildeten die wichtigste, stumme und unsichtbare Kraft der männlichen | ||
− | Herrschaft" | ||
− | Aber das Teilen der Ideen reicht nicht aus, Herrschaft funktioniert | + | Aber das Teilen der Ideen reicht nicht aus, Herrschaft funktioniert überall dann am klaglosesten, wenn die Unterdrückten die Schuld am eigenen Schicksal tragen: |
− | überall dann am klaglosesten, wenn die Unterdrückten die Schuld am | ||
− | eigenen Schicksal tragen: | ||
− | + | <blockquote>Und wir wissen, daß, was die Unterdrückung betrifft, die Herrschaft eines Teils der Gesellschaft über einen anderen (Geschlecht, Kaste, Klasse, Rasse) nur dann wirklich begründet, legitimiert ist, wenn die Opfer die schuldigen werden, wenn sie für das Los das sie erdulden, als erste verantwortlich sind." (Godelier 1987: 303f)</blockquote> | |
− | eines Teils der Gesellschaft über einen anderen (Geschlecht, Kaste, | ||
− | Klasse, Rasse) nur dann wirklich begründet, legitimiert ist, wenn die | ||
− | Opfer die schuldigen werden, wenn sie für das Los das sie erdulden, als | ||
− | erste verantwortlich sind." | ||
− | Die einfachste Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Unterschied zu | + | Die einfachste Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Unterschied zu legitimieren, besteht darin, ihn in der "Natur " fest zu machen, an natürlichen Unterschieden. Die Körper von Männer und Frauen unterscheiden sich und damit kann das gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnis für alle evident gemacht werden. Die Frauen stimmen ihrem Schicksal zu, da sie ihren anderen Körper nicht zum |
− | legitimieren, besteht darin, ihn in der "Natur " fest zu machen, an | ||
− | natürlichen Unterschieden. Die Körper von Männer und Frauen | ||
− | unterscheiden sich und damit kann das gesellschaftliche | ||
− | Unterdrückungsverhältnis für alle evident gemacht werden. Die Frauen | ||
− | stimmen ihrem Schicksal zu, da sie ihren anderen Körper nicht zum | ||
Verschwinden bringen können (vgl. Godelier 1987: 304). | Verschwinden bringen können (vgl. Godelier 1987: 304). | ||
− | Die | + | Die '''Sexualität wirkt wie eine Bauchrednermaschine'''. Sie spricht |
selbst nicht und doch wird ständig durch sie gesprochen. Durch sie wird | selbst nicht und doch wird ständig durch sie gesprochen. Durch sie wird | ||
gezeigt, wo der Platz der Männer und wo jener der Frauen im | gezeigt, wo der Platz der Männer und wo jener der Frauen im | ||
ideologischen System und im realen Leben der Baruya ist. | ideologischen System und im realen Leben der Baruya ist. | ||
− | Diese Argumentationsweise Godelier's wurde von | + | Diese Argumentationsweise Godelier's wurde von '''Nicole-Claude Mathieu''' |
− | (1985, vgl. auch Langheiter 1989) heftig | + | (1985, vgl. auch Langheiter 1989) heftig '''kritisiert'''. '''Die These der |
Zustimmung und des Mitmachens unterschätzt nämlich die Gewalt, der | Zustimmung und des Mitmachens unterschätzt nämlich die Gewalt, der | ||
− | Frauen physisch wie symbolisch tagtäglich ausgesetzt sind. | + | Frauen physisch wie symbolisch tagtäglich ausgesetzt sind.''' Obwohl man |
nicht sagen kann, dass Godelier diese Gewalt gänzlich verleugnet, so | nicht sagen kann, dass Godelier diese Gewalt gänzlich verleugnet, so | ||
schwächt er sie doch deutlich ab: | schwächt er sie doch deutlich ab: | ||
− | + | <blockquote>In der männlichen Macht gibt es neben der Gewalt auch die List, den Betrug, das Geheimnis, bewußt eingesetzt, um den Abstand, der die Männer von den Frauen trennt und sie vor ihnen schützt und ihre Überlegenheit sichert, aufrecht zu erhalten und zu vertiefen." (Godelier 1987: 303)</blockquote> | |
− | Betrug, das Geheimnis, bewußt eingesetzt, um den Abstand, der die Männer | ||
− | von den Frauen trennt und sie vor ihnen schützt und ihre Überlegenheit | ||
− | sichert, aufrecht zu erhalten und zu vertiefen." | ||
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
===5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier=== | ===5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier=== | ||
+ | ---- | ||
− | + | '''Godelier''' verwendet eine marxistische Terminologie, gleichzeitig sind | |
− | seine Ansichten in hohem Ausmaß von | + | seine Ansichten in hohem Ausmaß von '''Durkheim''' und '''Lévi-Strauss''' |
geprägt. Ein Beispiel für diese Synthese bietet folgendes Zitat: | geprägt. Ein Beispiel für diese Synthese bietet folgendes Zitat: | ||
− | + | <blockquote>Und was eigentlich besagt das Inzesttabu? Grundsätzlich ist es in jeder Gesellschaft die Anwesenheit eines Ordnungsgesetzes, einer grundlegenden Eigenschaft des menschlichen Daseins. Weil die Menschen im Unterschied zu den geselligen Tieren und ihren Vettern, den Schimpansen und Pavianen -- ungeachtet der Soziologen und Anthropologen -, nicht nur in Gesellschaft leben, sondern auch Gesellschaft produzieren, um leben zu können. Und eben dieses Ordnungsgesetz zeigt sich und wirkt durch das Inzesttabu und weit darüber hinaus. Das wurde von Lévi-Strauss ausgezeichnet gesehen und gesagt. Doch woran liegt es, daß der Mensch sich nicht damit zufrieden gibt, in Gesellschaft zu leben, sondern seine Gesellschaft auch produziert und verändert, um leben zu können, wenn nicht an einem objektiven, unumgänglichen Faktum, das nicht von seinem Willen abhängt: nämlich an der Tatsache, daß er die ihn umgebende Natur verändern und damit seine eigene Natur verändern kann? Das Inzestverbot, das den Wunsch des Individuums von denjenigen ablenkt, die zusammengearbeitet haben, um ihm das Leben zu schenken (und nicht nur seine nahen Angehörigen), bekräftigt tagtäglich und überall, daß das Individuum, so groß es auch sei, niemals der Ausgangspunkt der Gesellschaft ist, daß kein Individuum und keine Gruppe aus sich selbst, in der Isolierung und der Autarkie alle Bedingungen finden kann, die notwendig sind, um real, das heißt gesellschaftlich zu existieren." (Godelier 1987: 308f)</blockquote> | |
− | jeder Gesellschaft die Anwesenheit eines Ordnungsgesetzes, einer | ||
− | grundlegenden Eigenschaft des menschlichen Daseins. Weil die Menschen im | ||
− | Unterschied zu den geselligen Tieren und ihren Vettern, den Schimpansen | ||
− | und Pavianen -- ungeachtet der Soziologen und Anthropologen -, nicht nur | ||
− | in Gesellschaft leben, sondern auch Gesellschaft produzieren, um leben | ||
− | zu können. Und eben dieses Ordnungsgesetz zeigt sich und wirkt durch das | ||
− | Inzesttabu und weit darüber hinaus. Das wurde von Lévi-Strauss | ||
− | ausgezeichnet gesehen und gesagt. Doch woran liegt es, daß der Mensch | ||
− | sich nicht damit zufrieden gibt, in Gesellschaft zu leben, sondern seine | ||
− | Gesellschaft auch produziert und verändert, um leben zu können, wenn | ||
− | nicht an einem objektiven, unumgänglichen Faktum, das nicht von seinem | ||
− | Willen abhängt: nämlich an der Tatsache, daß er die ihn umgebende Natur | ||
− | verändern und damit seine eigene Natur verändern kann? Das Inzestverbot, | ||
− | das den Wunsch des Individuums von denjenigen ablenkt, die | ||
− | zusammengearbeitet haben, um ihm das Leben zu schenken (und nicht nur | ||
− | seine nahen Angehörigen), bekräftigt tagtäglich und überall, daß das | ||
− | Individuum, so groß es auch sei, niemals der Ausgangspunkt der | ||
− | Gesellschaft ist, daß kein Individuum und keine Gruppe aus sich selbst, | ||
− | in der Isolierung und der Autarkie alle Bedingungen finden kann, die | ||
− | notwendig sind, um real, das heißt gesellschaftlich zu existieren." | ||
− | (Godelier 1987: 308f) | ||
− | Durch den | + | Durch den '''Produktionsprozess[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus|[1]]]''' verändert der Mensch die Natur um |
sich und damit auch sich selbst. Da er ein grundsätzlich | sich und damit auch sich selbst. Da er ein grundsätzlich | ||
− | gesellschaftliches Wesen ist, produziert er auch | + | gesellschaftliches Wesen ist, produziert er auch '''Gesellschaft[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2]]]'''. |
Gesellschaft wird damit zur Existenzbedingung von Menschen, die nicht | Gesellschaft wird damit zur Existenzbedingung von Menschen, die nicht | ||
auf dem Willen von Individuen beruht. Der Beweis dafür ist das | auf dem Willen von Individuen beruht. Der Beweis dafür ist das | ||
Inzesttabu als Ordnungsgesetz, das in jeder Gesellschaft "tagtäglich | Inzesttabu als Ordnungsgesetz, das in jeder Gesellschaft "tagtäglich | ||
− | und überall" wirkt (vgl. | + | und überall" wirkt (vgl. '''Lévi-Strauss [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Strukturale_Anthropologie#3.3 Strukturale Anthropologie in Traurigen Tropen: Claude Lévi-Strauss in Lateinamerika|[3]]]'''). |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus|[1] Siehe Kapitel 2]]<br/> | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus|[1] Siehe Kapitel 2]]<br/> | ||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Vordenker#4.1.1 Émile Durkheim|[2] Siehe Kapitel 4.1.1]]<br/> | ||
− | [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Strukturale_Anthropologie#3.3 Strukturale Anthropologie in Traurigen Tropen: Claude Lévi-Strauss in Lateinamerika|[3] Siehe Kapitel 3.3 in der Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung'']] | + | [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Strukturale_Anthropologie#3.3 Strukturale Anthropologie in Traurigen Tropen: Claude Lévi-Strauss in Lateinamerika|[3] Siehe Kapitel 3.3 in der Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung''']] |
==5.2.3 Emmanuel Terray== | ==5.2.3 Emmanuel Terray== | ||
+ | [[File:theogrundlagen-240_1.jpg|frame|right|Romuald Hazoumé, "Citoyenne", 1997, Foto: Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.]] | ||
+ | '''Emmanuel Terray geb. 1935''' | ||
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
− | |||
− | |||
1974 Zur politischen Ökonomie der 'primitiven' Gesellschaften | 1974 Zur politischen Ökonomie der 'primitiven' Gesellschaften | ||
Line 5,702: | Line 5,117: | ||
the Abron Kingdom of Gyaman | the Abron Kingdom of Gyaman | ||
− | Als | + | Als '''Schüler von Louis Althusser''' geht '''Terray''' davon aus, dass die |
Inhalte, Widersprüche und Antagonismen einer Produktionsweise für jede | Inhalte, Widersprüche und Antagonismen einer Produktionsweise für jede | ||
Gesellschaft einzeln bestimmt werden können, wobei immer eine | Gesellschaft einzeln bestimmt werden können, wobei immer eine | ||
Line 5,709: | Line 5,124: | ||
Seine methodisch - theoretischen Überlegungen sind ursächlich mit seinen | Seine methodisch - theoretischen Überlegungen sind ursächlich mit seinen | ||
− | + | '''Forschungen in Westafrika, im Senegal (Dida) und in der Elfenbeinküste | |
− | (Abron) | + | (Abron)''', verbunden, da gerade das postkoloniale Afrika von tief |
greifenden Widersprüchen zwischen politischer Form und materieller Basis | greifenden Widersprüchen zwischen politischer Form und materieller Basis | ||
geprägt ist. Für die ökonomische Anthropologie ist sein Ansatz von | geprägt ist. Für die ökonomische Anthropologie ist sein Ansatz von | ||
Line 5,720: | Line 5,135: | ||
methodischen Umgang mit sozialer Dynamik operationalisiert. | methodischen Umgang mit sozialer Dynamik operationalisiert. | ||
− | Das Gesamtwerk von Terray ist von einem | + | Das Gesamtwerk von Terray ist von einem '''anhaltenden Interesse an den |
Antagonismen zwischen Staat und Ökonomie, Fragen zu Macht, Gewalt und | Antagonismen zwischen Staat und Ökonomie, Fragen zu Macht, Gewalt und | ||
− | politischer Aktion | + | politischer Aktion''' geprägt. Seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich |
unter großem persönlichem Engagement (Terray und Goussault 1990) | unter großem persönlichem Engagement (Terray und Goussault 1990) | ||
vorwiegend mit europäischer Politik, Menschenrechten, Asyl und | vorwiegend mit europäischer Politik, Menschenrechten, Asyl und | ||
Migration. | Migration. | ||
− | |||
− | |||
===5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes=== | ===5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes=== | ||
+ | ---- | ||
In Terrays Analysezugang ist die "Produktionsweise" die zentrale | In Terrays Analysezugang ist die "Produktionsweise" die zentrale | ||
Line 5,746: | Line 5,160: | ||
3) ideologischer Überbau | 3) ideologischer Überbau | ||
− | Anders als | + | Anders als '''Meillassoux[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.1 Claude Meillassoux|[1]]]''' sieht '''Emmanuel TerrayVerwandtschaft |
− | nicht als Teil der Ökonomie | + | nicht als Teil der Ökonomie''', die wiederum bei ihm die eigentlich |
determinierende gesellschaftliche Instanz ist. Verwandtschaft, Politik, | determinierende gesellschaftliche Instanz ist. Verwandtschaft, Politik, | ||
Religion, Recht sind Instanzen des Überbaus, in welchem sie auf | Religion, Recht sind Instanzen des Überbaus, in welchem sie auf | ||
Line 5,761: | Line 5,175: | ||
Analyseschritte vor: | Analyseschritte vor: | ||
− | + | * erstens die '''Bestimmung der Arbeitsprozesse''', die Rohstoffe in Produkte verwandeln; | |
− | + | * zweitens die '''Verteilung der Produkte''', daraus folgt der Zugang zu den Produktionsverhältnissen, die wiederum über die Distribution die Konsumption regeln. | |
− | |||
− | |||
− | |||
Subjekte des Arbeitsprozesses sind die Produktionseinheiten, die | Subjekte des Arbeitsprozesses sind die Produktionseinheiten, die | ||
Line 5,773: | Line 5,184: | ||
(Lohnarbeiter und Kapitaleigner). | (Lohnarbeiter und Kapitaleigner). | ||
− | Alle | + | Alle '''drei Ebenen der Produktionsweise''' spielen in einem einzelnen |
sozioökonomischen Phänomen eine Rolle und sind in einer *causalité | sozioökonomischen Phänomen eine Rolle und sind in einer *causalité | ||
triplement complex*, einer dreifach komplexen Kausalität, miteinander | triplement complex*, einer dreifach komplexen Kausalität, miteinander | ||
− | verwoben. Eine | + | verwoben. Eine '''Produktionseinheit''' (Ebene 1) kann z.B. zugleich |
− | + | '''Verwandtschaftseinheit''' (Ebene 2) sein, wie auch gleichzeitig eine | |
− | + | '''religiöse Gruppe''' (Ebene 3) konstituieren. Terray besteht darauf, | |
dass gerade in der Sozialanthropologie immer alle drei Ebenen einer | dass gerade in der Sozialanthropologie immer alle drei Ebenen einer | ||
Erscheinung oder Handlung analytisch zu trennen und für sich zu | Erscheinung oder Handlung analytisch zu trennen und für sich zu | ||
Line 5,785: | Line 5,196: | ||
Koexistenz mehrerer Produktionsweisen gleichzeitig möglich ist. | Koexistenz mehrerer Produktionsweisen gleichzeitig möglich ist. | ||
− | Heftige | + | Heftige '''Kritik''' erfährt Terray '''von Pierre-Philippe Rey''', der ihm |
theoretisch unzulängliche Vernachlässigung der Ausbeutungs- und | theoretisch unzulängliche Vernachlässigung der Ausbeutungs- und | ||
Klassenverhältnisse bei nicht-kapitalistischen Formationen vorwirft (Rey | Klassenverhältnisse bei nicht-kapitalistischen Formationen vorwirft (Rey | ||
− | 1975). Eine weitere Kritik kommt von feministischer Seite von | + | 1975). Eine weitere Kritik kommt von feministischer Seite von '''Maxine |
− | Molyneux | + | Molyneux''', die seine ökonomischen Schlussfolgerungen aufgrund seiner |
androzentristischen Perspektive als verfälscht und damit ungültig | androzentristischen Perspektive als verfälscht und damit ungültig | ||
ansieht (Molyneux 1977). | ansieht (Molyneux 1977). | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
+ | |||
[[Neomarxismus/Frankreich#5.2.1 Claude Meillassoux|[1] Siehe Kapitel 5.2.1]]<br/> | [[Neomarxismus/Frankreich#5.2.1 Claude Meillassoux|[1] Siehe Kapitel 5.2.1]]<br/> | ||
Line 5,803: | Line 5,215: | ||
− | [[Neomarxismus/Frankreich#5.2 Französische VertreterInnen| Vorheriges Kapitel: 5.2 Französische VertreterInnen]]<br/> | + | '''[[Neomarxismus/Frankreich#5.2 Französische VertreterInnen| Vorheriges Kapitel: 5.2 Französische VertreterInnen]]'''<br/> |
=5.3 VertreterInnen in den USA= | =5.3 VertreterInnen in den USA= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | In den | + | In den '''USA entwickelte sich ebenfalls eine marxistisch orientierte |
− | Politische Ökonomie | + | Politische Ökonomie''', die sich mit Fragen nach den Zusammenhängen und |
Abhängigkeiten zwischen Weltregionen befasst (Narotzky 2005: 84f). | Abhängigkeiten zwischen Weltregionen befasst (Narotzky 2005: 84f). | ||
− | Wichtige Werke in diesem Zusammenhang sind | + | Wichtige Werke in diesem Zusammenhang sind '*Eric Wolf's'Europe and the |
− | People without History | + | People without History'' (1982) und '''Sidney Mintz's'Sweetness and |
− | Power* | + | Power'*' (1985). Anhand der Produktion, Distribution und Konsumtion von |
Gütern versuchen beide globale historische Entwicklungen im ökonomischen | Gütern versuchen beide globale historische Entwicklungen im ökonomischen | ||
Bereich nachzuzeichnen. Gerade diese zwei Werke bauen nicht auf eigener | Bereich nachzuzeichnen. Gerade diese zwei Werke bauen nicht auf eigener | ||
Line 5,831: | Line 5,243: | ||
::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt]]<br/> | ::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt]]<br/> | ||
:::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff|5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff]]<br/> | :::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff|5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff]]<br/> | ||
− | ::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als | + | ::::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation|5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation]]<br/> |
::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4 Warenströme|5.3.1.1.2.4 Warenströme]]<br/> | ::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4 Warenströme|5.3.1.1.2.4 Warenströme]]<br/> | ||
:::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika|5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika]]<br/> | :::::[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika|5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika]]<br/> | ||
Line 5,854: | Line 5,266: | ||
[[File:theogrundlagen-243_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-243_1.gif|frame|right]] | ||
− | + | '''Eric Wolf (1923-1999)''' | |
*My primary interest is to explain something out there that impinges me, | *My primary interest is to explain something out there that impinges me, | ||
Line 5,860: | Line 5,272: | ||
im Interview mit Friedman, 1987:144) | im Interview mit Friedman, 1987:144) | ||
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1966: Peasants. | 1966: Peasants. | ||
Line 5,868: | Line 5,280: | ||
1982: Europe and the People without History | 1982: Europe and the People without History | ||
− | + | '''Eric Wolf''' wurde 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. Er | |
verbrachte seine Kindheit in Böhmen bevor seine Eltern auf der Flucht | verbrachte seine Kindheit in Böhmen bevor seine Eltern auf der Flucht | ||
vor dem Nationalsozialismus über Großbritannien in die USA | vor dem Nationalsozialismus über Großbritannien in die USA | ||
Line 5,877: | Line 5,289: | ||
Südtirol/Trentino zu beforschen (Cole/Wolf 1974/1995). | Südtirol/Trentino zu beforschen (Cole/Wolf 1974/1995). | ||
− | 1946 nahm er sein Ph.D. Studium der Anthropologie bei | + | 1946 nahm er sein Ph.D. Studium der Anthropologie bei '''Ruth Benedict''' |
− | und | + | und '''Julian Steward''' auf. Insbesondere Steward mit seiner |
− | Kulturökologie und seinem | + | Kulturökologie und seinem 'cultural materialism' (Harris 2001/1968: 654) |
übte nachhaltigen Einfluss auf Eric Wolf aus. Er nahm -- wie auch | übte nachhaltigen Einfluss auf Eric Wolf aus. Er nahm -- wie auch | ||
− | + | '''Sidney Mintz''' -- in den späten 1940er Jahren an Steward's Puerto Rico | |
− | Forschungsprojekt teil und beschäftigte sich ab dann mit | + | Forschungsprojekt teil und beschäftigte sich ab dann mit ''Peasants'' |
(è link), Macht und Klassen. Dabei richtete er seine Aufmerksamkeit | (è link), Macht und Klassen. Dabei richtete er seine Aufmerksamkeit | ||
immer auf historische Prozesse und kritisierte eine Anthropologie, | immer auf historische Prozesse und kritisierte eine Anthropologie, | ||
Line 5,893: | Line 5,305: | ||
Realität." (Wolf 1991: 17) | Realität." (Wolf 1991: 17) | ||
− | + | '''Eric Wolf''' leistete wesentliche Beiträge zu vielen Forschungsfeldern | |
der Kultur- und Sozialanthropologie. | der Kultur- und Sozialanthropologie. | ||
− | + | * Im Rahmen der allgemeinen Theorienbildung dieses Faches bildet sein Werk eine wichtige Grundlage für eine Reihe von theoretischen Ansätzen in Bezug auf '''transkulturelle bzw. transnationale Beziehungen und Globalisierung''' (Wolf 1982). | |
− | + | * In Bezug auf '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas [[Kultur-_und_Sozialanthropologie_Lateinamerikas_-_Eine_Einführung#Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas - Eine Einführung|[1]]]''' entwickelte er Modelle zur Analyse der '''Verflechtungen[[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Eric_Wolf#3.4 Komplexe Gesellschaft, Verflechtungen und Macht bei Eric Wolf|[2]]] ökonomischer, sozialer und historischer Faktoren''', welche die komplexe Gesellschaft Lateinamerikas prägen. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht immer wieder die Frage nach den historischen Prozessen sowie nach den Machtverhältnissen und ihren Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Personen und Gruppen. | |
− | |||
− | |||
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− | |||
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− | |||
− | Für die | + | Für die '''ökonomische Anthropologe''' leistet er u.a. wesentliche |
Beiträge zur Analyse von | Beiträge zur Analyse von | ||
− | + | * Wirtschaft und Gesellschaft von Bauern | |
− | + | * dem Konzept der '''Produktionsweisen[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.3.3 Produktionsweisen|[3]]]''' | |
− | + | * kulturellen, ökonomischen und politischen Verflechtungen in der Neuzeit | |
− | |||
− | + | '''Eric Wolf im WWW:''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html [https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html [4]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm [https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm [5]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf [https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf [6]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm [https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm [7]]''' | |
− | + | '''Verweise:''' | |
− | [[Kultur-_und_Sozialanthropologie_Lateinamerikas_-_Eine_Einführung#Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas - Eine Einführung|[1] Siehe Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas: Eine Einführung'']][http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-163.html [2] Siehe Kapitel %%chapter-id%% der Lernunterlage ''Lernunterlagen-title'']<br/> | + | |
− | [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Eric_Wolf#3.4 Komplexe Gesellschaft, Verflechtungen und Macht bei Eric Wolf|[2] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung'']]<br/> | + | [[Kultur-_und_Sozialanthropologie_Lateinamerikas_-_Eine_Einführung#Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas - Eine Einführung|[1] Siehe Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas: Eine Einführung''']][http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-163.html [2] Siehe Kapitel %%chapter-id%% der Lernunterlage '''Lernunterlagen-title''']<br/> |
+ | [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Eric_Wolf#3.4 Komplexe Gesellschaft, Verflechtungen und Macht bei Eric Wolf|[2] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung''']]<br/> | ||
[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.3.3 Produktionsweisen|[3] Siehe Kapitel 2.1.2.3.3]]<br/> | [[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.3.3 Produktionsweisen|[3] Siehe Kapitel 2.1.2.3.3]]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html [4] https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html [4] https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html]<br/> | ||
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===5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie=== | ===5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-244_1.jpg|frame|right|Allegorie Europas, die von den anderen Erdteilen gehuldigt wird. B.Picart 1719. Quelle: Kohl 1982.]] | [[File:theogrundlagen-244_1.jpg|frame|right|Allegorie Europas, die von den anderen Erdteilen gehuldigt wird. B.Picart 1719. Quelle: Kohl 1982.]] | ||
− | Das bekannteste und einflussreichste Werk von | + | Das bekannteste und einflussreichste Werk von '''Eric Wolf''' bildet sein |
− | Buch: | + | Buch: ''Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit |
− | 1400 | + | 1400'' (1986). Er versteht es als einen Beitrag zu einer analytischen |
Geschichtsbetrachtung, welche "die Wurzeln der Gegenwart in der | Geschichtsbetrachtung, welche "die Wurzeln der Gegenwart in der | ||
Vergangenheit" aufdecken will. | Vergangenheit" aufdecken will. | ||
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durchdacht. | durchdacht. | ||
− | + | '''Dabei überschreitet Wolf die gängigen Darstellungsweisen der | |
− | Geschichte der westlichen Welt. | + | Geschichte der westlichen Welt.''' Er geht davon aus, dass weltweite |
historische und ökonomische Prozesse die verschiedenen Völker | historische und ökonomische Prozesse die verschiedenen Völker | ||
miteinander verknüpfen. Unterschiedlichste Gesellschaften waren an | miteinander verknüpfen. Unterschiedlichste Gesellschaften waren an | ||
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Konzepten der Politischen Ökonomie. | Konzepten der Politischen Ökonomie. | ||
− | + | '''Das Studium von Kultur und Geschichte ist demnach aufs Engste mit dem | |
− | Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden. | + | Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden.''' |
Durch die Betrachtung der Welt "als ganze, als Totalität, als System", | Durch die Betrachtung der Welt "als ganze, als Totalität, als System", | ||
will das Buch dazu beitragen Grenzen zwischen westlicher und | will das Buch dazu beitragen Grenzen zwischen westlicher und | ||
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====5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion==== | ====5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion==== | ||
− | + | ---- | |
− | Die Grundlagen der | + | [[File:theogrundlagen-245_1.jpg|frame|left]] |
− | Wolf's | + | Die Grundlagen der '''Politischen Ökonomie[[Internationale_Politische_Oekonomie#Internationale Politische Ökonomie - Eine Einführung|[1]]]''' bilden in '''Eric |
+ | Wolf's''"Die Völker ohne Geschichte"' den analytischen Rahmen für die | ||
Untersuchung historischer, kultureller und ökonomischer Verflechtungen. | Untersuchung historischer, kultureller und ökonomischer Verflechtungen. | ||
− | Die Basis bildet die | + | Die Basis bildet die '''These von Karl Marx''', dass keine Trennung |
zwischen sozialen und ökonomischen Prozessen besteht. Wie Marx vertritt | zwischen sozialen und ökonomischen Prozessen besteht. Wie Marx vertritt | ||
Eric Wolf einen ganzheitlichen Ansatz der Wissenschaft vom Menschen: | Eric Wolf einen ganzheitlichen Ansatz der Wissenschaft vom Menschen: | ||
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treten. | treten. | ||
− | + | Diese Betrachtungsweise impliziert einen '''Kulturbegriff, der sich vom | |
− | + | Konzept einer eigenständigen und integralen Kultur''' - das aus den | |
− | Diese Betrachtungsweise impliziert einen | ||
− | Konzept einer eigenständigen und integralen Kultur | ||
politischen Bestrebungen des Nationalismus des 19.Jahrhunderts erwachsen | politischen Bestrebungen des Nationalismus des 19.Jahrhunderts erwachsen | ||
− | ist - | + | ist - '''unterscheidet'''. |
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− | + | <blockquote>Wenn wir demgegenüber die Realität von Gesellschaft in historisch wandelbaren, nicht endgültig abgegrenzten, vielfältigen und aufgefächerten gesellschaftlichen Formationen verorten, wird damit allerdings die Vorstellung einer ein für allemal feststehenden innerlich geschlossenen und deutlich nach außen abgegrenzten Kultur abgelöst durch ein Gespür für die Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde." (Wolf 1991: 534)</blockquote> | |
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+ | '''Verweise:''' | ||
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+ | [[Internationale_Politische_Oekonomie#Internationale Politische Ökonomie - Eine Einführung|[1] Siehe Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie - Eine Einführung''']]<br/> | ||
====5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"==== | ====5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"==== | ||
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[[File:theogrundlagen-246_1.jpg|frame|right|Romuald Hazoumé, "Dogon", 1996, Foto Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.]] | [[File:theogrundlagen-246_1.jpg|frame|right|Romuald Hazoumé, "Dogon", 1996, Foto Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.]] | ||
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regionaler Verknüpfungen und Zusammenhänge aufweist: | regionaler Verknüpfungen und Zusammenhänge aufweist: | ||
− | + | <blockquote>Aber erst das Ausgreifen der Europäer über die Ozeane hinweg hat diese regional geknüpften Verbindungsnetzwerke zu einer globalen Partitur vereint und sie einem weltumspannenden Rhythmus unterworfen. Von diesen Kräften wurden Menschen von ganz unterschiedlicher Herkunft und aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen in gleichartige Tätigkeiten hineingezogen und dazu gedrängt, sich am Aufbau einer einzigen gemeinsamen Welt zu beteiligen. [...] Die Gesellschaften und Kulturen all dieser Menschen machten während dieses Prozesses entscheidende Veränderungen durch." (Wolf 1991: 531-532)</blockquote> | |
− | diese regional geknüpften Verbindungsnetzwerke zu einer globalen | ||
− | Partitur vereint und sie einem weltumspannenden Rhythmus unterworfen. | ||
− | Von diesen Kräften wurden Menschen von ganz unterschiedlicher Herkunft | ||
− | und aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen in | ||
− | gleichartige Tätigkeiten hineingezogen und dazu gedrängt, sich am Aufbau | ||
− | einer einzigen gemeinsamen Welt zu beteiligen. [...] Die | ||
− | Gesellschaften und Kulturen all dieser Menschen machten während dieses | ||
− | Prozesses entscheidende Veränderungen durch." | ||
− | + | '''Eric Wolf''' (1986) untersucht diese Prozesse an Hand von vielfältigen Beispielen. Er analysiert u.a.: | |
− | Beispielen. Er analysiert u.a.: | ||
− | + | * '''Die politischen und ökonomischen Bedingungen und Ziele der europäischen Expansion in der Neuzeit''' und erarbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf einzelne Staaten oder Verbände (Spanien, Portugal, England, Frankreich, Niederlande). | |
− | + | * '''Die "Jagd nach den Reichtümern der Welt"''': Hier verortet Wolf die diversen Unternehmungen in verschiedenen Regionen in einem immer stärker weltumspannenden Gefüge von Produktion, Zirkulation und Macht. Die Kolonisation Lateinamerikas durch die Iberer, der Pelzhandel in Nordamerika, der Sklavenhandel sowie Handel- und Eroberungspolitik in Asien zeigen verschiedene Facetten dieser Prozesse und ihrer Auswirkungen auf die Menschen. | |
− | + | * '''Die industrielle Revolution und der aufstrebende Kapitalismus''' prägen im 19.Jahrhundert die sozioökonomischen Bedingungen der diversen Verflechtungen. Diese wirken sich auf die verschiedenen Abschnitte des ökonomischen Prozesses (Produktion, Zirkulation, Konsumtion) aus. Sie bedingen z.B. die Entstehung neuer Warenströme sowie der neuer Arbeiter, Arbeitsmärkte und des Handels mit Arbeitskräften (z.B. chinesische Arbeitskräfte in Amerika) und binden immer wieder andere regionale Kulturen und Ökonomien in das weltumspannende Netzwerk ein. | |
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Auf den folgenden Seiten werden aus der Fülle der Analysen von Eric Wolf | Auf den folgenden Seiten werden aus der Fülle der Analysen von Eric Wolf | ||
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====5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda==== | ====5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda==== | ||
− | + | ---- | |
− | Die | + | [[File:theogrundlagen-247_1.jpg|frame|right|Bergbau im kolonialen Südamerika. Stich von de Bry 1601. Quelle: Kohl 1982.]] |
+ | Die '''Conquista''', die Eroberung und Kolonisation der indianischen | ||
Gesellschaften in Mittel- und Südamerika durch Spanien und Portugal | Gesellschaften in Mittel- und Südamerika durch Spanien und Portugal | ||
etablierte das erste große Kolonialsystem der Neuzeit (èlink). Die | etablierte das erste große Kolonialsystem der Neuzeit (èlink). Die | ||
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Element in diesem Gefüge war der Handel: | Element in diesem Gefüge war der Handel: | ||
− | + | <blockquote>Spanien bezog aus der Neuen Welt Silber, Gold, Kakao, Koschenille und Indigo, in umgekehrter Richtung lieferte es teure Manufaktur- und Luxusprodukte. Ein großer, wenn nicht der größte Teil dieser Produkte stammte nicht aus Spanien selber, sondern vor allem aus Nordwesteuropa." (Wolf 1991: 204)</blockquote> | |
− | Indigo, in umgekehrter Richtung lieferte es teure Manufaktur- und | ||
− | Luxusprodukte. Ein großer, wenn nicht der größte Teil dieser Produkte | ||
− | stammte nicht aus Spanien selber, sondern vor allem aus | ||
− | Nordwesteuropa." | ||
− | Die | + | Die '''Ökonomie der spanischen Kronländer''' beruhte zu einem guten Teil auf der Gewinnung von Edelmetallen. Zwischen 1503 und 1660 trafen in Sevilla knapp 3,5 Millionen Kilo amerikanischen Silbers ein, wodurch sich die europäischen Silbervorräte verdreifachten. Die '''"Silberökonomie"''' (besonders ausgeprägt in Mexiko, Peru und Bolivien) band durch transkontinentalen Handel mit Europa und Asien |
− | auf der Gewinnung von Edelmetallen. Zwischen 1503 und 1660 trafen in | ||
− | Sevilla knapp 3,5 Millionen Kilo amerikanischen Silbers ein, wodurch | ||
− | sich die europäischen Silbervorräte verdreifachten. Die | ||
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− | Bolivien) band durch transkontinentalen Handel mit Europa und Asien | ||
lokale (indianische) Gemeinschaften in ein großräumiges ökonomisches | lokale (indianische) Gemeinschaften in ein großräumiges ökonomisches | ||
Gefüge ein. | Gefüge ein. | ||
− | + | Wolf spricht in diesem Zusammenhang von '''"erzwungenem Handel"''' | |
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− | Wolf spricht in diesem Zusammenhang von | ||
(erzwungen durch die einseitige Nachfrage auf europäischer Seite), der | (erzwungen durch die einseitige Nachfrage auf europäischer Seite), der | ||
zwei unterschiedliche kommerzielle Kreisläufe umfasste: einen | zwei unterschiedliche kommerzielle Kreisläufe umfasste: einen | ||
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amerikanischen Waren (Wolf 1991: 205). | amerikanischen Waren (Wolf 1991: 205). | ||
− | + | '''Die sozioökonomische Organisation des kolonialen Lateinamerikas | |
− | beruhte auf feudalen Strukturen | + | beruhte auf feudalen Strukturen''', die eng mit der |
(land)wirtschaftlichen Produktion verbunden sind. Besonders deutlich | (land)wirtschaftlichen Produktion verbunden sind. Besonders deutlich | ||
− | kommt dies in der Institution der | + | kommt dies in der Institution der 'encomienda' und später der |
− | + | ''hacienda'' (èlink) zum Ausdruck, welche der Herrschaft über die | |
lokale Bevölkerung und der Aneignung und Kontrolle ihrer Arbeitskraft | lokale Bevölkerung und der Aneignung und Kontrolle ihrer Arbeitskraft | ||
− | diente. Eine | + | diente. Eine 'encomienda' war ein zeitlich begrenzter treuhänderischer |
Besitztitel, der von der Krone an bestimmte Personen vergeben wurde. Ihr | Besitztitel, der von der Krone an bestimmte Personen vergeben wurde. Ihr | ||
Inhaber konnte Tribute und Arbeitsleistungen der Indianer | Inhaber konnte Tribute und Arbeitsleistungen der Indianer | ||
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In der späteren Kolonialzeit gingen die Ländereien in das Privateigentum | In der späteren Kolonialzeit gingen die Ländereien in das Privateigentum | ||
− | der Besitzer über ( | + | der Besitzer über ('hacienda'), die Leibeigenschaft der indianischen |
Bewohner blieb jedoch in vielen Regionen (z.B. Ecuador, Peru) erhalten. | Bewohner blieb jedoch in vielen Regionen (z.B. Ecuador, Peru) erhalten. | ||
− | Das | + | Das ''Hacienda'-System''' war in einigen Andenländern bis ca. 1960 in |
Kraft und prägt bis heute das sozioökonomische Gefüge vieler Regionen | Kraft und prägt bis heute das sozioökonomische Gefüge vieler Regionen | ||
Lateinamerikas (vgl. Wolf 1991: 192-216). | Lateinamerikas (vgl. Wolf 1991: 192-216). | ||
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====5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen==== | ====5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen==== | ||
− | + | ---- | |
− | In | + | [[File:theogrundlagen-248_1.jpg|frame|right|Zuckerverarbeitung in Brasiien. Gemälde von M.Rugendas 1835, Quelle Kohl 1982.]] |
+ | In '''Brasilien''' war die frühe koloniale Ökonomie durch weitreichende | ||
Handels- und Tauschbeziehungen geprägt (z.B. im Rahmen des Handels mit | Handels- und Tauschbeziehungen geprägt (z.B. im Rahmen des Handels mit | ||
Brasil-Holz und Gewürzen), welche im Rahmen einer Kolonisationsgrenze | Brasil-Holz und Gewürzen), welche im Rahmen einer Kolonisationsgrenze | ||
− | ( | + | ('colonial frontier') verschiedene indianische und europäische Gruppen |
und Akteure (Portugiesen, Franzosen, Deutsche) in einem komplexen | und Akteure (Portugiesen, Franzosen, Deutsche) in einem komplexen | ||
− | Geflecht von | + | Geflecht von '''Handelsplätzen[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi|[1]]]''', Handelsketten, Allianzen, und |
− | + | '''Feindschaften [[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden#1.4 Hans Staden bei den "Menschenfresser-Leuten"|[2]]]''' vernetzt. | |
− | + | '''Kulturelle und ökonomische Verflechtungen''' ergaben sich auch im Zuge | |
der Aneignung und Verbreitung von Nahrungspflanzen. Pflanzen | der Aneignung und Verbreitung von Nahrungspflanzen. Pflanzen | ||
indianischer Züchtung wurden in anderen Teilen der Welt verbreitet und | indianischer Züchtung wurden in anderen Teilen der Welt verbreitet und | ||
beeinflussten deren (Eß-) Kulturen und Ökonomien nachhaltig - u.a. | beeinflussten deren (Eß-) Kulturen und Ökonomien nachhaltig - u.a. | ||
− | Kartoffel, | + | Kartoffel, '''Mais [[Mais_-_Ernährung_und_Kolonialismus_in_Lateinamerika|[3]]]''', Tomate, Kakao, Tabak, Maniok und Kürbis. Zu |
Nahrungspflanzen aus Asien, die über Europa nach Lateinamerika | Nahrungspflanzen aus Asien, die über Europa nach Lateinamerika | ||
− | gelangten, zählen u.a. | + | gelangten, zählen u.a. '''Zuckerrohr[[Neomarxismus/USA#5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers|[4]]]''', Kaffee, Reis und Bananen. |
− | Sie prägten maßgeblich | + | Sie prägten maßgeblich '''Subsistenz und Ernährungsgewohnheiten''' (link |
Maria?) lokaler Gemeinschaften sowie nationale und globale ökonomische | Maria?) lokaler Gemeinschaften sowie nationale und globale ökonomische | ||
Prozesse. | Prozesse. | ||
− | + | Eric Wolf behandelt vor allem die '''Entwicklung der Zuckerökonomie in | |
− | + | Brasilien und der Karibik''' (1986: 217-227). Im Nord-Osten Brasiliens | |
− | Eric Wolf behandelt vor allem die | ||
− | Brasilien und der Karibik | ||
wurden im 16. Jahrhundert die ersten Zuckerrohrplantagen angelegt: | wurden im 16. Jahrhundert die ersten Zuckerrohrplantagen angelegt: | ||
− | + | <blockquote>...wurde damit eine Agrikultur in die Neue Welt verpflanzt, die schon lange im östlichen Mittelmeer zuhause war, wo die Araber sie gegen Ende des ersten Jahrtausends n.Chr. eingeführt hatten. In den Jahrhunderten vor der Eroberung der Neuen Welt hatte sich der Zuckeranbau über die Mittelmeerinseln langsam nach Westen vorgeschoben." (Wolf 1991: 217)</blockquote> | |
− | schon lange im östlichen Mittelmeer zuhause war, wo die Araber sie gegen | ||
− | Ende des ersten Jahrtausends n.Chr. eingeführt hatten. In den | ||
− | Jahrhunderten vor der Eroberung der Neuen Welt hatte sich der | ||
− | Zuckeranbau über die Mittelmeerinseln langsam nach Westen | ||
− | vorgeschoben." | ||
− | Die | + | Die '''Zuckerproduktion''' wurde von mehreren Staaten und ihren Handelsagenturen dominiert. In Brasilien bestimmten die Portugiesen die Produktion, während Flamen und Holländer die Verbreitung des Produkts und die Finanzierung des Transports bewerkstelligten. So wurden Antwerpen und Amsterdam zu den wichtigsten Zentren der Zuckerraffinerien, wie auch zu Finanzzentren des portugiesischen |
− | Handelsagenturen dominiert. In Brasilien bestimmten die Portugiesen die | ||
− | Produktion, während Flamen und Holländer die Verbreitung des Produkts | ||
− | und die Finanzierung des Transports bewerkstelligten. So wurden | ||
− | Antwerpen und Amsterdam zu den wichtigsten Zentren der | ||
− | Zuckerraffinerien, wie auch zu Finanzzentren des portugiesischen | ||
Zuckerhandels (Wolf 1991: 218). | Zuckerhandels (Wolf 1991: 218). | ||
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Arbeitskräften führte zur Versklavung der lokalen indianischen | Arbeitskräften führte zur Versklavung der lokalen indianischen | ||
Gemeinschaften. Die Sklavenjagden im Amazonasgebiet und im heutigen | Gemeinschaften. Die Sklavenjagden im Amazonasgebiet und im heutigen | ||
− | Paraguay wurden teilweise von den | + | Paraguay wurden teilweise von den '''Jesuiten [[Chronisten_und_Missionare/Heilige_Experimente#1.6 "Heilige Experimente" und Ethnographie: Die österreichischen Jesuiten in Lateinamerika|[5]]]''' militärisch |
gebremst, die den Indianern Schutz gewährten. Sie siedelten einen Teil | gebremst, die den Indianern Schutz gewährten. Sie siedelten einen Teil | ||
− | der indianischen Gemeinschaften in | + | der indianischen Gemeinschaften in ''reduccionen' [[Chronisten_und_Missionare/Poma_de_Alaya#1.5.1 Herrscher und Untertanen|[6]]]''' an und |
unterzogen sie einer intensiven Missionierung und Europäisierung. | unterzogen sie einer intensiven Missionierung und Europäisierung. | ||
Die relativ kleine indianische Bevölkerung konnte jedoch den Bedarf an | Die relativ kleine indianische Bevölkerung konnte jedoch den Bedarf an | ||
− | Sklaven keineswegs decken. | + | Sklaven keineswegs decken. '''So sind Zuckerproduktion und andere Formen |
− | der Plantagenwirtschaft aufs Engste mit dem transatlantischen | + | der Plantagenwirtschaft aufs Engste mit dem transatlantischen''' |
− | + | '''Sklavenhandel[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|[7]]]''' '''verbunden''', der das kulturelle und soziale | |
− | Gefüge in | + | Gefüge in '''Brasilien[[Brasilien_1889_-_1985|[8]]]''', der Karibik und den USA maßgeblich prägte. |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
− | |||
[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi|[1] Siehe Kapitel 4.3.1.5]]<br/> | [[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi|[1] Siehe Kapitel 4.3.1.5]]<br/> | ||
− | [[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden#1.4 Hans Staden bei den "Menschenfresser-Leuten"|[2] Siehe Kapitel 1.4 der Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung'']]<br/> | + | [[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden#1.4 Hans Staden bei den "Menschenfresser-Leuten"|[2] Siehe Kapitel 1.4 der Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung''']]<br/> |
− | [[Mais_-_Ernährung_und_Kolonialismus_in_Lateinamerika|[3] Siehe die Lernunterlage ''Mais - Ernährung und Kolonialismus in Lateinamerika'']]<br/> | + | [[Mais_-_Ernährung_und_Kolonialismus_in_Lateinamerika|[3] Siehe die Lernunterlage '''Mais - Ernährung und Kolonialismus in Lateinamerika''']]<br/> |
[[Neomarxismus/USA#5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers|[4] Siehe Kapitel 5.3.2.1]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers|[4] Siehe Kapitel 5.3.2.1]]<br/> | ||
− | [[Chronisten_und_Missionare/Heilige_Experimente#1.6 "Heilige Experimente" und Ethnographie: Die österreichischen Jesuiten in Lateinamerika|[5] Siehe Kapitel 1.6 der Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung'']]<br/> | + | [[Chronisten_und_Missionare/Heilige_Experimente#1.6 "Heilige Experimente" und Ethnographie: Die österreichischen Jesuiten in Lateinamerika|[5] Siehe Kapitel 1.6 der Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung''']]<br/> |
− | [[Chronisten_und_Missionare/Poma_de_Alaya#1.5.1 Herrscher und Untertanen|[6] Siehe Kapitel 1.5.1 der Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung'']]<br/> | + | [[Chronisten_und_Missionare/Poma_de_Alaya#1.5.1 Herrscher und Untertanen|[6] Siehe Kapitel 1.5.1 der Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung''']]<br/> |
[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|[7] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|[7] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3]]<br/> | ||
− | [[Brasilien_1889_-_1985|[8] Siehe die Lernunterlage ''Brasilien 1889 - 1985: Von der Ersten Republik bis zum Ende der Militärdiktatur'']]<br/> | + | [[Brasilien_1889_-_1985|[8] Siehe die Lernunterlage '''Brasilien 1889 - 1985: Von der Ersten Republik bis zum Ende der Militärdiktatur''']]<br/> |
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====5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt==== | ====5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt==== | ||
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[[File:theogrundlagen-249_1.jpg|frame|right|Sklaven auf dem Weg in die Neue Welt. Quelle: Assogba (1990: 29).]] | [[File:theogrundlagen-249_1.jpg|frame|right|Sklaven auf dem Weg in die Neue Welt. Quelle: Assogba (1990: 29).]] | ||
− | Eric Wolf ordnet den | + | Eric Wolf ordnet den '''Sklavenhandel''' im Zuge der aggressiven Expansion |
Europas als wesentlichen Bestandteil in der Konstituierung des | Europas als wesentlichen Bestandteil in der Konstituierung des | ||
− | internationalen Handelsnetzes und des | + | internationalen Handelsnetzes und des '''Aufstiegs Europas zur |
− | Weltmacht | + | Weltmacht''' ein. |
Wenn auch Sklaverei und Sklavenhandel keine historischen | Wenn auch Sklaverei und Sklavenhandel keine historischen | ||
Line 6,211: | Line 5,562: | ||
versklavte Menschen, wurden damit zur wichtigsten Exportware Afrikas. | versklavte Menschen, wurden damit zur wichtigsten Exportware Afrikas. | ||
− | Die Portugiesen initiierten den | + | Die Portugiesen initiierten den '''transatlantischen Sklavenhandel''' im |
Zuge ihrer Erkundungsfahrten und Kolonialisierungen entlang der | Zuge ihrer Erkundungsfahrten und Kolonialisierungen entlang der | ||
afrikanischen Küsten, sie erhielten bald Konkurrenz durch die Holländer, | afrikanischen Küsten, sie erhielten bald Konkurrenz durch die Holländer, | ||
Line 6,234: | Line 5,585: | ||
pazifischen Raum. | pazifischen Raum. | ||
− | + | '''Der transatlantische Sklavenhandel durchlief mehrere Phasen:''' | |
− | Im | + | Im '''15. und 16. Jahrhundert''' wurden die Sklaven in der Neuen Welt |
hauptsächlich für den Minenabbau von Silber, Gold und anderen Metallen | hauptsächlich für den Minenabbau von Silber, Gold und anderen Metallen | ||
eingesetzt, ab dem 17. Jahrhundert dominierte der Zuckerrohranbau auf | eingesetzt, ab dem 17. Jahrhundert dominierte der Zuckerrohranbau auf | ||
den karibischen Inseln und der Tabakanbau in Nordamerika und damit wurde | den karibischen Inseln und der Tabakanbau in Nordamerika und damit wurde | ||
Plantagensklaverei die zentrale Produktionsweise der Neuen Welt. Das | Plantagensklaverei die zentrale Produktionsweise der Neuen Welt. Das | ||
− | + | '''18. Jahrhundert''' bezeichnet Wolf als "Goldenes Zeitalter der | |
Sklaverei", mit Jamaica und Haiti als ökonomischen Zentren. Obwohl die | Sklaverei", mit Jamaica und Haiti als ökonomischen Zentren. Obwohl die | ||
Sklaverei um die Jahrhundertwende von den meisten am transatlantischen | Sklaverei um die Jahrhundertwende von den meisten am transatlantischen | ||
Handel beteiligten Mächten offiziell abgeschafft wurde, gelangten laut | Handel beteiligten Mächten offiziell abgeschafft wurde, gelangten laut | ||
− | Wolf | + | Wolf '''bis 1870 noch über 2 Mill. afrikanische Sklaven auf den Markt''', |
wobei 80% davon in die Neue Welt importiert wurden, ein großer Teil | wobei 80% davon in die Neue Welt importiert wurden, ein großer Teil | ||
davon nach Kuba als zentraler Zuckerproduzent des 19. Jahrhundert. | davon nach Kuba als zentraler Zuckerproduzent des 19. Jahrhundert. | ||
− | Wolf beschäftigt sich mit dem | + | Wolf beschäftigt sich mit dem '''historischen Verlauf der Involvierung |
− | der europäischen und afrikanischen Mächte und Regionen | + | der europäischen und afrikanischen Mächte und Regionen''', wobei sein |
Hauptinteresse auf den politisch-ökonomischen Motivationen und | Hauptinteresse auf den politisch-ökonomischen Motivationen und | ||
Auswirkungen des Handels liegt. Als einer der ersten im Bereich der | Auswirkungen des Handels liegt. Als einer der ersten im Bereich der | ||
Line 6,257: | Line 5,608: | ||
Beteiligten: | Beteiligten: | ||
− | + | <blockquote>Die Aufgabe, die Sklaven zu ergreifen, zu versorgen und innerhalb Afrikas zu transportieren, lag in afrikanischen Händen; die Europäer hingegen sorgten anschließend dafür, daß sie nach Übersee verfrachtet, dort akklimatisiert bzw. 'gebrochen' und abschließend an die Sklavenhalter verkauft wurden. Um die amerikanische Nachfrage befriedigen zu können, war der Sklavehandel darauf angewiesen, daß Menschenaufkäufer und Menschenlieferanten aktiv zusammenarbeiteten und daß diese Aktivitäten von beiden Seiten subtil aufeinander abgestimmt waren". (Wolf 1991: 322f)</blockquote> | |
− | Afrikas zu transportieren, lag in afrikanischen Händen; die Europäer | ||
− | hingegen sorgten anschließend dafür, daß sie nach Übersee verfrachtet, | ||
− | dort akklimatisiert bzw. 'gebrochen' und abschließend an die | ||
− | Sklavenhalter verkauft wurden. Um die amerikanische Nachfrage | ||
− | befriedigen zu können, war der Sklavehandel darauf angewiesen, daß | ||
− | Menschenaufkäufer und Menschenlieferanten aktiv zusammenarbeiteten und | ||
− | daß diese Aktivitäten von beiden Seiten subtil aufeinander abgestimmt | ||
− | waren" | ||
− | In Auseinandersetzung mit den Thesen von Eric Williams zu frühem | + | In Auseinandersetzung mit den Thesen von Eric Williams zu frühem Kapitalismus und Industrialisierung Europas (Williams 1996), in denen er erläutert, dass England aufgrund seiner Dominanz im transatlantischen Handel die führende Position in der ökonomisch-technologischen Entwicklung einnahm, '''sieht Wolf den Sklavenhandel nicht als einziges Element, wohl aber als den "maßgeblichen dynamischen Faktor" der |
− | Kapitalismus und Industrialisierung Europas (Williams 1996), in denen er | + | wirtschaftlichen Transformationen und des Aufstiegs Europas an'''. |
− | erläutert, dass England aufgrund seiner Dominanz im transatlantischen | ||
− | Handel die führende Position in der ökonomisch-technologischen | ||
− | Entwicklung einnahm, | ||
− | Element, wohl aber als den "maßgeblichen dynamischen Faktor" der | ||
− | wirtschaftlichen Transformationen und des Aufstiegs Europas an | ||
Der transatlantische Sklavenhandel hatte auf alle Beteiligten, ob | Der transatlantische Sklavenhandel hatte auf alle Beteiligten, ob | ||
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====5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff==== | ====5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff==== | ||
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− | [[File:theogrundlagen-307_1.gif|frame| | + | [[File:theogrundlagen-307_1.gif|frame|center|Aufriss des Sklavenschiffs "La Vigilante", Fassungsvermögen 227 Männer und 120 Frauen, ca 1822. Quelle: Assogba (1990: 31).]] |
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+ | ====5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation==== | ||
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+ | [[File:theogrundlagen-308_1.jpg|frame|center|Bouche du roi. Installation von Romuald Hazoumé (2005), Houston, Texas: The Menil Collection.Quelle: Zinsou (2005: 83).]] | ||
====5.3.1.1.2.4 Warenströme==== | ====5.3.1.1.2.4 Warenströme==== | ||
− | + | ---- | |
− | [[File:theogrundlagen-250_1.jpg|frame| | + | [[File:theogrundlagen-250_1.jpg|frame|left|Romuald Hazoumé, "Porta via" (Installation), 2002, Foto Philippe Roudy. Quelle: Zinsou 2005.]] |
− | + | Im '''19. Jahrhundert erhöhte sich in Europa die Nachfrage nach | |
− | Im | + | Rohstoffen und Nahrungsmitteln''' und ließ einen stark erweiterten Markt |
− | Rohstoffen und Nahrungsmitteln | ||
von weltweiten Dimensionen entstehen. | von weltweiten Dimensionen entstehen. | ||
− | + | <blockquote>Ganze Regionen spezialisierten sich auf die Produktion einiger weniger Rohstoffe oder landwirtschaftlich erzeugter Nahrungs- und Genussmittel. Ein solche regionale Spezialisierung hatte sich zum Teil schon unter der Ägide des Handels entwickelt - ein Beispiel ist die Zuckerproduktion in der karibischen Region. In anderen Fällen - das gilt z.B. für die Baumwollanbauregionen der Vereinigten Staaten, Ägyptens und Indiens - war die Spezialisierung die Antwort auf die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung." (Wolf 1991: 432)</blockquote> | |
− | weniger Rohstoffe oder landwirtschaftlich erzeugter Nahrungs- und | ||
− | Genussmittel. Ein solche regionale Spezialisierung hatte sich zum Teil | ||
− | schon unter der Ägide des Handels entwickelt - ein Beispiel ist die | ||
− | Zuckerproduktion in der karibischen Region. In anderen Fällen - das gilt | ||
− | z.B. für die Baumwollanbauregionen der Vereinigten Staaten, Ägyptens und | ||
− | Indiens - war die Spezialisierung die Antwort auf die Anfänge der | ||
− | kapitalistischen Entwicklung." | ||
− | Diese Entwicklungen | + | Diese Entwicklungen '''intensivierten den Warentausch''' zwischen unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Gefügen bzw. |
− | unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Gefügen bzw. | ||
Produktionsweisen. Wolf bezeichnet diesen Markt als "eine Arena, in der | Produktionsweisen. Wolf bezeichnet diesen Markt als "eine Arena, in der | ||
sich die widerstreitenden Produktionsweisen - auf der Ebene des | sich die widerstreitenden Produktionsweisen - auf der Ebene des | ||
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umgekrempelt" (Wolf 1991: 433). | umgekrempelt" (Wolf 1991: 433). | ||
− | + | '''Warenströme prägen bis heute maßgeblich die ökonomischen und | |
− | kulturellen Prozesse | + | kulturellen Prozesse''' und werden meist in Zusammenhang mit |
Fragestellungen der Globalisierung (link maria) und/oder des | Fragestellungen der Globalisierung (link maria) und/oder des | ||
transkulturellen Konsums untersucht (link maria). Da Waren bzw. Dinge | transkulturellen Konsums untersucht (link maria). Da Waren bzw. Dinge | ||
nicht nur über Gebrauchs- und Tauschwert sondern auch über Bedeutung | nicht nur über Gebrauchs- und Tauschwert sondern auch über Bedeutung | ||
− | verfügen, fließen Warenströme und Kulturströme ( | + | verfügen, fließen Warenströme und Kulturströme ('cultural flows') oft |
mit- und ineinander (vgl. z.B. Appadurai 2001, Spittler 2002). | mit- und ineinander (vgl. z.B. Appadurai 2001, Spittler 2002). | ||
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====5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika==== | ====5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika==== | ||
+ | ---- | ||
+ | [[File:theogrundlagen-251_1.gif|frame|right|Routen für den Nordamerikanischen Pelzhandel. Quelle: Wolf (1997), Karte: 162.]]<blockquote>Über drei Jahrhunderte lang blühte und expandierte der Pelzhandel in Nordamerika und zog ständig neue Gruppen der Ureinwohner in die immer weiter aufgreifende Kreisläufe des Warentausches, der sich zwischen den hereinströmenden Europäern und ihren eingeborenen Handelpartnern angebahnt hatte. (Wolf 1991: 274)</blockquote> | ||
− | + | '''Native Americans''' (USA, Kanada) lieferten seit dem 17. Jahrhundert durch eine Intensivierung der Jagd vor allem Biberpelze für den europäischen Hutmarkt und erwarben dafür diverse Produkte aus landwirtschaftlicher und industrieller Produktion. Neben den Hackbau treibenden Gruppen der Ostküste waren vor allem Jäger und Sammler-Gemeinschaften in die Handelsnetzwerke involviert. Der | |
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− | durch eine Intensivierung der Jagd vor allem Biberpelze für den | ||
− | europäischen Hutmarkt und erwarben dafür diverse Produkte aus | ||
− | landwirtschaftlicher und industrieller Produktion. Neben den Hackbau | ||
− | treibenden Gruppen der Ostküste waren vor allem Jäger und | ||
− | Sammler-Gemeinschaften in die Handelsnetzwerke involviert. Der | ||
Pelzhandel und die europäischen Händler wanderten im Laufe der nächsten | Pelzhandel und die europäischen Händler wanderten im Laufe der nächsten | ||
Jahrhunderte von Neufundland bis an die kanadische Pazifikküste, da die | Jahrhunderte von Neufundland bis an die kanadische Pazifikküste, da die | ||
Biber-Bestände nach und nach ausgerottet wurden (Wolf 1986: 232). | Biber-Bestände nach und nach ausgerottet wurden (Wolf 1986: 232). | ||
− | + | [[File:theogrundlagen-251_2.jpg|frame|left|Kwakiutl Chief, Ethnologisches Museum, Berlin, Foto JohnsonQuelle: '''https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html [https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html [1]]''']] | |
− | [[File:theogrundlagen- | + | An der '''kanadischen Pazifikküste''' bei den Kwakiutl, Tlingit, Haida und |
− | |||
− | An der | ||
Tsimian bildeten im 18. und 19. Jahrhundert Seeotterfelle eine wichtige | Tsimian bildeten im 18. und 19. Jahrhundert Seeotterfelle eine wichtige | ||
Handelsware, die gegen Metallgegenstände, Stoffe, Decken, Rum, Tabak und | Handelsware, die gegen Metallgegenstände, Stoffe, Decken, Rum, Tabak und | ||
Line 6,364: | Line 5,678: | ||
die als lokale Händler fungierten und dadurch Macht über die neuen Güter | die als lokale Händler fungierten und dadurch Macht über die neuen Güter | ||
besaßen. Diese Personen nutzten ihre führende Rolle im Pelzhandel u.a. | besaßen. Diese Personen nutzten ihre führende Rolle im Pelzhandel u.a. | ||
− | + | "zur Aufstockung ihres '''potlatch - Vermögens''' (link Jäger und | |
Sammler), zum Ausbau ihrer Verwandtschaftsbeziehungen durch gezielte | Sammler), zum Ausbau ihrer Verwandtschaftsbeziehungen durch gezielte | ||
Heiratspolitik, zur Ausweitung ihres Handelsnetzwerkes und zur Stärkung | Heiratspolitik, zur Ausweitung ihres Handelsnetzwerkes und zur Stärkung | ||
− | ihrer gesellschaftlichen Vorrechte" | + | ihrer gesellschaftlichen Vorrechte" (Wolf 1991: 269). |
− | |||
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− | Die | + | Die '''wachsende Konservenindustrie''' (Lachs) in der Region beschäftigte |
im 19. Jahrhundert Männer der Kwakiutl als Fischer und Frauen als | im 19. Jahrhundert Männer der Kwakiutl als Fischer und Frauen als | ||
Arbeiterinnen. In dieser Zeit ging die Bevölkerungszahl in | Arbeiterinnen. In dieser Zeit ging die Bevölkerungszahl in | ||
Line 6,382: | Line 5,694: | ||
Autonomie halten bis heute an. | Autonomie halten bis heute an. | ||
− | + | '''Kwakiutl im WWW:''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm [https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm [2]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm [https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm [3]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk [https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk [4]]''' | |
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html [https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html [5]]''' | |
+ | |||
+ | '''Verweise:''' | ||
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[https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html [1] https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html [1] https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm [2] https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm [2] https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm]<br/> | ||
Line 6,398: | Line 5,711: | ||
[https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk [4] https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk [4] https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html [5] https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html [5] https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html]<br/> | ||
− | |||
− | |||
====5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee==== | ====5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee==== | ||
− | + | ---- | |
− | + | [[File:theogrundlagen-252_1.jpg|frame|left|Opiumkonsum in China. Quelle: '''https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html [https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html [2]]''']][[File:theogrundlagen-252_2.jpg|frame|right|Karikatur über Kolonialpolitik des 19.Jh. in China. Quelle: '''https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/ [https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/ [3]]''']] | |
+ | '''Warenströme kennzeichnen Handel und Eroberungspolitik''' in Asien im | ||
18. und 19. Jahrhundert. Seit dem Beginn der europäischen Expansion in | 18. und 19. Jahrhundert. Seit dem Beginn der europäischen Expansion in | ||
− | diesem Raum besteht ein | + | diesem Raum besteht ein '''Naheverhältnis von Handel''' (z.B. |
Gewürzhandel) und der Ausdehnung des Machtgefüges verschiedener | Gewürzhandel) und der Ausdehnung des Machtgefüges verschiedener | ||
europäischer Staaten (Portugal, Niederlande, England). So galt den | europäischer Staaten (Portugal, Niederlande, England). So galt den | ||
Line 6,411: | Line 5,723: | ||
Konservierungsmittel für Fleisch und Fisch gefragt war - als die | Konservierungsmittel für Fleisch und Fisch gefragt war - als die | ||
"Substanz Ostindiens". Die frühe Phase der Expansion wurde maßgeblich | "Substanz Ostindiens". Die frühe Phase der Expansion wurde maßgeblich | ||
− | von Handelshäusern - wie der | + | von Handelshäusern - wie der 'East India Company' - bestimmt. |
In verschiedenen Etappen der Kolonisation großer Teile Süd- und | In verschiedenen Etappen der Kolonisation großer Teile Süd- und | ||
Line 6,428: | Line 5,740: | ||
finanzierte, bestand aus | finanzierte, bestand aus | ||
− | + | * Baumwolllieferungen von Indien nach China, die in Silber an regionale Händler bezahlt wurden, | |
− | + | * die Händler kauften mit diesem Silber Kreditbriefe der East India Company, | |
− | + | * die East India Company kaufte mit dem Silber Tee in China. | |
− | |||
− | |||
Der Dreieckshandel konnte jedoch den Tee-Import nicht ausreichend | Der Dreieckshandel konnte jedoch den Tee-Import nicht ausreichend | ||
finanzieren, und immer größere Mengen des amerikanischen | finanzieren, und immer größere Mengen des amerikanischen | ||
− | + | '''Silbers[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda|[1]]]''' mussten in den Handel investiert werden. Es kam zu | |
− | einem | + | einem '''Abfluss an Edelmetallen''' - eine Dynamik, die seit dem römischen |
Reich immer wieder den europäischen Handel mit Indien und China | Reich immer wieder den europäischen Handel mit Indien und China | ||
gekennzeichnet hat. | gekennzeichnet hat. | ||
− | |||
− | |||
Um diesen Kreislauf zu ihrem Vorteil zu unterbrechen, begann die schwer | Um diesen Kreislauf zu ihrem Vorteil zu unterbrechen, begann die schwer | ||
− | verschuldete | + | verschuldete 'East India Company' mit dem '''massiven Verkauf von |
− | indischem Opium in China | + | indischem Opium in China''', ein illegales doch äußerst profitables |
Geschäft. Der Bedarf an Opium stieg mit der raschen Verbreitung des | Geschäft. Der Bedarf an Opium stieg mit der raschen Verbreitung des | ||
Suchtmittels und nach einigen Jahrzehnten setzten bengalische, englische | Suchtmittels und nach einigen Jahrzehnten setzten bengalische, englische | ||
Line 6,458: | Line 5,766: | ||
357-360, 475-480). | 357-360, 475-480). | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda|[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.1]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda|[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.1]]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html [2] https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html [2] https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/ [3] https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/ [3] https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/]<br/> | ||
− | |||
− | |||
====5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet==== | ====5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet==== | ||
+ | ---- | ||
− | Die | + | Die '''Warenströme im 19. Jahrhundert''' beinhalteten auch pflanzliche |
Produkte für gewerbliche Zwecke. Dazu zählte der Kautschuk, der als | Produkte für gewerbliche Zwecke. Dazu zählte der Kautschuk, der als | ||
industrieller Grundstoff nach der Erfindung der Vulkanisierungstechnik | industrieller Grundstoff nach der Erfindung der Vulkanisierungstechnik | ||
Line 6,480: | Line 5,786: | ||
[[File:theogrundlagen-253_1.jpg|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-253_1.jpg|frame|right]] | ||
− | Kautschuk | + | '''Kautschuk''' |
− | (das Harz des Baums | + | (das Harz des Baums 'Hevea Brasliliensis') wurde während des größten |
Teils des 19. Jahrhunderts von wild wachsenden Bäumen in den tropischen | Teils des 19. Jahrhunderts von wild wachsenden Bäumen in den tropischen | ||
Regenwäldern des Amazonasgebiets gezapft. Der Kautschukboom - die | Regenwäldern des Amazonasgebiets gezapft. Der Kautschukboom - die | ||
Line 6,490: | Line 5,796: | ||
und Indonesien zum Erliegen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde | und Indonesien zum Erliegen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde | ||
Kautschuk als Rohmaterial zum Großteil durch Kunststoffe abgelöst. | Kautschuk als Rohmaterial zum Großteil durch Kunststoffe abgelöst. | ||
− | + | <div><ul> | |
− | [[File:theogrundlagen-253_2.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-253_2.jpg|thumb|none|Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.]] </li> |
− | [[File:theogrundlagen-253_3.jpg| | + | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-253_3.jpg|thumb|none|Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.]] </li> |
+ | </ul></div> | ||
Kautschuk wurde im Amazonasgebiet von Indianern und Siedlern gesammelt, | Kautschuk wurde im Amazonasgebiet von Indianern und Siedlern gesammelt, | ||
Line 6,502: | Line 5,809: | ||
durch die entsprechenden Mengen an Kautschuk abgegolten werden musste. | durch die entsprechenden Mengen an Kautschuk abgegolten werden musste. | ||
Das Prinzip setzte sich (mit immer schlechter werdenden Konditionen) bis | Das Prinzip setzte sich (mit immer schlechter werdenden Konditionen) bis | ||
− | zu den Kautschuksammlern fort und etablierte ein | + | zu den Kautschuksammlern fort und etablierte ein '''brutales System von |
− | Schuldknechtschaft und Zwangsarbeit | + | Schuldknechtschaft und Zwangsarbeit'''. |
− | Der | + | Der '''Kautschukboom''' hatte weitreichende Folgen für die Bevölkerung des |
Amazonasgebiets, er wird von Santos-Granero (1996) als zweite Welle der | Amazonasgebiets, er wird von Santos-Granero (1996) als zweite Welle der | ||
Kolonisation bezeichnet (nach Conquista und Missionsherrschaft im 17. | Kolonisation bezeichnet (nach Conquista und Missionsherrschaft im 17. | ||
Line 6,511: | Line 5,818: | ||
umfassen eine große Bandbreite von Phänomenen: | umfassen eine große Bandbreite von Phänomenen: | ||
− | + | * Genozid (etwa in der Region des Rio Putumayo in Kolumbien) | |
− | + | * Zwangsumsiedlungen (z.B. Quechua in Ecuador und Peru) | |
− | + | * Hungersnöte (durch die erzwungene Vernachlässigung der Subsistenztätigkeiten) | |
− | + | * massiver Bevölkerungsrückgang durch eingeschleppte Krankheiten | |
− | + | * großräumige Migrationsbewegungen | |
− | + | * interethnische Konflikte | |
− | + | * Aneignung von neuen Gütern | |
− | + | * kulturelle Hybridisierung | |
− | + | * Genese neuer kultureller und sozialer Gefüge | |
− | + | * verschiedene Transformationen der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung einzelner Gruppen | |
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
====5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)==== | ====5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)==== | ||
− | + | ---- | |
+ | [[File:theogrundlagen-254_1.jpg|frame|right|Marilda Castanha. Die Schöpfung der Welt in der Mythologie der MundurukuQuelle: '''https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html [https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html [1]]''']] | ||
Aufbauend auf den Studien von Robert Murphy (1960) erörtert Wolf | Aufbauend auf den Studien von Robert Murphy (1960) erörtert Wolf | ||
Veränderungsprozesse der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung | Veränderungsprozesse der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung | ||
− | am Beispiel der Mundurucú in Brasilien. | + | am Beispiel der Mundurucú in Brasilien. '''Die Kautschukgewinnung |
− | beeinflusste dort Siedlungsstruktur, Mobilität (link) und Subsistenz | + | beeinflusste dort Siedlungsstruktur, Mobilität (link) und Subsistenz''': |
Die traditionelle Subsistenz der Mundurucú ist eine Form der "tropical | Die traditionelle Subsistenz der Mundurucú ist eine Form der "tropical | ||
forest horticulture" (link) und umfasste Pflanzungen (primär Maniok), | forest horticulture" (link) und umfasste Pflanzungen (primär Maniok), | ||
Line 6,551: | Line 5,855: | ||
Austauschbeziehungen (Wolf 1991: 453-456). | Austauschbeziehungen (Wolf 1991: 453-456). | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html [1] https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html [1] https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html]<br/> | ||
− | |||
− | |||
==5.3.2 Sidney Mintz== | ==5.3.2 Sidney Mintz== | ||
− | [[File:theogrundlagen-255_1.jpg|frame|right|Quelle: | + | [[File:theogrundlagen-255_1.jpg|frame|right|Quelle: '''http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg [http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg [1]]''']] |
− | + | '''Sidney Mintz (*1922)''' | |
− | + | '''Relevante Werke:''' | |
1960: Worker in the Cane | 1960: Worker in the Cane | ||
Line 6,570: | Line 5,871: | ||
1985: Sweetness and Power | 1985: Sweetness and Power | ||
− | + | '''Sidney Mintz''' studierte gleichzeitig mit '''Eric Wolf''' an der | |
− | Columbia University und gehörte wie dieser zum engeren | + | Columbia University und gehörte wie dieser zum engeren '''Schülerkreis |
− | von Julian Steward | + | von Julian Steward'''. Ab den späten 1940er Jahren beschäftigte er sich |
− | mit der | + | mit der '''Zuckerproduktion in der Karibik''', arbeite die inneren |
Widersprüche der Plantagensklaverei und deren ökonomische Verflechtung | Widersprüche der Plantagensklaverei und deren ökonomische Verflechtung | ||
mit der Arbeiterklasse in englischen Fabriken auf (vgl. Durrenberger | mit der Arbeiterklasse in englischen Fabriken auf (vgl. Durrenberger | ||
2005: 131; Robotham 2005: 46). | 2005: 131; Robotham 2005: 46). | ||
− | Mit Eric Wolf teilt er auch sein | + | Mit Eric Wolf teilt er auch sein '''intensives Interesse für historische |
− | Prozesse und Verbindungen | + | Prozesse und Verbindungen'''. Auf theoretischer Ebene versucht er |
kulturanthropologische Ansätze mit historisch- materialistischen | kulturanthropologische Ansätze mit historisch- materialistischen | ||
Konzepten zu verbinden. Regional liegt sein Fokus auf der Karibik und | Konzepten zu verbinden. Regional liegt sein Fokus auf der Karibik und | ||
thematisch konzentriert er sich nach Sweetness and Power (1985) | thematisch konzentriert er sich nach Sweetness and Power (1985) | ||
− | zunehmend auf eine | + | zunehmend auf eine '''Anthropologie der Ernährung'''. |
+ | |||
+ | '''Sidney Mintz im WWW:''' | ||
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/ [https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/ [2]]''' | |
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
[http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg [1] http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg]<br/> | [http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg [1] http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/ [2] https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/]<br/> | [https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/ [2] https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/]<br/> | ||
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===5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers=== | ===5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers=== | ||
+ | ---- | ||
[[File:theogrundlagen-256_1.gif|frame|right]] | [[File:theogrundlagen-256_1.gif|frame|right]] | ||
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(Mintz 1987: 13) | (Mintz 1987: 13) | ||
− | + | '''"Die süße Macht"''' (Mintz 1987) analysiert diese Prozesse am | |
Beispiel des Zuckers. Das Buch beschäftigt sich mit verschiedenen | Beispiel des Zuckers. Das Buch beschäftigt sich mit verschiedenen | ||
Elementen bzw. Stadien im Zuge der "Biographie" (Kopytoff 1986) dieses | Elementen bzw. Stadien im Zuge der "Biographie" (Kopytoff 1986) dieses | ||
tropischen Produkts. Dazu zählen: | tropischen Produkts. Dazu zählen: | ||
− | + | * Anthropologie der Ernährung | |
− | + | * Bedeutung der Süße | |
− | + | * Produktion von Zucker für das britische Königreich | |
− | + | * Plantagenwirtschaft und Sklaverei in der Karibik | |
− | + | * Geschichte des Konsums von Zucker im Abendland | |
− | + | * Bedeutung von Zucker für die moderne Gesellschaft - Umstände, Zusammenhänge, Ursachen | |
− | |||
====5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker==== | ====5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker==== | ||
− | + | ---- | |
− | Der | + | [[File:theogrundlagen-257_1.gif|frame|right]] |
− | Anthropologie des modernen Lebens | + | Der '''anthropologische Blick auf Essen und Ernährung als Teilstück einer |
+ | Anthropologie des modernen Lebens''' fokussiert sich im ersten Abschnitt | ||
des Buches von Mintz (1987) das Süße: Süße ist ein Geschmack und eine | des Buches von Mintz (1987) das Süße: Süße ist ein Geschmack und eine | ||
Qualität, die von allen Menschen empfunden wird, jedoch in | Qualität, die von allen Menschen empfunden wird, jedoch in | ||
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ökonomischen Prozessen eingebunden. | ökonomischen Prozessen eingebunden. | ||
− | + | '''Mintz analysiert die Bedeutung der Süße''' im Rahmen der Geschichte der | |
− | |||
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Nahrung in Europa. | Nahrung in Europa. | ||
− | + | <blockquote>Wenngleich Fürchte und Honig für die Engländer vor 1650 die Hauptquelle für Süße darstellten, scheinen sie in der englischen Kost keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Zucker, gewonnen aus dem Saft des Zuckerrohrs, erreichte England in kleinen Mengen etwa ums Jahr 1100; während der folgenden 500 Jahre stieg die Menge des verfügbaren Rohrzuckers ohne Zweifel an, aber nur langsam und keineswegs stetig. (Mintz 1987:26)</blockquote> | |
− | Hauptquelle für Süße darstellten, scheinen sie in der englischen Kost | ||
− | keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Zucker, gewonnen aus dem Saft | ||
− | des Zuckerrohrs, erreichte England in kleinen Mengen etwa ums Jahr 1100; | ||
− | während der folgenden 500 Jahre stieg die Menge des verfügbaren | ||
− | Rohrzuckers ohne Zweifel an, aber nur langsam und keineswegs stetig. | ||
− | (Mintz 1987:26) | ||
− | + | '''Ab dem 16. Jahrhundert kommt es zu einer erheblichen Steigerung des | |
− | Konsums von Süßen | + | Konsums von Süßen''', und zwar in erster Linie von Zucker, ein Prozess, |
der im 19.Jahrhundert extrem akzeleriert und im 20.Jahrhundert seinen | der im 19.Jahrhundert extrem akzeleriert und im 20.Jahrhundert seinen | ||
Höhepunkt erreicht. Heute stellt Zucker einen unentbehrlichen | Höhepunkt erreicht. Heute stellt Zucker einen unentbehrlichen | ||
Bestandteil der Ernährung in Europa (und anderswo) dar. | Bestandteil der Ernährung in Europa (und anderswo) dar. | ||
− | |||
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====5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers==== | ====5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers==== | ||
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+ | [[File:theogrundlagen-258_1.jpg|frame|left|Zuckerwatte am Wiener Christkindlmarkt. Foto: Elke Mader]] | ||
In Anbetracht der geringen Relevanz von Zucker bzw. Süßem für die | In Anbetracht der geringen Relevanz von Zucker bzw. Süßem für die | ||
europäischen Ernährungsgewohnheiten bis zum 19. Jahrhundert, wo Zucker | europäischen Ernährungsgewohnheiten bis zum 19. Jahrhundert, wo Zucker | ||
zu einem festen Bestandteil der Ernährung wurde, analysiert Mintz (1987) | zu einem festen Bestandteil der Ernährung wurde, analysiert Mintz (1987) | ||
die verschiedenen Gründe für diese Veränderungen. Eine zentrale Frage | die verschiedenen Gründe für diese Veränderungen. Eine zentrale Frage | ||
− | beschäftigt sich mit der | + | beschäftigt sich mit der '''Bedeutung des Zuckers'''. |
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+ | <blockquote>Die »Bedeutung« läßt sich in diesem Fall nicht einfach »ablesen« oder »entziffern«, sie erwächst vielmehr aus dem kulturellen Gebrauch, den der Zucker von sich machen ließ, aus den Verwendungen, denen er zugeführt wurde. Kurz, die Bedeutung ist eine Konsequenz einer Aktivität. Das heißt nicht, Kultur sei nichts als eine Art von Verhalten (oder lasse sich alleine darauf reduzieren). Aber nicht danach zu fragen, wie die Bedeutung in das Verhalten hineingelangt, das Produkt ohne Kenntnis seiner Produktion erfassen zu wollen, heißt die Geschichte - wieder einmal - auszublenden, sie zu ignorieren. [...] Es gilt den Prozess der Kodifizierung und nicht nur den Kode selbst zu entschlüsseln. (Mintz 1987: 41)</blockquote> | ||
+ | '''Mintz''' widmet sich demnach primär einer '''politischen Ökonomie der Bedeutungen des Zuckers''', die eng mit der Untersuchung der sozio-ökonomischen Dynamik von Produktion, Zirkulation und Konsum verflochten ist. | ||
====5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei==== | ====5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei==== | ||
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− | + | [[File:theogrundlagen-259_1.gif|frame|right]] | |
+ | '''Zuckerrohr''' wurde erstmals (ca. 8000 v. Chr.) in Neuguinea als | ||
Kulturpflanze angebaut und verbreitete sich von dort in mehreren Wellen | Kulturpflanze angebaut und verbreitete sich von dort in mehreren Wellen | ||
durch Asien, nach Europa und schließlich nach Amerika. Die frühesten | durch Asien, nach Europa und schließlich nach Amerika. Die frühesten | ||
Line 6,710: | Line 5,988: | ||
1987: 47-53). | 1987: 47-53). | ||
− | + | '''In seiner langen Geschichte war Zucker nie ein Grundnahrungsmittel''' | |
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gewesen, in Europa stellte er bis ins 18.Jahrhundert einen Luxusartikel | gewesen, in Europa stellte er bis ins 18.Jahrhundert einen Luxusartikel | ||
dar, nach dem jedoch zunehmende Nachfrage bestand. Die drastischen | dar, nach dem jedoch zunehmende Nachfrage bestand. Die drastischen | ||
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einer bestimmten Produktionsweise des Zuckers, nämlich mit | einer bestimmten Produktionsweise des Zuckers, nämlich mit | ||
Plantagenwirtschaft und Sklaverei. Es bildeten sich | Plantagenwirtschaft und Sklaverei. Es bildeten sich | ||
− | + | '''Handelsdreiecke[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|[1]]]''' heraus, die im 17. Jahrhundert entstanden und | |
im 18. Jahrhundert zur Blüte gelangten: | im 18. Jahrhundert zur Blüte gelangten: | ||
− | + | <blockquote>Das erste und berühmtere Dreieck verband Britannien mit Afrika und der Neuen Welt: Fertigwaren wurden an Afrika verkauft, afrikanische Sklaven an beide Amerikas und amerikanische tropische Produkte (insbesondere Zucker) an das englische Mutterland und seine auf Importe angewiesenen Nachbarn. (Mintz 1987: 71)</blockquote> | |
− | der Neuen Welt: Fertigwaren wurden an Afrika verkauft, afrikanische | ||
− | Sklaven an beide Amerikas und amerikanische tropische Produkte | ||
− | (insbesondere Zucker) an das englische Mutterland und seine auf Importe | ||
− | angewiesenen Nachbarn. | ||
− | + | Eine wichtige Besonderheit dieser beiden Dreiecke bestand darin, daß menschliches Frachtgut in ihrem Funktionszusammenhang eine entscheidend wichtige Rolle spielte. Es war nicht nur so, daß Zucker, Rum und Melasse nicht direkt gegen europäische Fertigwaren ausgetauscht wurden; in beiden transatlantischen Dreiecken gab es eine »falsche Ware« - die aber für das System absolut unentbehrlich war - sie bestand in menschlichen Wesen, in Menschen. Sklaven waren deshalb eine »falsche Ware«, weil der Mensch kein Gegenstand ist, selbst wenn er als solcher behandelt wird. (Mintz 1987: 72)</blockquote> '''Die Geschichte der Produktion von Zucker in der Neuzeit ist also aufs Engste mit dem Kolonialismus und insbesondere mit dem transatlantischen Sklavenhandel verflochten.''' Die Steigerung des Absatzes bzw. des Konsums von Zucker steht wiederum in Zusammenhang mit den Transformationen der Ökonomie und der Arbeitswelt in Europa. | |
− | menschliches Frachtgut in ihrem Funktionszusammenhang eine entscheidend | ||
− | wichtige Rolle spielte. Es war nicht nur so, daß Zucker, Rum und Melasse | ||
− | nicht direkt gegen europäische Fertigwaren ausgetauscht wurden; in | ||
− | beiden transatlantischen Dreiecken gab es eine »falsche Ware« - die aber | ||
− | für das System absolut unentbehrlich war - sie bestand in menschlichen | ||
− | Wesen, in Menschen. Sklaven waren deshalb eine »falsche Ware«, weil der | ||
− | Mensch kein Gegenstand ist, selbst wenn er als solcher behandelt | ||
− | wird. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt|[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3]]<br/> | ||
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====5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht==== | ====5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht==== | ||
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− | + | <blockquote>Der Zucker durchdrang das soziale Verhalten und wurde, indem er neuen Verwendungsarten zugeführt und mit neuen Bedeutungen versehen wurde, von einer Kuriosität und einem Luxusgut in einen alltäglichen, notwendigen Gebrauchsartikel transformiert. Das Verhältnis von Produktion und Konsumtion findet möglicherweise sogar eine Parallele in dem Verhältnis von Verwendung und Bedeutung." (Mintz 1987: 27)</blockquote> | |
− | Verwendungsarten zugeführt und mit neuen Bedeutungen versehen wurde, von | ||
− | einer Kuriosität und einem Luxusgut in einen alltäglichen, notwendigen | ||
− | Gebrauchsartikel transformiert. Das Verhältnis von Produktion und | ||
− | Konsumtion findet möglicherweise sogar eine Parallele in dem Verhältnis | ||
− | von Verwendung und Bedeutung." | ||
− | + | '''Mintz betrachtet die Veränderungen von Verwendung und Bedeutung von Zucker''' im Kontext der sozio-ökonomischen Veränderungen in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Durch die umfangreiche Produktion in den Zuckerkolonien mit Sklaverei wurde Zucker billiger und war reichlicher vorhanden, dementsprechend nahm sein Potential als Machtsymbol ab. | |
− | Zucker | ||
− | 18. und 19. Jahrhundert. Durch die umfangreiche Produktion in den | ||
− | Zuckerkolonien mit Sklaverei wurde Zucker billiger und war reichlicher | ||
− | vorhanden, dementsprechend nahm sein Potential als Machtsymbol ab. | ||
Zucker wandelte sich von einer prestigereichen Zierde am Tisch des Adels | Zucker wandelte sich von einer prestigereichen Zierde am Tisch des Adels | ||
und der Oberschicht zum Kapital. Der symbolische Prestigeverlust von | und der Oberschicht zum Kapital. Der symbolische Prestigeverlust von | ||
Line 6,768: | Line 6,017: | ||
Quelle von Profit. | Quelle von Profit. | ||
− | + | <blockquote>Im 18. Jahrhundert wurde das Geschäft mit dem Zucker, ob es sich um die Produktion, den Transport, das Raffinieren oder die Besteuerung handelte, insofern zu einer viel effektiveren Machtquelle für die Herrschenden, als die Geldsummen, um die es ging, nun sehr viel größer waren." (Mintz 1987: 125)</blockquote> | |
− | die Produktion, den Transport, das Raffinieren oder die Besteuerung | ||
− | handelte, insofern zu einer viel effektiveren Machtquelle für die | ||
− | Herrschenden, als die Geldsummen, um die es ging, nun sehr viel größer | ||
− | waren." | ||
− | Die gestiegene Verwendung von Zucker stand auch in Zusammenhang mit drei | + | Die gestiegene Verwendung von Zucker stand auch in Zusammenhang mit drei anderen exotischen Importgütern - Tee, Kaffee und Kakao. Sie stammen ebenfalls aus den Tropen und ihre Produktion, Zirkulation und Konsumption ist wiederum aufs engste mit dem Kolonialismus verbunden (z.B. der '''Teehandel[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee|[1]]]''' mit der britischen Expansion in Asien). |
− | anderen exotischen Importgütern - Tee, Kaffee und Kakao. Sie stammen | ||
− | ebenfalls aus den Tropen und ihre Produktion, Zirkulation und | ||
− | Konsumption ist wiederum aufs engste mit dem Kolonialismus verbunden | ||
− | (z.B. der | ||
Alle drei stimulierenden Getränke sind bitter und ihre rapide | Alle drei stimulierenden Getränke sind bitter und ihre rapide | ||
Verbreitung in Europa seit dem 18. Jahrhundert geht Hand in Hand mit der | Verbreitung in Europa seit dem 18. Jahrhundert geht Hand in Hand mit der | ||
Line 6,791: | Line 6,032: | ||
geht diese Entwicklung weiter und Zucker nimmt (z.B. in Gestalt des | geht diese Entwicklung weiter und Zucker nimmt (z.B. in Gestalt des | ||
"Power-Riegels") immer neue Formen und Bedeutungen an. | "Power-Riegels") immer neue Formen und Bedeutungen an. | ||
+ | <div><ul> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-260_1.jpg|thumb|none|Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | <li style="display: inline-block;"> [[File:theogrundlagen-260_2.jpg|thumb|none|Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader]] </li> | ||
+ | </ul></div> | ||
− | + | '''Für die Entwicklung des Kapitalismus war der Zucker (ebenso wie Tee | |
− | + | und Kaffee) eine geradezu ideale Substanz:''' | |
− | + | <blockquote>Ein arbeitsreiches Leben sah mit seiner Hilfe weniger aufreibend aus; in der Erfrischungspause erleichterte er tatsächlich oder scheinbar den Übergang von Arbeit zur Erholung und umgekehrt; er sorgte schneller für Völle - oder Sattheitsgefühle als komplexe Kohlehydrate dies vermochten; er ließ sich leicht mit anderen Nahrungsmitteln verbinden, deren Bestandteil er bisweilen war ( wie z.B. bei Tee und Keksen, Kaffee und Brötchen, Kakao und Marmeladebrot). [...] Kein Wunder, daß die Reichen und Mächtigen ihn so liebten, und kein Wunder, daß auch die Armen ihn lieben lernten." (Mintz 1987: 220)</blockquote> | |
− | und Kaffee) | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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[[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee|[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.4.2]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee|[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.4.2]]<br/> | ||
Line 6,815: | Line 6,050: | ||
==5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung== | ==5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung== | ||
− | + | '''"'Die süße Macht'"' (Mintz 1987) und '''"'Die Völker ohne | |
− | Geschichte | + | Geschichte'"' (Wolf 1991) gehören der selben Forschungsrichtung an und |
− | weisen viele gemeinsame Ansätze und Fragestellungen auf. | + | weisen viele gemeinsame Ansätze und Fragestellungen auf. '''Die |
theoretische und thematische Ausrichtung beider Werke fokussiert auf | theoretische und thematische Ausrichtung beider Werke fokussiert auf | ||
Verflechtungen zwischen Menschen bzw. Kulturen durch Flüsse von Ideen | Verflechtungen zwischen Menschen bzw. Kulturen durch Flüsse von Ideen | ||
− | und Gütern. | + | und Gütern.''' Die ökonomischen Grundlagen dieser Verflechtungen und ihre |
Auswirkungen auf verschiedene Facetten der Gesellschaft in verschiedenen | Auswirkungen auf verschiedene Facetten der Gesellschaft in verschiedenen | ||
Weltgegenden stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. | Weltgegenden stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. | ||
Line 6,834: | Line 6,069: | ||
der Konstruktion von Bedeutungen eines Produkts. | der Konstruktion von Bedeutungen eines Produkts. | ||
− | + | '''Beide Werke sind historisch orientiert und beschäftigen sich mit | |
− | Aspekten der europäischen Expansion. | + | Aspekten der europäischen Expansion.''' So umfasst die "Kulturgeschichte |
des Zuckers" den Zeitraum zwischen der Entstehung des Welthandels in | des Zuckers" den Zeitraum zwischen der Entstehung des Welthandels in | ||
der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Beide | der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Beide | ||
Werke gegen von folgenden Ansätzen aus: | Werke gegen von folgenden Ansätzen aus: | ||
− | + | * das Studium von Kultur und Geschichte ist aufs Engste mit dem Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden; | |
− | + | * die Welt ist "als ganze, als Totalität, als System" zu betrachten; | |
− | + | * die verschiedenen Teile des Systems sind auf komplexe Weise miteinander verflochten; | |
− | + | * das Augenmerk gilt der Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde; | |
− | + | * für die Analyse von komplexen gesellschaftlichen Gefügen ist die Untersuchung der '''Machtverhältnisse [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Eric_Wolf#3.4 Komplexe Gesellschaft, Verflechtungen und Macht bei Eric Wolf|[1]]]''' sowie der historischen Prozesse von grundlegender Bedeutung (vgl. auch Wolf 1991). | |
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− | + | '''Verweise:''' | |
− | [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Eric_Wolf#3.4 Komplexe Gesellschaft, Verflechtungen und Macht bei Eric Wolf|[1] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung'']]<br/> | + | |
+ | [[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Eric_Wolf#3.4 Komplexe Gesellschaft, Verflechtungen und Macht bei Eric Wolf|[1] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung''']]<br/> | ||
Line 6,859: | Line 6,090: | ||
[[File:theogrundlagen-262_1.jpg|frame|right|Phone Shop in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | [[File:theogrundlagen-262_1.jpg|frame|right|Phone Shop in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | ||
− | Der | + | Der '''Weltsystemansatz''' entstand in den 1970er Jahren und ist eng mit |
− | dem Namen | + | dem Namen '''Immanuel Wallerstein''' verbunden. Aufbauend auf der aus dem |
− | Funktionalismus entstandenen, | + | Funktionalismus entstandenen, '''Systemtheorie''' wird dabei der weltweite |
− | Kapitalismus als | + | Kapitalismus als '''einheitliches System [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.3 Weltsystemansatz|[1]]]''' betrachtet. Die |
Weltsystemtheorie wurden in der Folge in verschiedenen Fachdisziplinen | Weltsystemtheorie wurden in der Folge in verschiedenen Fachdisziplinen | ||
und Forschungsfeldern rezipiert, kritisiert und weiterentwickelt, u.a. | und Forschungsfeldern rezipiert, kritisiert und weiterentwickelt, u.a. | ||
Line 6,868: | Line 6,099: | ||
Entwicklungssoziologie und der historischen Forschung. | Entwicklungssoziologie und der historischen Forschung. | ||
− | Die | + | Die '''zentralen Thesen von Wallerstein''' betreffen |
+ | |||
+ | * die systematische Ganzheit des Weltsystems in der modernen Welt | ||
+ | * die ökonomische Differenzierung des Systems in verschiedene Zonen | ||
+ | * Macht und Wirkungspotential der einzelnen Zonen | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
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− | |||
− | + | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.3 Weltsystemansatz|[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> | |
− | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.3 Weltsystemansatz|[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage ''Internationale Politische Ökonomie'']]<br/> | ||
===5.3.4.1 Die Welt als System=== | ===5.3.4.1 Die Welt als System=== | ||
− | + | ---- | |
[[File:theogrundlagen-263_1.jpg|frame|right|Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | [[File:theogrundlagen-263_1.jpg|frame|right|Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | ||
− | "Leaving aside the now defunct mini-systems, the only kind of social | + | <blockquote>"Leaving aside the now defunct mini-systems, the only kind of social system is a world-system, which we define quite simply as a unit with a single division of labor and multiple cultural systems. it follows logically that there can, however, be two varieties of such world-systems, one with a common political system and one without. We shall designate these respectively as world-empires and world-economies." (Wallerstein 2004: 63)</blockquote> |
− | system is a world-system, which we define quite simply as a unit with a | ||
− | single division of labor and multiple cultural systems. | ||
− | logically that there can, however, be two varieties of such | ||
− | world-systems, one with a common political system and one without. We | ||
− | shall designate these respectively as world-empires and | ||
− | world-economies." | ||
− | (Wallerstein 2004: 63) | ||
Ausgehend von der These des Funktionalismus, die Sozialwissenschaft | Ausgehend von der These des Funktionalismus, die Sozialwissenschaft | ||
− | solle soziale Ganzheiten studieren, argumentiert | + | solle soziale Ganzheiten studieren, argumentiert '''Wallerstein''', dass |
in der modernen Welt nur noch eine soziale Einheit existiert: das | in der modernen Welt nur noch eine soziale Einheit existiert: das | ||
− | Weltsystem. | + | Weltsystem. '''Das Weltsystem ist ökonomisch integriert, nicht aber |
politisch, d.h. Staaten können politisch voneinander unabhängig sein, | politisch, d.h. Staaten können politisch voneinander unabhängig sein, | ||
− | ökonomisch sind sie jedenfalls interdependent. | + | ökonomisch sind sie jedenfalls interdependent.''' |
Der Weltsystemansatz steht in enger Verbindung mit der | Der Weltsystemansatz steht in enger Verbindung mit der | ||
− | + | '''Dependenztheorie[[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.2 Dependenztheorie|[1]]]''', die eine '''Abhängigkeit (Dependenz) zwischen | |
− | dominanten und ausgebeuteten Räumen | + | dominanten und ausgebeuteten Räumen''', seien dies Kontinente, Nationen |
oder Regionen und die damit verbundenen Machtverhältnisse ins Zentrum | oder Regionen und die damit verbundenen Machtverhältnisse ins Zentrum | ||
ihrer Untersuchungen stellt. | ihrer Untersuchungen stellt. | ||
− | + | '''Verweise:''' | |
− | |||
+ | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.2 Dependenztheorie|[1] Siehe Kapitel 2.4.4.2 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/> | ||
===5.3.4.2 Zentrum und Peripherie=== | ===5.3.4.2 Zentrum und Peripherie=== | ||
− | + | ---- | |
[[File:theogrundlagen-264_1.jpg|frame|right|Graffiti in Akra (Ghana). Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | [[File:theogrundlagen-264_1.jpg|frame|right|Graffiti in Akra (Ghana). Foto: Ulrike Davis-Sulikowski]] | ||
− | + | '''Laut Immanuel Wallerstein ist das Weltsystem ökonomisch differenziert | |
− | in | + | in''' |
− | + | * '''Zentren''' (cores) = USA und Westeuropa | |
− | + | * '''Peripherie''' = 3. Welt | |
− | + | * '''Semiperipherie''' = Pufferstaaten wie Mexiko, Südafrika, "Tiger-Staaten" etc. | |
− | |||
Zwischen den verschiedenen Zonen besteht Ungleichheit, die als | Zwischen den verschiedenen Zonen besteht Ungleichheit, die als | ||
Line 6,930: | Line 6,154: | ||
dabei zwei Faktoren: | dabei zwei Faktoren: | ||
− | + | * neue Entwicklungen in den Zentren | |
− | + | * Aufrechterhaltung der Erfordernisse des Systems als Ganzes | |
− | + | '''Wallersteins Theorie wurde vor allem aufgrund ihres statischen Modells | |
− | kritisiert: | + | kritisiert:''' So werden nur die Zentren als aktiv und bestimmend für das |
Weltsystem erachtet, die Ökonomie im Zentrum gilt als Maßstab für die | Weltsystem erachtet, die Ökonomie im Zentrum gilt als Maßstab für die | ||
ganze Welt. Die Peripherie wird ausschließlich als passiv - als Opfer | ganze Welt. Die Peripherie wird ausschließlich als passiv - als Opfer | ||
bzw. Vollstrecker der Entwicklungen im Zentrum - betrachtet. | bzw. Vollstrecker der Entwicklungen im Zentrum - betrachtet. | ||
− | Während | + | Während '''Eric Wolf[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[1]]]''''' und '''Sidney Mintz''[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[2]]]''' die komplexen |
Vernetzungen von kulturellen, ökonomischen und politischen Prozessen im | Vernetzungen von kulturellen, ökonomischen und politischen Prozessen im | ||
Weltsystem herausarbeiten (Mintz 1987, Wolf 1991), kann das Modell | Weltsystem herausarbeiten (Mintz 1987, Wolf 1991), kann das Modell | ||
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[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[2] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[2] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | ||
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==5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität== | ==5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität== | ||
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[[File:theogrundlagen-265_1.jpg|frame|right|Airport Vienna. Foto: Elke Mader]] | [[File:theogrundlagen-265_1.jpg|frame|right|Airport Vienna. Foto: Elke Mader]] | ||
− | + | '''Menschen, Kulturen und Ökonomien stehen und standen nie für sich | |
− | allein. | + | allein.''' Sie sind immer auch durch Kontakte und Verflechtungen |
gekennzeichnet, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen | gekennzeichnet, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen | ||
− | Regionen mehr oder weniger intensiv verlaufen. | + | Regionen mehr oder weniger intensiv verlaufen. '''Im Zeitalter der |
− | Globalisierung gewinnen solche Interaktionen besonders an Bedeutung | + | Globalisierung gewinnen solche Interaktionen besonders an Bedeutung''', |
sie erfolgen schneller, weiträumiger (globaler), intensiver und wirken | sie erfolgen schneller, weiträumiger (globaler), intensiver und wirken | ||
sich auf mehr Menschen gleichzeitig aus als bisher. Hauser-Schäublin und | sich auf mehr Menschen gleichzeitig aus als bisher. Hauser-Schäublin und | ||
Braukämper beschreiben diese Prozesse folgendermaßen: | Braukämper beschreiben diese Prozesse folgendermaßen: | ||
− | + | <blockquote>Weltweite Verflechtungen, Verflechtungen verschiedenster Art und von verschiedenster Qualität, Verflechtungen die in unterschiedlichste Richtungen verlaufen, Verflechtungen mittels verschiedenster Medien, Verflechtungen von Menschen und ihren Handlungen, von Gütern, Ideen und Systemen, Verflechtungen, die mit unterschiedlichster Macht ausgestattet sind und Verflechtungen, die zur Erringung von Herrschaft und/oder Profit unterschiedlichster Gruppen dienen. (Hauser-Schäublin, Braukämper 2002: 10)</blockquote> | |
− | verschiedenster Qualität, Verflechtungen die in unterschiedlichste | ||
− | Richtungen verlaufen, Verflechtungen mittels verschiedenster Medien, | ||
− | Verflechtungen von Menschen und ihren Handlungen, von Gütern, Ideen und | ||
− | Systemen, Verflechtungen, die mit unterschiedlichster Macht ausgestattet | ||
− | sind und Verflechtungen, die zur Erringung von Herrschaft und/oder | ||
− | Profit unterschiedlichster Gruppen dienen. | ||
− | Braukämper 2002: 10) | ||
− | + | '''Die Dynamik der Verflechtungen prägt viele ökonomische Prozesse und ihre Untersuchung umfasst verschiedene Forschungsfelder''', wie z.B.: | |
− | ihre Untersuchung umfasst verschiedene Forschungsfelder | ||
− | + | * Analysen des '''Weltsystems[[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.3 Weltsystemansatz|[1]]]''' und seiner Interaktionen mit lokalen ökonomischen und kulturellen Gefügen (u.a. '''Eric Wolf[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[2]]]''''', '''Sidney Mintz''[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[3]]]''''', '''Immanuel Wallerstein''[[Neomarxismus/USA#5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz|[4]]]''') | |
− | + | * Warenströme und das "soziale Leben der Dinge" (u.a. '''Sidney Mintz[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[5]]]''', Arjun Appadurai, Igor Kopytoff, '''Gerd Spittler [https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html [6]]''') | |
− | + | * '''Globalisierung [[Kultur_und_Globalisierung#7 Kultur und Globalisierung|[7]]]''' (u.a. '''Ulrich Beck[https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck [8]]''', '''Arjun Appadurai [https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/ [9]]''') | |
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− | + | '''Verweise:''' | |
− | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.3 Weltsystemansatz|[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage ''Internationale Politische Ökonomie'']]<br/>[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[2] Siehe Kapitel 5.3.1]]<br/> | + | |
+ | [[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4.4.3 Weltsystemansatz|[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage '''Internationale Politische Ökonomie''']]<br/>[[Neomarxismus/USA#5.3.1 Eric Wolf|[2] Siehe Kapitel 5.3.1]]<br/> | ||
[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[3] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[3] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | ||
[[Neomarxismus/USA#5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz|[4] Siehe Kapitel 5.3.4]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz|[4] Siehe Kapitel 5.3.4]]<br/> | ||
[[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[5] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | [[Neomarxismus/USA#5.3.2 Sidney Mintz|[5] Siehe Kapitel 5.3.2]]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html [6] https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html [6] https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html]<br/> | ||
− | [[Kultur_und_Globalisierung#7 Kultur und Globalisierung|[7] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage ''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung'']]<br/> | + | [[Kultur_und_Globalisierung#7 Kultur und Globalisierung|[7] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage '''Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung''']]<br/> |
[https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck [8] https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck]<br/> | [https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck [8] https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/ [9] https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/ [9] https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/]<br/> | ||
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− | [[Neomarxismus/USA#5.3 VertreterInnen in den USA| Vorheriges Kapitel: 5.3 VertreterInnen in den USA]]<br/> | + | '''[[Neomarxismus/USA#5.3 VertreterInnen in den USA| Vorheriges Kapitel: 5.3 VertreterInnen in den USA]]'''<br/> |
=5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur= | =5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur= | ||
<sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | <sup>Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader</sup> | ||
− | Appadurai, Arjun 2001: | + | Appadurai, Arjun 2001: 'Globalization'. Durham, London: Duke University |
Press. | Press. | ||
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Copans, Jean 2005: "Claude Meillassoux (1925-2005)." *Cahiers d'études | Copans, Jean 2005: "Claude Meillassoux (1925-2005)." *Cahiers d'études | ||
africanes*. Online: | africanes*. Online: | ||
− | + | '''https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [1]]''' | |
(02.08.2005) | (02.08.2005) | ||
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Anthropology* 28: 107-118. | Anthropology* 28: 107-118. | ||
− | Genovese, Eugene D. 1976: | + | Genovese, Eugene D. 1976: 'Roll Jordan Roll: The World the Slaves Made'. |
New York: Vintage Books. | New York: Vintage Books. | ||
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domination masculine chez les Baruya de Nouvelle Guinée*. | domination masculine chez les Baruya de Nouvelle Guinée*. | ||
− | --- 1987: | + | --- 1987: 'Die Produktion der Großen Männer'. Frankfurt, New York: |
Campus. | Campus. | ||
− | --- 1984: | + | --- 1984: 'L' Idéel et le matériel. Pensée, économies, sociétés'. Paris. |
Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The | Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The | ||
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Paris: Mouton. | Paris: Mouton. | ||
− | --- 1978: | + | --- 1978: "Die wilden Früchte der Frau". Über häusliche Produktion |
und kapitalistische Wirtschaft*. Frankfurt/Main: Suhrkamp (=1975: | und kapitalistische Wirtschaft*. Frankfurt/Main: Suhrkamp (=1975: | ||
Femmes, greniers et capitaux). | Femmes, greniers et capitaux). | ||
− | Mintz, Sidney 1974 (1960): | + | Mintz, Sidney 1974 (1960): 'Worker in the Cane'. New York: Norton. |
− | --- 1987 (1985): | + | --- 1987 (1985): 'Die süße Macht. Eine Kulturgeschichte des Zuckers'. |
Frankfurt/Main: Campus (= Sweetness and Power). | Frankfurt/Main: Campus (= Sweetness and Power). | ||
Molyneux, Maxine 1989 (1977): Androzentrismus in der marxistischen | Molyneux, Maxine 1989 (1977): Androzentrismus in der marxistischen | ||
Anthropologie. Eine Kritik zu Emmanuel Terray. In: Arbeitsgruppe für | Anthropologie. Eine Kritik zu Emmanuel Terray. In: Arbeitsgruppe für | ||
− | Ethnologie, Wien (Hg.): | + | Ethnologie, Wien (Hg.): 'Von fremden Frauen'. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. |
100-137. | 100-137. | ||
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Study*. Cambridge: Harvard University Press. | Study*. Cambridge: Harvard University Press. | ||
− | Petermann, Werner 2004: | + | Petermann, Werner 2004: 'Die Geschichte der Ethnologie'. Wuppertal: |
Peter Hammer Verlag. | Peter Hammer Verlag. | ||
Rey, Pierre-Philippe 1975: "The Lineage Mode of Production". In: | Rey, Pierre-Philippe 1975: "The Lineage Mode of Production". In: | ||
− | + | 'Critique of Anthropology' (3). | |
Robotham, Don 2005: Political Economy. In J. G. Carrier (Hg.): *A | Robotham, Don 2005: Political Economy. In J. G. Carrier (Hg.): *A | ||
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Roseberry, William 1989: Peasants and the World. In S. Plattner (Hg.) | Roseberry, William 1989: Peasants and the World. In S. Plattner (Hg.) | ||
− | + | 'Economic Anthropology'. Stanford: Stanford University Press, S. | |
108-126. | 108-126. | ||
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Schlemmer, Bernhard 2004: "Hommage à Claude Meillassoux." Online: | Schlemmer, Bernhard 2004: "Hommage à Claude Meillassoux." Online: | ||
− | + | '''https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2]]''' | |
(02.08.2005). | (02.08.2005). | ||
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Society* (3), S. 314-345. | Society* (3), S. 314-345. | ||
− | Terray, Emmanuel 1990: | + | Terray, Emmanuel 1990: 'Histoire Royaume Abron du Gyaman'. Paris: |
Karthala. | Karthala. | ||
− | Terray, Emmanuel; Goussault Bénédicte 1990: | + | Terray, Emmanuel; Goussault Bénédicte 1990: 'Paroles de Sans-Papiers'. |
Paris: Édition de L'Atelier. | Paris: Édition de L'Atelier. | ||
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---. 2004c. "The Rise and Future Demise of the World Capitalist | ---. 2004c. "The Rise and Future Demise of the World Capitalist | ||
− | System." In | + | System." In 'The Globalization Reader', Frank J. Lechner; John Boli |
(Hrgs.), Oxford: Blackwell Publishing: 63-69. | (Hrgs.), Oxford: Blackwell Publishing: 63-69. | ||
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Anthropology*. Boulder: Westview Press. | Anthropology*. Boulder: Westview Press. | ||
− | Williams, Eric 1996: | + | Williams, Eric 1996: 'Capitalism and Slavery'. Chapel Hill: University |
of North Carolina Press. | of North Carolina Press. | ||
− | Wolf, Eric 1966: | + | Wolf, Eric 1966: 'Peasants'. Englewood Cliffs: Prentice Hall. |
− | --- 1969: | + | --- 1969: 'Peasants Wars of the Twentieth Century'. New York: Harper & |
Row. | Row. | ||
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People Without History). | People Without History). | ||
− | --- 1997: | + | --- 1997: 'Europe and the People Without History'. Berkeley: University |
of California Press. | of California Press. | ||
− | Zinsou, Marie-Cécile 2005: | + | Zinsou, Marie-Cécile 2005: 'Romuald Hazoumé'. Fondation Zinsou. |
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+ | '''Verweise:''' | ||
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[https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [1] https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html]<br/> | [https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [1] https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html]<br/> | ||
[https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2] https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm]<br/> | [https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2] https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm]<br/> | ||
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Latest revision as of 09:53, 13 October 2020
Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader, Universität Wien
OEKU-Online: Finanziert durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projekt 10707, Jubiläumsfonds).
In verschiedenen Projekten, an denen das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie beteiligt war, entstanden 2005 und 2006 hypermediale Lehr- und Lernunterlagen, die online genutzt werden können. 2019 und 2020 wurden diese von Marlies Madzar und Clemens Schmid in ein aktuelles Wikiformat überführt. Für Anregungen, Hinweise und Kommentare, schreiben Sie bitte ein Mail an eksa(at)univie.ac.at
Die aktuellen Modelle und Ansätze der Ökonomischen Anthropologie speisen sich aus zwei Quellen:
- den Wirtschaftswissenschaften und
- der Sozial- und Kulturanthropologie
Kapitel dieser Lernunterlage
1 Vorläufer
2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus
3 Neoklassik oder Rational Choice
4 Institutionalismus und Substantivismus
5 Neomarxismus
Kapitelübersicht
2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus
- 2.1 Karl Marx
- 2.2 Evolutionismus
- 2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen
- 2.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
3 Neoklassik oder Rational Choice
- 3.1 Raymond Firth
- 3.2 Melville J. Herskovits
- 3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit
- 3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
4 Institutionalismus und Substantivismus
- 4.1 Vordenker
- 4.1.1 Émile Durkheim
- 4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität
- 4.1.1.2 Von der sozialen Teilung der Arbeit
- 4.1.1.3 Anti-Individualismus und Kollektive Repräsentationen
- 4.1.1.4 Wert, Gesellschaft, Symbol
- 4.1.1.5 Kontrollierte Bedürfnisse, kontrollierte Ökonomie
- 4.1.1.6 Typologischer Evolutionismus: Organische und mechanische Solidarität
- 4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität
- 4.1.2 Max Weber
- 4.1.2.1 Kultur und Wert
- 4.1.2.2 Wirtschaft, Werte, Religion: "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus"
- 4.1.2.3 Form und "Geist" des Kapitalismus
- 4.1.2.4 Wirkungsweisen und geistige Ursachen des Kapitalismus
- 4.1.2.5 Askese und wirtschaftliches Handeln
- 4.1.2.6 Berufsidee und Gnadenwahllehre
- 4.1.2.7 Zeit ist Geld
- 4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus
- 4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild
- 4.1.2.1 Kultur und Wert
- 4.1.3 Weber und Durkheim
- 4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
- 4.1.1 Émile Durkheim
- 4.2 Frühe VertreterInnen
- 4.3 Substantivisten
- 4.3.1 Karl Polanyi
- 4.3.2 George Dalton
- 4.3.3 Marshall Sahlins
- 4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
- 4.3.1 Karl Polanyi
- 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich
- 5.2 Französische VertreterInnen
- 5.3 VertreterInnen in den USA
- 5.3.1 Eric Wolf
- 5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie
- 5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie
- 5.3.2 Sidney Mintz
- 5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung
- 5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz
- 5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität
- 5.3.1 Eric Wolf
- 5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur