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system is a world-system, which we define quite simply as a unit with a
 
single division of labor and multiple cultural systems. It follows
 
logically that there can, however, be two varieties of such
 
world-systems, one with a common political system and one without. We
 
shall designate these respectively as world-empires and
 
world-economies." (Wallerstein 2004: 63)</blockquote>
 
  
 
Ausgehend von der These des Funktionalismus, die Sozialwissenschaft
 
Ausgehend von der These des Funktionalismus, die Sozialwissenschaft

Revision as of 13:19, 11 August 2020

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Contents

Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader, Universität Wien OEKU-Online: Finanziert durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projekt 10707, Jubiläumsfonds).

In verschiedenen Projekten, an denen das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie beteiligt war, entstanden 2005 und 2006 hypermediale Lehr- und Lernunterlagen, die online genutzt werden können. 2019 und 2020 wurden diese von Marlies Madzar und Clemens Schmid in ein aktuelles Wikiformat überführt. Für Anregungen, Hinweise und Kommentare, schreiben Sie bitte ein Mail an eksa(at)univie.ac.at

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Die aktuellen Modelle und Ansätze der Ökonomischen Anthropologie speisen sich aus zwei Quellen:

  • den Wirtschaftswissenschaften und
  • der Sozial- und Kulturanthropologie


Kapitelübersicht

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1 Vorläufer

1.1 Merkantilismus
1.2 Physiokratie
1.3 Klassische ökonomische Theorie
1.3.1 Historischer Kontext
1.3.2 Adam Smith
1.3.2.1 Wert bei Adam Smith
1.3.2.2 Smith's moralische Ableitung des Marktprinzips
1.3.3 David Ricardo
1.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus

2.1 Karl Marx
2.1.1 Historischer Kontext
2.1.2 Zum Gesamtwerk von Marx und Engels
2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx
2.1.2.1.1 Güter und Waren
2.1.2.1.2 Warenproduktion
2.1.2.1.3 Gebrauchswert und Tauschwert
2.1.2.1.4 Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft
2.1.2.1.5 Mehrwert und Kapital
2.1.2.1.6 Wert einer Ware bei Marx
2.1.2.1.7 Mehrwertproduktion im Kapitalismus
2.1.2.2 Arbeitsprozess und Produktionsprozess
2.1.2.3 Sozioökonomische Formationen: Begriffe
2.1.2.3.1 Produktivkräfte
2.1.2.3.2 Produktionsverhältnisse
2.1.2.3.3 Produktionsweisen
2.1.2.3.4 Sozioökonomische Formationen als historische Abfolge von Produktionsweisen
2.1.2.3.4.1 Kritik, Weiterentwicklung
2.2 Evolutionismus
2.2.1 Grundgedanken des unilinearen Evolutionismus
2.2.2 Lewis H. Morgans "Urgesellschaft"
2.2.3 Kritik am Evolutionismus
2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen
2.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

3 Neoklassik oder Rational Choice

3.1 Raymond Firth
3.1.1 Allgemeine Gesetzmäßigkeiten und spezifische ökonomische Systeme bei Firth
3.2 Melville J. Herskovits
3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit
3.3.1 Der Angriff der Substantivisten
3.3.2 Die Reaktion der Formalisten
3.3.3 Kritik an den Formalisten
3.3.3.1 Kritik am homo oeconomicus aus nicht-formalistischer Perspektive
3.3.3.2 Revisionen der formalistischen Theorie: Ian Prattis und sein strategising man
3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

4 Institutionalismus und Substantivismus

4.1 Vordenker
4.1.1 Émile Durkheim
4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität
4.1.1.2 Von der sozialen Teilung der Arbeit
4.1.1.3 Anti-Individualismus und Kollektive Repräsentationen
4.1.1.4 Wert, Gesellschaft, Symbol
4.1.1.5 Kontrollierte Bedürfnisse, kontrollierte Ökonomie
4.1.1.6 Typologischer Evolutionismus: Organische und mechanische Solidarität
4.1.2 Max Weber
4.1.2.1 Kultur und Wert
4.1.2.2 Wirtschaft, Werte, Religion: "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus"
4.1.2.3 Form und "Geist" des Kapitalismus
4.1.2.4 Wirkungsweisen und geistige Ursachen des Kapitalismus
4.1.2.5 Askese und wirtschaftliches Handeln
4.1.2.6 Berufsidee und Gnadenwahllehre
4.1.2.7 Zeit ist Geld
4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus
4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild
4.1.3 Weber und Durkheim
4.1.3.1 Religiöse Weltbilder und die "Entzauberung der Welt"
4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
4.2 Frühe VertreterInnen
4.2.1 Richard Thurnwald
4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie
4.2.2.1 Bronislaw Malinowski
4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie
4.2.2.1.2 Kula
4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen
4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte
4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel
4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum
4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol
4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie
4.2.2.2 Marcel Mauss
4.2.2.2.1 Die Gabe
4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip
4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe
4.2.2.3 Mauss und Malinowski
4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur
4.3 Substantivisten
4.3.1 Karl Polanyi
4.3.1.1 The Great Transformation
4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi
4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität
4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution
4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung
4.3.1.2.4 Marktprinzip
4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt
4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld
4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi
4.3.2 George Dalton
4.3.3 Marshall Sahlins
4.3.3.1 Beispiel Tausch
4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins
4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins
4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität
4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society
4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San
4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion
4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse
4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production
4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

5 Neomarxismus

5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich
5.2 Französische VertreterInnen
5.2.1 Claude Meillassoux
5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse
5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit
5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"
5.2.2 Maurice Godelier
5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer
5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya
5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit
5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer
5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier
5.2.3 Emmanuel Terray
5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes
5.3 VertreterInnen in den USA
5.3.1 Eric Wolf
5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie
5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion
5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"
5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda
5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen
5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt
5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff
5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation
5.3.1.1.2.4 Warenströme
5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika
5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee
5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet
5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)
5.3.2 Sidney Mintz
5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers
5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker
5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers
5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei
5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht
5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung
5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz
5.3.4.1 Die Welt als System
5.3.4.2 Zentrum und Peripherie
5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität
5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur


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1 Vorläufer

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Die Wirtschaftslehre als Einzelwissenschaft entstand vor etwas mehr als 200 Jahren, mit Wirtschaft beschäftigte man sich aber schon viel früher.

Bis zum 17. Jahrhundert wurde Ökonomie nicht als separater Bereich gedacht, sondern als Komponente der gesellschaftlichen Basiseinheit, des Haushalts. Dies geht auf die griechische Antike zurück.

Aristoteles (384 -- 322 v. Chr.):

  • Oikonomia = Haushaltung der Haushaltsgemeinschaft
  • Chrematistik = Handel- od. Gelderwerb
  • Wert -- Klassen -- Eigentum

Aristoteles unterschied die Haushaltung der Haushaltsgemeinschaft (oikonomia) vom Handel oder Gelderwerb (Chrematistik). Er befasste sich mit Fragen der Entstehung des Reichtums und des Wertes. Aristoteles bereitete bereits die Unterscheidung in Gebrauchs- und Tauschwert vor und beschäftigte sich im Rahmen seiner Gesellschaftslehre mit der Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen. In einer Eigentumslehre betonte er die Vorteile von privatem Eigentum gegenüber öffentlichem Eigentum.

Im Mittelalter beschäftigte sich Thomas von Aquin (1225 -1274) mit Wirtschaftsfragen. Er plädierte für gerechten Lohn und Preis, war für ein Zinsverbot (Wucher) und für die Unterstützung der Armen. Deshalb gilt er auch als ein Begründer der katholischen Soziallehre.

Verweise:

[1] http://www.geisteskind.de/Bilder/Aristoteles.jpg

Inhaltsverzeichnis

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus
3 Neoklassik oder Rational Choice
4 Institutionalismus und Substantivismus
5 Neomarxismus

Nächstes Kapitel: 1.1 Merkantilismus


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Vorheriges Kapitel: 1 Vorläufer

1.1 Merkantilismus

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Weltkarte aus der Ptolemäus-Ausgabe vom Jahre 1548. Nach Konrad Kretschmer. Quelle: Krämer ca. 1900, Band IV: 47

Der Begriff Merkantilismus stammt von Adam Smith. Er bezeichnete damit eine wirtschaftpolitische Ideenrichtung, die von Fürsten und leitenden Staatsbeamten vertreten wurde und vom 16. bis Endes des 18. Jahrhunderts wirksam war. Unter Merkantilismus wird kein geschlossenes theoretisches System verstanden, sondern ein Bündel von wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Dabei entwickelten die einzelnen europäischen Länder sehr unterschiedliche Spielarten des Merkantilismus, z.B. in Deutschland den Kameralismus. Gemeinsam ist ihnen der massive Staatsinterventionismus (Einfuhrverbote und Schutzzolle, Privilegien und Subventionen).

Historische Hintergründe:

  • Ungeheure Ausweitung des Welthandels in dieser Zeit (Entdeckung Amerikas, Seeweg nach Indien): große Mengen Gold und Silber strömen nach Europa
  • Kampf der europäischen Staaten untereinander um Kolonien; Staaten brauchen Geld für Streitkräfte
  • Zeit der Herausbildung der ersten Nationalstaaten Frankreich und England.

Hauptlehren:

  • Geld steht im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik und nur der Staat ist mächtig, der über Gold und Geld verfügen kann.
  • Ziel des staatlichen Handelns: aktive Handelsbilanz, die einerseits über die Hebung der Bodenschätze im eigenen Land, andererseits über die Einfuhr von Edelmetallen aus den Kolonien erreicht werden kann.

Trotz aller Unterschiede teilen die merkantilistischen Wirtschaftspolitiken ihre staatswirtschaftliche Ausrichtung mit dem Versuch gesamtwirtschaftlich zu bilanzieren. Man orientierte sich an den Nachbarstaaten und grenzte sich gleichzeitig von diesen ab. Die praktische Ausgestaltung der Außenwirtschaftspolitik konzentrierte sich auf:

  • Minimierung der Einfuhr von Fertigwaren
  • Förderung der Einfuhr von Rohstoffen
  • Minimierung der Ausfuhr von Rohstoffen
  • Förderung der Ausfuhr von Fertigwaren
  • Bevorzugung inländischer Unternehmer
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Eine starke Abgrenzung der Staaten untereinander wird gefordert. Dies geht Hand in Hand mit der Vorstellung von der Begrenztheit der Reichtümer der Welt; deren Absolutmenge wurde für konstant und Handelskriege daher für legitim gehalten (Walter 2003: 23-34).

Ein anschauliches Beispiel für obige Strategien ist die Entwicklung der englischen Textilindustrie auf dem Rücken und unter Vernichtung des indischen Textilgewerbes (vgl.: Wolf 1991: 336ff).

Im Merkantilismus versuchten die Staaten auch eine aktive Bevölkerungspolitik zu betreiben. Man erkannte, dass ein hohes Angebot an Arbeitskräften Druck auf die Löhne ausübt und die Nachfrage von Bevölkerungszahl und -dichte abhängt. Daher wurden Strategien zur Ankurbelung des Bevölkerungswachstums entwickelt. Allerdings bestand zum damaligen Zeitpunkt noch ein sehr enger Zusammenhang zwischen Agrarkonjunktur und der demografischen Entwicklung. Getreideknappheit führte zu hohen Brotpreisen und in unmittelbarer Folge zu einer erhöhten Mortalitätsrate und verringerter Fertilität (Walter 2003: 30f).

Der Merkantilismus ist einerseits vom kolonialen System und andererseits von der Herausbildung der Nationalstaaten geprägt. Dabei zeigt sich deutlich, dass eine Wirtschaftslehre mit dem Umfeld -- den ökonomischen und politischen Interessen -- verbunden ist.


Nächstes Kapitel: 1.2 Physiokratie


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Vorheriges Kapitel: 1.1 Merkantilismus

1.2 Physiokratie

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Das Wirtschaftsmodell der Physiokratie im 17. -- 18. Jahrhundert gilt als erstes theoretisches System der Volkswirtschaftslehre. Es ist als Reaktion auf den Staatsinterventionismus des Merkantilismus entstanden. Die Wirtschaft wurde als geordnetes System gesehen, das analog der Natur aufgebaut ist und das der "Herrschaft der Natur" entspricht.

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Intellektueller Hintergrund:

  • Gedankengut der Aufklärung: Suche nach Gesetzmäßigkeiten -- den "Naturgesetzen" und nach einem bestimmten Menschenbild -- dem "Individuum".
  • Das Individuum wird als ein rationell handelndes, selbst bestimmtes Wesen mit eigennützigen Interessen und dem Recht auf Freiheit entworfen.
  • Die Natur -- im Sinne von Grund und Boden - ist die einzige Quelle des Reichtums. Nur die Landwirtschaft kann daher Werte schaffen. Da Grund und Boden so eine große Bedeutung haben, wird z.B. in Frankreich eine Grundsteuer eingeführt. Den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital kommt allerdings keine "produktive" Qualität zu.

Da die Wirtschaft auf einer natürlichen Ordnung beruht, werden alle Eingriffe des Staates in diesen natürlichen Wirtschaftsablauf abgelehnt. Nicht der Außenhandel eines Landes ist von vorrangiger Bedeutung, sondern die innere Wirtschaft und konkret eine effiziente und auf großen Gütern organisierte Landwirtschaft machen ein Land reich.

Hauptvertreter: François Quesnay: 'Tableau économique'

Im 'Tableau économique' steht der Güterkreislauf -- Produktion, Verteilung, Konsum - erstmals im Blickpunkt und wird analog des Kreislaufes der Natur gesehen.


Nächstes Kapitel: 1.3 Klassische ökonomische Theorie


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Vorheriges Kapitel: 1.2 Physiokratie

1.3 Klassische ökonomische Theorie

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

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Die "klassische" und ab 1870 die "neoklassische" ökonomische Theorie prägen bis heute die Grundannahmen der Volkswirtschaftlehre (Makroökonomik) und der Betriebswirtschaftslehre (Mikroökonomik).

Als Begründer der Klassischen Nationalökonomie gelten neben anderen Adam Smith und David Ricardo. Ihre Werke waren für die damalige Zeit ausgesprochen visionär. Sie sind sowohl für Neoklassiker als auch für die Marxisten, die ganz entgegen gesetzten Theorien entwickelt haben, von grundlegender Bedeutung. Für die Ökonomische Anthropologie sind sie wichtig, um die Konzepte der Formalisten und Marxisten sowie deren Auseinandersetzungen zu verstehen.

Inhalt

1.3.1 Historischer Kontext

Zeit zwischen 1770 und 1830:

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Die Phase der 'enclosures', der Einfriedungen ist in England nach etwa drei Jahrhunderten Auseinandersetzung zwischen Lords/Grundherrn und Bauern abgeschlossen. Das Gemeindeland, das zuvor gewohnheitsrechtlich allen zur Nutzung zur Verfügung stand, wurde zum Privateigentum weniger. Die Mehrheit der Landbevölkerung wurde dadurch ihrer Ackerflächen, ihrer Produktionsmittel, beraubt: "Die Einfriedungen sind zutreffend als eine Revolution der Reichen gegen die Armen bezeichnet worden" urteilt der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1979: 61).

  • Vorabend der französischen Revolution und 1789 franz. Revolution, anbrechende Freiheitsbestrebungen; Bürgertum beginnt sich gegen den Adel zu formieren.
  • Zeitalter der Aufklärung und bahnbrechender Erfindungen;
  • Beginn der Industrialisierung in England wird von Eric Wolf auf etwa 1780 datiert (erste maschinelle Spinnereien und Webereien mit Dampfantrieb).
  • Agrarquote in Europa um 1800 durchschnittlich noch bei 80 %; beginnende Agrarrevolution: z.B. Josef II führt in Österreich die 4-Felderwirtschaft und den Kleeanbau ein: Vervielfachung des Bodenertrags.
  • Institut der Leibeigenschaft ist durchwegs in Kraft: In den meisten europäischen Ländern darf die Landbevölkerung die Grenzen ihrer Gemeinden nur mit Zustimmung der Grundherrschaft verlassen.
  • Bevölkerungswachstum beginnt rapide zu steigen; die Kartoffel wird aus Amerika importiert und beginnt ihre Verwandlung von einer Schnittblume in Klostergärten zu einer effizienten Nahrungsquelle; 1780 existiert noch keine Arbeiterklasse im Sinne einer größeren Gruppe von Menschen, die ihre Arbeitskraft gegen einen Geldlohn verkauft; die Landarmut ist in manchen Gebieten extrem.
  • Captain Cook umsegelt die Welt und wird 1779 auf Hawaii ermordet.
  • Um 1817 ist die englische Arbeiterklasse bereits in aller Munde, aus kleinen Städtchen wurden riesige Industrieslums, der Kampf um den 13 Stundentag beginnt, erste Streiks lösen die alte Maschinenstürmerei in England ab.
  • 1835: frühe Eisenbahnzeit: Man war davon überzeugt, dass das Maximum an Geschwindigkeit, das ein Transportmittel wie die Eisenbahn über längere Strecken im Durchschnitt je erreichen wird können, bei 30 km/h liegt.

Die Industrialisierung wird daher auch als ungeheurer Prozess der Beschleunigung beschrieben.

1.3.2 Adam Smith

Adam Smith (1723 -- 1790)

Moralphilosoph aus Glasgow

Hauptwerk: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776)

Ausgangspunkt für Smith waren die Merkantilisten und Physiokraten. Von den drei Produktionsfaktoren -- Arbeit, Grund und Boden, Kapital -- ist die Arbeit für Smith die wesentlichste Quelle des Volkswohlstandes (Ausbau des Arbeitsbegriffes durch Marx). Er sieht auch die Wichtigkeit der Kapitalbildung und die Vorteile der Arbeitsteilung.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif


1.3.2.1 Wert bei Adam Smith


Smith präsentiert zwei Werttheorien, die er nicht zueinander in Bezug setzt:

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a) Arbeit als Quelle allen Reichtums: Der "natürliche" oder "reale" Wert eines Guts resultiert aus der zur Produktion erforderlichen Arbeit. Er ist "etwas dem Materiellen durch Bearbeitung Hinzugefügtes" (Priddat 2002:71). Dieser Ansatz wird "Arbeitswertlehre" oder "objektive Werttheorie" genannt. Nach Smith ist die Arbeit vor allem in so genannten "primitive" societies der Maßstab für Wert.

b) In zivilisierten Gesellschaften wird der Preis über den Austausch bestimmt, dh über das freie Spiel der Kräfte zwischen Angebot und Nachfrage. Diese "Preistheorie des Werts" oder "subjektive Wertlehre" geht von der Wertentstehung durch die subjektive Nützlichkeit aus, die ein Gut für ein Individuum hat.

Seine berühmteste Ausformulierung finden diese zwei Werttheorien im so genannten "Wasser-Diamanten-Paradoxon":

"The word value, it is to be observed, has two different meanings, and sometimes expresses the utility of some particular object, and sometimes the power of purchasing other goods which the possession of that object conveys. The one may be called 'value in use'; the other 'value in exchange'". The things which have the greatest value in use have frequently little or no value in exchange; and, on the contrary, those which have the greatest value in exchange have frequently little or no value in use. Nothing is more useful than water: but it will purchase scarce anything; scarce anything can be had in exchange for it. A diamond , on the contrary, has scarce any value in use; but a very great quantity of other goods may frequently be had in exchange for it."(Smith 1776: 28)

In ökonomischen Standardlehrbüchern wird häufig darauf hingewiesen, dass Adam Smith diese zwei Werttheorien noch nicht zueinander in Bezug setzen konnte, dass erst die neoklassische Grenznutzentheorie Smith's berühmtes Wasser-Diamanten-Paradoxon gelöst hätte. Dem wird in letzterer Zeit zunehmend widersprochen: Adam Smith war Professor für Moralphilosophie, Ökonomie war für ihn ein Teilgebiet der Ethik. Er interessierte sich daher für den "gerechten Preis" eines Guts (Graeber 2005: 440ff), den "gerechten Lohn" und das Verhältnis zwischen Arm und Reich (Priddat 2002: 39ff), wobei es ihm um die Hebung des Wohlstands der Armen ging.

Adam Smith ist für mehrere Theorierichtungen von grundlegender Bedeutung. An seine Theorie der individuellen Entscheidung (subjektive Werttheorie) hat ab den 1870er Jahren die Neoklassik angeschlossen. Auf die Arbeitswertlehre und die Bedeutung der ökonomischen Klassen im Sinne einer Kapital -- Arbeit -- Differenz hat Karl Marx aufgebaut.


1.3.2.2 Smith's moralische Ableitung des Marktprinzips


Wirtschaftender Akteur: Homo oeconomicus

Ein rationales Individuum wird angenommen, das ständig kalkuliert um seinen maximalen Nutzen zu finden. Seine Hauptmotivation ist der Eigennutzen, dieser ist der zentrale Antrieb des wirtschaftlichen Prozesses. Das Interagieren dieser Individuen findet am Markt statt. Die nach Eigennutz strebenden Individuen wollen mit minimalem Aufwand maximale Bedürfnisbefriedigung erreichen. Eigennutz ist die Triebfeder für den freien Wettbewerb.

  • Obstverkauf in London. Foto: Elke Mader
  • Obstverkauf in Kathmandu. Foto: Elke Mader

Rationalitätsprinzip (Wirtschaftlichkeitsprinzip)

Kommt aus dem Denken der Aufklärung. Es geht um die Zuteilung knapper Mittel zum optimalen Erreichen gesetzter Zwecke. Nach der Auffassung der Klassiker steht der Natur des Menschen die Natur der Dinge gegenüber.

  • Natur des Menschen ist bestimmt durch ständige Bedürfnisexpandierung. Auslöser ist der Sexualtrieb und die Tendenz zur Vermehrung bei Verbesserung der Lebensverhältnisse.
  • Natur der Dinge: Ist die Gegenkraft zur Natur des Menschen; Die natürlichen Ressourcen sind begrenzt, "Geiz der Natur", Knappheit der Mittel und Dinge.

Der Gegensatz zwischen der Natur der Menschen und jener der Dinge bedingt den freien Wettbewerb, der aber nicht anarchisch verlaufen soll, sondern durch Institutionen und Moral (Staat und Kirche als Schiedsrichter) geregelt werden muss.

Aus diesem Gegensatz ergibt sich auch das "Gesetz" von Angebot und Nachfrage, das wie eine unsichtbare Hand wirkt und über den Preismechanismus das Marktgeschehen und auch die Produktion bestimmt. Überangebot: Preise sinken, Produktion wird verlagert oder aufgegeben. Der Nachfrage steht kein entsprechendes Angebot mehr gegenüber, Preise steigen, neue Produzenten steigen ein: Kreislauf beginnt von vorne.

Markt: Eine sich selbst regulierende Institution, die den Individuen und der Gemeinschaft nur zum Guten dient. Aus dem Ausbalancieren zwischen Angebot und Nachfrage ergibt sich der perfekte Preis. Und so wird aus dem Eigennutzen des Einzelnen das maximale Wohl aller.

Nach Priddat (2002: 50) ist Adam Smith's Wealth of Nations "eine Theorie der moralischen Effizienz".


1.3.3 David Ricardo

David Ricardo (1772 -- 1817)

Londoner Bankier und Parlamentarier

Hauptwerk: On the Principles of Political Economy and Taxation (1817)

David Ricardo formalisierte die Ideen und Gedanken von Adam Smith und entwickelte sie zu einem geschlossenen Gesamtsystem.

Zudem betont Ricardo die Notwendigkeit und die Vorteile von Investitionen für die Kapitalisten. Außerdem weist er darauf hin, dass Lohnsteigerungen auch für Kapitalisten interessant sind, weil diese zu einer Erhöhung der Nachfrage und in der Folge zu einer Erhöhung des Absatzes führen. Dies ergibt wiederum eine Möglichkeit zur Steigerung des Gewinns.

  • Theorie der komparativen Kosten im Außenhandel: Zwei Länder können beide aus dem Austausch von Gütern Vorteile ziehen. Ricardos Beispiel: englisches Tuch gegen portugiesischen Wein: jedes Land hat gegenüber dem anderen relative Produktionskostenvorteile, bedingt durch Klima und vorhandene Infrastruktur, Arbeitskräfte etc. Es kommt in diesem Fall nicht auf die absoluten, sondern auf die komparativen Kostenvorteile an.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050415185341/http://web.utk.edu/~hnguyen7/economics/ricardo_biography.html


1.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Braudel, Fernand 1985: 'Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts'. Der Alltag. München: Kindler.

--- 1986a: *Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft*. München: Kindler.

--- 1986b: 'Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Der Handel'. München: Kindler.

Graeber, David 2005: Value: anthropological theories of value. In J. Carrier (Hg.): 'A Handbook of Economic Anthropology'. Cheltenham/UK, Northampton/USA: Edward Elgar, S. 439-471.

Polanyi, Karl 1978: *The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen*. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Pribam, Karl 1992: 'Geschichte des ökonomischen Denkens', 2 Bände. Frankfurt am Main.

Priddat, Birger P. 2002: 'Theoriegeschichte der Wirtschaft'. Neue Ökonomische Bibliothek. München: Wilhelm Fink.

Quesnay, François 1758: *Tableau économique. Remarques sur les variations de la distribution des revenus annuels d'une nation*. Versailles.

Ricardo, David 1817: *On the Principles of Political Economy, and Taxation*. London.

Smith, Adam 1970 (1776): *An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations*. London: Everyman.

--- 1999 (1776): *Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen*. Vollständige Ausgabe nach der 5. Auflage (letzter Hand), London 1789. Für die Taschenbuchausgabe revidierte Fassung. München.

Söllner, Fritz 2001: 'Die Geschichte des ökonomischen Denkens'. Berlin.

Thompson, Edward P. 1987: *Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse*. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Walter, Rolf 2003: *Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart*. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.

Wolf, Eric R. 1991 (1982): *Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400*. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

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2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

  • Feldarbeit in den ecuadorianischen Anden. Foto: Elke Mader
  • Fischer am Inle-See in Burma. Foto: Elke Mader

Eine Denktradition, die großen Einfluss auf die ökonomische Anthropologie des 20. Jahrhunderts ausübt, ist die Politische Ökonomie von Karl Marx. In diesem Zusammenhang ist der Marx'sche Ansatz des Historischen Materialismus von zentraler Bedeutung. Darunter versteht man die Vorstellung, dass es zwar der Mensch selbst ist, der seine gesellschaftliche und materielle Umwelt gestaltet. Aber diese vom Menschen geschaffene Umwelt wirkt wieder auf ihn zurück, sie bestimmt sein Bewusstsein. Daher sollte nicht -- wie etwa Hegel meinte -- eine Geschichte der Ideen geschrieben werden, sondern eine der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Praxis. Das gesellschaftliche Sein des Menschen ist dabei in letzter Instanz durch die ökonomischen Verhältnisse bestimmt, die wiederum einer historischen Entwicklung unterworfen sind. Daraus ergibt sich die enge Verbindung des Marx'schen Denkens zu den materialistisch orientierten Evolutionisten in der Frühphase der Kultur- und Sozialanthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

1 Vorläufer
3 Neoklassik oder Rational Choice
4 Institutionalismus und Substantivismus
5 Neomarxismus


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2.1 Karl Marx

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Karl Marx (1818 -- 1883)

Relevante Werke:

Das Kapital (3 Bände) 1. Band: 1867

1859: Zur Kritik der politischen Ökonomie

Karl Marx hat eine politische Ökonomie entworfen, die von einem sozial konstituierten Menschenbild ausging (vgl. Krader 1976: 12f). Die Beziehungen, die Menschen untereinander eingehen, um aus der Natur ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, stehen im Zentrum seiner Analysen der Ökonomie.

"Erstens sieht Marx die Gattung homo sapiens als Teil der Natur; zweitens definiert er homo als eine gesellschaftliche Spezies, deren einzelne Mitglieder stets über gesellschaftliche Beziehungen mit anderen Menschen verbunden sind. Die menschliche Gattung ist aus Naturprozessen hervorgegangen, zugleich aber ist sie ihrer Natur nach eine gesellschaftliche Gattung." (Wolf 1991: 111)

Die Marx´sche Lehre geht von Adam Smiths[2] Arbeitswerttheorie aus. Der Mensch formt die Natur mittels Arbeit zu seinem Nutzen. Anders als die Neoklassik, die kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes des Kapitals in den frühen 1870er Jahren entstand, interessiert er sich für Macht, bringt Politik in die Ökonomie und versucht historische Prozesse theoretisch zu fassen.

Wie bei Émile Durkheim[3] ist die Ökonomie bei Marx in die Gesellschaft eingebettet. Aber diese Gesellschaft ist nicht wie bei Durkheim eine Einheit, die sich in kollektiven Repräsentationen äußert, sondern sie ist über Eigentum und Arbeit in verschiedene Klassen gespalten (vgl. Wilk 1996: 83ff).

Karl Marx im WWW:

http://www.marxists.org/archive/marx/ [4]

https://web.archive.org/web/20050601024029/http://www.anu.edu.au/polsci/marx/marx.html [5]

http://www.mlwerke.de/ [6]

http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/index.htm [7]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050613192631/http://academic.brooklyn.cuny.edu/history/virtual/portrait/marx.jpg
[2] Siehe Kapitel 1.3.2
[3] Siehe Kapitel 4.1.1
[4] http://www.marxists.org/archive/marx/
[5] https://web.archive.org/web/20050601024029/http://www.anu.edu.au/polsci/marx/marx.html
[6] http://www.mlwerke.de/
[7] http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/index.htm

Inhalt

2.1.1 Historischer Kontext

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Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse haben sich seit der Zeit von Adam Smith und David Ricardo stark verändert:

  • Die Jahrhundertmitte war von der 1848er Revolution und deren Nachwirkungen in fast allen Ländern Europas geprägt. Karl Marx und Friedrich Engels verfassten in diesem Kontext das Kommunistische Manifest (1848). Eine rasche und tief greifende Industrialisierung hatte weite Teile Europas erfasst und ging einher mit dem Untergang der Heimindustrie, Hungerrevolten und Maschinenstürmerei, wie dem Aufstand der schlesischen Weber 1844, der besonders blutig niedergeschlagen wurde.
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  • Die Abschaffung der Leibeigenschaft setzte ungeheure Mengen an Arbeitskräften aus der Landwirtschaft frei, diese strömen aus den Hungergebieten der Heimindustrie in sich rasant entwickelnde Städte -- es handelte sich dabei um sehr ähnliche Prozesse, wie sie heute in vielen Teilen der so genannten "Dritten Welt" unter dem Titel Globalisierung stattfinden. Polanyi schreibt:
"Schriftsteller aller Richtungen und Parteien, Konservative ebenso wie Liberale, Kapitalisten ebenso wie Sozialisten, bezeichneten immer wieder die sozialen Verhältnisse in der Zeit der Industriellen Revolution als eine wahre Hölle menschlicher Erniedrigung" (Polanyi 1978:67).
  • Kinderarbeit, Zusammenbruch der Familien, unvorstellbare Klassengegensätze, niedrige Lebenserwartung und katastrophale Wohnverhältnisse der unteren Schichten stellten die Schattenseite der Revolutionierung der Wirtschaft durch Textil- und Stahlindustrie, Eisenbahnbau, Beschleunigung des Transportwesen, etc dar.
  • Die wirtschaftliche Situation war von einer zyklischen Abfolge von Flauten und Aufschwüngen geprägt, die immer wieder große Menschenmassen in Bewegung setzten. Die Rekrutierung großer Mengen von Arbeitskräften wechselte sich mit Entlassungswellen ab. Rasches Bevölkerungswachstum einerseits und Hungerkrisen in weiten Teilen Europas andererseits führten zu Auswanderungswellen nach Amerika und in die europäischen Kolonien.
  • Streiks und Arbeitskämpfe endeten ziemlich regelmäßig mit Verletzten und Toten, die Anführer der damaligen Zeit wurden keineswegs selten standrechtlich exekutiert oder zumindest des Landes verwiesen.
  • Nationale und nationalistische Bewegungen formierten sich insbesondere in Mitteleuropa. Die Loyalität zu Adelshäusern und religiösen Strömungen, die vorher die Auseinandersetzungen bestimmten, werden durch nationalstaatliche Loyalitäten abgelöst. Das alte Herrschaftsgefüge gerät von vielen Fronten aus unter Bedrängnis -- nicht zuletzt auch durch die neu formierte Klasse der Kapitalisten und Großbürger.

Karl Marx und Friedrich Engels waren durch ihre politische, wirtschaftliche (Engels), journalistische und wissenschaftliche Tätigkeit extrem in ihre Gegenwart involviert. Der Briefverkehr der beiden, publiziert in den MEW (Marx Engels Werke) zeugt von ihrer -- für die damalige Zeit - unglaublichen europaweiten Vernetzung.

2.1.2 Zum Gesamtwerk von Marx und Engels

Das Gesamtwerk von Marx und Engels hat viele Aspekte. Es gründet sich auf den utopischen französischen Sozialismus, auf die deutsche idealistische Philosophie und die klassische englische politische Ökonomie. Auf dieser Basis entwickelten sie den historischen Materialismus, die Strategie und Taktik des Klassenkampfs und die Kritik der politischen Ökonomie. Im Rahmen der ökonomischen Anthropologie werden hier ausschließlich jene Teilaspekte der Letzteren behandelt, die für die sozialanthropologische Theorienbildung besonders relevant geworden sind:

  • Werttheorie und Bestimmung des Mehrwerts
  • Analyse des Produktionsprozesses
  • Produktionsverhältnisse und Produktionsweisen


2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx


Bearbeitung von goldführendem Gestein im alten Ägypten. Quelle: Krämer ca. 1900, Bd. V: 112

Die Werttheorie von Karl Marx basiert auf verschiedenen Voraussetzungen, die für ein Verständnis der Formel "Geld > Ware > mehr Geld" zentral sind.


2.1.2.1.1 Güter und Waren


  • Verkauf von Opfergaben bei einem hinduistischen Tempel. Foto: Elke Mader
  • Süßwaren im Supermarkt. Foto: Elke Mader
  • Obst und Zigarretten in Indonesien. Foto: Elke Mader

Marx unterscheidet zwischen Gütern und Waren. Güter zeichnen sich dadurch aus, dass sie nützlich sind, dass sie einen Gebrauchswert haben. "Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert" (Marx 1977: 50). Diese Nützlichkeit ist an den Gegenstand gebunden und unabhängig davon, wie viel menschliche Arbeit dahinter steckt. Sie ist auch unabhängig davon, ob das Gut getauscht wird, oder ausschließlich für den eigenen Bedarf selbst hergestellt ist. Güter werden nur durch den Austausch zur Ware. Damit verschiedene Güter gegeneinander austauschbar sind, benötigen sie eine weitere spezifische Wertform, den Tauschwert. Warenproduktion ist die Produktion von Gütern für Andere. Sie setzt Geldwirtschaft voraus und bedeutet eine neue Qualität, die der einfache Austausch von Ware gegen Ware noch nicht besitzt.

In der Warenzirkulation treten einander Besitzer von Waren, welche Gebrauchswert und Tauschwert haben, gegenüber. Voraussetzung dazu ist ein gewisses Maß an Arbeitsteilung. Marx unterscheidet nun verschiedene Formen der Warenzirkulation:

1.: W -- W

Die einfachste Form der Warenzirkulation besteht darin, dass Ware gegen Ware getauscht wird. Ein Ding, das für mich nutzlos ist, weil ich zu viel davon habe, wird gegen ein nützliches Ding, das ich nicht habe, getauscht.

2.: W -- G -- W

Beim Tausch Ware gegen Geld, um mit diesem Geld wiederum eine Ware einzutauschen, ist die Motivation dieselbe wie bei W -- W. Über den Umweg des Geldes wird etwas, das Gebrauchswert für andere hat, in mehreren Schritten zu etwas, das Gebrauchswert für mich hat. Die Funktion des Geldes besteht hier darin, die verschiedenen Waren als "qualitativ gleiche und quantitativ vergleichbare, darzustellen" (Marx 1977: 109).

3.: G -- W -- G

Dies ist die Zirkulationsform im Kapitalismus. Geld wird verausgabt, um Waren zu kaufen, die zu mehr Geld führen sollen. Das treibende Motiv ist nun nicht mehr ein Bedürfnis nach anderen Gebrauchswerten, sondern der aus dem Tausch resultierende Mehrwert.

In der Warenzirkulation tauschen sich gleiche Werte gegeneinander aus. Marx stellt sich nun die Frage, wie es sein kann, dass der Geldbesitzer Waren zu ihrem Wert kaufen und zu ihrem Wert verkaufen kann, und bei dieser Transaktion mehr Wert herausgezogen wird.


2.1.2.1.2 Warenproduktion


Warenproduktion: Der Kapitalist investiert Geld in die Herstellung von Produkten für den Verkauf im Rahmen einer Marktwirtschaft: Es geht also dabei nicht um Gebrauchswertproduktion: "Er (Kapitalist) will nicht nur einen Gebrauchswert produzieren, sondern eine Ware, nicht nur Gebrauchswert, sondern Wert, und nicht nur Wert, sondern auch Mehrwert" (Marx 1977: 201).

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  • Der Produktionsprozess einer Ware ist daher auch als Wertbildungsprozess zu betrachten. Wie in der Gebrauchswertproduktion ist der Wert einer Ware durch die zu ihrer Produktion erforderliche gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt.

Warum schafft nun Warenproduktion "Mehrwert" und Gebrauchswertproduktion nicht?

  • Weil der Kapitalist am Markt eine Ware einkauft, die als einzige im Stande ist, Wert zu schaffen: Die Ware Arbeitskraft.
  • Wesentliche Voraussetzung der Warenproduktion ist daher das Vorhandensein der Ware Arbeitskraft, die am freien Warenmarkt angeboten wird. Der "freie Arbeiter" ist "frei in dem Doppelsinne, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt und dass er andere Waren nicht zu verkaufen hat, dass er los und ledig ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen" (Mehring 2001: 346).

Die Natur produziert aber nicht einerseits Geldbesitzer und andererseits bloße Besitzer der eigenen Arbeitskraft. Menschen, die nichts zu verkaufen haben außer ihrer eigenen Arbeitskraft, sind das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, welche die Enteignung großer Gruppen von Menschen von ihren Produktionsmitteln zur Folge hatte.


2.1.2.1.3 Gebrauchswert und Tauschwert


Die Ausgangsbasis für die Werttheorie von Marx ist die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert.

Eine Ware ist nach Marx durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet -- sie hat a) einen Gebrauchswert und b) einen Tauschwert.

a) Der Gebrauchswert besteht im Nutzen, den etwas hat, um damit menschliche Bedürfnisse gleich welcher Art befriedigen zu können.

b) Eine Ware tauscht sich in einer bestimmten Proportion gegen andere Gebrauchswerte aus. Sie hat nur dadurch Tauschwert, weil sie zuvor Gebrauchswert für andere hat. Waren müssen "sich als Gebrauchswert bewähren, bevor sie sich als Werte realisieren können. Denn die auf sie verausgabte menschliche Arbeit zählt nur, soweit sie in einer für andere nützlichen Form verausgabt ist. Ob sie anderen nützlich, ihr Produkt daher fremde Bedürfnisse befriedigt, kann aber nur ihr Austausch beweisen" (Marx 1977: 100f).

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Wobei für Marx das Komplizierte im Tauschwert und somit im Warencharakter besteht:

"Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne." (Marx 1977: 85)
Ein ganz wichtiger Moment, der den Tauschwert so kompliziert macht, ist die Arbeitskraft als Ware.

2.1.2.1.4 Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft


Das Spezifische am Kapitalismus ist die Trennung von Arbeit und Kapital. Diese ist nur möglich, weil die Arbeiter zuvor in einem historischen Prozess ihrer Produktionsmittel beraubt wurden (z.B. enclosures'[1]' in England)

Im Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern, Arbeiterklasse und Kapitalisten, wie Marx es nennt, herrschen Warenbeziehungen vor. Die Arbeitskraft in der kapitalistischen Gesellschaft ist eine Ware wie jede andere, die am Markt angeboten wird und die der Kapitalist für einen bestimmten Zeitraum kauft.

Wie alle anderen Waren auch hat die Ware Arbeitskraft einen Gebrauchswertund einen Tauschwert. Der Tauschwert der Ware Arbeitskraft, die ja nur in der Gestalt der lebendigen ArbeiterInnen existiert, bemisst sich an den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft.

Unter Reproduktionskosten oder Lebensmittel der Ware Arbeitskraft fällt alles, dessen der Arbeiter oder die Arbeiterin bedarf, um sich und die Familie zu erhalten. Die Fortdauer der Arbeitskraft muss auch über den Tod des / der individuellen ArbeiterIn hinaus gesichert bleiben, und der Kapitalist will ja "fertige" Arbeitskraft kaufen, das heißt eine, die auch über eine entsprechende Ausbildung und Erziehung verfügt. Der Arbeiter bekommt für seine Arbeitskraft Geld, den Lohn, der sich an der Hervorbringung der für seine Lebensmittel notwendigen Arbeitszeit orientiert. Im Lohn ist der Tauschwert der Ware Arbeitskraft ausgedrückt.

Marx stellt aber neben dem Tauschwert, den er als Verhältnis zwischen Arbeitskraft und Reproduktionsmittel sieht, auch noch den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft heraus.

Was ist nun der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft?

Hier argumentiert nun Marx, dass der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft etwas ganz anderes ist als deren Tauschwert. Der Gebrauchswert ist die Tatsache, dass der Arbeiter einen bestimmten Zeitraum, z.B. einen Monat lang in der Fabrik arbeitet.

Die Ware hat diesen einen Monat lang nichts mehr mit ihrem ursprünglichen Verkäufer zu tun, dem Arbeiter, sondern sie gehört diesen einen Monat dem Unternehmer, der sie für sich in seiner Fabrik benutzt.

Unter diesen Voraussetzungen fragt Marx nun, was in der Produktion passiert. Der Unternehmer hat sich im marxistischen Verständnis die einzige Ware angeschafft, die selbst in der Lage ist, Werte zu schaffen, deren Gebrauchswert es ist, Werte zu schaffen, und zwar, mehr Wert zu schaffen, als sein Preis, sein Lohn, ist.

Der Geldbesitzer hat sich mit der Ausbezahlung des Lohnes als Ausdruck des Tauschwertes, für einen Monat auch das Recht erworben, den Gebrauchswert der Arbeitskraft für sich zu benutzen, sie für sich arbeiten zu lassen, damit sie also für ihn Werte schafft. In diesem einen Monat schafft diese Ware, die der Arbeiter verkauft hat, für den anderen Werte, weil es der Nutzen und Gebrauchswert dieser Ware ist, Werte zu schaffen.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 1.3.1


2.1.2.1.5 Mehrwert und Kapital


Werttheorie von Marx. Grafik: Getraud Seiser und Elke Mader

Der entscheidende Schluss bei Marx lautet nun: Die angekaufte Ware Arbeitskraft schafft für den Kapitalisten Werte, diese Werte sind aber mehr wert als der Lohn, der Tauschwert der Ware Arbeitskraft. Was ein Arbeiter in dem einen Monat schafft, ist das Resultat des Gebrauchswertes der Arbeitskraft. Der Kapitalist erhält unter deren Nutzung ein mehr an Werten, als er für den Ankauf dieser Ware ausgeben musste.

Infolge dieses Prozesses wird Geld zu Kapital:

" Indem der Kapitalist Geld in Waren verwandelt, die als Stoffbildner eines neuen Produkts oder als Faktoren des Arbeitsprozesses dienen, indem er ihrer toten Gegenständlichkeit lebendige Arbeitskraft einverleibt, verwandelt er Wert, vergangne, vergegenständlichte, tote Arbeit in Kapital, sich selbst verwertenden Wert, ein beseeltes Ungeheuer, das zu ‚arbeiten' beginnt, als hätt' es Lieb' im Leibe." (Marx 1977: 209)

2.1.2.1.6 Wert einer Ware bei Marx


Supermarkt in Wien. Foto: Elke Mader

Der Warenwert setzt sich aus drei Größen zusammen:

C + V + M

C = konstantes Kapital (Maschinen, Rohstoffe, die proportional in den Wert einer Ware einfließen, usw.)

V = variables Kapital (die Lohnsumme der Arbeitskraft)

M = der Mehrwert

Der Mehrwert ist der von den Arbeitern in der Zeiteinheit, für die sie Ware Arbeitskraft verkauft haben, über die Kosten für ihren Lohn hinausgehende neu geschaffene Wert. Die Kategorie des Mehrwertes baut auf den beiden Grundkonzepten von Gebrauchswert und Tauschwert auf.

Durch die Verausgabung ihrer Arbeitskraft haben die ArbeiterInnen zuerst das Äquivalent ihres Lohns produziert und dann einen unbezahlten Überschuss, den Mehrwert. Marx klassifiziert die Mehrwertproduktion der ArbeiterInnen für das Kapital als das eigentliche Produktionsverhältnis im Kapitalismus.

Der Tauschwert einer Ware oder der Warenwert ist aber keineswegs mit dem Preis zu verwechseln, der sich durch den Verkauf dieser Ware auf dem Markt realisieren lässt. Marx selbst hat zwischen den Prozessen der Wertbildung und der Wertrealisierung unterschieden. Die Realisierung des Werts besteht im tatsächlichen Verkauf der Waren. Die Preisbildung erfolgt nun im Rahmen der Bedingungen dieses Verkaufs, die durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage geprägt sind (vgl. Godelier 1972: 262ff).

Der Tauschwert einer Ware bildet sich also in ihrer Produktion, über ihren realisierten Preis entscheidet die Zirkulation.

2.1.2.1.7 Mehrwertproduktion im Kapitalismus


Diese Theorie der Mehrwertproduktion setzt voraus, dass die Unternehmer über Privateigentum an Produktionsmitteln verfügen und die Arbeiterschaft nichts dergleichen hat.

In der Produktion von Mehrwert durch die ArbeiterInnen und die Aneignung desselben durch die UnternehmerInnen besteht das entscheidende Produktionsverhältnis im Kapitalismus.

Für die UnternehmerInnen ergeben sich in der Folge verschiedene Möglichkeiten:

  • Den Mehrwert zu reinvestieren;
  • sich selbst zu bereichern
  • oder den Profit in anderen Sparten anzulegen.

All das: Zins, Grundrente und ähnliches, sind bei Marx letztendlich unter Dominanz kapitalistischer Produktionsverhältnisse abgeleitete Kategorien.

Die Analyse der Ware ist Gegenstand des ersten Bandes des Kapitals, wobei noch weiter ausgeführt wird, wie die Kapitalisten Kapital akkumulieren.

Im zweiten Band wird der Reproduktionsprozess und die Zirkulation des Kapitals behandelt, im dritten Band der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion, die Verwandlung von Mehrwert in Profit und als eine Art Prognose das Gesetz des tendenziellen Falles der Profitrate, aufgrund dessen Marx meinte, den letztlich gesetzmäßigen Untergang der kapitalistischen Produktionsweise voraussehen zu können.

Eine kompakte Zusammenfassung zur Grundstruktur des Kapitalismus aus Sicht der Politischen Ökonomie bietet Andreas Novy [1].

Insbesondere Kapitel 2.4.2.1 inklusive aller Unterpunkte ist in gleicher Weise für die Ökonomische Anthropologie relevant.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.2 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie

2.1.2.2 Arbeitsprozess und Produktionsprozess


"Der Arbeitsprozess, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam." (Marx 1977: 198)
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Gleichzeitig ist die Arbeit immer gesellschaftlich, weil die Menschen im Arbeitsprozess nicht nur auf die Natur, sondern auch aufeinander einwirken. Menschen existieren nur in organisierten Gesellschaften, und die Art, wie die einzelne Gesellschaft organisiert ist, entscheidet darüber, wie der Mensch der Natur gegenübertritt und sie zu seinem Nutzen transformiert. Im Gegenzug wirkt die transformierte Natur wieder auf die Struktur der gesellschaftlichen Beziehungen zurück (Wolf 1991: 112).

Menschen produzieren, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegenseitig austauschen. Sie treten z.B. über Verwandtschaft, Leibeigenschaft oder Lohnarbeit in bestimmte gesellschaftliche Beziehungen und Verhältnisse zueinander und nur innerhalb dieser Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur, findet Produktion statt. Alle Produktion ist Aneignung von Natur innerhalb einer und durch eine bestimmte Gesellschaftsform.

Der Begriff Produktion ist bei Marx nicht auf Technologie reduziert!

"Produktion" erfolgt immer gleichzeitig mit den Händen und mit dem Kopf, darin unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen:

"Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war." (Marx 1977: 193)

2.1.2.3 Sozioökonomische Formationen: Begriffe


Karl Marx fühlte sich einem Universalismus verpflichtet und sah daher den Kapitalismus nur als eine Gesellschaftsformation unter mehreren, wenn auch als die entwicklungsgeschichtlich progressivste, an (Wicker o.J.: 28). Er war daher auch an den vorkapitalistischen Produktionsweisen interessiert und studierte die anthropologische Literatur seiner Zeit, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die soziale Evolution der Menschheit zu ihrer vorherrschenden Fragestellung gemacht hatte (siehe Krader 1976). Auf der Basis der Lektüre von Lewis Henry Morgan und anderen Evolutionisten entwickelte Marx eine universalhistorische Theorie der Produktionsweisen, die ab den 1970er Jahren für die neomarxistische Sozialanthropologie von großer Bedeutung geworden ist. Um diesen Auseinandersetzungen folgen zu können, ist das Grundverständnis der diesbezüglichen Begriffe notwendig.


2.1.2.3.1 Produktivkräfte


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Unter Produktivkräften versteht Marx die Gesamtheit der menschlichen und gegenständlichen Faktoren des Produktionsprozesses und die Wechselwirkung der Faktoren. Die Produktivkräfte beziehen sich auf den Arbeitsprozess und die Form der Aneignung (Bearbeitung) der Natur.

Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte ist bei Marx von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes. Wird die Entwicklung der Produktivkräfte durch die Produktionsverhältnisse eingeengt, so geraten beide in Widerspruch zueinander. Es kommt zu einer sozialen Revolution, welche die Produktionsverhältnisse und den juristischen und politischen Überbau umwälzen (vgl. Wicker o.J.: 25ff).

Elemente des Systems der Produktivkräfte:

1. Arbeitskraft:

Die wichtigste Produktivkraft ist die menschliche Arbeitskraft, d. h. die Gesamtheit der körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen, bestimmt durch seine Gesundheit und Körperkraft, seine Ausbildung und sein kulturelles Niveau (Geschicklichkeiten, Kenntnisse; Phantasie, Einfallsreichtum; eigene Erfahrung; Aus- und Weiterbildung; Teamfähigkeit, Arbeitsdisziplin; Kooperation, Arbeitsteilung; Planung, Organisation, Leitung).

2. Arbeitsmittel:

(Womit wird gearbeitet) Ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt: Arbeitsinstrumente (Werkzeuge, Maschinen, usw.), Transportmittel (LKW, Straßen; Bahn, Schienen; Schiffe, Schifffahrtskanäle; usw.), Lagermittel (Lager, Silos, Tanks usw.), Gebäude (Fabriken usw.), Energie (Strom, Diesel, usw.).

3. Arbeitsgegenstände:

(Was wird bearbeitet) Die Objekte auf die der Mensch einwirkt, um die Natur seinen Bedürfnissen gemäß umzuformen: Erde und Wasser, Grund und Boden, Naturrohstoffe (Kohle, Erdöl, Uran, usw.), Rohmaterialien (Erze, Metalle; Garn; usw.).

Die gegenständlichen Faktoren der Produktivkräfte, Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände, werden auch unter dem Begriff Produktionsmittel zusammengefasst.

Der Begriff Produktivkräfte erschöpft sich nicht in der Aufsummierung seiner Elemente in der Form: PK = AK + AG + AM, sondern er bezeichnet "die besondere Form ihrer Zusammensetzung zu einem konkreten Arbeitsprozeß" (Hindess/Hirst 1981: 29).

"Im Arbeitsprozeß bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozeß erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff." (Marx 1977: 195)

2.1.2.3.2 Produktionsverhältnisse


Die Gesamtheit der konkret-historischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen in der Produktion objektiv miteinander eingehen, nennt Marx Produktionsverhältnisse. Die soziale und politische Dimension der Produktion kommt hier zur Geltung: Produktionsverhältnisse sind eine außerökonomische Kategorie.

Marx bezieht sich dabei konkret auf die verschiedenen Formen der Aneignung von Mehrarbeit. Im Kapitalismus erfolgt dies durch das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital[1], im Feudalismus zwischen Lehnsherrn und Hintersassen und damit in Verbindung auf die Formen der gesellschaftlichen Verteilung der Produktionsmittel. Im Kapitalismus verfügen z.B. nur die Kapitalisten über die Produktionsmittel, während die Arbeiter auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft beschränkt sind.

"Das Kapital produziert als soziales Verhältnis eine Gesellschaft, dessen Strukturen auf die Menschen zurückwirken, indem sie diese erziehen, unternehmerisch zu handeln, ständig zu kaufen und zu verkaufen -- und sei es nur die eignen Arbeitskraft. Diese produzierten Strukturen treten den Menschen somit als verdinglicht und unabänderlich gegenüber. Die Welt erscheint als mächtige Objektivität, der sich die Einzelnen zu beugen haben. Sie erschient als Ansammlung optimierender Individuen, für die die Anderen jeweils bloße Objekte von Austausch und Begierde sind." (Novy 2003: 2.4.2.1)

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1


2.1.2.3.3 Produktionsweisen


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Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte ergeben zusammen eine konkrete Produktionsweise. Damit ist ein spezifisches, historisch vorfindbares System gesellschaftlicher Beziehungen, "das die Verausgabung von Arbeit regelt, um der Natur mittels Werkzeugen und handwerklichen sowie organisatorischer und intellektueller Fähigkeiten ein Quantum Energie abzuringen" (Wolf 1991: 114) gemeint.

Dies führt zu einem der Grundgedanken des historischen Materialismus:

"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." (Marx 1974(1859): 15)
Die Produktionsweise ist die wirtschaftliche Basis, auf der sich ein sozialer, politischer und religiöser Überbau erhebt.



2.1.2.3.4 Sozioökonomische Formationen als historische Abfolge von Produktionsweisen


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Basis und Überbau zusammen ergeben auf einer abstrakten Ebene sozioökonomische Formationen, die Marx in eine evolutionistische Abfolge bringt. Er beschäftigt sich primär mit dem Kapitalismus, sucht aber dann nach jenen Gesellschaftsformationen, die dem Kapitalismus vorangehen (Wicker o.J.: 29):

  • Urgemeinschaftliche GF: "Natürliches" Gemeinwesen, die Menschen verfügen über ihre Produktionsmittel, niemand schöpft eine Mehrarbeit oder ein Mehrprodukt ab. Die Auflösung dieser Gesellschaftsformation hat zu zwei verschiedenen Formen von Klassengesellschaften geführt, die asiatische und die antike GF.
  • Asiatische GF: Das Gemeinwesen selbst bleibt intakt, aber darüber formiert sich ein archaischer Staat. Die Herrscher schöpfen ein Mehrprodukt ab, es wird allerdings das Gemeinwesen besteuert und nicht das Individuum. Da das Gemeinwesen und das Gemeineigentum nicht aufgelöst wurden, "stagniert" diese Gesellschaftsformation auf hohem Niveau. Die asiatische Produktionsweise hat v.a. in der Diskussion der bäuerlichen Gesellschaften (LinkPeasant Societies) zu zahlreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen geführt, insbesondere die Frage der Stagnation wurde und wird heftig diskutiert (vgl.: Kearney 1996).
  • Antike GF: In der griechischen und römischen Antike wurde die urgemeinschaftliche Ordnung aufgelöst. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung nimmt stark zu, Handwerk und Manufaktur entwickeln sich, und der Handel erlangt eine neue Bedeutung, die auch zur Anhäufung von "Wucherkapital" führt. Der Boden wird privatisiert, Teile der Bevölkerung verschulden sich oder werden über Eroberung versklavt. Die Bevölkerung wird in Freie und Unfreie eingeteilt, Sklavenhaltergesellschaften entstehen.
  • Feudale GF: Ein ländlicher Feudaladel schöpft das Mehrprodukt über Naturalabgaben und Fronarbeit ab, während sich in den Städten eine urbane Schicht aus Handwerkern, Händlern und anderen Dienstleistern zu einem Städtebürgertum mit immer stärkeren Emanzipationsbestrebungen entwickelt. Dieses Städtebürgertum schafft die Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus.
  • Kapitalistische GF: Mit Mehrwertabschöpfung über die Lohnarbeit und der Entwicklung der Arbeitskraft zur Ware.

2.1.2.3.4.1 Kritik, Weiterentwicklung


Marx wird häufig unterstellt, dass er die einzelnen sozioökonomischen Formationen in einer unilinearen evolutionistischen Entwicklungslinie gesehen hat, die historisch nicht haltbar ist. Marx selbst ist sehr wohl von multilinearen Entwicklungssträngen aus gegangen. So schreibt er unter anderem im Kapital: "Ein genaueres Studium der asiatischen, speziell der indischen Gemeineigentumsformen würde nachweisen, wie aus den verschiednen Formen des naturwüchsigen Gemeineigentums sich verschiedne Formen seiner Auflösung ergeben" (Marx 1977: 92).

Wicker weist darauf hin, dass erst die Dogmatisierung der Schriften von Marx aus ihm einen unilinearen Evolutionisten gemacht hatte:

"In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die Periodisierungsversuche von Marx in der Sowjetunion stalinisiert, d.h. in ein dogmatisches Schema gegossen und damit der wissenschaftlichen Diskussion entzogen" (Wicker o.J: 29).

Im Neomarxismus hat man sich von diesen schematischen evolutionistischen Darstellungen emanzipiert und die Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen zu fruchtbaren Analysewerkzeugen für gesellschaftliche Wandlungsprozesse uminterpretiert (vgl.: Eric Wolf[1], Sidney Mintz[2], Maurice Godelier[3]).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.3.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.2


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2.2 Evolutionismus

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

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Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war stark vom Evolutionismus geprägt. Sehr unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen waren davon betroffen. Ein mächtiger Anstoß kam ab den 1840er Jahren aus der Archäologie mit der Einteilung in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit. Biologie (Charles Darwin) und Anthropologie (Lewis Henry Morgan, Edward B. Tylor etc.) folgten in den 1870er Jahren (Barnard 2000: 27ff).

Der Evolutionismus der damaligen Zeit stand im Brennpunkt heftiger Debatten und leidenschaftlicher Kritik. Er wurde als Gegensatz zum Kreationismus -- der Schöpfung aller Lebewesen durch Gott in ihrer gegenwärtigen Vielfalt und heutigen Form -- gesehen.

Inhalt

2.2.1 Grundgedanken des unilinearen Evolutionismus

Der Grundgedanke des unilinearen Evolutionismus besteht darin, dass sich das Leben auf der Erde in einer konkreten Linie vom Niederen zum Höheren entwickelt hat. Die höchste Form ist der zivilisierte Mensch, alle anderen und alles andere sind stecken gebliebene Entwicklungsstufen vergangener Zeiten. Im Bereich der Anthropologie repräsentieren daher die synchron sichtbaren Gesellschaften der Welt eine diachrone Abfolge. Jäger- und Sammlergesellschaften, die keine Metallwerkzeuge verwenden, sind demnach Überbleibsel der Steinzeit, und aus ihrem Studium kann abgeleitet werden, wie unsere Vorfahren vor vielen tausenden Jahren gelebt und gedacht haben.

Für die Wirtschaftsanthropologie wurde der Evolutionismus deswegen so bedeutsam, weil die Technologie (v.a. Werkzeuge und Techniken) und die Subsistenzweise (Jagd, Sammeln, Viehzucht, Ackerbau, etc.) sich durch ihre Sichtbarkeit und einfache Beobachtbarkeit besonders gut zur Einteilung von Gesellschaften in evolutionäre Stufen eigneten.

Der unilineare Evolutionismus geht davon aus, dass alle Gesellschaften dieselbe Stufenfolge zu durchlaufen haben, manche sind schneller, manche eben langsamer. Verschiedene unilineare Evolutionisten haben unterschiedliche Lebensbereiche betont: materielle Kultur, Subsistenzweise, Familienorganisation oder religiöse Vorstellungen.

"But unilinear evolutionists, in general, believed that these phenomena are interrelated, and that therefore changes, say in means of subsistence, create evolutionary changes in kinship organization, religious belief and practice, and so on." (Barnard 2000: 29f)

Gemeinsamkeiten der Evolutionisten: 1. Vergleichende Methode, mit der bestimmte Kultur- und Sozialphänomene isoliert und klassifiziert werden;

2. die Auffassung, dass das Klassifizierte in Entwicklungsreihen gegossen werden kann und eine historische Abfolge repräsentiert;

3. der Angriff gegen den "Kreationismus" (Schöpfung durch Gott).


2.2.2 Lewis H. Morgans "Urgesellschaft"

Aus Perspektive der ökonomischen Anthropologie ist '*Morgans 'Ancient Society' (1877)*' das klassische Beispiel für eine evolutionistische Theorie auf Basis der Subsistenzformen und technischen Ausstattung von Gesellschaften.

Lewis Henry Morgan stellte 1877 in seinem Buch "Die Urgesellschaft" mit dem Untertitel "Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation" folgende Stufenreihe auf:

1. Wildheit

1a) Unterstufe der Wildheit: Frühzustand der Menschheit, "kein einziges Beispiel von Menschheitsstämmen dieses Urzustandes hat bis auf die geschichtliche Zeit sich erhalten" (Morgan 1979/1908: 9); Ernährung über das Sammeln von Früchten, kein Feuer, kein Fischfang, Beginn der Sprache.

1b) Mittelstufe der Wildheit: Fischfang und Feuer sind bekannt, Pfeil und Bogen noch nicht; Australier und viele polynesische Gesellschaften waren laut Morgan bei ihrer Entdeckung auf dieser Stufe.

1c) Oberstufe der Wildheit: Erfindung von Pfeil und Bogen, aber noch keine Töpferei. Beispiele: Athabaskische Stämme der Hudsonbailänder, Küstenstämme von Nord- und Südamerika.

2. Barbarei

2a) Unterstufe der Barbarei: Erfindung der Töpferkunst, keine Haustiere, kein Pflanzenbau; Gebrauch von Adoben und Steinen zum Hausbau.

2b) Mittelstufe der Barbarei: In der östlichen Hemisphäre Zähmung von Haustieren, in der westlichen die Kultivierung von Mais und anderen Pflanzen. Hierzu gehören laut Morgan auch "die alten Briten, obwohl sie mit dem Gebrauch des Eisens vertraut waren" (Morgan 1979/1908: 10).

2c) Oberstufe der Barbarei: Verarbeitung von Eisen. Beispiel: Griechische Stämme des homerischen Zeitalters.

3. Zivilisation

Ab dem Gebrauch des phonetischen Alphabets und der Schrift beginnt für Morgan das Stadium der Zivilisation, die er wiederum in eine antike und eine moderne Form unterteilt.

Den technologisch definierten Stadien ordnet Morgan auch die Entwicklung der Ideen über Regierungsformen, Verwandtschaft und Familie und der Eigentumsformen zu (vgl.: Kuper 1988: 42-77). Bei Morgan kommt es zu einer Homogenisierung des gemeinsamen Auftretens bestimmter Kulturmerkmale in einzelnen Stadien. Dh, ist ein bestimmtes Merkmal nachweisbar, so lassen sich daraus Rückschlüsse auf die zugehörigen weiteren Merkmale des entsprechenden evolutionären Stadiums ziehen.

Gegenbeispiel -- Inkastaat zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert: Aufgrund der komplexen Ökonomie, der politischen Hierarchie und dem ausdifferenzierten Verwaltungsapparat wäre der vorkolumbianische Inkastaat dem Morgan'schen Stadium der antiken Zivilisation zu zuordnen. Die Inkas verfügten aber über keine phonetische Schrift und die Informationsweitergabe erfolgte auf Basis einer ausgeprägten Oralkultur.

Die weite Verbreitung und vor allem auch die heftige Kritik hat Morgan Friedrich Engels zu verdanken, der auf Basis der Morganexzerpte von Karl Marx (vgl.: Krader 1974) den "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" (1884) verfasste (vgl.: Hildebrandt 1979: 21).


2.2.3 Kritik am Evolutionismus

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"Die ökonomische Sicht auf außereuropäische Gesellschaften ist maßgeblich von ideologischen Zuordnungen geprägt" (Wicker 2003: 5)

Selbstverständlich wird heute davon ausgegangen, dass es eine Evolution im Sinne einer konkret historischen Entwicklung gegeben hat. Dies belegen die Ergebnisse der Archäologie und der Ur- und Frühgeschichte.

Aber alle menschlichen Gesellschaften dieser Welt haben sich gleich lange entwickelt und aus den heutigen Formen lassen sich keinerlei Rückschlüsse auf prähistorische Zustände ziehen. Die derzeit vorfindbaren Gesellschaften sind nachvollziehbar auf vielen verschiedenen konkret historischen Wegen zu dem geworden, was sie jetzt sind. Das heißt, die Entwicklung verlief jedenfalls multilinear und es ist keineswegs gesichert, dass die Industriegesellschaft, die in Bezug auf die technologische Naturbeherrschung vorher nie da gewesene Wege gegangen ist, auch in anderen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens als besonders "hoch" entwickelt gelten kann. Evolution bedeutet, dass es selbstverständlich Geschichte gibt. Eine Bewertung geht nicht daraus hervor, sondern ist Ausdruck eines speziellen Weltbilds oder einer Ideologie.

Demgegenüber handelt es sich beim Evolutionismus um eine spekulative Geschichtsschreibung. Heutige Gesellschaften werden als "Überbleibsel" oder survivals von gesellschaftlichen Frühformen gesehen. Daher erscheint für Evolutionisten legitim, von Artefakten wie z.B. 10.000 Jahre alten Pfeilspitzen durch den Vergleich mit rezenten Jägergesellschaften Rückschlüsse auf das Sozialsystem vor 10.000 Jahren zu ziehen. Unabhängig davon, ob man sich einen oder mehrere mögliche Wege vom homo habilis zu Präsident George Bush vorstellt, der Gang der Entwicklung wird immer bewertet, im Sinne von einer Entwicklung vom "primitiven" zum "höchststehenden".


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2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

1. Phase (ca. 1848-1890): Evolutionistische Ethnologie beeinflusst Marxismus

Marx und Engels befassen sich mit ethnologischen Fragestellungen; Epoche des Evolutionismus; Marx's "Ethnologische Exzerpthefte" werden von Engels in einer verkürzten Interpretation für "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" (1884) verwendet.

2. Phase (ca. 1890-1945): Außerhalb der Sowjetunion: getrennte Wege

Der Westen wandte sich vom Evolutionismus ab, der Sowjetmarxismus blieb ihm aber noch lange verpflichtet. Engels' Ansatz wurde von Stalin zur Doktrin erhoben.

3. Phase (ca. 1945-1980): Marxismus beeinflusst Sozialanthropologie

Fragen nach der Kontrolle über Menschen und Ressourcen bei den untersuchten Kulturen; Fragen nach dem Geschlechterverhältnis (gender) als Teil jeder Kulturanalyse; Religion, Kosmologie und Ideologie nicht als isolierte Phänomene, sondern als integraler Teil der Gesamtgesellschaft; Kolonialismus mit seiner historischen und politischen Dominanz und wirtschaftlicher Verflechtung werden insbesondere ab Mitte der 1960er Jahre aus neomarxistischer Perspektive untersucht.

4. Phase (seit etwa 1980): "Post-marxistische" Phase mit Weiterentwicklung einzelner Fragestellungen


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2.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Barnard, Alan 2000: 'History and Theory in Anthropology'. Cambridge: Cambridge University Press.

Engels, Friedrich 1884: *Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats*. In Marx Engels Werke.

Godelier, Maurice 1972: *Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie*. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.

Hildebrandt, Hans-Jürgen 1979: Einführung zu Morgans "Die Urgesellschaft". In *Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation*. Lollar/Lahn: Verlag Andreas Achenbach, S. 1-31.

Hindess, Barry; Hirst, Paul Q. 1981: *Vorkapitalistische Produktionsweisen*. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Verlag Ullstein.

Kearney, Michael 1996: *Reconceptualizing the Peasantry. Anthropology in Global Perspective*. Boulder: Westview Press.

Krader, Lawrence 1976: 'Ethnologie und Anthropologie bei Marx'. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Verlag Ullstein.

Kuper, Adam 1988: *The Invention of Primitive Society. Transformations of an Illusion*. London, New York: Routledge.

Marx, Karl 1974: 'Zur Kritik der politischen Ökonomie'. Berlin: Dietz Verlag.

--- 1977: 'Das Kapital'. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Marx, Karl; Engels, Friedrich 1983: *Manifest der Kommunistischen Partei*. In Marx Engels Werke. Berlin: Dietz Verlag, S. 459-493.

Mehring, Franz 2001: Karl Marx. 'Geschichte seines Lebens'. Essen: Arbeiterpresse Verlag.

Morgan, Lewis Henry 1877: *Ancient Society. Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization*. New York: Holt.

--- 1979: *Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation*. Lollar/Lahn: Verlag Andreas Achenbach.

Novy, Andreas 2003: "Internationale Politische Ökonomie. Mit Beispielen aus Lateinamerika." [1] (15.11.2004)

Polanyi, Karl 1978: *The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen*. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Wicker, Hans-Rudolf 2003: "Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Wirtschaftsethnologie." Online: https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf [2] (09.08.2020).

Wilk, Richard R. 1996: *Economies & Cultures. Foundations of Economic Anthropology*. Boulder: Westview Press.

Wolf, Eric R. 1991: *Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400*. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.2.1 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie
[2] https://boris.unibe.ch/101498/1/Leitfaden%20Wirtschaftsanthropologie.pdf


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3 Neoklassik oder Rational Choice

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

  • Geschäft in Nepal. Foto: Elke Mader
  • Bauernhof in Nepal. Foto: Elke Mader
  • "Art Service" in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Die neoklassische Wirtschaftstheorie geht davon aus, dass es nur eine einzige universelle ökonomische Logik gibt. Diese Logik kommt auf der Ebene des Entscheidungsverhaltens der Individuen zum Tragen [1].

Hat ein Individuum die Auswahl zwischen zwei oder mehreren Gütern, entscheidet es rational, d.h. es wählt jenes Gut, das mit geringstem Aufwand den größten Nutzen oder die größte Bedürfnisbefriedigung [2] verspricht.

Einen ausgezeichneten Überblick über die wesentliche Begrifflichkeit der Neoklassik oder rational choice theory stellt Andreas Novy [1] zur Verfügung. Insbesondere die Punkte 2.2.1 und 2.2.5 inklusive aller Unterpunkte sind in gleicher Weise für die ökonomische Anthropologie von Relevanz.

Im Rahmen der Ökologischen Anthropologie kommt die neoklassische Wirtschaftstheorie vor allem durch ihren Einfluss auf die Schule (Forschungsrichtung) der Formalisten zu tragen.In dieser Lernunterlage kann auf die Theorieentwicklung in den einzelnen ideologischen Feldern nur sehr kursorisch anhand der Hauptvertreter eingegangen werden. Wer sich für die Geschichte der ökonomischen Anthropologie aus einer neoklassischen Perspektive interessiert, sei insbesondere auf Plattner (1989), Rössler (1999) und Ensminger (2002) verwiesen. Kritische Positionen dazu bieten Halperin (1994) und Wilk (1996).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.2.5.1 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie
[2] Siehe Kapitel 2.2.5.4 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie
[3] Siehe Kapitel 2.2 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie

Inhaltsverzeichnis

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

1 Vorläufer
2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus
4 Institutionalismus und Substantivismus
5 Neomarxismus

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3.1 Raymond Firth

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Raymond Firth (1901-2002)

Relevante Werke:

1939: Primitive Polynesian Economy

1967: Themes in Economic Anthropology (Hg.)

Firth, ein gebürtiger Neuseeländer, studierte zuerst Volkswirtschaft in seiner Heimat. Später zog er nach London, studierte Anthropologie und wurde einer der ersten Schüler Bronislaw Malinowskis. Er vertrat den Funktionalismus [2] seines Lehrers und übernahm 1944 den durch den Tod Malinowskis vakant gewordenen Lehrstuhl an der London School of Economics.

Er entwarf eine "Economic Anthropology" unter Zugrundelegung der Axiome der neoklassischen Theorie, vor allem des Maximierungsprinzips bei der Allokation knapper Ressourcen auf menschliche Bedürfnisse, sowie des Prinzips der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Nutzengrößen.

Primitive Polynesian Economy (1939) gilt nach Malinowskis Argonauten des westlichen Pazifik'[3]' (1922) als ethnographischer Klassiker der Ökonomischen Anthropologie und als ein Meilenstein der formalistischen Theorie. Die Monographie enthält umfangreiche und detaillierte Beschreibungen der polynesischen Wirtschaft, insbesondere der Insel Tikopia. Der methodologische Individualismus in neoklassischer Tradition, den er aus seinem Ökonomiestudium in die Anthropologie einbrachte, wirkt sich insgesamt auf sein ethnographisches Werk aus. Er porträtiert einzelne Bewohner Tikopias in ihrer Individualität und Persönlichkeit, zeigt die Flexibilität des Einzelnen im Alltag und betont die individuellen Wahlmöglichkeiten (vgl.: Halperin 1994: 20f; Petermann 2004: 916f).

T'hemes in Economic Anthropology' (1967) ist ein Sammelband, der die Positionen der Formalisten zusammenfasst und in Abgrenzung zu den Substantivisten nochmals präzisiert. Da Firth nicht umhin kommt, das Besondere einzelner Kulturen anzuerkennen, unterscheidet er zwischen kulturspezifischen "substantial propositions" und uneingeschränkt geltenden "formal propositions".

Raymond Firth im WWW:

https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf [4]

http://www.alanmacfarlane.com/ancestors/raymond_firth.html [5]

http://www.anthrobase.com/Browse/Cit/F/raymond_w_firth.htm [6]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050222090952im_/http://petersearle.com/sirraymondfirth.jpg
[2] Siehe Kapitel 13.4 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung [3] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1
[4] https://web.archive.org/web/20090306050830/http://www.aps-pub.com/proceedings/1481/480109.pdf
[5] http://www.alanmacfarlane.com/ancestors/raymond_firth.html
[6] http://www.anthrobase.com/Browse/Cit/F/raymond_w_firth.htm

Inhalt

3.1.1 Allgemeine Gesetzmäßigkeiten und spezifische ökonomische Systeme bei Firth

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Formal propositions

"On the basic principles of choice in the use of resources and perceptions of relative worth in an exchange, there is a continuum of behaviour over the whole range of human economic systems." (Firth 1967a: 6)

Bei den formal propositions handelt es sich um generelle Gesetzmäßigkeiten, die uneingeschränkt weltweit gelten. Hierzu zählt nach Firth insbesondere das Motivationsprinzip jedes Individuums, in einer Entscheidungssituation mit mehreren Optionen seinen Nutzen zu maximieren.

Im Fall des Kula-Tauschrings[1] versuchen z.B. die Beteiligten, Kula-Gegenstände so zu tauschen, dass sie einen möglichst großen Nutzen davon haben. Die Schönheit und Seltenheit des Armreifens oder der Halskette hebt das persönliche Ansehen. Durch einen günstigen Tausch lässt sich daher die soziale Beziehung zum Tauschpartner optimieren. Die aufwändigen Potlatch-Feste dienen der Maximierung von Status und Prestige: wer mehr verschenken kann als der Beschenkte zu erwidern imstande ist, steigt in der Hierarchie auf. Im Kapitalismus wird demgegenüber finanzieller Gewinn maximiert.

Substantial propositions

"To an anthropologist the recognition that any specific economic system has a corresponding set of moral values is taken for granted." (Firth 1967a: 5)

Die substantial propositions sind kulturspezifische institutionelle Gegebenheiten, die von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren. Beispielsweise kauft in einem marktwirtschaftlichen System eine Person dort seine Schuhe, wo sie oder er sie am billigsten erhält, da sie/er zum Schuhgeschäft keine persönlichen Beziehungen hat. In vielen nicht-marktwirtschaftlichen Systemen berücksichtigen KäuferInnen auch die sozialen Beziehungen zum Verkäufer. Sie kaufen ihre Schuhe vielleicht sogar wissentlich teurer, aber maximieren dennoch ihren Nutzen durch die Berücksichtigung der sozialen Komponente, indem sie beispielsweise dadurch die Verbindung zu einem wichtigen Verwandten oder Bündnispartner bestätigen. Das heißt, die institutionellen Gegebenheiten, das, was eine Gesellschaft für das Wertvollste oder Nützlichste hält, sind variabel, das Prinzip der Nutzenmaximierung ist hingegen eine universelle Gesetzmäßigkeit. Firth fasst die Unterschiede zwischen den wirtschaftlichen Systemen nur als solche des Grades -- wie alle Formalisten -- ("große und kleine Äpfel") und nicht als solche der Art ("Äpfel und Birnen") auf.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.2


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3.2 Melville J. Herskovits

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Melville J. Herskovits (1895 -- 1963)

Schüler von Franz Boas

Vertreter des US-Kulturrelativismus

Relevantes Werk:

1940: The Economic Life of Primitive People =

1952: Economic Anthropology: A Study in Comparative Economics

Herskovits, ein US-Amerikaner, war Schüler von Franz Boas (1858 -- 1942), dem Begründer der amerikanischen Cultural Anthropology. Herskovits' Grundprämissen könnten auch einem ökonomischen Lehrbuch entstammen:

It can also be taken as cross-culturally acceptable that, on the whole, the individual tends to maximize his satisfactions in terms of the choices he makes. Where the gap between utility and disutility is appreciable, and the producer or consumer of a good or service is free to make his choice, then, other things being equal, he will make his choice in terms of utility rather than disutility." (Herskovits 1952: 18)

Halperin (1994: 20) klassifiziert Herskovits Werk als "hard-core, utilitarian methodological individualism" mit universalistischem Anspruch. Gleichzeitig war er jedoch von der kulturrelativistischen Schule (Westermarck, Boas) geprägt, arbeitete wie viele andere Boas-Schüler auch an der Identifizierung von Kulturarealen und gerät dadurch in einen Zwiespalt. In seinen Monographien, wie jener zum Cattle Complex in East Africa (1926) argumentierte er ausschließlich kulturalistisch. Die Rinderhaltung würde in Ostafrika innerhalb eines komplexen Wertesystems stattfinden, in dessen Zentrum das Rind eine umfassende bedeutungsgeladene Rolle spielt. Aus dieser Ideologie heraus würden bei den Rinderhaltern wirtschaftliche Erwägungen in den Hintergrund gedrängt (Petermann 2004: 655ff). Dieser Zugang steht in starkem Widerspruch zum universalistischen Nutzenmaximierer in seinem theoretischen Werk zur ökonomischen Anthropologie.

'The Economic Life of Primitive People' (1940), 1952 neu aufgelegt unter dem Titel 'Economic Anthropology: A Study in Comparative Economics', gilt als erstes zusammenführendes Handbuch der ökonomischen Anthropologie und als historischer Klassiker der formalistischen Theorie. Mit vielen empirischen Beispielen und Details versucht er darin auf enzyklopädische Weise seine Annahmen über den homo oeconomicus in verschiedenen Weltgegenden zu belegen. Er vermeidet aber Vergleiche und kann die Unterschiede in den ökonomischen Formen nicht erklären (vgl. Halperin 1994: 21).

Herskovits brachte den Begriff des "economizing" (Wirtschaftlichkeitsprinzip im Sinne von Sparsamkeit) in die Debatte ein. Der Terminus bezieht sich auf den Umgang mit knappen Ressourcen und impliziert dabei drei Aspekte:

  • bewusste individuelle Entscheidungsfindung,
  • zwei oder mehr Alternativen, zwischen denen entschieden wird,
  • die Effizienz als oberstes Ziel des Entscheidungsprozesses.

Nutzenmaximierung bedeutet daher nicht immer ein Streben nach dem bestmöglichen Ergebnis. Es beinhaltet auch das Erreichen eines hinreichenden Ziels unter minimalen Anstrengungen.

Verweise:

[1] http://www.library.northwestern.edu/africana/herskovits.html


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3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Die ökonomische Anthropologie war etwa 15 Jahre lang durch eine heftige, emotional geführte Theoriedebatte gekennzeichnet. Es standen einander zwei -- wie es schien unversöhnliche -- Lager gegenüber, einerseits die

  • Formalisten, und andererseits die
  • Substantivisten oder Institutionalisten.

Nach Prattis (1973: 46) war es primär eine "methodologische" Kontroverse, die auf unterschiedliche Auffassungen über die Natur der menschlichen Rationalität reduziert werden kann.

Bis in die 1950er Jahre wurde in der Ökonomischen Anthropologie fast ausschließlich deskriptiv gearbeitet. Es ging primär darum, wie verschiedene Kulturen ihren Lebensunterhalt gestalten. Die AnthropologInnen kritisierten dabei den Ethnozentrismus der ÖkonomInnen, wurden allerdings von diesen weitgehend ignoriert.

Wie viele andere ist Wilk (1996:4) der Ansicht, dass erst die theoretische Debatte zwischen Substantivismus und Formalismus die Subdisziplin der Ökonomischen Anthropologie konstituiert habe.

Die Bezeichnung der Kontrahenten als Formalisten und Substantivisten wurde von Karl Polanyi mit seiner Unterscheidung der zwei Bedeutungen von "economic" eingeführt.

Die substantivistische Bedeutung von "ökonomisch" bezieht sich auf die Abhängigkeit des Menschen von der Natur und seinen Mitmenschen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: "It refers to the interchange with his natural and social environment, insofar as this results in supplying him with the means of material want-satisfaction" (Polanyi 1968 / 1957: 139).

Die formale Bedeutung kommt aus dem logischen Charakter der Mittel- Zweckbeziehung, wie sie sich in der Begriffsbedeutung von "ökonomisch" ist gleich sparsam ausdrückt: "It refers to a definite situation of choice, namely, that between the different uses of means induced by an insufficiency of those means" (Polanyi 1968 / 1957: 140).

Mit der rational choice theory arbeitende AnthropologInnen haben den Begriff Formalisten in der Folge als Eigenbezeichnung für sich übernommen.

Inhalt

3.3.1 Der Angriff der Substantivisten

Die meisten frühen Vertreter der Ökonomischen Anthropologie wie Raymond Firth oder Melville Herskovits, aber auch zum Teil Malinowski orientierten sich am damals wie heute dominanten Zugang der Wirtschaftswissenschaften, der Neoklassik oder 'rational choice' Theorie. Diese gingen vom Menschenbild des homo oeconomicus und vom Entscheidungsverhalten von Einzelpersonen oder Haushalten in einer Situation knapper Mittel aus, auf die sie ihre mathematischen Modelle aufsetzen konnten. Wobei mathematische Rechenoperationen nur sehr bescheiden Einzug in wirtschaftsanthropologische Texte hielten, da in der Mehrheit der Fälle eine entsprechende Menge an empirischen Daten nicht zur Verfügung stand und diese in Regionen ohne groß angelegte staatliche Zählungen und Erhebungen nur sehr mühsam zu gewinnen sind.

Ausgelöst wurde die Debatte zwischen Formalisten und Substantivisten durch den fundamentalen Angriff des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi auf die Grundannahmen der Neoklassik. Mit *The Great Transformation'*' (1944) wandte dieser sich an die Wirtschaftswissenschaften, mit '*'Trade and Markets in the Early Empire'*' (1957) gemeinsam mit mehreren SozialanthropologInnen an die Anthropologie. Diese Gruppe geht davon aus, dass vorindustrielle und bäuerliche Gesellschaften andere Vorstellungen von Rationalität haben, als die kapitalistische Industriegesellschaft.

Polanyi argumentiert, die Wirtschaftswissenschaften hätten sich gemeinsam mit dem Kapitalismus entwickelt. Sie seien daher Teil des Systems, das den Kapitalismus aufrecht erhält, indem sie ihn als "natürlich" erscheinen lassen.

Die Substantivisten lehnten aber den methodologischen Individualismus und den 'homo oeconomicus' nicht grundsätzlich ab. Sie beschränkten nur seinen Anwendungsbereich auf Gesellschaften mit marktwirtschaftlicher Grundlage. Dort allerdings bestärkten und überhöhten sie das Prinzip der Nutzenmaximierung zu einer die Gesellschaft zerstörenden Kraft (vgl. v.a. Polanyi 1944).


3.3.2 Die Reaktion der Formalisten

In den 1960er Jahren erfolgte eine heftige Reaktion der Formalisten auf Karl Polanyi und die Substantivisten. Die zentralen Kritikpunkte waren:

1. Die Substantivisten hätten das Prinzip des maximising falsch verstanden. Um zu maximieren brauche es weder Güter noch Markt, auch Liebe und Sicherheit könnten unter formal-rationalen Gesichtspunkten betrachtet werden.

2. Die Substantivisten seien Romantiker, die sich mit Wunschdenken und nicht mit Realität befassten.

3. Formale Methoden würden in allen Gesellschaften funktionieren, da überall unendliche Bedürfnisse mit beschränkten Mitteln zu befriedigen versucht würden.

4. Ein induktiver Zugang in der Ökonomischen Anthropologie käme dem Schmetterlingssammeln gleich, nur deduktive Ansätze entsprächen einem wissenschaftlichen Verständnis. Dieser Kritikpunkt ist im Kontext der positivistischen Ausrichtung der gesamten Sozialwissenschaften in den 1960er Jahre zu sehen.

5. Polanyi hätte die Geschichte falsch verstanden. Markt, Tausch und Handel gäbe es in allen Gesellschaften (vgl. Wilk 1996: 9ff).

Die Formalisten nahmen für sich in Anspruch, die nicht-westlichen Gesellschaften zu entmystifizieren, indem sie zeigen wollten, dass diese auch imstande wären, rational zu handeln. Hauptvertreter dieser Phase waren Robbins Burling, Harold Schneider, Edward LeClair, Franc Cancian und Scott Cook.

Ethnographische Monographien aus dieser Phase des Formalismus stammen z.B. von Sol Tax (1953) und von Scarlett Epstein (1968). Beide versuchten zu zeigen, dass in den von ihnen untersuchten Gesellschaften die Individuen wie Unternehmer handeln, indem sie rational entscheiden, Kapital akkumulieren und reinvestieren.


3.3.3 Kritik an den Formalisten

Die Kritik an den Formalisten wurde in doppelter Weise geführt.

  • Einerseits wurde der Zugang des methodologischen Individualismus als unbrauchbar angesehen, um das ökonomische Handeln in vorindustriellen/nicht industrialisierten Gesellschaften zu verstehen. Diese Kritik kam vorwiegend von den Substantivisten und ließ in ihrer fundamentalen Ablehnung lange keine Gesprächsmöglichkeiten zu.
  • Aber auch innerhalb der Formalisten und unter Akzeptanz der 'rational choice' Theorie hatte man Probleme mit dem *homo oeconomicus'*' im Sinne eines ausschließlichen Nutzenmaximierers.2 Probleme zeigten sich:1. Wie lässt sich der "Nutzen" in Gesellschaften messen, in denen es kein Geld im Sinne eines "allgemeinen Äquivalents" gibt. Auch in marktwirtschaftlichen Gesellschaften ist der Nutzen eine "metaphysische Kategorie" (Novy 2003), die sich einer objektiven Messbarkeit entzieht.2. In Feldforschungssituationen kommt rasch zum Vorschein, dass die meisten Menschen schlichtweg nichts maximieren. Offenbar zufrieden mit ihrem Leben streben sie weder nach Reichtum und Geld, Macht, Prestige oder Ehre.


3.3.3.1 Kritik am homo oeconomicus aus nicht-formalistischer Perspektive


Bis heute ist der homo oeconomicus der Formalisten Gegenstand von Auseinandersetzungen (vgl. Ensminger 2002: XI). Bereits Raymond Firth hatte auf den augenfälligen Umstand, dass in vielen Gesellschaften keineswegs Reichtum oder Kapital akkumuliert würde, mit der Einführung der institutionellen Gegebenheiten reagiert. Es wird überall maximiert, aber eben nicht nur Geld, sondern Macht, Prestige, Lust, Gottgefälligkeit (bei Asketen zum Beispiel) und vieles andere mehr (besonders bei Burling 1962). Dazu meinte Maurice Godelier bereits 1965: "wenn so theoretisch jedes zweckbestimmte Handeln ökonomisch wird, ist faktisch keines mehr ökonomisch" (Godelier 1972: 292).

Die formale Theorie ist ein Komplex mathematischer Verfahrensweisen, der indifferent gegenüber dem Gegenstand ist, mit dem er umgeht, denn die Logik des Kalküls bleibt überall dieselbe (Godelier 1972: 294). Das heißt, sie kann gar nicht fassen, was nun ökonomisch oder politisch oder psychologisch ist, sie kann nur auf der Basis bereits vorher getätigter Annahmen rechnen: der Annahme v.a., dass immer und überall in einer Situation mit alternativen Entscheidungsmöglichkeiten versucht wird knappe Mittel den jeweiligen Zwecken zuzuordnen. Dieses Verfahren wird heute noch genau so kritisiert wie in den 1960er Jahren:

If you are sufficiently determined, you can always identify something that people try to maximize. But if all maximizing models are really arguing is that 'people will always seek to maximize something,' then they obviously can't predict anything, which means employing them can hardly be said to make anthropology more scientific. All they really add to analysis is a set of assumptions about human nature. The assumption, most of all, that no one ever does anything primarily out of concern for others; that whatever one does, one is only trying to get something out of it for oneself. In common English, there is a word for this attitude. It's called 'cynicism.' Most of us try to avoid people who take it too much to heart. In economics, apparently, they call it 'science'." (Graeber 2001: 8)


3.3.3.2 Revisionen der formalistischen Theorie: Ian Prattis und sein strategising man


Einen Versuch, diesem Dilemma zu entkommen und trotzdem im formallogischen System der Neoklassik zu verbleiben, hat z.B. Ian Prattis 1973 in einem einflussreichen Artikel unternommen. Seiner Ansicht nach ist 'maximising' als einziges Ziel aller Handlungen tatsächlich unvollständig. Er plädiert daher für eine Sicht des strategising, worunter er versteht, dass dem handelndem Individuum in einer Entscheidungssituation mehrere Möglichkeiten [1] offen stehen:

1. Maximising = Maximierung des Nutzens

2. Minimaxing = Minimierung der Wahrscheinlichkeit von maximalem Verlust

3. Satisfising = Ergreifen der ersten Alternative, die die Minimalanforderungen für die Bedürfnisbefriedigung erfüllt

Um aber auf diese Diversifizierung der Handlungsmotivationen wieder mathematische Prognosemodelle aufsetzen zu können, bedarf es nunmehr einer Spezifizierung der Umstände, die bei einem Individuum die Wahl einer bestimmten Strategie wahrscheinlich machen.

Prattis testet nun seine Strategiemuster anhand eines ethnographischen Beispiels (die Irregularitäten des Muschelgeldes auf Rossel-Island, Melanesien, über die sich schon manche den Kopf zerbrochen haben) und kommt zum Ergebnis, dass

maximising die bevorzugte Strategie der Häuptlinge ist,

minimaxing jene von Personen auf mittlerer Prestigeebene, und

satisfising wird von den jungen Männern am untersten Ende der Prestigehierarchie praktiziert.

Um zu dieser Zuordnung zu kommen, muss er allerdings den Weg der formalen Logik verlassen.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.2.5.3.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie


Nächstes Kapitel: 3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur


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3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Burling, Robbins 1962: "Maximization Theories and the Study of Economic Anthropology." 'American Anthropologist' 64, S. 802-821.

Ensminger, Jean 2002: 'Theory in Economic Anthropology'. Walnut Creek: AltaMira Press.

Epstein, Scarlett 1968: 'Capitalism, Primitive and Modern'. Michigan: Michigan State University.

Firth, Raymond 1965/1939: 'Primitive Polynesian Economy'. London: Routledge.

--- 1967a: 'Themes in Economic Anthropology'. London: Tavistock Publications.

--- 1967b: Themes in Economic Anthropology: A General Comment. In R. Firth (Hrsg.) 'Themes in Economic Anthropology'. London: Tavistock Publications, S. 1-28.

Godelier, Maurice 1972: *Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie*. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.

Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The False Coin of Our Own Dreams*. New York: Palgrave.

Halperin, Rhoda H. 1994: 'Cultural Economies Past and Present'. Austin: University of Texas Press.

Herskovits, Melville 1926: "The Cattle Complex in East Africa." 'American Anthropologist' 28, S. 361-388, 494-528, 633-664.

--- 1952/1940: *Economic Anthropology. A Study of Comperative Economics*. New York: Knopf.

Malinowski, Bronislaw 1961/1922: 'Argonauts of the Western Pacific'. New York: Dutton Press.

Novy, Andreas 2003: Internationale Politische Ökonomie: Neoklassik. Wirtschaftsuniversität Wien, Abt. Stadt und Regionalentwicklung. [1]

Petermann, Werner 2004: 'Die Geschichte der Ethnologie'. Wuppertal: Peter Hammer Verlag.

Plattner, Stuart 1989: 'Economic Anthropology'. Stanford: Stanford University Press.

Polanyi, Karl 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton: 'Primitve, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi'. New York: Doubleday, S. 139-174.

--- 1978/1944: *The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen*. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Polanyi, Karl; Arensberg, Conrad M.; Pearson, Harry W. 1957: *Trade and Market in the Early Empires*. New York: Free Press.

Prattis, J. Iain: 1973: "Strategising Man." 'Man' (N.S.) 8, S. 46-58.

Rössler, Martin 1999: 'Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung'. Berlin: Reimer Verlag.

Tax, Sol 1953: 'Penny Capitalism. A Guatemalan Indian Economy'. Washington: Government Printing Office.

Wilk, Richard R. 1996: *Economies & Cultures. Foundations of Economic Anthropology*. Boulder: Westview Press.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.2 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie


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4 Institutionalismus und Substantivismus

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

  • Rinderopfer bei Hochzeitsfest der Toraja (Indonesien). Foto: Elke Mader
  • Festessen in einem Dorf der Shuar (Ecuador). Foto: Elke Mader

Unter Institutionalismus oder spezifischer Substantivismus wird eine wirtschaftsanthropologische Ideenrichtung verstanden, die davon ausgeht, dass die Ökonomie zumindest in nicht-industrialisierten Gesellschaften in die Gesamtheit aller Institutionen eingebetet ist. Sie kann nicht auf eine Handlungsmotivation wie maximieren oder optimieren reduziert werden (Gudeman 1996: 173).

Achtung: Auch in den Wirtschaftswissenschaften gibt es die Opposition zwischen Institutionalismus und konventioneller Mikroökonomie (Isaac 2005: 20), es gibt aber doch deutliche Unterschiede zu den Ausprägungen des Institutionalismus in der Ökonomischen Anthropologie.

Inhaltsverzeichnis

4 Institutionalismus und Substantivismus

4.1 Vordenker
4.1.1 Émile Durkheim
4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität
4.1.1.2 Von der sozialen Teilung der Arbeit
4.1.1.3 Anti-Individualismus und Kollektive Repräsentationen
4.1.1.4 Wert, Gesellschaft, Symbol
4.1.1.5 Kontrollierte Bedürfnisse, kontrollierte Ökonomie
4.1.1.6 Typologischer Evolutionismus: Organische und mechanische Solidarität
4.1.2 Max Weber
4.1.2.1 Kultur und Wert
4.1.2.2 Wirtschaft, Werte, Religion: "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus"
4.1.2.3 Form und "Geist" des Kapitalismus
4.1.2.4 Wirkungsweisen und geistige Ursachen des Kapitalismus
4.1.2.5 Askese und wirtschaftliches Handeln
4.1.2.6 Berufsidee und Gnadenwahllehre
4.1.2.7 Zeit ist Geld
4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus
4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild
4.1.3 Weber und Durkheim
4.1.3.1 Religiöse Weltbilder und die "Entzauberung der Welt"
4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
4.2 Frühe VertreterInnen
4.2.1 Richard Thurnwald
4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie
4.2.2.1 Bronislaw Malinowski
4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie
4.2.2.1.2 Kula
4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen
4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte
4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel
4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum
4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol
4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie
4.2.2.2 Marcel Mauss
4.2.2.2.1 Die Gabe
4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip
4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe
4.2.2.3 Mauss und Malinowski
4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur
4.3 Substantivisten
4.3.1 Karl Polanyi
4.3.1.1 The Great Transformation
4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi
4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität
4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution
4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung
4.3.1.2.4 Marktprinzip
4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt
4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld
4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi
4.3.2 George Dalton
4.3.3 Marshall Sahlins
4.3.3.1 Beispiel Tausch
4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins
4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins
4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität
4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society
4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San
4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion
4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse
4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production
4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

1 Vorläufer
2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus
3 Neoklassik oder Rational Choice
5 Neomarxismus

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4.1 Vordenker

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Theogrundlagen-75 1.jpg

Wesentliche Grundlagen des Institutionalismus bzw. des Substantivismus in der Ökonomischen Anthropologie wurden von Begründern der Soziologie und der Sozialanthropologie entwickelt. Besondere Bedeutung kommt dabei Émile Durkheim und Max Weber zu. Beide Wissenschafter beschäftigen sich mit einer Vielzahl von Fragen in Zusammenhang mit der Konstitution von Gesellschaft, wobei wirtschaftliche Prozesse für sie einen Teilbereich des Sozialen darstellen und eng mit anderen Bereichen des Denken und Handelns verwoben sind.

Durkheim und Weber beschäftigen sich auch eingehend mit Fragen des Weltbilds bzw. der Religion und seiner Bedeutung für soziales und ökonomisches Handeln.

Inhalt

4.1.1 Émile Durkheim

Émile Durkheim (1858 -- 1917)

Relevante Werke:

1893: De la division du travail social (Über soziale Arbeitsteilung)

1912: Die elementaren Formen des religiösen Lebens

Der französische Wissenschafter Émile Durkheim gehört zu den Begründern der Soziologie und Sozialanthropologie. Im Mittelpunkt seiner Theorie steht die gesellschaftliche Natur des Menschen. Menschen sind soziale Wesen, sie leben in Gruppen und ihr Bewusstsein wird durch Interaktionen mit Anderen geprägt. Daher kann menschliches Denken und Handeln nur dann zielführend untersucht bzw. verstanden werden, wenn nicht das Individuum, sondern die Gruppe bzw. die Gesellschaft den Forschungsgegenstand bildet.

Durkheim wendet diese Grundannahmen auf verschiedene Dimensionen des Denkens und Handelns an, insbesondere auf die Gestaltung von sozialen Gruppen und gesellschaftlichen Institutionen, auf Wirtschaft sowie auf Religion. Im Rahmen seiner "sozialen Ökonomie" entwickelt Durkheim drei Themen, die für die Weiterentwicklung der ökonomischen Anthropologie von besonderer Bedeutung sind:

  • Anti-Utilitarismus
  • Anti-Individualismus
  • Typologischer Evolutionismus

Durkheim vertritt einen systemorientierten Ansatz und ist ein Vorläufer der Strukturalisten. In seinen verschiedenen Forschungsfeldern geht er vom Modell einer grundsätzlich homogenen Gesellschaft mit gemeinsamen Interessen aus (vgl. Wilk 1996: 77-83).

Émile Durkheim im WWW:

https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html [2]

https://web.archive.org/web/20051224210427/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/index.html [3]

https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html [1]

http://www.chez.com/sociol/socio/autob/durkheim.htm [4]

https://web.archive.org/web/20051225230057/http://www.emile-durkheim.com/ [5]

https://web.archive.org/web/20060425232745/http://www.emile-durkheim.com/emile_durkheim_resources.htm [6]

https://web.archive.org/web/20050826125237/http://www.sociologyonline.co.uk/soc_essays/DurkIntro.htm [7]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20080224184023/http://durkheim.itgo.com/main.html
[2] https://web.archive.org/web/20051219045913/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/Biography.html
[3] https://web.archive.org/web/20051224210427/http://www.relst.uiuc.edu/durkheim/index.html
[4] http://www.chez.com/sociol/socio/autob/durkheim.htm
[5] https://web.archive.org/web/20051225230057/http://www.emile-durkheim.com/
[6] https://web.archive.org/web/20060425232745/http://www.emile-durkheim.com/emile_durkheim_resources.htm
[7] https://web.archive.org/web/20050826125237/http://www.sociologyonline.co.uk/soc_essays/DurkIntro.htm


4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität


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In den Werken von Émile Durkheim stehen die sozialen Beziehungen im Vordergrund des menschlichen Denkens und Handelns und prägen alle Lebensbereiche. Dieser Primat der Gesellschaft bestimmt auch wirtschaftliche Prozesse: Im Gegensatz zum rational choice Ansatz vertritt Durkheim die These, dass nicht das Eigeninteresse menschliches (ökonomisches) Handeln bestimmt, sondern dass Menschen kooperieren und ihre individuellen Interessen jenen der Gruppe unterordnen. Dies bewirkt die Gesellschaft durch ein System von Werten und Gefühlen:

Wenn sich eine Gruppe zu einem gemeinsamen Ziel zusammenschließt, wenn ihre Mitglieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit verspüren, so stellen sie ihre eigenen persönlichen Interessen zurück, um der gemeinsamen Sache zu dienen." (Durkheim 1899 in Wilk 1996: 78, Übersetzung: Gertraud Seiser).

Auf diese Weise entsteht Solidarität: Solidarität im Bereich der Wirtschaft ist ein Produkt des sozialen Lebens. Daraus ergeben sich folgende Thesen:

  • Wirtschaft und Gesellschaft sind eng miteinander verflochten.
  • Ökonomisches Handeln war im Lauf der Geschichte politischen, religiösen und sozialen Institutionen untergeordnet.

- ergo -

  • Die Gesellschaft bzw. das Soziale bestimmen die Wirtschaft.


4.1.1.2 Von der sozialen Teilung der Arbeit


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In einem seiner wichtigsten Werke für die Entwicklung der ökonomischen Anthropologie "Über soziale Arbeitsteilung" (De la division du travail social, 1893) geht Durkheim der Frage nach, wie eine Masse von Individuen eine Gesellschaft bilden, d.h. einen Konsens über ihr Zusammenleben finden kann.

Die Antwort liegt für Durkheim in der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit: Fast alle Gesellschaften praktizieren irgendeine Form der Arbeitsteilung, beispielsweise

  • zwischen alt und jung,
  • zwischen der einen und der anderen Gemeinschaft (z.B. Klassen, Kasten, ethnische Gruppen)
  • zwischen den Geschlechtern.

Die einzelnen Formen der Arbeitsteilung sind in ihrer konkreten Ausformung sehr verschieden und keineswegs "naturwüchsig", sie sind mit verschiedenen gesellschaftlichen Organisationsformen verbunden. So sind etwa einige Formen der Arbeitsteilung, die uns selbstverständlich sind, wie die Trennung von Kopf- und Handarbeit oder von Handwerk und Landwirtschaft, keineswegs weit verbreitet. Viele Gesellschaften kennen nur wenige Arten von Arbeitsteilung, während es bei uns - oder etwa im hinduistischen Kastensystem - fast keinen Tätigkeitsbereich gibt, der nicht Arbeitsteilung voraussetzt.

Industriegesellschaften sind in besonderem Ausmaß von Spezialisierung und von der Verkettung und Vereinzelung unzähliger Arbeitsprozesse durchdrungen.


4.1.1.3 Anti-Individualismus und Kollektive Repräsentationen


  • Palmsonntag in Ecuador. Foto: Elke Mader
  • Osterfest der Tarahumara. Foto: Evelyne Puchegger-Ebner

Das Entscheidende für die Herausbildung der industriellen Arbeitswelt ist für Durkheim die soziale Ordnung. Das Individuum ist bei Durkheim (und in seiner gesamten nachfolgenden Denktradition) primär ein Produkt der Gesellschaft, wenn auch eines mit großer Eigenständigkeit. Die Gesellschaft ist das Vorrangige, welches das Individuum prägt, selten aber doch können Individuen nachhaltigen Einfluss auf eine Gesellschaft ausüben.

Gesellschaft wird im Glaubenssystem, in Regeln, Werten und Gefühlen sichtbar, in "heiligen" und zeitlosen Traditionen. Durkheim nennt das "kollektive Repräsentationen". Dieses System bestimmt auch die Arbeitsteilung und andere Aspekte der Wirtschaft. Das Religiöse wirkt in den sozialen Alltag hinein; es besitzt eine Eigendynamik (vgl. auch Durkheim 1912). Das Religiöse ist für Durkheim nicht - wie etwa für Marx - nur ein Abbild oder ein Überbauphänomen der Gesellschaft, sondern wirkt ständig und unmittelbar auf den Rest der Gesellschaft zurück.

Durkheim betont den ordnungsstiftenden Charakter sowie die Bindekraft und Geltungskraft von Weltbildern und Religion in den Lebensalltag der Menschen hinein. Die kollektiven Vorstellungen werden im selbstverständlichen, kleinen Alltag ebenso tradiert wie in großen Ritualen. Oft werden sie aber erst beim Kulturkontakt, in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, bewusst. Er ist damit auch Vordenker für eine Forschungstradition der Sozial- und Kulturwissenschaften, die davon ausgeht, dass in allen Gesellschaften kollektive Vorstellungen bzw. kollektive Repräsentationen existieren, die durch Symbole und Praktiken zum Ausdruck kommen und das Denken und Handeln in vielen Lebensbereichen nachhaltig beeinflussen.


4.1.1.4 Wert, Gesellschaft, Symbol


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Wert konstituiert sich für Durkheim nicht aus der Vernunft (also einem rational handelnden Individuum), sondern aus sozialen Konventionen. Menschen bewerten Dinge nicht auf Grund ihrer (objektiven) Nützlichkeit, sondern sind durch die Macht der kollektiven Repräsentationen vom Wert bestimmter Dinge überzeugt.

Wert bzw. Unwert ist demnach eine kollektive soziale und symbolische Konstruktion. Diese These Durkheims wird später von vielen WissenschafterInnen aufgegriffen und in verschiedene Richtungen hin erweitert, sie bildet bis heute die Basis für eine bedeutende Forschungstradition im Rahmen der ökonomischen Anthropologie und der Konsumforschung (vgl. u.a. Appadurai 1986, Archetti 1997, Douglas und Isherwood 1979/1996, Friedman 1994).


4.1.1.5 Kontrollierte Bedürfnisse, kontrollierte Ökonomie


Die gesellschaftliche Konstruktion von Wert macht die Menschen unabhängig von den "unsozialen unbegrenzten Begierden des Marktes" (Durkheim 1925/1961 in Wilk 1996: 79). Die Befriedigung der Bedürfnisse durch Individuen im Rahmen eines Marktes stellt für Durkheim (im Gegensatz zu den Vertretern des rational choice Modells) nicht die Basis der Gesellschaft dar. Vielmehr sieht er in den Bedürfnissen und (ökonomischen) Begierden die Wurzel allen Übels. Sie führen zu einem anarchistischen Kampf zwischen verschiedenen Interessen und zerstören die Gesellschaft. Nur durch verbindende kollektive Repräsentationen und soziale Regeln können sie kontrolliert werden.

Durkheim befürwortete daher die Kontrolle von bzw. das Eingreifen in wirtschaftliche Angelegenheiten durch den Staat (Regierung). Er war der Ansicht, dass im Lauf der Geschichte die Wirtschaft zum Wohle der Gesellschaft immer den politischen, religiösen und sozialen Institutionen untergeordnet war und von ihnen kontrolliert wurde. Die Probleme der europäischen Industriegesellschaft seiner Zeit führt er vor allem auf einen Kontrollverlust über ökonomische Prozesse zurück (vgl. Wilk 1996: 79-80).


4.1.1.6 Typologischer Evolutionismus: Organische und mechanische Solidarität


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Aus den Überlegungen über die Arbeitsteilung heraus werden für Durkheim die Unterschiede zw. säkular und sakral wesentlich und wichtig. Für ihn hängt die Säkularisierung - ähnlich wie für Max Weber - mit der Industrialisierung zusammen.

Durkheim vergleicht die in hohem Maße auf Arbeitsteilung beruhenden industrialisierten und säkularisierten Gesellschaften des Westens mit nicht-säkularisierten und weniger stark auf Arbeitsteilung hin orientieren Gesellschaften der damaligen Kolonien.

  • Die intensive Arbeitsteilung ergibt in unserer Gesellschaft durch ihr bloßes Vorhandensein ein Aufeinander-angewiesen-Sein der einzelnen Individuen, sie wird somit zum "Kitt", der die Gesellschaft zusammenhält. Die Arbeitsteilung schafft laut Durkheim eine "organische Solidarität". Konsens resultiert aus einer Differenzierung der einzelnen Mitglieder, die einander nicht ähnlich, aber aufeinander angewiesen sind. In Analogie zum menschlichen Organismus haben die einzelnen Teile der Gesellschaft wie menschliche Organe jeweils verschiedene Funktionen, die nur in ihrer Gesamtheit ein Ganzes bilden.
  • Durkheim argumentiert nun, dass der Zusammenhalt in Gesellschaften, die nicht auf einer derartig intensiven Arbeitsteilung aufbauen, in der die einzelnen Mitglieder oder kleinere Einheiten alle Arbeiten gleichermaßen verrichten und daher nicht auf andere angewiesen sind, durch etwas anderes gewährleistet werden muss. Der gesellschaftliche Konsens wird über die Religion hergestellt. Durkheim nennt dies "mechanische Solidarität".

Während viele Fragestellungen in diesem Zusammenhang weiterhin Relevanz haben, entspricht der typologische Evolutionismus[1], der in diesem Ansatz zum Ausdruck kommt, zwar der Theorienbildung seiner Zeit, ist aber heute in dieser Form überholt.

Eine deutliche Unterscheidung zwischen sakralen, nicht-industriellen Gesellschaften und säkularen Industriegesellschaften ist nicht möglich. Die gegenwärtige Industriegesellschaft kann keineswegs als ausschließlich säkular betrachtet werden, Weltbild und Religion stellen auch hier und heute handlungsleitende Wertsysteme dar.

Die essentielle Unterscheidung zwischen "primitiven" (einfachen) und "zivilisierten" (komplexen) Gesellschaften, die eine Abfolge auf einer Evolutionsskala darstellen, entspricht dem Denken des 19. Jahrhunderts - wenngleich solche Modelle auch im 20. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen wurden.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.2


4.1.2 Max Weber

Max Weber (1864-1920)

1905: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

Welche Ideen und Werte in der europäischen Geschichte haben die Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus geschaffen?

Max Weber leistete wichtige Beiträge zu verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, gilt jedoch primär als Soziologe. Er grenzt sich von dominanten Geistesströmungen und Menschenbildern seiner Zeit ab: Weber betrachtet den Menschen als komplexes soziales und kulturelles Wesen, das weder aus einer vereinfachenden utilitaristischen Perspektive betrachtet werden kann, noch durch universelle natürliche Impulse bestimmt ist.

Weber geht davon aus, dass menschliches Handeln von verschiedenen Motiven geleitet werden kann, die in unterschiedlichen historischen, sozialen und politischen Kontexten zum Tragen kommen: Manchmal werden Menschen in ihren Handlungen von kollektiven Wertvorstellungen bestimmt, in anderen Fällen handeln sie individuell und interessenorientiert oder agieren aufgrund althergebrachter Traditionen.

Weiters argumentiert Weber, dass Menschen aus verschiedenen Gründen in sozialen Verbänden leben und handeln: Zum einen, da sie materielle Güter teilen und durch äußere Umstände zu gemeinsamen Aktionen gezwungen werden, zum anderen weil sie Ideale, Werte und Gefühle teilen (Weber 1988: 237-275; vgl. Wilk 1996:108).

Während Webers Theorien zu Gesellschaft, Wertsystem und Wirtschaft in vielen Aspekten mit jenen von Èmile Durkkeim[2] übereinstimmen, entwirft Weber ein differenziertes Bild von Mensch und Gemeinschaft, Durkheim hingegen geht von einem stark homogenisierenden Gesellschaftsmodell aus.

Max Weber im WWW:

https://web.archive.org/web/20051230111923/http://www.uni-potsdam.de/u/paed/Flitner/Flitner/Weber/ [3]

https://web.archive.org/web/20051115124227/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm [4]

https://web.archive.org/web/20051231234355/http://www.faculty.rsu.edu/~felwell/Theorists/Weber/Whome.htm [5]

https://web.archive.org/web/20051228234902/http://www2.fmg.uva.nl/sociosite/topics/weber.html [6]

https://web.archive.org/web/20060705103048/http://xroads.virginia.edu/~HYPER/WEBER/toc.html [7]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050922063640/http://www.uni-heidelberg.de/presse/news04/2412weber.html
[2] Siehe Kapitel 4.1.1
[3] https://web.archive.org/web/20051230111923/http://www.uni-potsdam.de/u/paed/Flitner/Flitner/Weber/
[4] https://web.archive.org/web/20051115124227/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm
[5] https://web.archive.org/web/20051231234355/http://www.faculty.rsu.edu/~felwell/Theorists/Weber/Whome.htm
[6] https://web.archive.org/web/20051228234902/http://www2.fmg.uva.nl/sociosite/topics/weber.html
[7] https://web.archive.org/web/20060705103048/http://xroads.virginia.edu/~HYPER/WEBER/toc.html


4.1.2.1 Kultur und Wert


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Weber geht davon aus, dass Ideen und Werte in spezifischen historischen Kontexten entstehen und das Handeln der Menschen maßgeblich bestimmen. Dem zu folge stellt jede Kultur eine Ganzheit dar, die über eigene Werte und einen eigenen "Geist" verfügt; in diesem Sinne beeinflusste Weber die Forschungsrichtung des Kulturrelativismus (insbesondere der US Amerikanischen Kulturanthropologie).

Max Weber führt kulturvergleichende Studien durch, in denen er religiöse Weltbilder, soziale Institutionen und ökonomisches Handeln in Beziehung setzt. Er vergleicht z.B. die indische, chinesische und jüdische Zivilisation und analysiert deren wirtschaftliches und soziales Verhalten. Der spezifische "Geist" einer Kultur bestimmt Weber zu folge auch ökonomische Prozesse, so untersucht er u.a. die Auswirkungen des hinduistischen Kastensystems auf die (lokale) Ökonomie.

Eine seiner Thesen in diesem Zusammenhang lautet, dass das Kastensystem die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise verhindert. Diese Annahme ist heute - in Hinblick auf neuere Entwicklungen in der indischen Wirtschaft - jedoch nur mehr begrenzt zutreffend. Seine berühmteste Arbeit in diesem Forschungsfeld, die Protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Weber 1904/05) stellt eine Analyse europäischer Geistesströmungen und ihrer Implikationen für ökonomisches Handeln dar.

4.1.2.2 Wirtschaft, Werte, Religion: "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus"


Die Protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Weber 1904/05) stellt ein zentrales Werk für die Sozial- und Geisteswissenschaften dar, das sowohl inhaltlich als auch methodologisch insbesondere für die Soziologie konstituierend war. Max Webers berühmtestes Werk wird oft als Gegenentwurf zur materialistischen Geschichtsphilosophie gesehen, Weber selbst bezieht sich nur an manchen Stellen explizit auf Marx.

Der augenscheinlichste Unterschied liegt in der wesentlich bescheideneren Haltung Webers zu seiner Untersuchung: er unterstreicht mehrmals, dass er mit seinen Ausführungen zur protestantischen Ethik keineswegs den Anspruch stellt, eine universelle Erklärung für das Phänomen des modernen Kapitalismus zu liefern. Er selbst sieht seine Leistung auf zwei Ebenen: einerseits will er einen partikulären Beitrag zum Verständnis des modernen Kapitalismus und seines "Geistes" vorlegen, andererseits will er veranschaulichen, wie "Ideen" überhaupt in der Geschichte wirksam werden (Weber 1988:82).

Verkürzt die zentrale These:

Im katholischen mittelalterlichen Weltbild war Arbeit ein notwendiges Übel und keineswegs ethisch hoch bewertet. Arbeit wurde in erster Linie von unteren sozialen Schichten erzwungen. Das ideale Leben war die 'Vita contemplativa', das geruhsame und kontemplative Leben der Mönche in Armut und Gebet. Auch die landbesitzende katholische Aristokratie im 17. Jhdt. bewertete die Arbeit nicht sehr hoch. Ein geruhsames, bequemes Leben war das Ideal, die Gruppenzugehörigkeit war durch Geburt vorgegeben ("Gottes Wille", "Gottes Gnade"). Geringe soziale Mobilität war die Folge.

Der Protestantismus veränderte das europäische und amerikanische Wertesystem und schafft die geistigen Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus.


4.1.2.3 Form und "Geist" des Kapitalismus


Max Weber trifft eine vorläufige Unterscheidung zwischen:

  • dem "Erwerbstrieb", den er auch "Streben nach Gewinn" nennt. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass der Erwerb von Geld zum Ausgangspunkt für noch mehr Erwerb wird. Voraussetzung dafür sind Wagemut und Investitionsmentalität. Diese Art der hedonistischen Bereicherung, die als kalkulierende Habgier auftritt, hält Weber für uralt und beinahe universell. So möchte Weber seinen Begriff nicht verstanden wissen, denn dem gegenüber steht eine ausschließlich im Okzident der Neuzeit entwickelte Form des Kapitalismus: "die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit" (Weber 1988: 7). Diese setzt eine spezifische Ethik voraus, den
  • "Geist" des Kapitalismus, der "[...] den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung [...]" (Weber 1988: 33) annimmt. Dieser "Geist" stellt sozusagen die qualitative Dimension des modernen Kapitalismus dar, bietet ihm den Nährboden zu seiner Ausbreitung, wie auch der "Geist" im Kapitalismus seine entsprechende Daseinsmöglichkeit findet. Der reine Selbstzweck des Gelderwerbs steht hier im Vordergrund, denn Erwerb von Geld erfolgt in diesem Zusammenhang unter strikter Vermeidung von jedweden Genuss. Im erfolgreichen Gelderwerb zeigt sich lediglich die "'Nützlichkeit' der Tugend" (Weber 1988: 35) als eine Folge der protestantischen Berufsethik.


Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050831215601/http://www.seuss.org/pics/valhgroups.html

4.1.2.4 Wirkungsweisen und geistige Ursachen des Kapitalismus


Weber versteht unter "Geist" des Kapitalismus nicht das vom Kapitalismus "Bewirkte", sondern erachtet diesen als eine, allerdings sehr wichtige, Ursache für den Siegeszug des "modernen" Kapitalismus.

Der Kern dieser Geisteshaltung, so Weber, widerlegt die Ansicht, die kapitalistische Moderne sei ausschließlich ein reines Produkt der Aufklärung und der durchgreifenden Rationalisierung auf den Gebieten der Ökonomie und der Technik. Vielmehr beruht sie auf einer vormals auf die Religion bezogenen, nunmehr "kapitalistischen" Berufsethik, die sich in ihrer Funktion von ihren ursprünglichen Motiven emanzipiert hat. Der Kapitalismus zwingt die Akteure, sich im wirtschaftlichen Handeln den Bedingungen, welche die Fortexistenz des Kapitalismus garantieren, anzupassen.

Damit jene dem Kapitalismus angepasste Art der Lebensführung in solcher Weise wirksam werden kann, muss sie zuerst als Lebensweise von Menschengruppen entstanden sein. In diesem Zusammenhang untersucht er verschiedene Aspekte der Ethik des Protestantismus.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051106060310/http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/apocalypse/explanation/puritans.html

4.1.2.5 Askese und wirtschaftliches Handeln


Zentral am "Geist" des Kapitalismus ist der für die "traditionalistische" Erwerbswirtschaft neue Gedanke des vollständigen Re-Investierens von Kapital, anstatt es zu verbrauchen.

Im Unterschied zu der Form kapitalistischen Erwerbsstrebens, die keineswegs immer einer ethischen Maxime bedarf, findet sich im Geist des zum Selbstzweck und Lebensinhalt gewordenen kapitalistischen Handels ein wesentlich irrationales Moment: die Motivation eines Individuums, die Arbeit um ihrer selbst willen gewissenhaft zu erledigen, ohne den unter Umständen reichhaltigen Lohn zu genießen und zur Schau zu stellen. Dies verlangt nach einer asketischen Lebensweise, einer Einstellung zum Beruf, die nicht in der "Natur" des Menschen liegt.

Die historische Analyse der Herkunft dieses irrationalen Elements und dessen konkrete Auswirkungen steht im Vordergrund der Untersuchung Max Webers.


4.1.2.6 Berufsidee und Gnadenwahllehre


Theogrundlagen-96 1.jpg

Quelle: https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm [1]

"'Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir müssen es.'" (Weber 1904/05: 153)

In allen protestantischen Glaubensrichtungen findet sich der Zusammenhang zwischen Beruf und Berufung. Die Bibelübersetzung Martin Luthers gilt als der Ursprung der Betonung des weltlichen Berufes, durch den der "Ruf zu Gott" erfüllt werden kann. Neu war nicht die Hochbewertung der weltlichen Alltagsarbeit, sondern "die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Ideals, den die sittliche Selbstbestätigung überhaupt annehmen könne" (Weber 1988: 69).

Besondere Bedeutung kommt der weiterführenden Interpretation dieser Lehre für die Lebenspraxis zu, die vor allem im Calvinismus und anderen protestantischen Gruppen eine neue Form annahm. Das Streben nach Erwerb scheint in der Lehre von der Gnadenwahl alleine auf das Streben nach Seelenheil und auf die Erkenntnis des Gnadenstandes ausgerichtet zu sein. Die kapitalistische Geisteshaltung ist nach Weber in diesem Zusammenhang, und nur in diesem, Konsequenz rein religiöser Motive.

Gott entscheidet frei und willkürlich, welchen wenigen Menschen die Gnade zuteil wird und welche verdammt sind und bleiben. Weder magische Mittel noch besonderes Wohlverhalten oder Verschulden können an Gottes Entscheidungen, die für Menschen unergründlich sind, etwas ändern. Nach Weber hatte die Lehre von der Gnadenwahl in ihrer "pathetischen Unmenschlichkeit" vor allem eine Folge: "ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums" (1988: 93). Jeder Mensch geht alleine seinem vorbestimmten Schicksal entgegen und der Verkehr des Calvinisten mit seinem Gott vollzieht sich in tiefer innerer Isolierung. Die Welt ist ausschließlich dazu geschaffen, der Selbstverherrlichung Gottes zu dienen und der erwählte Christ nur dazu, den Ruhm Gottes in der Welt durch Vollstreckung einer Gebote zu vermehren. Dies trifft auch auf die weltliche Berufsarbeit und die zweckvolle Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens zu (Weber 1988: 99ff).

Weber fragt sich nun, wie die Lehre von der Gnadenwahl wohl in einer Zeit, in der das Jenseits als wichtiger und auch als sicherer als das diesseitige Leben empfunden wurde, von den Menschen ertragen werden konnte. Die Gläubigen mussten sich fragen, ob sie nun erwählt sind oder nicht. Calvin selbst verwies diesbezüglich auf die Selbstgewissheit des Gnadenstandes. In der Praxis der Seelsorge, die sich mit den durch die Lehre geschaffenen Qualen auseinanderzusetzen hatte, wurde die rastlose Berufsarbeit als probates Mittel eingeschärft, um jene Selbstgewissheit zu erlangen. Rastlose Arbeit "allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes" (Weber 1988: 106).

Daraus folgt:

  • Die Pflicht, sich für erwählt zu halten und

```{=html} ```

  • ruhelose Berufsarbeit, um sich der Gewissheit des Gnadenstandes zu versichern.

Der Glaube muss sich also an seiner Wirkung messen, und je effizienter dieses Wirken ist, desto höher ist die Gewissheit über den eigenen Gnadenstand.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm


4.1.2.7 Zeit ist Geld


Quelle: www.three18.com/ p_faq.html[www.three18.com/ p_faq.html [1]]

Bei den Vertretern des Puritanismus findet man eine aus der traditionalistischen Moraltheologie entstandene Bewertung von Reichtum:

  • Reichtum an sich gilt zwar als sittliche Gefahr, die Askese des Puritanismus wendet sich scheinbar gegen jedes Streben nach Vermehrung des Reichtums, doch die eigentliche Ablehnung richtet sich gegen das Ausruhen auf und das Genießen von Besitz, da beides eine "[...] Ablenkung von dem Streben nach ‚heiligem' Leben [bedeutet]. Und nur weil der Besitz die Gefahr des Ausruhens mit sich bringt, ist er bedenklich" (Weber 1988: 167).
  • Nur das Handeln und nicht Muße dient der Vermehrung von Gottes Ruhm. Zeitvergeudung wird somit zur schweren Sünde. Der von Benjamin Franklin (einem Puritaner) stammende Ausdruck "Zeit ist Geld" ist in diesem Sinne zu verstehen: Jede verschwendete Stunde ohne Arbeit, ist die verlorene Zeit, Gottes Ruhm zu vermehren. Daher kommen auch die puritanische Wertschätzung der Arbeit und die Auforderung der Moraltheologen, hart im Beruf zu arbeiten. "Die Arbeitsunlust ist Symptom fehlenden Gnadenstandes" (Weber 1988: 171), und der Reichtum entbindet in keiner Weise von den oben angeführten Pflichten.

Verweise:

[www.three18.com/ p_faq.html [1] www.three18.com/ p_faq.html]


4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus


Die protestantische Ethik greift einerseits mit voller Wucht den unbefangenen Genuss des Besitzes an, doch entlastet sie den Erwerb an sich von den traditionalistischen Hemmnissen und macht ihn geradezu zur Maxime des sittlichen Strebens.

Max Weber sieht jedoch in den Geistesströmungen des Protestantismus keineswegs die einzige oder die ausschlaggebende Ursache für die Entwicklung des Kapitalismus. Er geht von einer multikausalen Vernetzung verschiedener historischer, materieller und immaterieller Gegebenheiten aus: Die Genese des kapitalistischen Geistes, oder noch schlimmer - des Kapitalismus überhaupt - ausschließlich der Reformation zu zuschreiben wäre - laut Max Weber - genauso töricht, wie zu behaupten, die Reformation wäre aus der Entwicklungsgeschichte ökonomischer Veränderungen notwendig geworden (vgl. Weber 1988: 82f).


4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild


  • Rituelle Waren: Christbaumschmuck. Foto: Elke Mader
  • Rituelle Waren: Gebetsfahnen. Foto: Elke Mader
  • Rituelle Waren: Santa Claus. Foto: Elke Mader

Wenngleich viele Aspekte der Arbeiten von Max Weber immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt waren (etwa sowohl die historischen Aspekte der "Protestantischen Ethik" als auch ihre Schlussfolgerungen), setzte er wesentliche Impulse für folgende Generationen von Sozial- und KulturwissenschafterInnen. Die Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen, kosmologischen Vorstellungen sowie religiös-moralischen Regelsystemen und verschiedenen Dimensionen des menschlichen Handels - u.a. im Bereich der Wirtschaft - bilden z.B. bis heute zentrale Themen der Kultur- und Sozialanthropologie.

Weber übte nachhaltigen Einfluss auf die Fragestellungen und Arbeitsfelder der ökonomischen Anthropologie aus: So stellen etwa die vielfältigen Verbindungsweisen zwischen (lokalen) symbolischen Systemen (Bedeutungen, Werten, "Geist") und wirtschaftlichen Prozessen in einem globalisierten Handlungs- und Bedeutungsraum gegenwärtig wichtige Forschungsfelder dar, zu deren Vordenkern Max Weber zählt (vgl. z.B. Spittler 2002).


4.1.3 Weber und Durkheim

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Weber und Durkheim dürften einander persönlich nicht gekannt, aber registriert haben. Beide werfen (Durkheim vom Standpunkt der Soziologie und Anthropologie - Weber vom Standpunkt der Soziologie und Religionssoziologie) einen breiten sozialwissenschaftlichen Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von menschlichen Gesellschaften und Kulturen. Beide repräsentieren auch eine Reaktion auf das Schaffen von Karl Marx.

Lange meinte man, die Werke von Weber und Durkheim richtig zu interpretieren, wenn man sie als den entscheidenden Gegensatz zu Marx's Theorien herausarbeitet. Neuere Autoren halten diesen Standpunkt aus heutiger Sicht eher durch die Politik des Kalten Krieges, als von intellektueller Redlichkeit geprägt. Beider Werke sind Reaktion und Erwiderung im Sinne eines komplementären Erweiterns dessen, worum es Marx grundsätzlich ging, um ein Verständnis von Gesellschaften und Gesellschaftsentwicklung.

In Bezug auf Fragen der ökonomischen Anthropologie verfügen die beiden Wissenschafter über folgende Gemeinsamkeiten:


4.1.3.1 Religiöse Weltbilder und die "Entzauberung der Welt"


Durkheim wurde im Elsaß als Sohn einer jüdischen, streng religiösen Familie geboren. Er studiert in Paris und macht persönliche Bekanntschaft mit Jean Jaurès, dem späteren Führer der französischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Durkheim wird dadurch zum Anhänger eines säkular modernistischenWeltbildes, aber die Spannung seiner Jugendzeit zwischen streng religiösem Hintergrund im Elsaß und den intellektuellen Pariser Studienjahren sowie die Freundschaft mit Jaurès prägen wichtige Aspekte seines Werkes. Der von ihm postulierte Gegensatz zwischen Sakralem und Profanem, zwischen Religiösem und Nicht-Religiösem wird dadurch erklärbar.

Aus der Erfahrung heraus, dass in der französischen Gesellschaft seiner Zeit manche Teile völlig in religiöse Weltbilder eingewoben sind, während andere Teile derselben Gesellschaft säkularen und modernistischen Weltbildern anhängen, versucht er auf vielen Wegen das Religiöse zu verstehen. Er versucht herauszuarbeiten - was ihm nach heutigem Forschungsstand gründlich misslingt -, dass es diesen Gegensatz in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten gegeben habe.

Dies ist auch ein entscheidender Unterschied zu Max Weber, der in einem Teil seines Werkes darauf hinweist, dass der westliche Sonderweg über die religiöse Reform, die Industrialisierung hin zur Aufklärung zu einem einzigartigen Ergebnis führt: zur Säkularisierung. Keine andere Gesellschaftsform oder Kultur der Gegenwart oder Vergangenheit sonst hat ein vorherrschend säkulares Weltbild aus sich heraus hervorgebracht. Weber bezeichnet diesen europäischen Sonderweg als die "Entzauberung der Welt".

4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Appadurai, Arjun 1986: *The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective*. Cambridge: CUP.

Archetti, Eduardo 1997: *Guinea-Pigs. Food, Symbol and Conflict of Knowledge in Ecuador*. Oxford, New York: Berg.

Douglas, Mary; Isherwood, Baron 1979/1996: *The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption*. London, New York: Routledge.

Durkheim, Emile 1893/1933: 'The Division of Labour in Society'. New York: Macmillan.

-- 1893/2004: 'Über soziale Arbeitsteilung'. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

-- 1899/1953: 'Professional Ethics and and Civic Morals'. Glencoe, IL: Free Press.

-- 1912/1994: 'Die elementaren Formen des religiösen Lebens'. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

-- 1925/1961: *Moral Education: A study in the Theory and Application of the Sociology of Educadion*. Glencoe (IL): Free Press.

Friedman, Jonathan 1994: 'Cultural Identity and Global Process' (Theory, Culture & Society). London: Sage.

Gudeman, Stephen 1996: Stichwort: "economic anthropology". In A. Barnard, J. Spencer (Hg.): *Encyclopedia of social and cultural Anthropology*. London, New York: Routledge, S. 172-178.

Isaac, Barry L. 2005: Karl Polanyi. In J.G.Carrier (Hg.): *A Handbook of Economic Anthropology*. Cheltenham (UK), Northamton (USA): Edward Elgar, S. 14-25.

Pantoi, Thomas 2003: *Rezension des Buches: Protestantische Ethik und der quot;Geist" des Kapitalismus*. Unveröffentlichte Seminararbeit, Universität Wien.

Spittler, Gerd 2002: Globale Waren - lokale Aneignungen. In: B. Hauser-Schäublin, U. Braukämper (Hg.), 'Ethnologie der Globalisierung', Berlin: Reimer

Weber, Max 1905/1920/1988: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: M. Weber (Hg.): *Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie*. Band 1, Tübingen: Mohr/Siebeck, S. 17-206.

Wilk, Richard 1996: *Economies & Cultures. Foundations of Economic Anthropology*. Boulder: Westview Press.


Nächstes Kapitel: 4.2 Frühe VertreterInnen


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4.2 Frühe VertreterInnen

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Der Begriff Substantivisten wurde erst 1957 durch Karl Polanyi geprägt. Durch die Auseinandersetzung[1] zwischen Substantivisten und Formalisten in den späten 1950er und 1960er Jahren ist es erst zur Formierung der Ökonomischen Anthropologie als eigener Subdisziplin gekommen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind vor allem drei Autoren zu nennen, die empirisch und theoretisch bis heute die Kultur- und Sozialanthropologie und insbesondere die Ökonomische Anthropologie maßgeblich beeinflussten:

  • Richard Thurnwald
  • Bronislaw Malinowski
  • Marcel Mauss

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.3

Inhalt

4.2.1 Richard Thurnwald

Die frühe ökonomische Anthropologie (Malinowski, Mauss, Firth, Herskovits) wurde entscheidend von deutschsprachigen Autoren und insbesondere dem gebürtigen Österreicher Richard Thurnwald (1869-1954) beeinflusst.

So schreibt Marcel Mauss in seiner berühmten Gabe:

Das Buch von Malinowski, wie das von Thurnwald, zeugt von der meisterhaften Beobachtung eines wirklichen Soziologen. Es sind im übrigen die Beobachtungen von Thurnwald über das mamoko (...), die uns auf die Spur eines Teils dieser Fakten gebracht haben." (Mauss 1990: 65, FN 60)

Thurnwald lehnte sowohl den Evolutionismus als auch die Kulturkreislehre seiner Zeitgenossen ab. Er plädierte für die Herausarbeitung von "repräsentativen Lebensbildern"auf empirischer Grundlage, die weder evolutionäre Stufen, noch Kulturkreise, noch Idealtypen darstellen sollten (Köcke 1979: 145ff).

Die Ökonomie ist bei Thurnwald sozial determiniert. Die einzelnen Wirtschaftsarten sind Resultate von permanenten Anpassungsprozessen an verschiedene Umweltbedingungen. Gleichzeitig sind sie in unterschiedliche politische und soziale Konfigurationen eingebettet. Aus der Kombination verschiedener Wirtschaftsarten und unterschiedlicher politischer und sozialer Systeme ergeben sich die 'Wirtschaftscharaktere', die aber keiner historischen Stufenfolge entsprechen. (Link zu Steward)

ThurnwaldsKernkonzept (1932a, 1932b) bezieht sich auf die Verschränkung des Ökonomischen mit dem Politischen. Zunehmende Arbeitsteilung innerhalb einer Gruppe und Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen führen zu Differenzierung in der Gruppe und setzen Prozesse sozialer Stratifizierung in Gang. Aus kleinen, homogenen Gemeinschaften können so größere heterogene Gruppen entstehen. Gemeinsam mit einer Akkumulation von Fertigkeiten und Wissen im Umgang mit der physischen Umwelt führten diese Prozesse im Laufe der Geschichte zu immer komplexeren Gesellschaften.

Thurnwald war zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und von der Gemeinschaft, in der er lebt, abhängt. Eine Interaktion zwischen Personen folgt in homogenen Gemeinschaften dem Prinzip der Reziprozität und in stratifizierten Gesellschaften dem Prinzip der (Re)Distribution (Thurnwald 1912). "Primitive" Ökonomien beruhen wie unsere Ökonomie auf denselben allgemeinen Prinzipien des sozialen Lebens, nämlich Reziprozität und Distribution. Insbesondere diese zwei Begriffe wurden aufgegriffen und von Malinowski, Polanyi und Sahlins weiterentwickelt (Köcke 1979: 156ff).


4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie

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Die VertreterInnen der ökonomischen Anthropologie gehen prinzipiell von einer starken Vernetzung von Gesellschaft bzw. Kultur und ökonomischem Handeln aus. Je nach ihren generellen Standpunkten im Rahmen der kultur- und sozialanthropologischen Theorienbildung wird dem Individuum oder der Gemeinschaft mehr oder weniger Bedeutung bei der Gestaltung von wirtschaftlichen Prozessen zugemessen.

Dies kommt deutlich bei zwei wichtigen Vertretern der ökonomischen Anthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck, die wesentlich zur Professionalisierung der Kultur- und Sozialanthropologie als eigenständige Disziplin betrugen:

  • Bronislaw Malinowski
  • Marcel Mauss

Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Fragen der Distribution und des Austausches von Produkten. Ihre Analysen dieser Prozesse betonen die Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft, von sozialen und religiösen Institutionen und Konzepten sowie von individuellen Bedürfnissen und Interessen.

  • Bronislaw Malinowski liefert eine genaue ethnographische Beschreibung der Institution Kula in all ihren Dimensionen und analysiert sie im Rahmen des Funktionalismus. Seine Erkenntnisse basieren auf langjährigen Feldforschungen auf den Trobriand Inseln.
  • Marcel Mauss erstellt vergleichende Analysen und theoretische Überlegungen zum Konzept des Tausches bzw. der Gabe, wobei er (aufbauend auf der Arbeit von Malinowski) Kula zu anderen Formen von Austausch in verschiedenen Regionen und historischen Epochen (z.B. Potlatch in Nordwestamerika, Geschenksaustausch in Polynesien, Neuseeland und auf den Andamanen sowie im alten römischen und germanischen Recht) in Beziehung setzt.


4.2.2.1 Bronislaw Malinowski


Bronislaw Malinowski (1884-1942)

Relevante Werke:

1922: Argonauts of the Western Pacific

1935: Coral Gardens and Their Magic

Bronislaw Malinowski ist einer der bekanntesten Anthropologen des 20. Jahrhunderts. Seine methodischen und theoretischen Überlegungen sowie vor allem seine ethnographischen Beschreibungen etablierten wesentliche Merkmale der Fachdisziplin im allgemeinen und der britischen Sozialanthropologie im besonderen.

Er gilt als "Erfinder" der ethnologischen Feldforschung, dem methodischen Charakteristikum der Disziplin. Von seinen persönlichen Feldaufenthalten in Ozeanien (Trobriand-Inseln) stammen mehrere ausführliche Monographien über verschiedene Facetten der lokalen Kultur (u.a. Wirtschaft, Tausch und Handel 1922, Arbeit, Magie und Recht 1935, Sexualität, Liebe, Ehe 1929), die bis in die Gegenwart den Stil bzw. die Form ethnologischen Schreibens geprägt haben und prägen (vgl. Clifford 1986). Weiters hinterließ Malinowski ein Feld-Tagebuch (1967), das Anlass zu verschiedenen Kontroversen über politische und persönliche Dimensionen seiner Datenerhebungen gab.

Malinowki steht - gemeinsam mit A.R. Radcliffe-Brown [2] - im Mittelpunkt der funktionalistischen bzw. struktural-funktionalistischen Theorienbildung. Diese Betrachtungsweisen gehen vom Grundsatz aus, dasseine Gesellschaft eine organisierte, systematische und integrale Ganzheit darstellt, deren einzelne Teile funktional miteinander verbunden sind und zusammenwirken.

Bronislaw Malinowski im WWW:

https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html [3]

https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html [4]

https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm [5]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown
[3] https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html
[4] https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html
[5] https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm


4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie


Anhäufen von Yams, Foto: Bronislaw Malinowski. Quelle: Young 1997, Abb. 5.

Der Funktionalismus bildete eine wichtige theoretische Strömung der Anthropologie im 20.Jahrhundert und formulierte eine holistische und integrative Gesellschaftstheorie.

Er betrachtet sozio-kulturelle Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft wird dabei als ein organisches Ganzes verstanden, als ein Gefüge von Komponenten, die miteinander verbunden sind und sinnvoll zusammenwirken. Wichtige Fragestellungen des Funktionalismus beziehen sich auf die Prinzipien dieses Zusammenwirkens, z.B. auf die soziale Organisation. Einzelne Aspekte einer Gesellschaft werden nicht isoliert betrachtet und als Einzelphänomene mit anderen Gesellschaften verglichen, sondern im Kontext ihres spezifischen sozialen und kulturellen Gefüges untersucht und analysiert.

Ökonomie bzw. ökonomische Handlungen bilden in diesem Sinn einen integralen Bestandteil des sozialen und kulturellen Gefüges einer Gemeinschaft, erfüllen bestimmte Funktionen und sind eng mit anderen Gesellschaftsbereichen verbunden. Die Studie Malinowski´s über das Tauschsystem des Kula-Rings bildet ein klassisches Beispiel für diese Forschungsrichtung.

Der Funktionalismus wurde mit Aspekten des Strukturalismus kombiniert (Struktural-Funktionalismus) und war lange Zeit ein zentrales Paradigma der europäischen (vor allem der britischen) Sozialanthropologie. Viele Thesen des (Struktural-) Funktionalismus bauen auf den Theorien des Soziologen und Anthropologen Émile Durkheim[1] auf, wichtige Vertreter dieser Schule sind u.a. Bronislaw Malinowski, A.R. Radcliffe-Brown, Raymond Firth[2] (vgl. auch Kuper 1975).

Kritik am (Struktural-) Funktionalismus bezieht sich u.a. auf die holistische Betrachtung einzelner Kulturen und auf das Vernachlässigen transkultureller Interaktionen und Veränderungsprozesse.

Das Buch "Die Argonauten des westlichen Pazifik" (Malinowski 1922) gilt als eine der ersten großen Monographien im Forschungsfeld der ökonomischen Anthropologie.

Es beschäftigt sich mit verschiedenen Dimensionen von Produktion, Distribution und Konsumption in ihrem sozialen und religiösen Kontext. Im Mittelpunkt der Analyse steht das Tauschsystem des Kula. Das Buch beruht auf Feldforschungen die Malinowski 1915/16 und 1917/18 auf den pazifischen Trobriand Inseln durchgeführte.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.1.1
[2] Siehe Kapitel 3.1


4.2.2.1.2 Kula


Der Kula-Ring. Quelle: Malinowski (1984), Karte V: 82.

Kula ist ein Tauschsystem und erstreckt sich auf 14 Inselgruppen vor Ost-Papua Neuguinea (Trobriand). Es stellt keineswegs die einzige Form des Tausches in der Region dar (in Trobriand existieren ca. 80 verschiedene Formen des Tausches), es ist vielmehr die wichtigste Institution. Getauscht werden beim Kula im Kreis der Inseln zwei Typen von Wertgegenständen aus Muscheln: Im Uhrzeigersinn zirkulieren soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten), gegen den Uhrzeigersinn zirkulieren mwali (weiße Armbänder aus Kegelschnecken). In diesem Sinne spricht man auch vom "Kula Ring".

Der Tausch der Kula-Objekte ist in ein komplexes Gefüge von sozialen Prozessen und religiösen Ritualen eingebunden. Im Rahmen des Kula-Tausches wird Reichtum transferiert, Status erworben, Allianzen zwischen Personen und Gruppen werden geschlossen oder in Frage gestellt.

Every movement of the Kula articles, every detail of the transactions is fixed and regulated by a set of traditional rules and conventions, and some acts of the Kula are accompanied by an elaborate magical ritual and public ceremonies." (Malinowski 1922: 81)

4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen


  • Kula-Tauschobjekte. Quelle: Leach & Leach 1983.
  • Kula-Tauschobjekte. Quelle: Leach & Leach 1983.

Im Rahmen des Kula werden soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten) und mwali (weiße Armbänder aus Kegelschnecken) immer gegeneinander getauscht. Mehrere tausend solcher Objekte zirkulieren im Kula Ring. Ziel ist nicht die Akkumulation der Kula-Objekte, die immer nur im temporären Besitz einer Person sind, sondern das Etablieren von Tauschpartnerschaften.

... thus no man keeps any of the articles for any length of time in his possession. One transaction does not finish the Kula relationship, the rule being 'once in the Kula, always in the Kula'", and a partnership between two men is a permanent and lifelong affair." (Malinowski 1922: 81)

Wenn eine Person z.B. 'soulawa' - Ketten erhält, so muss sie eine entsprechende Menge 'mwali' - Armbänder zurückgeben. Da eine gleichwertige Rückgabe die Kula-Transaktion und die Tauschpartnerschaft beenden würde, wird immer ein höherer Wert als jener der Gabe zurückgegeben. Somit bleibt eine "Schuld" bestehen und die Tauschbeziehung wird fortgesetzt.

Das Etablieren und Erhalten von Tauschpartnerschaften in verschiedenen sozialen und geographischen Räumen ist mit komplexen ökonomischen, sozialen und rituellen Handlungen verknüpft.


4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte


Side by side with the Kula, the subsidiary trade goes on, the visitors acquiring a great number of articles of minor value, but of great utility, some of them unprocurable in Kiriwina, as, for instance, rattan, fibre, belts, cassowary feathers, certain kinds of spear wood, obsidian, red ochre and many other articles." (Malinowski 1922: 105).

Kula-Transaktionen beschränken sich nicht auf den Tausch der Kula-Objekte im engeren Sinn ('soulawa' und 'mwali'). Sie beinhalten - wie aus der obigen Beschreibung einer Kula-Expedition hervorgeht - ein breites Spektrum von "sekundären Tauschartikeln" bzw. Handelsgütern.

Neben den Prestigegütern zirkulieren also im Kula-Ring auch andere Materialien und Produkte: Auf diese Weise entstehen komplexe Handelsbeziehungen zwischen Inseln mit unterschiedlichen ökologischen Gegebenheiten, Ressourcen und SpezialistInnen.


4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel


Segelschiff, Foto: Bronislaw Malinowski.Quelle: Young 1997, Abb. 5.

Kula-Tausch findet in verschiedenen sozialen und geographischen Räumen statt. Eine Person verfügt immer über mehrere Tauschpartnerschaften, und zwar entsprechend Alter und Prestige, über eine unterschiedliche Zahl von Partnern in verschiedenen geographischen Zonen.

  • Inland-Kula: Getauscht wird innerhalb einer Kula-Gemeinschaft - zwischen verschiedenen Personen bzw. zwischen verschiedenen Dörfern einer Insel. Durch die Tauschbeziehungen werden soziale und ökonomische Netzwerke aufgebaut und persönlicher Status in der Gemeinschaft erlangt.
  • Kula-Gemeinschaft: Sie besteht aus einem Dorf oder einer Reihe von Dörfern, die gemeinsam im Kula-System nach außen agieren, d.h. gemeinsam Übersee -- Kula Expeditionen durchführen, die entsprechenden Rituale veranstalten etc.
  • Übersee-Kula: Getauscht wird zwischen Inseln bzw. Inselgruppen. Die Transaktionen auf dieser Ebene erfordern groß angelegte Schiffsreisen, die Tauschpartner sind Personen mit hohem sozialen Status bzw. politische Führer. Der Kula ist auf dieser Ebene mit weitreichenden sozialen und politischen Allianzen verbunden.
Thus the Kula partnership provides every man within its ring with a few friends near at hand, and with some friendly allies in the far- away, dangerous foreign districts. ... We see that all around the ring of Kula there is a network of relationsships, and that naturally the whole forms one interwoven fabric." (Malinowski 1922:92)

4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum


Männer bei Kula-Tausch, Foto: Bronislaw Malinowski.Quelle: Young 1997, Abb. 7.

Durch den gezielten und erfolgreichen Tausch von Kula-Objekten kann eine Person Ruhm, Macht und Reichtum erlangen.

  • Ruhm: Der soziale Aufstieg in der Gesellschaft der Trobriander besteht darin, sich "auf der Straße des Kula" einen Namen zu machen. Die Geschichten der großen Kula-Fahrten der Vorfahren werden in Mythen besungen und tradiert. Der temporäre Besitz und ein möglichst großer "flow" vieler Kula-Objekte sowie die "Kunst des Kula" - das Erlangen und die Weitergabe der Objekte in einem komplexen Netzwerk - schaffen Prestige.
  • Macht: Erfolg im Kula wird einer besonderen, persönlichen Macht bzw. "Magie" zugeschrieben. Das Konzept von persönlicher spiritueller Macht ist in Ozeanien weit verbreitet (z.B. mana). Aufgrund solcher Fähigkeiten (oder Begabungen) kann sich eine Person im Kula profilieren.
  • Reichtum: Je höher der Rang einer Person ist, je mehr Tauschpartner sie hat, umso mehr Güter befinden sich (temporär) in ihrem Besitz. Das wesentliche am Besitz ist die Möglichkeit, ihn an Andere zu verteilen. Jeder, der etwas besitzt, ist dazu verpflichtet, es zu teilen - je höher sein Rang ist, umso größer ist diese Verpflichtung. Großzügigkeit bei der Verteilung von Gütern bringt wiederum Prestige.
Thus the main symptom of being powerful is to be wealthy, and of wealth is to be generous." (Malinowski 1922: 97)

4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol


Frauen tragen Kula-Halsketten, Foto: Bronislaw Malinowski. Quelle: Young 1997, Abb. 6.

Bronislaw Malinowski bezeichnet ökonomische Aktivitäten explizit als soziales Phänomen; er schließt hiermit an Èmile Durkheim[1] an und wird in vieler Hinsicht als Wegbereiter der Substantivisten bewertet. Mit seiner Studie trägt Malinowksi auch wesentlich zu späteren Debatten um das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft bei:

  • Grundsätzlich geht er von der Annahme aus, dass alle Menschen auf rationale Weise ihre Bedürfnisse befriedigen wollen, dazu benutzen sie unterschiedliche Modelle und Lösungen, deren "Rationalität" nur im Rahmen spezifischer kultureller Parameter zu verstehen ist. Konkret wandte sich Malinowski mit diesem Ansatz gegen eine Reihe von Kolonialbeamten und Missionare, welche den Kula und andere Aspekte der Kultur der Trobriander als "verrückte und sinnlose Bräuche" abwerteten.
  • Malinowski stellt die universelle Gültigkeit der Prinzipien neoklassischer Ökonomie in Frage oder lehnt sie generell ab. Das Prinzip des Eigeninteresses im ökonomischen System der Trobriander erachtet er als irrelevant'*, den Begriff eines universellen 'homo economicus* ("Primitive Economic Man") hält er für unbrauchbar, um das ökonomische Handeln in verschiedenen Gesellschaften zu erklären. Eine Dominanz des utilitaristischen Handelns ist laut Malinowski weder für die Trobriander noch für den westlichen Kapitalismus zutreffend: Beide Systeme sind "voll von Magie und Symbolismus" (Malinowksi 1931: 636), handlungsleitend für ökonomische Aktivitäten sind generell Fragen von Prestige und Macht, von Glauben und Magie. In diesem Sinne - sowie in Hinblick auf das Konzept von Kultur - steht Malinowski auch in der Tradition von Max Weber[2] (vgl. Rössler 1999:77, Wilk 1996:113-114).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.1.1
[2] Siehe Kapitel 4.1.2

4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie


Die Institution des Kula steht im Mittelpunkt vieler sozial- und kulturanthropologischer Theorien des 20.Jahrhunderts. In Bezug auf die ökonomische Anthropologie sind vor allem folgende Themenfelder relevant.

  • Tausch: Malinowski betont die enge Verbindung von Formen des Tausches mit einem spezifischen sozialen und symbolischen System: So existieren in Trobriand ca. 80 verschiedene Formen des Tausches, die mit bestimmten Objekten und sozialen Beziehungen verknüpft sind. Die Verbindungsweisen von (dominanter) Tauschform und Gesellschaftsform bilden eine der zentralen Fragestellungen (und Debatten) der ökonomischen Anthropologie (vgl. Davis 1992).
  • Reziprozität: Kula bildet einen ethnographischen Prototyp für Theorien über Reziprozität. Beginnend mit Marcel Mauss wurde (am Beispiel des Kula) die ökonomische und soziale Bedeutung von Gabe und Gegengabe immer wieder aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven untersucht.

- Tausch und Reziprozität gelten vielen Theoretikern als Basis der menschlichen Gesellschaft (z.B. Marcel Mauss[1], Claude Lévi-Strauss [2]).

- Die Formen und der Stellenwert von Reziprozität für ein ökonomisches System wurden in einer großen Bandbreite von Kontexten analysiert und diskutiert (z.B. Karl Polanyi[3], Marshall Sahlins[4]).

  • Gegensatz zwischen "primitiver" und "moderner" Ökonomie: Malinowski betont immer wieder die kulturelle Gebundenheit des (ökonomischen) Denkens und Handelns der Trobriander. Die "andere Kultur" geht Hand in Hand mit einer "anderen Wirtschaftsform" (oft auch als "primitive Ökonomie" bezeichnet) - auch wenn alle Formen der Ökonomie dasselbe Ziel verfolgen (nämlich die Befriedigung von Grundbedürfnissen).
  • Dieser Ansatz wurde von vielen Autoren aufgegriffen und in diversen theoretischen Zusammenhängen erörtert und weiterentwickelt. Er bildet einen wichtigen Aspekt der Theorien der Substantivisten, die von einer substanziellen Differenz zwischen verschiedenen Typen von Ökonomien ausgehen (z.B. Karl Polanyi[5], George Dalton[6]). Sie postulieren einen grundsätzlichen Unterschied zwischen jenen Wirtschaftsformen, die auf reziprokem Tausch basieren, und der "Marktwirtschaft", in welcher der Warentausch in einem Marktsystem vorherrscht.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2
[2] Siehe Kapitel 10.3 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung
[3] Siehe Kapitel 4.3.1
[4] Siehe Kapitel 4.3.3
[5] Siehe Kapitel 4.3.1
[6] Siehe Kapitel 4.3.2


4.2.2.2 Marcel Mauss


Marcel Mauss (1872 -- 1950)

1923/24: Essai sur le don, dt.: Die Gabe

In der skandinavischen und in vielen anderen Kulturen finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen.[ ... ] Und da wir feststellen werden, dass diese Moral und diese Ökonomie sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken und da wir glauben, hier einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen, können wir daraus einige moralische Schlußfolgerungen bezüglich einiger Probleme ziehen, vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wirtschaft stellt." (Mauss 1990: 17;19)

Der französische Sozialwissenschafter Marcel Mauss, Neffe von Èmile Durkheim[2] und Onkel von Claude Lévi-Strauss, ist ein maßgeblicher Vertreter der Sozialanthropologie des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten umfassen ein breites Spektrum von thematischen Feldern und erstrecken sich von Fragen der Soziologie und der ökonomischen Anthropologie (Mauss 1923/24.[1990]) zu Forschungen über das Konzept der Person (Mauss 1938) oder über die Prinzipien der Magie (Mauss/Hubert 1902 [1972]).

Im Mittelpunkt seines Interesses steht das Verständnis sozialer Systeme, Mauss führt dabei in vieler Hinsicht die Ansätze Durkheims weiter aus. Verstehen bedeutet für ihn, soziale Phänomene in ihrer Totalität zu sehen, d.h. im Bezugsrahmen einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftern seiner Zeit betont Mauss immer wieder die Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit verschiedener Gesellschaften und Zivilisationen und verwendet den sonst so beliebten Begriff des "Primitiven" nicht.

Soziale Systeme sind für Mauss Netzwerke von reziproken Verpflichtungen, die im rituellen Austausch von Gütern und Dienstleistungen verwirklicht werden. Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen können entweder durch Kriege oder durch Geschenke geregelt werden. Die Gabe, ein Prozess aus Geben, Annehmen und Zurückgeben, ermöglicht Vertrauen und damit friedliches Zusammenleben.

"Indem die Völker die Vernunft dem Gefühl entgegenstellen und den Willen zum Frieden gegenüber plötzlichen Wahnsinnstaten geltend machen, gelingt es ihnen, das Bündnis, die Gabe und den Handel an die Stelle des Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen." (Mauss 1990: 181)

Marcel Mauss im WWW:

https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm [3]

https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm [4]

https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm [5]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html
[2] Siehe Kapitel 4.1.1
[3] https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm
[4] https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm
[5] https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm


4.2.2.2.1 Die Gabe


Sitka Potlach (Tlingit Indianer, 1904 Potlatch in Sitka, Alaska.) Quelle: https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg [2]

"Die Gabe" ('Essai sur le don' 1923/24) ist einer der einflussreichsten Aufsätze der Kultur- und Sozialanthropologie schlechthin.

Mauss geht davon aus, dass das soziale Leben eine relativ autonome Ebene der Untersuchung konstituiert. Die Gesellschaft entwickelt strukturelle Vorkehrungen, mit deren Hilfe das menschliche Zusammenleben gewährleistet werden soll.

Eines der sozialen Phänomene, die das friedliche Zusammenleben der Menschen stärken, ist die Gabe, das Geschenk. Dies führt zum Meisterwerk von Marcel Mauss, "Die Gabe".

Die Gabe im Mauss'schen Sinn ist ein "totales soziales Phänomen", das alle Mitglieder einer Gesellschaft zueinander in Beziehung setzt und integriert. Er versteht dabei unter "Gabe" primär Phänomene nicht-staatlicher Gesellschaften, bei denen Geschenke zwischen Individuen und zwischen Gruppen ausgetauscht werden. Als klassische Beispiele aus der Literatur zieht er dafür den "Kula-Austausch" unter den Trobriandern (Malinowski's Argonauten[1]) oder den von Boas in vielen Arbeiten beschriebenen "Potlatch" bei nordamerikanischen Indianern heran. Anhand von zahlreichen weiteren Belegen aus unterschiedlichen, gut dokumentierten Gesellschaften entwickelt Mauss das Reziprozitäts- und Tauschprinzip.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1
[2] https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg

4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip


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Laut Marcel Mauss begründet die Gabe eine Schuld; d.h., der Beschenkte fühlt sich in der Schuld des Schenkenden. Er ist bestrebt, diese Schuld durch ein Gegengeschenk auszugleichen. Ist ihm dies aus ökonomischen oder sozialen Gründen nicht möglich oder liegt ein längerer Zeitraum zwischen Gabe und Gegengabe, so wird zwischen Schenkendem und Beschenktem ein soziales Band geknüpft, ein Band von gegenseitigen Verpflichtungen. Genau dadurch wird die Gabe zu einem strukturellen Element, das den sozialen Zusammenhalt über große Distanzen hinweg und auch außerhalb des vertrauten, intimen Familienkreises ermöglicht.

Mauss versucht nachzuweisen, dass das Reziprozitäts- und Tauschprinzip universell ist. Geben, Nehmen und Zurückerstatten werden bei ihm -- unter Verwendung eines Begriffs von Durkheim -- zum "fait social total", zur totalen sozialen Tatsache, die über allem steht. Es gibt bei Mauss natürlich noch andere soziale Tatsachen, aber dieses Tauschprinzip ist das elementarste. Ohne dieses Tauschprinzip kann eine Gesellschaft nicht funktionieren.

Wenn er hier von "funktionieren" spricht, so meint er damit, dass ein funktionaler Zusammenhang zwischen den verschiedenen sozialen Tatsachen anzunehmen ist, die allerdings wieder von der Reziprozität geleitet werden. Durch dieses Tauschprinzip ist in einer Gesellschaft alles mit allem verwoben, es ist sozusagen der soziale Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Der Tausch ist deswegen die totale soziale Tatsache, weil im Tausch alle Formen von Institutionen gleichzeitig ihren Ausdruck finden; und zwar religiöse, moralische, rechtliche und ökonomische Institutionen.

4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe


Wie schon für Durkheim[1] ist auch für Mauss klar, dass derartige systematische Elemente des sozialen Zusammenhalts wie die Gabe nicht nur einen praktischen und einen Orientierungsaspekt haben, sondern immer zugleich auch einen ideellen, einen mentalen Aspekt. Durkheim spricht von Repräsentationen, die den sozialen Zusammenhalt auch dort gewährleisten, wo die Arbeitsteilung noch nicht sehr stark ausgeprägt ist. Mauss geht es in Fortsetzung dieses Ansatzes darum, zu zeigen, dass Handeln und Denken im Idealfall eins sein sollten. Weiters betont er, dass die Menschen nicht nur handeln, sondern spätestens nachher auch darüber nachdenken, was diese Handlungen zu bedeuten haben. Insofern gehen Handlungen, wie der Geschenkaustausch, immer auch mit Klassifikationssystemen einher, mit Vorstellungssystemen, mit Ideengebäuden der jeweiligen Gesellschaft und müssen im Zusammenhang damit auch von der Kultur- und Sozialanthropologie untersucht werden.

Mauss hat bereits 1903 in einem Artikel, den er gemeinsam mit Durkheim über "Primitive Klassifikationsformen" geschrieben hat, darauf hingewiesen, dass die Arbeitsteilung zwischen Gruppen -- die etwa Geschenke austauschen -- immer auch das Modell vorgibt, wie man sich den Austausch der Gaben vorstellt. Die Arbeitsteilung ist also quasi die Vorlage, nach der der Geschenkaustausch gedacht wird.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.1.1


4.2.2.3 Mauss und Malinowski


  • Malinowski hat im Kula-Tausch vor allem die soziale Funktion für den Einzelnen gesehen: Welche Stellung hat die einzelne Person im Netzwerk der Kula-Partner? Als junger Mann tauscht man sich in das Netzwerk hinein, baut dieses aus und verschafft sich mit der Zeit hohes Ansehen.
  • Mauss interpretiert Malinowskis Daten nicht aus der Perspektive des Individuums, sondern aus jener der Gesellschaft. Er sieht Geben -- Annehmen -- Erwidern als den Mechanismus, der Menschen, die an sich autark sind, miteinander verbindet.

4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur

Clifford, James 1986: Introduction: Partial Truths. In J. Clifford, G. E. Marcus. (Hg.): *Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography*. Berkeley: University of California Press. S. 1-26.

Davis, John 1992: 'Exchange'. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Durkheim, Emil; Mauss, Marcel 1903: "De quelques formes primitives de classifications. Contributions à l' étude des représentations collectives." In 'L' Année Sociologique' 6, S. 1-72.

Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The False Coin of Our Own Dreams*. New York: Palgrave.

Köcke, Jasper 1979: Some Early German Contributions to Economic Anthropology. In G. Dalton (Hg.): 'Research in Economic Anthropology'. A Research Annual. Greenwich, Connecticut: JAI Press Inc, S. 119-167.

Kuper, Adam 1996 (1975): *Anthropologists and Anthropology. The Modern British School*. London, New York: Routledge.

Leach, Jerry W. ; Leach, Edmund (Hg.) 1983: *The Kula. New Perspectives on Massim Exchange*. Cambridge: Cambridge University Press.

Malinowski, Bronislaw 1921: "The Primitive Economics of the Trobriand Islanders." 'Economic Journal' 31, S. 1-16.

--- 1929: *Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien. Liebe, Ehe und Familienleben bei den Eingeborenen der Trobriand-Inseln, Britisch-Neuguinea*. Frankfurt am Main: Syndikat.

--- 1931: Culture. In 'Encyclopedia of the Social Sciences', S. 621-646.

--- 1935: 'Coral Gardens and Their Magic'. Bloomington: Indiana University Press.

--- 1961 (1922): 'Argonauts of the Western Pacific'. New York: Dutton Press.

--- 1967: 'A Diary in the Strict Sense of the Term'. New York: Harcourt, Brace, & World.

--- 1984 (1922): 'Argonauts of the Western Pacific'. Prospect Heights: Waveland Press.

Mauss, Marcel 1938: "Une catégorie de l'esprit humain: la notion de personne, celle de 'moi', un plan de travail." *The Journal of the Royal Anthropological Institute* 68, S. 263-281.

--- 1990 (1923/24): *Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften*. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mauss, Marcel; Hubert, Henri 1972 (1904): 'A General Theory of Magic'. London: Routledge & Kegan Paul.

Radcliffe-Brown, A.R. 1952. *Structure and Function in Primitive Society*. London; Henley: Routledge & Kegan Paul.

Rössler, Martin 1999: 'Wirtschaftsethnologie'. Eine Einführung. Berlin: Reimer Verlag.

Thurnwald, Richard 1912: *Forschungen auf den Salomo-Inseln und auf dem Bismarck-Archipel*. Berlin.

--- 1932a: *Die menschliche Gesellschaft in ihren ethnosoziologischen Grundlagen*. Berlin, Leipzig.

--- 1932b: 'Economics in Primitive Communities'. London: Oxford University Press.

Wilk, Richard R. 1996: *Economies & Cultures. Foundations of Economic Anthropology*. Boulder: Westview Press.

Young, Michael W. (Hg.) 1979: *The Ethnography of Malinowksi. The Trobriand Islands 1915-18*. London & New York: Routledge & Kegan Paul.


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4.3 Substantivisten

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Inhalt


4.3.1 Karl Polanyi

Karl Polanyi (1886 -- 1964)

1944: The Great Transformation

1957: Trade and Market in the Early Empires

1979: Ökonomie und Gesellschaft

Karl Polyanis These besagt, dass die neoklassische Wirtschaftstheorie nur auf die moderne Marktwirtschaft industrialisierter Systeme anzuwenden ist. In dieser ist die Wirtschaft aus der Gesellschaft herausgelöst, wohingegen in früheren oder weniger entwickelten Gesellschaften die ökonomischen Beziehungen im Gesellschaftssystem eingebettet sind. Hier gibt es also nicht graduelle Systemunterschiede ("große und kleine Äpfel"), wie Firth behauptet, sondern es variiert die Art ("Äpfel und Birnen") des wirtschaftlichen Handelns. Im Gegensatz zu Firth[2] sieht Polanyi die institutionellen Gegebenheiten ("substantial propositions") als universell gültig an, wohingegen die Art des wirtschaftlichen Handelns variabel ist.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif
[2] Siehe Kapitel 3.1


4.3.1.1 The Great Transformation


  • Wir vertreten die These, daß die Idee des selbstregulierenden Marktes

eine krasse Utopie bedeutete.* (Polanyi 1978: 19)

Polanyi geht davon aus, dass der selbstregulierende Markt in seiner reinen Form Mensch und Gesellschaft zerstört. Staatliche und andere institutionelle Eingriffe in den Markt seien daher Selbstschutzmaßnahmen der Gesellschaft.

Die 'Great Transformation' ist 1944 erstmals erschienen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Terror und Zerstörungswut einen historischen Höhepunkt erreicht hatten. Polanyis explizites Ziel war, über die Befassung mit der Vergangenheit die Gegenwart zu erklären. Er versuchte herauszuarbeiten, welche ökonomischen und politischen Entwicklungen des 18 und 19. Jahrhunderts zu den Katastrophen der Ersten und Zweiten Weltkriegs und der von der Weltwirtschaftskrise geprägten Zwischenkriegszeit geführt hatten.

Seine zentrale These lautet: Die Ursprünge der Katastrophe liegen im utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus, ein selbstregulierendes Marktsystem zu errichten.

Marktsystem nach Polanyi:

  • Was auch immer die tatsächliche Einkommensquelle einer Person ist, sie ist das Ergebnis eines Verkaufs.
  • Marktwirtschaft: Dieses System müsse nach seiner Einführung sich selbst überlassen bleiben. Die Preise regulieren sich selbst.
  • Der Verkauf eines Kaufmanns umfasst nur Erzeugnisse. Dies hat noch keinen massiven Einfluss auf eine Gesellschaft.
  • Einkauf im Marktsystem: Rohstoffe und Arbeitskraft, also Mensch und Natur. "Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nicht Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren." Polanyi 1978: 70
  • Vor dem 19. Jahrhundert gab es keine Wirtschaftsform, die vom Markt gelenkt worden wäre. 'Adam Smiths[1]homo oeconomicus' ist nicht als Analyse der Vergangenheit, sondern als Projektion in die Zukunft entstanden.
  • Das Gemeinsame aller nicht-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsformen besteht darin, daß sie in die Gesamtgesellschaft eingebettet sind. Der Mensch wurde als gesellschaftliches Wesen konstituiert.
  • Die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen ist in seine Sozialbeziehungen eingebettet.
  • Nicht individuelles Interesse an materiellem Besitz, sondern an der Sicherung des gesellschaftlichen Ranges, der gesellschaftlichen Ansprüche und Wertvorstellungen bestimmt sein Handeln. Die genauen Ausformungen sind sehr verschieden, aber das Wirtschaftssystem wird in jedem Fall von nicht-ökonomischen Motiven getragen.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 1.3.2


Theogrundlagen-273 1.gif

4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi


Polanyi postuliert vier Typen institutioneller wirtschaftlicher Gestaltungen, wobei die ersten drei sich grundlegend vom vierten unterschieden:

1. Reziprozität

2. Redistribution

3. Haushaltung

4. Markttausch.


4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität


In Agrarritualen in den Anden wird ein reziprokes Verhältnis zwischen Menschen und Gottheiten angestrebt (Abb.: Alberdi 1992)

Darunter versteht Polanyi alle Formen von Austausch, die auf der sozialen Ebene in einer symmetrischen, äquivalenten Beziehung ablaufen, wie Gabe und Gegengabe.

Dabei herrscht kein Gewinnstreben, kein Prinzip der Arbeit gegen Entlohnung und kein Prinzip des geringsten Aufwands vor. In Gesellschaften, die auf Reziprozität beruhen, existieren vor allem keine Institutionen, die ausschließlich wirtschaftliche Ziele verfolgen. Reziprozität setzt Symmetrie voraus. Sie tritt vor allem in Gesellschaftssystemen auf, die auf Verwandtschaft beruhen und wirkt in erster Linie auf Familie und Verwandtschaft. Sie regelt in einem bestimmten Verwandtschaftssystem, wer für wen zu sorgen hat. Im matrilinearen Verwandtschaftssystem der Trobriander beispielsweise hat jeder Mann zu allererst für seine Schwester und deren Kinder zu sorgen.

Reziprozität bedeutet also nicht, dass die Verpflichtung zur Erwiderung der Gabe dieselbe Person trifft, die etwas erhalten hat. Es ist ein sehr viel abstrakteres Prinzip, das auf der Ebene der Gesamtgesellschaft wirkt und sich nicht auf die Interaktion zwischen zwei konkreten Personen beschränken lässt (vgl. Polanyi 1978: 77ff).

4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution


Tribute an den Großkönig. Relief aus Persepolis. Quelle: https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/ [1]

Dieses Prinzip bezieht sich auf wirtschaftliche Bewegungen in Richtung auf ein Zentrum und zurück. Es beschreibt Güterflüsse in pyramidal geschichteten Gesellschaften. Redistribution ist ein Kennzeichen feudaler Systeme, bezieht sich auf ein Territorium und ist damit Teil des Bereichs der Politik.

Tribute, Steuern, oder Arbeitsleistungen gehen vom "gemeinen Volk" zum Häuptling, Herrscher, Priester, zur Regierung. Im Gegenzug erfolgen Leistungen der herrschenden Schicht (Güter und andere Leistungen) von oben nach unten, jedoch asymmetrisch und nicht äquivalent, d. h. von unten nach oben geht im Regelfall mehr als zurückkommt. In zentralisierten Häuptlingstümern werden z. B. Ressourcen an eine Zentralgewalt abgegeben, die diese hortet und wieder umverteilt.

Das Prinzip der Redistribution gibt aber noch keinen Aufschluss über die Herrschaftsform, diese kann despotisch und ausbeuterisch sein, aber auch auf Konsens beruhen. Wesentlich ist die Orientierung an einem Zentrum, auf das sich Güter und Leistungen richten, und das diese wieder umverteilt (Polanyi 1978: 81ff). Deshalb ist das Muster der Interaktion von Zentrizität gekennzeichnet. Entsprechende soziale Organisationsformen sind der vorkapitalistische Staat, Königtümer oder Stadtstaaten.

Die Produktion und Distribution von Gütern wird hauptsächlich durch Einsammlung, Lagerung und Redistribution organisiert, wobei der Häuptling, der Tempel, der Despot oder der Lord im Mittelpunkt dieses Systems steht. Da das Verhältnis zwischen den Führenden und den Geführten, je nach der Grundlage der jeweiligen politischen Macht, verschieden ist, wird auch das Prinzip der Redistribution so völlig verschiedene individuelle Motivationen berücksichtigen wie die freiwillige Aufteilung der Beute durch die Jäger bis zur Angst vor Strafe, die den Fellachen zur Ablieferung einer Art Steuern, der Naturalabgaben, veranlaßt." (Polanyi 1978: 83f)

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/

4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung


Gehöft von Bergbauern in Nepal, deren Wirtschaften stark auf den Eigenbedarf ausgerichtet ist. Foto: Elke Mader

Darunter versteht Polanyi die Produktion des Eigenbedarfs der Kleingruppe, die in sich möglichst geschlossen und autark ist.

Wie diese Gruppe in sich organisiert ist, spielt dabei keine Rolle. Polanyi bezieht sich auf die Unterscheidung von Aristoteles in Haushaltsführung ('oikonomía') und Gelderwerb. Aristoteles war davon überzeugt, dass die Produktion für den Gebrauch und der Verkauf von überschüssigen Gebrauchsgütern auf dem Markt einander nicht ausschließen und die Autarkie des Haushalts nicht gefährden würden.

Nur ein Genie der praktischen Vernunft konnte, wie er erkannt haben, daß das Gewinnstreben ein für die Marktproduktion charakteristisches Motiv ist und daß der Geldfaktor ein neues Element einführte; daß aber das Prinzip der Produktion für den Gebrauch weiterhin funktionieren würde, solange Märkte und Geld bloß Anhängsel eines ansonsten autarken Haushalts blieben." (Polanyi 1978: 85)

Diese drei Prinzipien unterscheiden sich aber grundsätzlich vom vierten, denn:

Im weiteren Sinn gilt jedoch die These, dass alle uns bekannten Wirtschaftssysteme bis zum Ende des Feudalismus in Westeuropa auf den Prinzipien der Reziprozität oder Redistribution oder aber der Haushaltung beziehungsweise einer Kombination dieser drei beruhte. Diese Prinzipien waren mit Hilfe gesellschaftlicher Organisationen institutionalisiert, die sich inter alia auch die Formen der Symmetrie, der Zentrizität und der Autarkie zunutze machten. In diesem Rahmen wurde die geordnete Produktion und Distribution von Gütern durch eine Vielfalt von individuellen Motivationen gesichert, die ihrerseits durch allgemeine Verhaltensnormen in Schranken gehalten wurden. Bei diesen Motivationen spielte das Gewinnstreben keine hervorragende Rolle. Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen, um den einzelnen zu Verhaltensnormen zu veranlassen, die letztlich seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten." (Polanyi 1978: 86f)

Sowohl dort wo Reziprozität vorherrscht als auch dort, wo Redistribution dominiert, ist das ökonomische System eine Funktion der gesellschaftlichen Organisation.

4.3.1.2.4 Marktprinzip


Altar umgeben von Pepsi-Cola Werbung, Nepal. Foto: Elke Mader

Beim (Markt)Tausch handelt es sich um Transaktionen zwischen Individuen nach dem Zufallsprinzip, die unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Beziehung sind. Nur diese beruhen auf rationaler Entscheidung und Nutzenmaximierung.

Was das Prinzip des Tauschhandels von den anderen fundamental unterscheidet, ist, dass seine Wirksamkeit von der Existenz des Marktes abhängig ist. Der Markttausch bedarf einer eigenen Institution, die nur ihm selbst dient, das Marktsystem. Dieses hat nach Polanyi ungeheure Bedeutung für die Gesamtgesellschaft, da das Marktsystem die Gesellschaft zu seinem Anhängsel degradiert: "Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet" (Polanyi 1978: 88f).

Dem Markttausch entspricht die Marktwirtschaft. In dieser wird die Warenproduktion und --distribution ausschließlich über märkte kontrolliert und gesteuert. Nur diese Wirtschaftsform beruht auf der Erwartung, dass Menschen sich immer so verhalten, um einen maximalen Gewinn zu erzielen. Sie setzt den Mechanismus der Preisbildung über Angebot und Nachfrage sowie den Einbezug von Arbeit, Boden und Geld in den Markt voraus (Polanyi 1978: 102).

Für ihn ist die Marktwirtschaft ein System von sich selbst regulierenden Märkten in dem das gesamte ökonomische Leben durch die Warenpreise am Markt bestimmt werden. Die Grundlage dieses Systems sah er im Profitmotiv und in der Existenz von Waren in Form von Land, Arbeit und Geld.

Trotz der Ausweitung des Marktwesens im Merkantilismus ab dem 16. Jahrhundert ist die Vorstellung eines sich selbst regulierenden Marktes erst im 19. Jahrhundert bedeutend geworden.

Die Nicht-Marktgesellschaft mit den Integrationsformen Reziprozität und Redistribution sah er als absolutes Gegenteil des Markttauschsystems. 1944, in 'The great Transformation' stellte er noch eine weitere Nicht-Marktintegrationsform auf, das "Haushalten" auf der Ebene von autarken Einzelhaushalten. Diese Prinzipien existieren meist nebeneinander.

Die Nicht-Marktökonomien zeichnen sich durch folgende Prinzipien aus:

  • es gibt kein Gewinnmotiv;
  • keine Nutzenmaximierung durch die Einzelnen;
  • es gibt keine Lohnarbeit und keine spezifisch ökonomischen Institutionen.

Für Polanyi hat die kapitalistische Ökonomie Ende des 18. Jhds eine radikal neue Form der ökonomischen Organisation hervorgebracht, die in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte keine Entsprechung hat. Und diese Organisationsform ist das Marktsystem.

4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt


Karl Polanyi hält das Marktprinzip für einen grundsätzlich die Gesellschaft zerstörenden Faktor. Seine Argumentationslinie lässt sich diesbezüglich wie folgt zusammenfassen:

Der Mensch ist von "Natur aus" gesellschaftlich konstituiert und in vielfältige soziale Beziehungen eingebettet. Im Rahmen dieser sozialen Einbettung finden auch seine wirtschaftlichen Aktivitäten statt, die in so ferne Grund legend sind als sie ihn als Individuum und als Gesellschaft physisch am Leben erhalten. Die Gesellschaften tragen über Normen und Prinzipien Sorge dafür, dass die wirtschaftliche Versorgung funktioniert, dieser kommt aber kein bestimmender Platz in der Gesellschaft zu. Durch die Durchsetzung des Marktsystems mit staatlichen Zwangsmitteln hat sich dieses Verhältnis zwischen den Institutionen einer Gesellschaft verändert. Das wirtschaftliche System wurde in eine separate Institution ausgelagert, die auf spezifischen Zielsetzungen und Motivationen beruht: dem homo oeconomicus. Die Gesellschaft muss nunmehr so gestaltet werden, dass das wirtschaftliche System in Einklang mit den eigenen Gesetzen der Institution -- jenen des selbst regulierenden Marktes -- funktionieren kann.

Dieser sich selbst regulierende Markt entstand allerdings keineswegs einfach so aus sich selbst heraus. Er bedurfte und bedarf enormer Machtmittel, um ihn durchzusetzen und zu schützen.


4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld


Warenangebot für TouristInnen, Nepal. Foto: Elke Mader

Die wesentlichste Voraussetzung für die Errichtung eines Marktsystems, also eines selbst regulierenden Marktes, ist die institutionelle Abtrennung der Sphäre der Wirtschaft aus den anderen Institutionen der Gesellschaft. Dies konnte nur erreicht werden durch die Transformation von Boden, Rohstoffen und Arbeit, also von Mensch und Natur in Waren, deren Preise über den Markt sich selbst regeln. Dazu müssen alle Elemente der wirtschaftlichen Tätigkeit -- auch Boden, Arbeit und Geld -- dem Marktsystem unterliegen. Dies war nach Polanyi vor dem Europa des 19. Jahrhunderts nie und nirgends der Fall. Waren sind nach Polanyi Objekte, die für den Verkauf auf dem Markt produziert werden. Sie unterliegen dem Angebots- und Nachfragemechanismus.

4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi


Chilis auf einem Markt in Burma. Foto: Elke Mader

Dementsprechend gibt es für ihn auch drei Formen des Handels:

1. Gabenhandel (Reziprozität), ('gift trade'): Jegliche Form von Gütertransaktion wird als Gabentausch inszeniert.

2. Verwalteter Handel (Redistribution), Preisregelung im "verwalteten Handel": Festsetzung von Festpreisen entweder durch eine Gruppenentscheidung von Anbietern oder von der Marktbehörde im Einvernehmen mit den Anbietern. Z. B. wurde im alten Athen der Preis von Mehl und Brot durch Gesetz im Verhältnis zum Getreidepreis festgesetzt. Handelsplätze ('Ports of Trade'): "Handelsplatz" ist Polanyis Bezeichnung für eine Niederlassung, die als Kontrollpunkt im Handel zwischen zwei Kulturen mit verschiedenartig strukturierten ökonomischen Institutionen fungiert -- im typischen Fall zwischen professionellen Händlern und einer marktlosen Gesellschaft. Handelsplätze sind eine Art von "Freihandelszonen", stehen unter dem Schutz der politischen Autoritäten, die Händler haben freies Geleit und dürfen sogar in Feindesland. Beispiele: phönikische Häfen des Altertums, assyrische Handelskolonien in Kleinasien, Handel zwischen indischen Häfen und Binnenhauptstädten. Die Handelsplätze sind eine Einrichtung, die die marktlose Macht unter Kontrolle hat und die sie vor Einflüssen schützen, die sonst ihre Wirtschaft und Gesellschaft zersetzen (z. B. chinesische Wirtschaftszonen als Pufferzone zwischen Händler und Hinterland). Örtliches Marktgeschäft und Fernhandel sind streng voneinander getrennt.

3. Markthandel existiert seit Ende des 18. Jhds (in Europa und Nordamerika). Reguliert sich selbst und jegliche Einflussnahme durch Gesellschaft und Staat wirkt verfälschend auf die Preise und die Produktion.

4.3.2 George Dalton

Maniok auf einem Markt in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski.

George Dalton war Schüler von Polanyi, er promovierte in den 50er Jahren an der Columbia University.

'Economic Theory and Primitive Society' (1961) gilt als das theoretische Credo der substantivistischen Position. Er arbeite mit Paul Bohannan ('spheres of exchange') zusammen, mit dem er, aufgrund von Forschungen in afrikanischen Ländern, drei Gesellschaftsformen unterschied:

1. Marktlose Gesellschaften:

Gekennzeichnet durch die Prinzipien der Reziprozität und -- seltener -- der Redistribution. Die "traditionellen" Untersuchungsgegenstände der Ethnologie durch z.B. Malinowski, Firth und Herskovits.

2. Gesellschaften mit peripheren Märkten:

Orientieren sich teilweise an Angebot und Nachfrage; die Preise sind an die angebotenen Güter und an soziale Faktoren gebunden. Nicht nur der schnelle Verkauf der Waren, sondern auch der Unterhaltungs- und Kommunikationswert des Marktes ist wichtig.

3. Westlich beeinflusste Gesellschaften (oder "soziale Situationen" wie moderne Städte):

Der Markt wird von abstrakten Preismechanismen, von Angebot und Nachfrage bestimmt.

4.3.3 Marshall Sahlins

Marshall Sahlins (geb. 1930)

Keiner quot;Schule" zuzuordnen

Relevante Werke:

1965: On the Sociology of Primitive Exchange

1972: Stone Age Economics

Marshall Sahlins gilt als einer der einflussreichsten und originellsten amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart (Barnard/Spencer 1996: 589). Er hat sich seit den 1960er Jahren zu einer Vielzahl von Themen zu Wort gemeldet. Im Rahmen der ökonomischen Anthropologie ist insbesondere seine 1972 erschienene Aufsatzsammlung 'Stone Age Economics' zu einem Klassiker geworden.

'Stone Age Economics' ist eine Verteidigungsschrift des Substantivismus und eine Auseinandersetzung mit marxistischen Modellen. Trotzdem kann Sahlins aber keiner speziellen Schule zugeordnet werden. Er argumentiert substantivistisch, formalistisch, strukturalistisch, marxistisch und neoevolutionistisch. Seine Arbeiten spiegeln Öffnung bzw. das Ende der Debatte zwischen den festgelegten Lagern der Formalisten und Substantivisten wider.

Sahlins im WWW:

https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html [2]

https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml [3]

https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html [4]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml
[2] https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html
[3] https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml
[4] https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html


4.3.3.1 Beispiel Tausch


Ausgehend von einer substantivistischen Sicht der Ökonomie stellt Sahlins in 'On the Sociology of Primitive Exchange' (1965/1972) die These auf, dass ein Tausch nicht ein eigenständiges Ereignis, sondern eine Momentaufnahme aus einer kontinuierlichen sozialen Beziehung ist. Materielle Transaktionen sind Teil von sozialen Beziehungen, sie lassen sich nicht isoliert betrachten. "If friends make gifts, gifts make friends" (1972: 186).

Sahlins übernimmt Polanyis Begriffe der Reziprozität[1] und der Redistribution[2] (oder 'pooling'), verfeinert sie jedoch und erstellt eine detaillierte Klassifikation:

Reziprozität ist eine 'between relation', sie erfordert das Vorhandensein von zwei Parteien.

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Redistribution ist eine 'within relation', sie verlangt kollektive Handlungen innerhalb einer Gruppe.

Theogrundlagen-283 2.gif


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 4.3.1.2.2


4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins


Karl Polanyi war der Ansicht, dass die Interaktion in reziproken Austauschbeziehungen grundsätzlich symmetrisch verlaufen würde. Sahlins bezweifelt das und unterscheidet in:

Generalisierte Reziprozität, Balancierte Reziprozität, Negative Reziprozität.

Diese Einteilung trifft er anhand von drei Kriterien

  • Zeitpunkt der Rückgabe
  • Äquivalenz der Gegengabe
  • Materielle und nicht-materielle Dimensionen des Austauschs.

1. Generalisierte Reziprozität:

A gibt eine Gabe/Leistung an B, die Beziehung bleibt aufrecht, auch wenn von B lange nichts zurückkommt. Typischer Fall: Beziehung zwischen Eltern und Kinder. Die Eltern bezahlen eine "Versicherungsprämie" an die Kinder (Unterhalt, Ausbildung) und erhalten die "Versicherungssumme" zurück, wenn sie alt und pflegebedürftig sind.

Die "Gabe" erscheint "interesselos", der Zeitpunkt der Rückgabe ist verzögert, niemand scheint sich um Äquivalenz zu kümmern, die nicht-materielle Dimension des Austauschs (z.B. "Elternliebe") steht im Vordergrund.

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2. Balancierte Reziprozität:

Güter und Leistungen wandern symmetrisch und äquivalent von A zu B und von B zu A.

Typischer Fall Tauschhandel:

Die "Gegengabe" erfolgt unmittelbar und ist Teil des Tauschaktes, beide Seiten bemühen sich um Äquivalenz, und es dominiert der materielle Aspekt.

Perfectly balanced reciprocity wurde ethnographisch auch bei bestimmten Heiratstransaktionen oder Freundschaftspakten beschrieben: Zwei Gruppen tauschen dieselbe Menge der gleichen Güter unmittelbar gegen einander aus. Diese Art der Transaktion ist im Gegensatz zum Tauschhandel gänzlich nicht-ökonomisch.

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3. Negative Reziprozität:

A gibt unfreiwillig durch z.B. Raub oder Diebstahl, B gibt nichts (z. B. Stämme überfallen einander und rauben sich die Frauen und anderes).

Negative Reziprozität ist im formalistischen Sinn am ökonomischsten: In einer Situation gegensätzlicher Interessen versuchen Individuen oder Gruppen ihren Nutzen auf Kosten anderer zu maximieren.

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Sahlins geht nun davon aus, dass in den meisten Gesellschaften alle drei Formen gleichermaßen vorkommen und auch, dass es fließende Übergänge zwischen ihnen gibt. Er ist auch der Ansicht, dass diese drei Formen überall moralisch bewertet sind:

The extremes are notably positive and negative in a moral sense. The intervals between them are not merely so many gradations of material balance in exchange, they are intervals of sociability. The distance between poles of reciprocity is, among other things, social distance" (Sahlins 1972: 191).

4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins


Wenn alle Formen der Reziprozität in fast allen Gesellschaften inklusive unserer vorkommen, stellt sich die Frage, ob es Regelmäßigkeiten im Auftreten der drei Formen gibt. Sahlins meint ja: Die soziale Distanz bestimmt den Tauschmodus.

==> Je enger das verwandtschaftliche Verhältnis und je geringer die räumliche Entfernung, umso generalisierter ist der Austausch.

==> Sind keinerlei verwandtschaftliche, tribale oder räumliche Beziehungen mehr vorhanden, schlägt der Tauschmodus in negative Reziprozität um.

Nach Sahlins inkludiert dies auch die Moral: Moralische Normen sind meist situativ und relativ, nicht abstrakt und universell. Handlungen sind daher nicht "an sich" gut oder böse, sondern es hängt auch davon ab, wer "der Andere" ist. So wird Diebstahl innerhalb der Gruppe in den meisten Gesellschaften als schwere Verfehlung betrachtet, außerhalb der Gruppe aber bewundert.

Quelle: Sahlins (1972: 199)

4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität


Sahlins' Modell der mit wachsender sozialer und räumlicher Entfernung abnehmenden generalisierten Reziprozität wurde z.B. von Tim Ingold (1986) kritisiert und weiter entwickelt. Ingold argumentiert, dass negative Reziprozität unabhängig ist von verwandtschaftlicher Entfernung. Es lässt sich ethnographisch belegen, dass "positive" und "negative" Reziprozität auf jeder Ebenen vorhanden ist. In der Kerngruppe steht dem Teilen, der Gabe, auch die Forderung gegenüber, genau so wie es im Kontakt mit anderen Gesellschaften nicht nur den Diebstahl, sondern auch das Geschenk, den Vertrag, etc. gibt.

Sowohl Sahlins' Modell als auch Ingolds Variation davon werden durch weitere Faktoren kompliziert. Politischer Rang und gesellschaftliche Hierarchisierung z.B. wirken auf die Tauschmodi ein und verändern sie in Richtung Redistributionsmodi (vgl.: Gregory 1998: 924f).

Quelle: Ingold (1986: 232)

4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society


!Kung San: JägerInnen und SammerInnen-Gemeinschaften im südlichen Afrika. Quelle: https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html [1]

Als Angriff auf den 'homo oeconomicus' par excellence gilt Sahlins' Aufsatz über die ursprüngliche Überflussgesellschaft, in erster Fassung 1968 auf Französisch publiziert. Der Mainstream der Anthropologie der damaligen Zeit war einhellig der Ansicht, dass Jäger- und Sammlergesellschaften auf Grund der widrigen Umstände, in denen sie leben, keine Chance haben, "Kultur" zu entwickeln. Technologische Inkompetenz hätte dazu geführt, dass Jäger und Sammler ständig von Hunger bedroht seien und um zu überleben, permanent arbeiten müssten. Sahlins meint polemisch, dies wäre das klassische "neolithische Vorurteil" mit dem Ziel diesen Gesellschaften ihren Lebensraum zu beschränken.

Argumentation:

  • Annahme seit Adam Smith[2] und länger: Bedürfnisse sind unendlich, aber die Mittel knapp.
  • Tragödie der Konsumgesellschaft: es sind so viele Güter verfügbar und nur wenige kann man erreichen. Jede Entscheidung für etwas, bedeutet gleichzeitig Verzicht auf etwas anderes.

==> Sahlins dagegen:Was ist, wenn Bedürfnisse sehr beschränkt, die Mittel, diese zu befriedigen aber unendlich und im Überfluss vorhanden sind?

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html
[2] Siehe Kapitel 1.3.2


4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San


Sahlins legt nun neues ethnographisches Material dar: Richard Lees Studien über die !Kung San in der Kalahari.

Lee begleitete 1969 vier Wochen lang ein Gruppe Dobe !Kung und zeichnete auf, welche Kalorienmenge in welcher Zeit erwirtschaftet und verbraucht wurde.

Die Dobe erjagten und ersammelten durchschnittlich 2.140 Kalorien täglich pro Kopf, wofür pro erwachsener Person ein durchschnittlicher Arbeitsaufwand von 2,2 Arbeitstagen pro Woche erforderlich war. Auf Grund der Zusammensetzung der Gruppe nach Alter und Geschlecht sowie der durchschnittlichen Körpergröße der Dobe !Kung errechnete Lee einen Nahrungsbedarf von 1.975 Kalorien täglich. "A ‚day's work' was about six hours; hence the Dobe work week is approximately fifteen hours, or an average of two hours, nine minutes per day" (Sahlins 1972: 21).

Vom Rhythmus her werden zwei bis drei Tage mit der Beschaffung der Subsistenzmittel verbracht, dann folgen mehrere Tage Pause mit gegenseitigen Campbesuchen, ausruhen, Tänzen, etc.

Auf die Frage, warum sie ihre Lebensweise nicht den umgebenden Ackerbauern und Viehzüchtern anpassten, erhielt Lee zur Antwort: "Why should we plant, when there are so many 'mongomongo nuts' in the world?" (Lee 1968: 33 zit. Nach Sahlins 1972: 27).

Gleichzeitig ist die Ausstattung mit materiellen Objekten (Werkzeugen, Kleidung, etc.) sehr gering und auf Besitz wird generell wenig Wert gelegt. Lee, Sahlins und andere bringen den Verzicht auf Besitz mit der Mobilität dieser Gruppen in Zusammenhang. Mobilität ist die Bedingung für den ökonomischen Erfolg von Jäger- und Sammlergesellschaften: "Of the hunter it is truly said that his wealth is a burden" (Sahlins 1972: 11). Wenn man alles, was man besitzt tragen muss, dann schließen Eigentum und Mobilität einander aus.

Vorratshaltung ist bekannt, wird aber für ökonomisch wertlos gehalten. Sie fixiert ein Camp an einen bestimmten Ort, der dadurch ökologisch überausgebeutet wird. Mobilität ist daher der zentrale ökonomischer Wert.

Sahlins schließt daraus: Nomadismus ist keine Flucht vor Hunger! Mobilität und Mäßigung bringen die Ziele der Jäger mit ihren technischen Möglichkeiten zusammen (Sahlins 1972: 34).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg


4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion


Leonard Holman "Homeless, San Francisco" (digital enhanced photography). Quelle: https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html [1]

Jede technische Innovation hat nicht Arbeit erspart, sondern mehr Arbeit ermöglicht. Die Menge der Arbeit pro Kopf wächst mit der Entwicklung der Kultur.

Trotzdem ist heute am Höchststand der technischen Entwicklung der Hunger eine Institution, d.h. die Menge des Hungers in der Welt nimmt mit der Entwicklung der Kultur zu.

Die Entwicklung der Wirtschaft führt zu zwei gegenteiligen Bewegungen: sie wirkt bereichernd und gleichzeitig verarmend: aneignend in Beziehung zur Natur und enteignend in Beziehung zum Menschen.

Armut ist keine Beziehung zur Natur, sie ist ein Verhältnis zwischen Menschen!

Polemisches Ende dieses Aufsatzes: Als die Kultur sich dem Höhepunkt der materiellen Errungenschaften näherte, errichtete sie einen Schrein für das Unerreichbare: "'Infinite Needs'" (Sahlins 1972: 39).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html


4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse


Sahlins' Portrait der ursprünglichen Überflussgesellschaften verleitet zu einem Bild von "arm aber glücklich". Völlig gegenteilige Images werden z.B. über Afrika in Weltbank- und UNO-Berichten vertreten.

Gerd Spittler bringt beide Theorien auf den Punkt:

Zwei Theorien stehen sich hier gegenüber, beide haben sie eine lange Tradition. Die eine geht davon aus, daß vorindustrielle Gesellschaften Mangelgesellschaften sind. Ihre geringe Güterausstattung verdammt sie zu Armut und Elend, und sie warten nur darauf, durch die Segnungen der Industrialisierung erlöst zu werden. Die andere Theorie geht von der Prämisse aus, daß die geringe Güterausstattung kein Ausdruck von Mangel ist, sonder den einfachen Bedürfnissen dieser Menschen entspricht." (Spittler 1991: 66)

Spittler plädiert in der Folge für ein differenziertes Bild und für eine Unterscheidung der Sachverhalte:

a) Einfache und begrenzte Bedürfnisse

b) Mangel, der aber nicht mit Armut gleichzusetzen ist

c) Armut im Rahmen von einfachen Bedürfnissen

d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion

a) Einfache und begrenzte Bedürfnisse

Einfache Bedürfnisse entsprechen in etwa dem, was Sahlins in seiner Original Affluent Society beschrieben hat. Nach Jack Goody (1982) sind diese für Gesellschaften typisch, die nicht in sozio-ökonomische Klassen aufgespalten sind. In Klassengesellschaften, v.a. in bäuerlichen Gesellschaften treten "begrenzte" Bedürfnisse auf. Es bestehen Normen und Mechanismen, die den Konsum der unteren Klassen einschränken. Ihre Bedürfnisse "werden begrenzt".

b) Mangel, der aber nicht mit Armut gleichzusetzen ist

Mangel ohne Armut setzt Spittler mit Gesellschaften in Verbindung, die regelmäßige saisonale Hungermonate kennen, wie sie Audrey Richards (1939) bei den Mbembe beschrieben hat als Ausdruck einer Weltsicht, "die den Wechsel von Fülle und Mangel akzeptiert" (Spittler 1991: 75). In den jährlichen Hungermonaten werden die Aktivitäten reduziert, die Leute sind fröhlich und beklagen sich nicht. Richards kommt zu dem Ergebnis, dass die Kultur den biologischen Bedürfnissen ihre konkrete Form gibt.

c) Armut im Rahmen von einfachen Bedürfnissen

Armut trotz einfacher Bedürfnisse tritt dann auf, wenn selbst einfache Bedürfnisse situationsspezifisch z.B. durch Dürren oder Kriege nicht befriedigt werden können. Gruppen oder Individuen geraten zeitweilig in Not.

d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion

Die moderne Armut beruht auf gestiegenen Ansprüchen ohne Aussicht auf die Mittel, diese auch befriedigen zu können. Die Betroffenen empfinden sich selbst explizit als arm, unabhängig von ihrem tatsächlichen Besitz und Einkommen. Moderne Armut schließt vom sozialen Leben aus, sie isoliert z.B. die Armen in den Slums.

Die gängige Erklärung dafür, warum Menschen ihre einfachen Bedürfnisse -- mit denen sie ja zufrieden waren -- nicht beibehalten, ist die Kommunikationsthese (Spittler 1991: 82f). Solange Bauern und Nomaden von der Industriegesellschaft isoliert waren, wussten sie nichts von den Reichtümern und Konsummöglichkeiten dieser Welt. Kaum werden sie davon informiert, wollen sie auch alle Konsumgüter der industrialisierten Welt haben.

Spittler setzt dem entgegen:
Ich vertrete die These, daß der Prozeß umgekehrt verläuft, wie es Lerner postuliert. Es sind nicht durch Kommunikation bewirkte neue Bedürfnisse, die bei Nichterfüllung zu Armut und Marginalisierung führen, sondern der Prozeß beginnt mit der Marginalisierung. Dabei wird das traditionelle Wertesystem aufgelöst, und die neuen Bedürfnisse der modernen Welt werden übernommen." (Spittler 1991: 83)

Am Beispiel der Errichtung von Schulen zeigt er, dass plötzlich alle, die keine Schule besucht haben, zu Analphabeten degradiert werden. Hatten sie vorher ein würdiges Leben geführt, sind sie jetzt hilflos den neuen Behörden und ihren sich vervielfachenden Verwaltungsakten ausgesetzt!

4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production


Viele indigene Gemeinschaften des Amazonasraums (z.B. die Achuar) können dem "Domestic Mode of Production" zugeordnet werden. Foto: Elke Mader

Marshall Sahlins(1972) zeigt weiters, dass in vielen kleinen, überschaubaren (= wenig stratifizierten) Gesellschaften die Produktionsweise auf den Haushalt beschränkt ist. Dieser ist eine Produktionseinheit von mehreren Generationen. In der Hausgemeinschaft gibt es Arbeitsteilung, jedoch nicht nach Kenntnissen, sondern nach Alter und Geschlecht. Der gesamte Produktionsprozess erfolgt in dieser Gemeinschaft und ist auf ihren Bedarf abgestellt. Alle Personen haben direkten Zugang zu allen Ressourcen.

Es wird nicht mehr produziert, als man benötigt. Weder die Ressourcen noch die Arbeitskraft werden voll ausgenützt. Arbeit und bearbeitete Fläche ändern sich im Verhältnis Produzenten zu Konsumenten ==> Tschajanow's Gesetz.

Nicht nur für russische Bauern der Zarenzeit gilt: Die Produktion passt sich dem Familienzyklus an: Die Arbeitszeit und die bearbeitete Fläche steigen mit der Zahl der Konsumenten im Verhältnis zu den Produzenten im Haushalt. Sinkt die Zahl der zu versorgenden Personen wieder, lässt die Arbeitsintensivität sofort nach.

Seither gab es verschiedene Versuche, den Eigenheiten der Häuslichen Produktionsweise auf die Spur zu kommen ==> Peasant societies.

4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Barnard, Alan; Spencer, Jonathan 1996: *Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology.* London, New York: Routledge.

Carrier, James G. (Hg.) 2005: 'A Handbook of Economic Anthropology.' Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar.

Goody, Jack 1982: *Cooking Cuisine and Class. A study in Comparative Sociology.* Cambridge.

Gregory, C.A. 1998: Exchange and reciprocity. In T. Ingold (Hg.):

  • Companion Encyclopedia of Anthropology. Humanity, Culture, and Social

Life.* London, New York: Routledge, S. 911-939.

Halperin, Rhoda H. 1994: 'Cultural Economies Past and Present.' Austin: University of Texas Press.

Ingold, Tim 1986: *The Appropriation of Nature: Essays on Human Ecology and Social Relations.* Manchester: Manchester University Press.

Isaac, Barry L. 2005: Karl Polanyi. In J. G. Carrier (Hrsg.): *A Handbook of Economic Anthropology.* Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar, S. 14-25.

Karl, Polanyi 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton (Hg.) 'Primitive, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi.' New York: Anchor Books, Doubleday & Company, INC., S. 139-174.

Polanyi, Karl 1978: *The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen.* Frankfurt am Main: Suhrkamp.

--- 1979: 'Ökonomie und Gesellschaft.' Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Polanyi, Karl; Arensberg, Conrad M.; Pearson, Harry W. (Hrsg.) 1957: 'Trade and Market in the Early Empires.' New York: Free Press.

Richards, Audrey 1995 (1939): *Land, Labour and Diet in Northern Rhodesia. An Economic Study of the Bemba Tribe.* Münster, Hamburg: LIT.

Sahlins, Marshall 1965: On the Sociology of Primitive Exchange. In M. Banton (Hg.) 'Stone Age Economics.' London: Tavistock, S. 185-275.

--- 1972: 'Stone Age Ecomomics.' London: Tavistock Publications Limited.

Spittler, Gerd 1991: "Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse." 'Zeitschrift für Ethnologie' 116: S. 65-89.


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5 Neomarxismus

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

  • Produktion von Töpferwaren in Nepal. Foto: Elke Mader
  • Produktion von Töpferwaren in Nepal. Foto: Elke Mader

Im Zentrum einer Politischen Ökonomie aus marxistischer Perspektive steht das Konzept der Produktionsweise. Daraus ergeben sich einerseits die Fokussierung auf Produktion und andererseits die Betonung der Bedeutung von Geschichte. Die Politische Ökonomie ist Teil einer "'broad Enlightenment metanarrative of progress'" (Robotham 2005: 41). Einzelne Gesellschaften werden in einem breiteren Kontext der sozialen Evolution untersucht.

Außerhalb der kommunistischen Länder kann bis in die 1960er Jahre nicht von einer marxistischen Anthropologie gesprochen werden. Haupthindernis war das Wissen, dass das Evolutionsschema, das Marx und Engels von Morgan übernommen hatten, falsch ist und niemand in den Geruch kommen wollte, Unsinn zu schreiben. Zudem waren insbesondere in der Zwischenkriegszeit marxistische Ansätze an westlichen Universitäten verpönt (Graeber 2001: 24).

In Frankreich änderte sich dies durch den Philosophen Louis Althusser in den 1960er Jahren. Er plädierte für eine flexiblere Begrifflichkeit rund um das Marx'sche Konzept der Produktionsweisen. Dies wurde von Sozialanthropologen wie Meillassoux[1], Terray[2] und Godelier[3] aufgegriffen und ausgebaut.

Aus dieser marxistischen Perspektive heraus argumentierten sie, dass sowohlFormalisten wie Substantivisten[4]unrecht hätten, da beide den Ausgangspunkt für ökonomisches Handeln im Austausch und der Distribution sehen.

Um eine Gesellschaft zu verstehen, müsse man zu allererst verstehen, wie sie es schafft, über die Zeit hinweg weiter zu bestehen, wie sie sich selbst reproduziert. Wie wird eine Gesellschaft durch verschiedene Arten produktiver Handlungen ständig neu geschaffen, und wie sind die grundlegenden Formen von Ausbeutung und Ungleichheit in den sozialen Verhältnissen verankert, durch die sich die Menschen reproduzieren?

Diese Fragestellungen sind sehr verschieden von funktionalistischen Ansätzen, die viele Formalisten und Substantivisten gemeinsam hatten. Diese gingen von "einer Gesellschaft" aus, und stellten sich dann die Frage, wie diese Gesellschaft zusammen gehalten wird. Geschichte hatte für sie wenig Bedeutung. Marxistische Ansätze, die sich mit Produktionsweisen auseinander setzen, wollen immer auch die Geschichte der Produktionsweisen, wie sich bestimmte Formen von Ausbeutung und Herrschaft entwickelt haben, nachzeichnen (vgl. Graeber 2001: 24; Robotham 2005).

In den USA gingen insbesondere Schüler des Neoevolutionisten und Kulturökologen Julian Steward (link) der Frage nach der Geschichte nicht-industrieller Produktionsweisen nach. Anthropologen wie Eric Wolf[5] oder Sidney Mintz[6] stellten dabei die Verflechtungen der kapitalistischen mit nicht-kapitalistischen Produktionsweisen in den Vordergrund.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.2
[4] Siehe Kapitel 3.3
[5] Siehe Kapitel 5.3.1
[6] Siehe Kapitel 5.3.2

Inhaltsverzeichnis

5 Neomarxismus

5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich
5.2 Französische VertreterInnen
5.2.1 Claude Meillassoux
5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse
5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit
5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"
5.2.2 Maurice Godelier
5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer
5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya
5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit
5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer
5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier
5.2.3 Emmanuel Terray
5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes
5.3 VertreterInnen in den USA
5.3.1 Eric Wolf
5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie
5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion
5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"
5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda
5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen
5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt
5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff
5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation
5.3.1.1.2.4 Warenströme
5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika
5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee
5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet
5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)
5.3.2 Sidney Mintz
5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers
5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker
5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers
5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei
5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht
5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung
5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz
5.3.4.1 Die Welt als System
5.3.4.2 Zentrum und Peripherie
5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität
5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

1 Vorläufer
2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus
3 Neoklassik oder Rational Choice
4 Institutionalismus und Substantivismus
5 Neomarxismus

Nächstes Kapitel: 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich


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Vorheriges Kapitel: 5 Neomarxismus

5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Es gibt zwei moderne Strömungen der marxistischen Anthropologie, eine in Frankreich und eine in Amerika (vgl. Wilk 1996: 92ff).

Gemeinsamkeiten:

  • Ausgangspunkt: materielles System der Produktion und Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel
  • Fokus auf Fragen der Macht und der Ausbeutung
  • Auseinandersetzung mit Konflikt und Wandel
  • Analyse von Handlungen und Ereignissen als politische Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen, die durch die Kontrolle über Eigentum entschieden werden

Unterschiede:

  • Frankreich: strukturalistisch beeinflusst

```{=html} ```

  • USA: stark historisch orientiert


Nächstes Kapitel: 5.2 Französische VertreterInnen


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5.2 Französische VertreterInnen

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Die marxistisch orientierte Gruppe in Frankreich, zu der mit Ausnahme von Maurice Godelier vor allem Afrikaspezialisten gehören, wird aufgrund des 'starken Einflusses des Strukturalismus'* auch als Structural Marxists'*' (Robotham 2005: 42f; Wilk 1996: 86) bezeichnet.

Das Spezifische dieser Gruppe besteht in der Kombination von traditioneller ethnographischer Empirie mit einer "self-consciously theoretical Orientation" (Robotham 2005: 43). Robotham weist auch darauf hin, dass vorher die theoretischen marxistischen Konzepte dazu tendiert hätten, anthropologische Erkenntnisse zu ignorieren. Vor Beginn der 1960er Jahre versuchte man die ethnographischen Fakten in vorgefertigte theoretische Schemen zu pressen. Anthropologen wie Claude Meillassoux, Maurice Godelier, Emmanuel Terray, Pierre-Phillip Rey, Georges Dupré oder Marc Augé sehen die Feldforschung als notwendigen Ausgangspunkt für Theorienbildung. Sie legen daher auch feinkörnige und detailreiche ethnographische Beschreibungen der ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen der von ihnen untersuchten Gesellschaften vor. "On this basis, they approached theory as a construct that should respect and be supported by the data" (Robotham 2005: 43).

Inhalt

5.2.1 Claude Meillassoux

Claude Meillassoux (1925 -- 2005)

Relevante Werke:

1964: Anthropologie économique des Gouro de Côte d'Ivoire

1975: Femmes, greniers et capitaux

Claude Meillassoux wird als Begründer der Ökonomischen Anthropologie in Frankreich bezeichnet (vgl. Copans 2005: 1). Er studierte zuerst in den USA Ökonomie, dann bei Georges Balandier in Paris, welcher eine gegenwartsbezogene, problemorientierte Afrikaforschung initiierte. Balandier gründete 1958 das Centre d'études africaines (CEA), aus dem eine Reihe links orientierter Ethnologen hervor gegangen sind (Petermann 2004: 831).

Was Claude Meillassoux zeitlebens auszeichnete, ist die enge Verbindung von Empirie, marxistisch inspirierter theoretischer Analyse und politischem Engagement (Schlemmer 2004; Copans 2005).

Meillassoux geht davon aus, dass die Konzepte von Marx über Ausbeutung, Ideologie und Macht gleichermaßen dazu verwendet werden können, staatenlose Gesellschaften und Gesellschaften ohne elaborierte politische Hierarchien zu verstehen. Er argumentiert, dass Verwandtschaft Teil der politischen Ökonomie ist und dass auch in egalitären Gesellschaften und Haushalten es Gruppen gibt, die andere ausbeuten. Die "traditionelle" Ideologie und der Symbolismus, den die Anthropologen so lieben, dienen tatsächlich zu nichts anderem, als diese Ausbeutung zu verstecken und zu rechtfertigen.

Meillassoux im WWW:

https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [1]

https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2]

https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [3]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm
[2] https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm
[3] https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html


5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse


Auf Basis seiner Feldforschung bei den Gouro an der Elfenbeinküste (Cote d'Ivoire) stellt Meillassoux fest, dass Verwandtschaft eng mit den Produktions- und Distributionsverhältnissen verknüpft ist. Jagd, Viehzucht, Ackerbau für den eigenen Verbrauch, aber auch der Anbau von Cash-Crops sind entlang der Verwandtschaft organisiert.

Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lineage entscheidet über den Zugang zum wichtigsten Produktionsmittel Land. Ähnlich ist es im Bereich der Zirkulation der wesentlichen Güter, wie sie z.B. über den Brautpreis erfolgen. Meillassoux schließt daraus, dass Verwandtschaft keineswegs Teil des "Überbaus" ist, sondern das wesentliche Produktionsverhältnis in der klassenlosen Gesellschaft der Gouro.

Meillassoux definiert eine häusliche Produktionsweise (*domestic mode of production*), in der die älteren Männer die jüngeren Männer und die Frauen ausbeuten, in dem sie die Kontrolle über deren Arbeitskraft ausüben. Ältere Männer steuern über das Verwandtschaftssystem die Heiraten der Töchter und Söhne, deren Brautpreis oder Mitgift.

Während in der kapitalistischen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrwert über das Eigentum an Produktionsmittel erfolgt, sind in der häuslichen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrarbeit und Mehrprodukt in der Kontrolle von Menschen begründet. Die Ältesten entscheiden, wer wen heiratet, zu welcher Lineage die Kinder gehören und wer ein Stück Land zur Bearbeitung erhält. Der ökonomische Surplus wird über Gebräuche und Familienverbindungen gesteuert und nicht über Löhne oder Tribute.

Für Meillassoux und Godelier ist Verwandtschaft jedenfalls ein Machtsystem, über das Arbeit organisiert und die Produkte von Arbeit gesteuert werden.

  • Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski
  • Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski


5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit


"Cash and Carry Ventures", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

In den "Wilden Früchten der Frauen" (1978) arbeitet Meillassoux im ersten Teil heraus, wie Produktion und Reproduktion in verschiedenen Wirtschaftsweisen organisiert sind, insbesondere die Spezifika der Haushaltswirtschaft in Getreidebaugesellschaften. Diese Produktionsform zieht ihre Stabilität aus der Fähigkeit, die Hausgemeinschaft über Generationen hinweg auf einer ständigen Kreditbasis zu reproduzieren.

Die Rhythmen des Jahreszyklusses bedingen das Anlegen von Vorräten, die reinvestiert werden müssen, um ein Mehrprodukt zu erringen. Dies bindet die Individuen aneinander. Es macht Sinn, bis zur Ernte zusammen zu bleiben und wegen des Saatguts bis zur nächsten Aussaat.

In dieser Sicht ist der landwirtschaftliche Zyklus von einer immer wieder erneuerten Zirkulation von Vorschüssen und Rückzahlungen des Produkts zwischen den produzierenden Gruppen der aufeinander folgenden Jahreszeiten begleitet: Die Gesamtheit der Arbeiter einer Saison schießt denen der folgenden Saison Nahrung und Saatgut vor" (Meillassoux 1978: 55).

Im Laufe der Zeit erfolgt ein Wechsel der Generationen, die Alten schießen den Jungen Saatgut vor, sie speichern das Produkt, während die Jungen die Aussaat besorgen und somit die Arbeit leisten. In der Hausgemeinschaft, die so aus dem Ackerbau entstand, sind die Hierarchisierung der Gesellschaft und das dauerhafte Zusammenleben in einer Haushaltsgemeinschaft angelegt. Die Hierarchisierung ergibt sich daraus, dass die Alten den Jungen immer etwas vorschießen.

Dies entspricht auch der Mauss'schen[1] Logik der Gabe, die davon ausgeht, dass das Geschenk, die Gabe, immer eine Schuld begründet, die den Nehmenden in eine untergeordnete Position gegenüber den Gebenden setzt.

Meillassoux sieht in den internen Dynamiken, die den Produktions- und vor allem den Reproduktionsverhältnissen der Hauswirtschaften im Ackerbau inhärent sind, das Potenzial für deren Ausbeutbarkeit angelegt. Durch die Notwendigkeit, über das Jahr und über die Generationen hinweg Vorräte zu erwirtschaften, die zur Risikominimierung das Niveau des unbedingt Nötigen überschreiten müssen, wird Mehrarbeit zur Selbstverständlichkeit und zur Quelle von Mehrprodukt, das abschöpfbar ist.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2


5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"


"Everything is step by step", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Im zweiten Teil der 'Wilden Früchte der Frauen' überprüft Meillassoux die Theorien des Lohns und der ursprünglichen Akkumulation (Meillassoux 1978: 113ff).

Die Phase der ursprünglichen Akkumulation wurde von Karl Marx als Übergangsphase aufgefasst, in der es im Bereich der kapitalistischen Produktionsweise zu einem besonders raschen Anwachsen des Kapitals gekommen ist. Durch den ständigen Zustrom von Arbeitskräften aus den nicht kapitalisierten Bereichen konnten die Löhne unter den gesamten Reproduktionskosten der Arbeitskraft[1] gehalten werden.

Für die von diesen Prozessen betroffenen Menschen[2] bedeutete dies Verelendung, Enteignung, Migrationsdruck, Migration in rasch wachsende Städte, entfremdete Arbeit unter meist katastrophalen Bedingungen, Slumbildung.

Zumindest die Produktion der Arbeitskraft als solche erfolgte im vorkapitalistischen Sektor. Diese Phase der ursprünglichen Akkumulation wurde als Übergangszeit theoretisiert, die mit der vollständigen Durchkapitalisierung abgeschlossen sein würde.

Meillassoux (1978:116f) weist nun darauf hin, dass der Bereich der bäuerlichen Hauswirtschaften keineswegs zur Gänze dem kapitalistischen Sektor unterworfen ist und auch hinreichend viel Spielraum erhält, um selbst reproduktionsfähig zu sein. Bäuerliche Gesellschaften bleiben qualitativ von der kapitalistischen Produktionsweise verschieden, aber:

die allgemeinen Bedingungen der Reproduktion des sozialen Ganzen dagegen hängen nicht mehr von den der häuslichen Produktionsweise innewohnenden Determinanten ab, sondern von im kapitalistischen Sektor getroffenen Entscheidungen. Durch diesen im Wesen widersprüchlichen Prozess wird die häusliche Produktionsweise sowohl erhalten wie zerstört: Erhalten als soziale Organisationsform, die für den Imperialismus Wert produziert; zerstört, da die Ausbeutung sie allmählich ihrer Reproduktionsmittel beraubt" (Meillassoux 1978: 116).

Durch die mehr oder weniger künstliche Aufrechterhaltung eines nicht vollständig durchkapitalisierten Sektors lässt sich die ursprüngliche Akkumulation in ein permanentes Ausbeutungsverhältnis umwandeln, insofern als es Regionen und gesellschaftliche Bereiche gibt, die Arbeitskräfte außerhalb der Zirkulationssphäre der reinen Warenwirtschaft produzieren und reproduzieren.

Meillassoux bezieht dieses Phänomen insbesondere auf Rotationswanderungen, wie sie beispielsweise durch das südafrikanische Apartheidsystem erzwungen wurden. In den Homelands wurde die häusliche Produktionsweise künstlich aufrechterhalten, um den Minenarbeitern nicht die vollen Reproduktionskosten bezahlen zu müssen (Meillassoux 1978: 135ff).

Regionen, in denen Subsistenzwirtschaft zumindest zum Teil beibehalten wird, dienen als Arbeitskraftreserven für die Industriegebiete. Ein klassischer Indikator für die Existenz und damit die Ausbeutung solcher nicht zur Gänze durchkapitalisierter Bereiche ist ein "doppelter" Arbeitsmarkt. Damit sind Berufssparten gemeint, in denen deutlich niedrigere Löhne ausbezahlt werden und in die bestimmte Bevölkerungsgruppen gezwungen werden.

Meillassoux hat sich damit als einer der ersten Anthropologen mit Fragen der Arbeitsmigration und dem Verhältnis zwischen kapitalistischer und häuslicher Produktionsweise befasst. Die häusliche Produktionsweise geht durch die kapitalistische Produktionsweise nicht unter, sondern liefert beständig billige Arbeitskräfte nach.

Trotz Kritik in vielen Teilbereichen wurde diese Arbeit von Meillassoux sowohl in der feministischen Anthropologie als auch in der Migrationsforschung und in der ökonomischen Anthropologie rezipiert und weiter entwickelt.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 2.1.1


5.2.2 Maurice Godelier

Maurice Godelier (geb. 1934)

Relevante Werke:

1982: La production des Grands Hommes

1984: L'idéel et le matériel

Maurice Godelier studierte zuerst Philosophie, interessierte sich dann für Ökonomie und kam durch Claude Lévi-Strauss zur Sozialanthropologie. Als Schüler des marxistischen Philosophen Louis Althusser und durch den Einfluss von Lévi-Strauss ist er stark strukturalistisch geprägt. Zwischen 1966 und 1988 führte Maurice Godelier mehrere Feldforschungen bei den Baruya im Hochland Papua-Neuguineas durch. Auf dieser ethnographischen Basis aufbauend beschäftigte er sich mit dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Sozialstruktur, mit der Entstehung politischer Macht und der Bedeutung von ideellen Konstrukten.

Über die intensive Beschäftigung mit klassenlosen Gesellschaften wie den Baruya kommt er zum Schluss, dass soziale Ungleichheit auch über das Verwandtschaftsverhältnis und die Ideologie hergestellt werden kann. Diese werden zum Produktionsverhältnis, das Alte und Junge, Männer und Frauen von einander trennt. Insbesondere die Frauen werden mit ideologischen Konstruktionen ihrer Produktionsmittel beraubt.

Es gibt nämlich keine Beziehung zwischen ökonomischer und politischer Macht in dieser klassenlosen Gesellschaft. Manche Baruyamänner werden zwar über den Salzhandel, den Gartenbau und die Jagd reich, sie können aber diesen Reichtum nicht in Macht verwandeln und Chefs werden. Politische Macht entsteht ausschließlich durch Erfolg in der Kriegsführung, durch die Kontrolle über Magie und Ritual und in erster Linie durch die Manipulation von Verwandtschaft. Verwandtschaft ist die wahre Basis aller Machtdifferenzen in der Baruyagesellschaft. Verwandtschaft ist in einer Ideologie verankert, welche die Macht den Männern auf Basis ihrer Kontrolle über die Fruchtbarkeit der Frauen zuordnet.

Godelier im WWW:

https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier [2]

https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html [3]

https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm [4]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier
[3] https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html
[4] https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm


5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer


"Großer Mann" der Baruya, Godelier 1986, Abb. 18.

Die Baruya, ein etwa 2000 Menschen zählender Stamm im Hochgebirge Papua-Neuguineas, kamen 1951 erstmals mit Weißen "physisch" in Berührung, waren aber bereits ein Jahrzehnt früher von deren materiellen Gütern wie Stahläxte und Macheten ökonomisch abhängig. 1960 fielen sie unter australische Kolonialverwaltung.

Godelier, der ab 1966 immer wieder lange und umfangreiche Feldforschungen bei ihnen durchführte, fasst sein Material 1982 unter dem Titel Die Produktion der Großen Männer'*'. Macht und männliche Vorherrschaft bei den Baruya in Neuguinea'*' zusammen. Es geht ihm dabei explizit um die Analyse der Mechanismen und Vorstellungen, die in dieser klassenlosen und bis 1960 staatenlosen Gesellschaft die männliche Herrschaft organisieren und legitimieren. Denn ohne Führungsklasse zu sein bedeutet nicht, dass es auch keine Ungleichheiten gibt:

Ein Teil der Gesellschaft, die Männer, lenkte den anderen, die Frauen; sie regierten die Gesellschaft zwar nicht ohne die Frauen, aber gegen sie. Damit kommt der Fall der Baruya, einer klassenlosen Gesellschaft, zu all denen hinzu, die bereits deutlich davon zeugen, daß die Ungleichheit unter den Geschlechtern, die Unterordnung, Unterdrückung, ja Ausbeutung der Frauen gesellschaftliche Realitäten sind, die nicht erst mit dem Auftauchen der Klassen entstanden, sondern schon vorher existierten, auch wenn sich die Herrschaft der Männer mit den tausend Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die den unseren vorausgingen, auf tausenderlei Arten gefestigt und erneuert hat." (Godelier 1987: 10)

Auch unter den Männern sind nicht alle gleich. Obwohl es keine soziale Klasse gibt, die sich über eine andere erhebt, existieren doch eine Anzahl von Funktionen, verdient oder ererbt, die Große Männer hervorbringen.

"Die Produktion »Großer Männer« ist somit die unerläßliche Ergänzung und Krönung der männlichen Herrschaft" (Godelier 1987: 11) und Godelier's zentrale Fragestellung.


5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya


Die Baruya leben in zwei Hochtälern im östlichen Hochland Neuguineas zwischen 1600 und 2300 Meter Seehöhe auf etwa 17 Dörfer verteilt. Es gibt keinen Häuptling, sondern 15 Clans, die wiederum in Lineages und diese in Segmente unterteilt sind. Die soziale Organisation der Clans und Untergruppen ist patrilinear und patrilokal.

Die wesentlichen Produktionszweige sind Brandrodungsfeldbau und der Anbau von Süßkartoffeln in dauerhaften Gärten, sowie die Schweinezucht. Ergänzend kommen Jagd- und Sammelwirtschaft hinzu, die von hohem zeremoniellen Wert aber geringem Subsistenzwert sind. Große ökonomische Bedeutung hatte bis in die 1960er Jahre die Salzproduktion aus einer Trockengrassorte, da Salz bei den Nachbarstämmen gegen Stein- und später Stahläxte und Macheten eingetauscht wurde.

Alle Tätigkeiten unterliegen einer strengen gesellschaftlichen Arbeitsteilung und sind einem bestimmten Geschlecht oder einer Altersgruppe zugewiesen. Nur die Salzproduktion bildet ein spezialisiertes Handwerk, das auf technischen und magischen Geheimnissen beruht und ausschließlich von eigens dafür ausgebildeten Männern durchgeführt wird. Grund und Boden ist im Besitz einer männlichen Abstammungsgruppe und kann von Frauen niemals ge- oder vererbt werden. Insgesamt sind Frauen vom Zugang zu den wichtigsten Produktionsmitteln (Grund und Boden, die Herstellung von und Kontrolle über Werkzeuge) und Destruktionsmitteln (Waffen), sowie von der Salzproduktion kategorisch ausgeschlossen.

Die Unterordnung der Frauen ist in der räumlichen Anordnung der Dörfer, in den Begegnungen, Gesten und Verhaltensnormen zwischen den Geschlechtern tagtäglich sichtbar und präsent. Die an den Hängen gelegenen Dörfer haben im höchst gelegenen Teil einen Bereich mit einem oder mehreren Männerhäusern, der ausschließlich Knaben und Männern vorbehalten ist. Im mittleren Teil leben die Familien und im unteren Teil des Dorfes befinden sich Gestrüpp und Laubverschläge. Dorthin ziehen sich die Frauen zum menstruieren und gebären zurück. Der Bereich der Frauen gilt bei den Männern als unrein und Ekel erregend. Begegnen sich Männer und Frauen am Weg, so haben die Frauen stehen zu bleiben, auszuweichen, sich weg zu drehen und das Gesicht zu bedecken, während die Männer vorbeigehen, als wäre da niemand.

Godelier fragt sich nun, worauf diese offensichtliche Herrschaft der Männer über die Frauen begründet ist.

An der Arbeitsteilung kann es nicht liegen, weil diese die Unterordnung der Frauen unter die Männer bereits voraussetzt. Die Tätigkeiten der Frauen werden systematisch abgewertet. Es sind ihnen nur die mühsamen, eintönigen, sich täglich wiederholenden Arbeiten erlaubt. Frauen ist es verboten - und zwar zum Teil unter Androhung der Todesstrafe - Wissen und Kenntnisse über die hoch bewerteten Männerarbeiten zu erwerben.

Frauen verrichten fast die gesamte Arbeit in den Kartoffelgärten und füttern die Schweine. Wird ein Tier geschlachtet, so steht der überwiegende Teil des Fleisches -- mit Ausnahme der Eingeweide und der Zunge, die als unrein gelten -- wiederum nur den Männern zu. Die besten Teile werden ins Männerhaus geliefert und dort von den Initianten und verheirateten Männern gemeinsam gegessen.

Diese Entnahme und dieser kollektive Verzehr bezeugen deutlich die männliche Herrschaft und bekräftigen die kollektive Kontrolle der Männer über ein Produkt, das sie im wesentlichen der Arbeit der Frauen verdanken." (Godelier 1987: 35f)


5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit


Während der Initiationszeremonie der Baruya, Godelier 1986, Abb. 16.

Nachdem Godelier die Subsistenzweise, die Produktions- und Arbeitsprozesse, die soziale Struktur der Baruya, die Rituale der Männer -- und Fraueninitiationen, die Vorstellungen über Körper und Sexualität dargelegt hat, gelangt er zu folgenden Schlüssen: Es ist "die Maschinerie der männlichen und weiblichen Initiationen", welche die "allgemeine, prinzipielle Herrschaft der Männer, aller Männer als solcher, über die Frauen, alle Frauen als solche, zu instituieren und zu legitimieren" vermag. (Godelier 1987: 111)

Was passiert nun in der Knabeninitiation, die insgesamt zehn Jahre dauert und in der Initiation der Mädchen, die nach zwei Wochen abgeschlossen ist:

Die Knabeninitiation trennt die etwa zehn Jahre alten Buben von ihren Müttern und überführt sie ins Männerhaus, wo sie in einer ausschließlichen Männerwelt bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr erzogen werden. Sie werden ohne Frauen als Männer quasi neu geboren, der Anteil der Frauen an der Produktion von Männern soll damit ausgelöscht werden. Im Männerhaus werden die Initianten in die Grundlagen der sozialen und kosmischen Ordnung eingeführt, die sie später zu den Großen Männern in ihrer Gesellschaft machen können. Dazu gehört vor allem das Wissen über die Bedeutung, die den Körperflüssigkeiten, insbesondere dem Sperma zukommt: "Und auch im Prozess der Produktion des Lebens behaupten sie, die erste Rolle zu spielen, da sie das Kind im Bauch der Mutter erzeugen, mit ihrem Sperma den Fötus und die Mutter ernähren, mit Hilfe der Sonne, des göttlichen Vaters aller Menschen" (Godelier 1987: 298).

Für die ältern Schwestern eines jüngeren Knaben wird dieser durch die

Initiation zum älteren Bruder.
Die männliche Initiation verwandelt folglich alle Frauen in die jüngeren Schwestern ihrer jüngeren Brüder und verschiebt aus politischen und ideologischen Gründen den Platz, den die Frauen innerhalb der Genealogien und Verwandtschaftsbeziehungen einnehmen, nach unten" (Godelier 1987: 111).

Die Schwelle zum Männerhaus bildet ein bemaltes Brett und dieses Brett ist das Symbol für den Körper aller Frauen, den jeder Initiant, jeder erwachsene Mann im Laufe seines Lebens viele hunderte Male überschreitet. Das Geheimnis dieser symbolischen Unterordnung der Frauen wird aber nicht den zehnjährigen Buben, die ins Männerhaus kommen, mitgeteilt, dieses Geheimnis erfahren sie erst kurz bevor sie mit etwas über zwanzig das Männerhaus verlassen, um dann als erster Frau ihrer Ehegattin gegenüber zutreten. Die Ehen werden nämlich bereits bei der Geburt der Kinder oder spätestens zu Beginn der Pubertät zwischen den Patrilineages arrangiert, meist in Form des einfachen Schwesterntauschs.

Verwandtschaftssystem und Ideologie, die am stärksten in der Knabeninitiation zum Ausdruck kommen, begründen und legitimieren somit die Abwertung und Unterordnung der Frauen.

Verstärkt wird dies durch die Mädcheninitiation, die nach der ersten Menstruation durchgeführt wird, und in der alle Frauen dem jungen Mädchen nur eines versuchen zu vermitteln: Dass sie die Unterordnung unter die Männer zu akzeptieren haben.

5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer


Ritueller Übergang von der weiblichen zur männlichen Welt, Godelier 1986, Abb. 9.

Im letzten Teil der Produktion der Großen Männer, den Godelier mit 'Die Bauchrednermaschine' übertitelt, geht er auf die Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer ein:

Dieser Glaube [an die Überlegenheit der Männer] aber wurde von beiden Geschlechtern geteilt, den eben diese gemeinsamen Vorstellungen bildeten die wichtigste, stumme und unsichtbare Kraft der männlichen Herrschaft" (Godelier 1987: 299).

Aber das Teilen der Ideen reicht nicht aus, Herrschaft funktioniert überall dann am klaglosesten, wenn die Unterdrückten die Schuld am eigenen Schicksal tragen:

Und wir wissen, daß, was die Unterdrückung betrifft, die Herrschaft eines Teils der Gesellschaft über einen anderen (Geschlecht, Kaste, Klasse, Rasse) nur dann wirklich begründet, legitimiert ist, wenn die Opfer die schuldigen werden, wenn sie für das Los das sie erdulden, als erste verantwortlich sind." (Godelier 1987: 303f)

Die einfachste Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Unterschied zu legitimieren, besteht darin, ihn in der "Natur " fest zu machen, an natürlichen Unterschieden. Die Körper von Männer und Frauen unterscheiden sich und damit kann das gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnis für alle evident gemacht werden. Die Frauen stimmen ihrem Schicksal zu, da sie ihren anderen Körper nicht zum Verschwinden bringen können (vgl. Godelier 1987: 304).

Die Sexualität wirkt wie eine Bauchrednermaschine. Sie spricht selbst nicht und doch wird ständig durch sie gesprochen. Durch sie wird gezeigt, wo der Platz der Männer und wo jener der Frauen im ideologischen System und im realen Leben der Baruya ist.

Diese Argumentationsweise Godelier's wurde von Nicole-Claude Mathieu (1985, vgl. auch Langheiter 1989) heftig kritisiert. Die These der Zustimmung und des Mitmachens unterschätzt nämlich die Gewalt, der Frauen physisch wie symbolisch tagtäglich ausgesetzt sind. Obwohl man nicht sagen kann, dass Godelier diese Gewalt gänzlich verleugnet, so schwächt er sie doch deutlich ab:

In der männlichen Macht gibt es neben der Gewalt auch die List, den Betrug, das Geheimnis, bewußt eingesetzt, um den Abstand, der die Männer von den Frauen trennt und sie vor ihnen schützt und ihre Überlegenheit sichert, aufrecht zu erhalten und zu vertiefen." (Godelier 1987: 303)

5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier


Godelier verwendet eine marxistische Terminologie, gleichzeitig sind seine Ansichten in hohem Ausmaß von Durkheim und Lévi-Strauss geprägt. Ein Beispiel für diese Synthese bietet folgendes Zitat:

Und was eigentlich besagt das Inzesttabu? Grundsätzlich ist es in jeder Gesellschaft die Anwesenheit eines Ordnungsgesetzes, einer grundlegenden Eigenschaft des menschlichen Daseins. Weil die Menschen im Unterschied zu den geselligen Tieren und ihren Vettern, den Schimpansen und Pavianen -- ungeachtet der Soziologen und Anthropologen -, nicht nur in Gesellschaft leben, sondern auch Gesellschaft produzieren, um leben zu können. Und eben dieses Ordnungsgesetz zeigt sich und wirkt durch das Inzesttabu und weit darüber hinaus. Das wurde von Lévi-Strauss ausgezeichnet gesehen und gesagt. Doch woran liegt es, daß der Mensch sich nicht damit zufrieden gibt, in Gesellschaft zu leben, sondern seine Gesellschaft auch produziert und verändert, um leben zu können, wenn nicht an einem objektiven, unumgänglichen Faktum, das nicht von seinem Willen abhängt: nämlich an der Tatsache, daß er die ihn umgebende Natur verändern und damit seine eigene Natur verändern kann? Das Inzestverbot, das den Wunsch des Individuums von denjenigen ablenkt, die zusammengearbeitet haben, um ihm das Leben zu schenken (und nicht nur seine nahen Angehörigen), bekräftigt tagtäglich und überall, daß das Individuum, so groß es auch sei, niemals der Ausgangspunkt der Gesellschaft ist, daß kein Individuum und keine Gruppe aus sich selbst, in der Isolierung und der Autarkie alle Bedingungen finden kann, die notwendig sind, um real, das heißt gesellschaftlich zu existieren." (Godelier 1987: 308f)

Durch den Produktionsprozess[1] verändert der Mensch die Natur um sich und damit auch sich selbst. Da er ein grundsätzlich gesellschaftliches Wesen ist, produziert er auch Gesellschaft[2]. Gesellschaft wird damit zur Existenzbedingung von Menschen, die nicht auf dem Willen von Individuen beruht. Der Beweis dafür ist das Inzesttabu als Ordnungsgesetz, das in jeder Gesellschaft "tagtäglich und überall" wirkt (vgl. Lévi-Strauss [3]).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2
[2] Siehe Kapitel 4.1.1
[3] Siehe Kapitel 3.3 in der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


5.2.3 Emmanuel Terray

Romuald Hazoumé, "Citoyenne", 1997, Foto: Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.

Emmanuel Terray geb. 1935

Relevante Werke:

1974 Zur politischen Ökonomie der 'primitiven' Gesellschaften

1974 Long Distance Exchange and the Formation of the State. The Case of the Abron Kingdom of Gyaman

Als Schüler von Louis Althusser geht Terray davon aus, dass die Inhalte, Widersprüche und Antagonismen einer Produktionsweise für jede Gesellschaft einzeln bestimmt werden können, wobei immer eine Interdependenz von lokalen Ausprägungen und der jeweiligen, in letzter Instanz übergeordneten, globalen Produktionsweise besteht.

Seine methodisch - theoretischen Überlegungen sind ursächlich mit seinen Forschungen in Westafrika, im Senegal (Dida) und in der Elfenbeinküste (Abron), verbunden, da gerade das postkoloniale Afrika von tief greifenden Widersprüchen zwischen politischer Form und materieller Basis geprägt ist. Für die ökonomische Anthropologie ist sein Ansatz von großer Bedeutung, da er genaue ethnographische und lokale Fragestellungen unter Beibehaltung überlokaler sozio-historischer Perspektiven ermöglicht, was Terray vor allem in seiner Arbeit über Staatsmacht und Fernhandel am Beispiel des Abron Reiches ausführt. Sein Konzept der Produktionsweise ist aber auch insofern wegweisend, als es methodischen Umgang mit sozialer Dynamik operationalisiert.

Das Gesamtwerk von Terray ist von einem anhaltenden Interesse an den Antagonismen zwischen Staat und Ökonomie, Fragen zu Macht, Gewalt und politischer Aktion geprägt. Seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich unter großem persönlichem Engagement (Terray und Goussault 1990) vorwiegend mit europäischer Politik, Menschenrechten, Asyl und Migration.


5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes


In Terrays Analysezugang ist die "Produktionsweise" die zentrale anthropologisch-ökonomische Grundkategorie. Die Produktionsweise umfasst Produktivkräfte (Beziehung Mensch -- Natur) und Produktionsverhältnisse (Beziehung Mensch -- Mensch), hat also technologische und soziale Dimensionen. Er versteht sie als historischen Komplex, der drei Ebenen umfasst:

1) ökonomische Basis

2) rechtlich-politischer Überbau

3) ideologischer Überbau

Anders als Meillassoux[1] sieht Emmanuel TerrayVerwandtschaft nicht als Teil der Ökonomie, die wiederum bei ihm die eigentlich determinierende gesellschaftliche Instanz ist. Verwandtschaft, Politik, Religion, Recht sind Instanzen des Überbaus, in welchem sie auf zahlreichen Ebenen "Repräsentationen" haben, die die Produktionsverhältnisse reflektieren. Letztere allein können Aufschluss geben über die politisch-ideologischen Verhältnisse. In diesem Sinne sind Repräsentationen in der Superstruktur sowohl Ausdruck wie Deformation ihrer Basis, wobei es aber erst durch sie zum Funktionieren jener kommt und sie beträchtliche Eigendynamik entwickeln.

Basierend auf seiner Sichtweise von Marx schlägt er zur Untersuchung einer bestimmten sozioökonomischen Formation oder Gesellschaft folgende Analyseschritte vor:

  • erstens die Bestimmung der Arbeitsprozesse, die Rohstoffe in Produkte verwandeln;
  • zweitens die Verteilung der Produkte, daraus folgt der Zugang zu den Produktionsverhältnissen, die wiederum über die Distribution die Konsumption regeln.

Subjekte des Arbeitsprozesses sind die Produktionseinheiten, die ihrerseits von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmt sind, z.B. bedingt ein dorfgemeinschaftliches Produktionsverhältnis andere Wirtschaftssubjekte (Haushalt) als ein kapitalistisches (Lohnarbeiter und Kapitaleigner).

Alle drei Ebenen der Produktionsweise spielen in einem einzelnen sozioökonomischen Phänomen eine Rolle und sind in einer *causalité triplement complex*, einer dreifach komplexen Kausalität, miteinander verwoben. Eine Produktionseinheit (Ebene 1) kann z.B. zugleich Verwandtschaftseinheit (Ebene 2) sein, wie auch gleichzeitig eine religiöse Gruppe (Ebene 3) konstituieren. Terray besteht darauf, dass gerade in der Sozialanthropologie immer alle drei Ebenen einer Erscheinung oder Handlung analytisch zu trennen und für sich zu betrachten sind, wobei er voraussetzt, dass sie in der sozialen Realität vernetzt sind oder gleichzeitig auftreten. Weiters nimmt er an, dass die Koexistenz mehrerer Produktionsweisen gleichzeitig möglich ist.

Heftige Kritik erfährt Terray von Pierre-Philippe Rey, der ihm theoretisch unzulängliche Vernachlässigung der Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse bei nicht-kapitalistischen Formationen vorwirft (Rey 1975). Eine weitere Kritik kommt von feministischer Seite von Maxine Molyneux, die seine ökonomischen Schlussfolgerungen aufgrund seiner androzentristischen Perspektive als verfälscht und damit ungültig ansieht (Molyneux 1977).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.2.1


Nächstes Kapitel: 5.3 VertreterInnen in den USA


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5.3 VertreterInnen in den USA

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

In den USA entwickelte sich ebenfalls eine marxistisch orientierte Politische Ökonomie, die sich mit Fragen nach den Zusammenhängen und Abhängigkeiten zwischen Weltregionen befasst (Narotzky 2005: 84f). Wichtige Werke in diesem Zusammenhang sind '*Eric Wolf's'Europe and the People without History (1982) und 'Sidney Mintz's'Sweetness and Power'*' (1985). Anhand der Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern versuchen beide globale historische Entwicklungen im ökonomischen Bereich nachzuzeichnen. Gerade diese zwei Werke bauen nicht auf eigener Empirie auf, sondern versuchen in einer Langzeitperspektive herauszuarbeiten, wie verschiedene Gesellschaften und Regionen in die kapitalistische Weltökonomie einbezogen wurden.

Inhalt

5.3.1 Eric Wolf

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Eric Wolf (1923-1999)

  • My primary interest is to explain something out there that impinges me,

and I would sell my soul to the devil if I thought it would help.* (Wolf im Interview mit Friedman, 1987:144)

Relevante Werke:

1966: Peasants.

1969: Peasant Wars of the Twentieth Century.

1982: Europe and the People without History

Eric Wolf wurde 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. Er verbrachte seine Kindheit in Böhmen bevor seine Eltern auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus über Großbritannien in die USA übersiedelten. Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte er als Soldat auf Seiten der Alliierten an der deutsch-italienischen Sprachgrenze in Südtirol. Dorthin kehrte er Anfang der 1960er Jahre mit John Cole zurück, um mit diesem gemeinsam die Ursachen der ethnischen Konflikte in Südtirol/Trentino zu beforschen (Cole/Wolf 1974/1995).

1946 nahm er sein Ph.D. Studium der Anthropologie bei Ruth Benedict und Julian Steward auf. Insbesondere Steward mit seiner Kulturökologie und seinem 'cultural materialism' (Harris 2001/1968: 654) übte nachhaltigen Einfluss auf Eric Wolf aus. Er nahm -- wie auch Sidney Mintz -- in den späten 1940er Jahren an Steward's Puerto Rico Forschungsprojekt teil und beschäftigte sich ab dann mit Peasants (è link), Macht und Klassen. Dabei richtete er seine Aufmerksamkeit immer auf historische Prozesse und kritisierte eine Anthropologie, welche die von ihr untersuchten Gesellschaften als statisch und isoliert präsentierte.

"Unsere Menschenwelt stellt sich als eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar, und Untersuchungen, die diese Totalität zerstückeln, ohne sie wieder zusammenzusetzen, verfälschen die Realität." (Wolf 1991: 17)

Eric Wolf leistete wesentliche Beiträge zu vielen Forschungsfeldern der Kultur- und Sozialanthropologie.

  • Im Rahmen der allgemeinen Theorienbildung dieses Faches bildet sein Werk eine wichtige Grundlage für eine Reihe von theoretischen Ansätzen in Bezug auf transkulturelle bzw. transnationale Beziehungen und Globalisierung (Wolf 1982).
  • In Bezug auf Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas [1] entwickelte er Modelle zur Analyse der Verflechtungen[2] ökonomischer, sozialer und historischer Faktoren, welche die komplexe Gesellschaft Lateinamerikas prägen. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht immer wieder die Frage nach den historischen Prozessen sowie nach den Machtverhältnissen und ihren Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Personen und Gruppen.

Für die ökonomische Anthropologe leistet er u.a. wesentliche Beiträge zur Analyse von

  • Wirtschaft und Gesellschaft von Bauern
  • dem Konzept der Produktionsweisen[3]
  • kulturellen, ökonomischen und politischen Verflechtungen in der Neuzeit

Eric Wolf im WWW:

https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html [4]

https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm [5]

https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf [6]

https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm [7]

Verweise:

[1] Siehe Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas: Eine Einführung[2 Siehe Kapitel %%chapter-id%% der Lernunterlage Lernunterlagen-title]
[2] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[3] Siehe Kapitel 2.1.2.3.3
[4] https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html
[5] https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm
[6] https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf
[7] https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm


5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie


Allegorie Europas, die von den anderen Erdteilen gehuldigt wird. B.Picart 1719. Quelle: Kohl 1982.

Das bekannteste und einflussreichste Werk von Eric Wolf bildet sein Buch: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400 (1986). Er versteht es als einen Beitrag zu einer analytischen Geschichtsbetrachtung, welche "die Wurzeln der Gegenwart in der Vergangenheit" aufdecken will.

Eine solche Untersuchung kann sich nicht auf eine Kultur, Gesellschaft oder Region beschränken, sondern muss die Vielfalt der Verflechtungen berücksichtigen, durch welche sich die verschiedenen Kulturen wechselseitig beeinflussen. Diese kulturellen Verbindungen werden im Lichte einer historisch orientierten Politischen Ökonomie neu durchdacht.

Dabei überschreitet Wolf die gängigen Darstellungsweisen der Geschichte der westlichen Welt. Er geht davon aus, dass weltweite historische und ökonomische Prozesse die verschiedenen Völker miteinander verknüpfen. Unterschiedlichste Gesellschaften waren an Veränderungsprozessen beteiligt, welche durch die Expansion der Europäer in der Neuzeit in Gang gekommen waren, und haben zu diesen Prozessen einen eigenen Beitrag geleistet. Wolf zeigt die Vielfalt solcher Prozesse in diversen Regionen und Kulturen auf und analysiert sie mit Konzepten der Politischen Ökonomie.

Das Studium von Kultur und Geschichte ist demnach aufs Engste mit dem Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden. Durch die Betrachtung der Welt "als ganze, als Totalität, als System", will das Buch dazu beitragen Grenzen zwischen westlicher und nicht-westlicher Geschichte aufzuheben. Dieser Ansatz erfordert einen interdisziplinären Zugang: So integriert das Werk Konzepte und Kenntnisse der Kultur- und Sozialanthropologie, der Geschichte und der Politischen Ökonomie (vgl. Wolf 1991: 9-11).


5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion


Theogrundlagen-245 1.jpg

Die Grundlagen der Politischen Ökonomie[1] bilden in Eric Wolf's"Die Völker ohne Geschichte"' den analytischen Rahmen für die Untersuchung historischer, kultureller und ökonomischer Verflechtungen.

Die Basis bildet die These von Karl Marx, dass keine Trennung zwischen sozialen und ökonomischen Prozessen besteht. Wie Marx vertritt Eric Wolf einen ganzheitlichen Ansatz der Wissenschaft vom Menschen: Ökonomische Prozesse sowie die Beziehung zwischen Mensch und Natur sind als Teil eines gesellschaftlichen Gefüges zu betrachten. Besonderen Stellenwert nimmt dabei das Konzept der Produktionsweisen und der sozio-ökonomischen Formationen ein. (èLink- Gerti)

Auf dieser theoretischen Basis untersucht Wolf die ökonomische und politische Bedingtheit der Verflechtungen von Kulturen, wobei er von der bestimmenden Natur der ökonomischen und politischen Prozesse ausgeht. Die weltweiten Vernetzungen betreffen vor allem verschiedene Produktionsweisen, die miteinander in Interaktion bzw. in Konflikt treten.

Diese Betrachtungsweise impliziert einen Kulturbegriff, der sich vom Konzept einer eigenständigen und integralen Kultur - das aus den politischen Bestrebungen des Nationalismus des 19.Jahrhunderts erwachsen ist - unterscheidet.

Wenn wir demgegenüber die Realität von Gesellschaft in historisch wandelbaren, nicht endgültig abgegrenzten, vielfältigen und aufgefächerten gesellschaftlichen Formationen verorten, wird damit allerdings die Vorstellung einer ein für allemal feststehenden innerlich geschlossenen und deutlich nach außen abgegrenzten Kultur abgelöst durch ein Gespür für die Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde." (Wolf 1991: 534)

Verweise:

[1] Siehe Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie - Eine Einführung

5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"


Romuald Hazoumé, "Dogon", 1996, Foto Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.

Menschen bzw. Gesellschaften sind "... unauflösbar sowohl mit nahen als auch weit entfernten anderen Gesamtheiten in eine Art Netz oder Geflecht von Zusammenhängen eingebunden..." (Lesser 1961: 42 in Wolf 1991: 531), Kulturen und Ökonomien werden durch diese Netzwerke geformt.

Den zeitlichen Ausgangspunkt für die Analyse dieser Verflechtungen bildet bei Eric Wolf das Jahr 1400, als die Welt bereits eine Fülle regionaler Verknüpfungen und Zusammenhänge aufweist:

Aber erst das Ausgreifen der Europäer über die Ozeane hinweg hat diese regional geknüpften Verbindungsnetzwerke zu einer globalen Partitur vereint und sie einem weltumspannenden Rhythmus unterworfen. Von diesen Kräften wurden Menschen von ganz unterschiedlicher Herkunft und aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen in gleichartige Tätigkeiten hineingezogen und dazu gedrängt, sich am Aufbau einer einzigen gemeinsamen Welt zu beteiligen. [...] Die Gesellschaften und Kulturen all dieser Menschen machten während dieses Prozesses entscheidende Veränderungen durch." (Wolf 1991: 531-532)

Eric Wolf (1986) untersucht diese Prozesse an Hand von vielfältigen Beispielen. Er analysiert u.a.:

  • Die politischen und ökonomischen Bedingungen und Ziele der europäischen Expansion in der Neuzeit und erarbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf einzelne Staaten oder Verbände (Spanien, Portugal, England, Frankreich, Niederlande).
  • Die "Jagd nach den Reichtümern der Welt": Hier verortet Wolf die diversen Unternehmungen in verschiedenen Regionen in einem immer stärker weltumspannenden Gefüge von Produktion, Zirkulation und Macht. Die Kolonisation Lateinamerikas durch die Iberer, der Pelzhandel in Nordamerika, der Sklavenhandel sowie Handel- und Eroberungspolitik in Asien zeigen verschiedene Facetten dieser Prozesse und ihrer Auswirkungen auf die Menschen.
  • Die industrielle Revolution und der aufstrebende Kapitalismus prägen im 19.Jahrhundert die sozioökonomischen Bedingungen der diversen Verflechtungen. Diese wirken sich auf die verschiedenen Abschnitte des ökonomischen Prozesses (Produktion, Zirkulation, Konsumtion) aus. Sie bedingen z.B. die Entstehung neuer Warenströme sowie der neuer Arbeiter, Arbeitsmärkte und des Handels mit Arbeitskräften (z.B. chinesische Arbeitskräfte in Amerika) und binden immer wieder andere regionale Kulturen und Ökonomien in das weltumspannende Netzwerk ein.

Auf den folgenden Seiten werden aus der Fülle der Analysen von Eric Wolf einige Fallbeispiele ausgewählt und kurz skizziert.


5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda


Bergbau im kolonialen Südamerika. Stich von de Bry 1601. Quelle: Kohl 1982.

Die Conquista, die Eroberung und Kolonisation der indianischen Gesellschaften in Mittel- und Südamerika durch Spanien und Portugal etablierte das erste große Kolonialsystem der Neuzeit (èlink). Die koloniale Ökonomie und (Kultur-) Politik stellt eine Arena für Verflechtungen auf verschiedenen Ebenen dar, die stark von den Herrschaftsverhältnissen in dem System geprägt werden. Ein wesentliches Element in diesem Gefüge war der Handel:

Spanien bezog aus der Neuen Welt Silber, Gold, Kakao, Koschenille und Indigo, in umgekehrter Richtung lieferte es teure Manufaktur- und Luxusprodukte. Ein großer, wenn nicht der größte Teil dieser Produkte stammte nicht aus Spanien selber, sondern vor allem aus Nordwesteuropa." (Wolf 1991: 204)

Die Ökonomie der spanischen Kronländer beruhte zu einem guten Teil auf der Gewinnung von Edelmetallen. Zwischen 1503 und 1660 trafen in Sevilla knapp 3,5 Millionen Kilo amerikanischen Silbers ein, wodurch sich die europäischen Silbervorräte verdreifachten. Die "Silberökonomie" (besonders ausgeprägt in Mexiko, Peru und Bolivien) band durch transkontinentalen Handel mit Europa und Asien lokale (indianische) Gemeinschaften in ein großräumiges ökonomisches Gefüge ein.

Wolf spricht in diesem Zusammenhang von "erzwungenem Handel" (erzwungen durch die einseitige Nachfrage auf europäischer Seite), der zwei unterschiedliche kommerzielle Kreisläufe umfasste: einen transatlantischen und einen inneramerikanischen. Die Preispolitik und die Kontrolle der Handelsaktionen lag in der Hand der spanischen Krone, und war geprägt durch steigende Preise für europäische Manufakturwaren - dementsprechend sank der Tauschwert von Silber und anderen amerikanischen Waren (Wolf 1991: 205).

Die sozioökonomische Organisation des kolonialen Lateinamerikas beruhte auf feudalen Strukturen, die eng mit der (land)wirtschaftlichen Produktion verbunden sind. Besonders deutlich kommt dies in der Institution der 'encomienda' und später der hacienda (èlink) zum Ausdruck, welche der Herrschaft über die lokale Bevölkerung und der Aneignung und Kontrolle ihrer Arbeitskraft diente. Eine 'encomienda' war ein zeitlich begrenzter treuhänderischer Besitztitel, der von der Krone an bestimmte Personen vergeben wurde. Ihr Inhaber konnte Tribute und Arbeitsleistungen der Indianer (landwirtschaftliche und handwerkliche Produkte, Arbeitsdienste in den Minen etc.) für die Krone und bis zu einer gewissen Grenze für die eigenen Zwecke in Anspruch zu nehmen.

In der späteren Kolonialzeit gingen die Ländereien in das Privateigentum der Besitzer über ('hacienda'), die Leibeigenschaft der indianischen Bewohner blieb jedoch in vielen Regionen (z.B. Ecuador, Peru) erhalten. Das Hacienda'-System' war in einigen Andenländern bis ca. 1960 in Kraft und prägt bis heute das sozioökonomische Gefüge vieler Regionen Lateinamerikas (vgl. Wolf 1991: 192-216).

5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen


Zuckerverarbeitung in Brasiien. Gemälde von M.Rugendas 1835, Quelle Kohl 1982.

In Brasilien war die frühe koloniale Ökonomie durch weitreichende Handels- und Tauschbeziehungen geprägt (z.B. im Rahmen des Handels mit Brasil-Holz und Gewürzen), welche im Rahmen einer Kolonisationsgrenze ('colonial frontier') verschiedene indianische und europäische Gruppen und Akteure (Portugiesen, Franzosen, Deutsche) in einem komplexen Geflecht von Handelsplätzen[1], Handelsketten, Allianzen, und Feindschaften [2] vernetzt.

Kulturelle und ökonomische Verflechtungen ergaben sich auch im Zuge der Aneignung und Verbreitung von Nahrungspflanzen. Pflanzen indianischer Züchtung wurden in anderen Teilen der Welt verbreitet und beeinflussten deren (Eß-) Kulturen und Ökonomien nachhaltig - u.a. Kartoffel, Mais [3], Tomate, Kakao, Tabak, Maniok und Kürbis. Zu Nahrungspflanzen aus Asien, die über Europa nach Lateinamerika gelangten, zählen u.a. Zuckerrohr[4], Kaffee, Reis und Bananen. Sie prägten maßgeblich Subsistenz und Ernährungsgewohnheiten (link Maria?) lokaler Gemeinschaften sowie nationale und globale ökonomische Prozesse.

Eric Wolf behandelt vor allem die Entwicklung der Zuckerökonomie in Brasilien und der Karibik (1986: 217-227). Im Nord-Osten Brasiliens wurden im 16. Jahrhundert die ersten Zuckerrohrplantagen angelegt:

...wurde damit eine Agrikultur in die Neue Welt verpflanzt, die schon lange im östlichen Mittelmeer zuhause war, wo die Araber sie gegen Ende des ersten Jahrtausends n.Chr. eingeführt hatten. In den Jahrhunderten vor der Eroberung der Neuen Welt hatte sich der Zuckeranbau über die Mittelmeerinseln langsam nach Westen vorgeschoben." (Wolf 1991: 217)

Die Zuckerproduktion wurde von mehreren Staaten und ihren Handelsagenturen dominiert. In Brasilien bestimmten die Portugiesen die Produktion, während Flamen und Holländer die Verbreitung des Produkts und die Finanzierung des Transports bewerkstelligten. So wurden Antwerpen und Amsterdam zu den wichtigsten Zentren der Zuckerraffinerien, wie auch zu Finanzzentren des portugiesischen Zuckerhandels (Wolf 1991: 218).

In Brasilien involvierte die Zuckerökonomie verschiedene Bevölkerungsgruppen: Der ständige wachsende Bedarf an billigen Arbeitskräften führte zur Versklavung der lokalen indianischen Gemeinschaften. Die Sklavenjagden im Amazonasgebiet und im heutigen Paraguay wurden teilweise von den Jesuiten [5] militärisch gebremst, die den Indianern Schutz gewährten. Sie siedelten einen Teil der indianischen Gemeinschaften in reduccionen' [6]' an und unterzogen sie einer intensiven Missionierung und Europäisierung.

Die relativ kleine indianische Bevölkerung konnte jedoch den Bedarf an Sklaven keineswegs decken. So sind Zuckerproduktion und andere Formen der Plantagenwirtschaft aufs Engste mit dem transatlantischen Sklavenhandel[7] verbunden, der das kulturelle und soziale Gefüge in Brasilien[8], der Karibik und den USA maßgeblich prägte.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.3.1.5
[2] Siehe Kapitel 1.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[3] Siehe die Lernunterlage Mais - Ernährung und Kolonialismus in Lateinamerika
[4] Siehe Kapitel 5.3.2.1
[5] Siehe Kapitel 1.6 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[6] Siehe Kapitel 1.5.1 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[7] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3
[8] Siehe die Lernunterlage Brasilien 1889 - 1985: Von der Ersten Republik bis zum Ende der Militärdiktatur

5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt


Sklaven auf dem Weg in die Neue Welt. Quelle: Assogba (1990: 29).

Eric Wolf ordnet den Sklavenhandel im Zuge der aggressiven Expansion Europas als wesentlichen Bestandteil in der Konstituierung des internationalen Handelsnetzes und des Aufstiegs Europas zur Weltmacht ein.

Wenn auch Sklaverei und Sklavenhandel keine historischen Neuerscheinungen waren (Wolf 1991: 286; weiters z.B. Patterson 1982) und sich zum Beispiel über den Mittelmeerraum als Drehscheibe seit langem ein etabliertes Sklavenhandelsnetz zwischen Europa und der islamischen Welt erstreckte, so entfaltete sich mit der Kolonialisierung der Amerikas eine völlig neue Dynamik. Mit dem 15.Jahrhundert stieg der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft in den Amerikas rapide an und diese wurde vorwiegend aus Afrika importiert: "Schwarzes Elfenbein" -- versklavte Menschen, wurden damit zur wichtigsten Exportware Afrikas.

Die Portugiesen initiierten den transatlantischen Sklavenhandel im Zuge ihrer Erkundungsfahrten und Kolonialisierungen entlang der afrikanischen Küsten, sie erhielten bald Konkurrenz durch die Holländer, dann folgten Engländer und Franzosen als internationale Hauptlieferanten und Konsumenten. Alle afrikanischen Küstenregionen und auch die meisten Binnengesellschaften wurden vom Handel erfasst -- so erhielten zum Beispiel in Westafrika zahlreiche Staaten durch den Sklavenhandel ihren Gründungsimpuls, wie Ashanti, Oyo oder Dahomey, während im Kongo-Gebiet bereits bestehende Staaten geschwächt oder zerstört wurden.

Ursprünglich suchten die europäischen Händler primär nach Edelmetallen und --hölzern, Gewürzen, Kautschuk und Tabak und erst in zweiter Linie Sklaven. Da aber die Profitspannen im Vergleich zu den anderen Handelsgütern um das Vier- bis mitunter Zwanzigfache höher waren, wurden Sklaven bald die Hauptware, was direkte und indirekte ökonomische Auswirkungen auf alle beteiligen Länder und ihre Innen- und Außenmärkte hattte. Warum gerade Afrika zum Hauptlieferanten der Ware Mensch für die Europäer wurde, erläutert Wolf an zahlreichen historischen Beispielen und jeweils bestehenden sozio-politischen und -ökonomischen Verflechtungen wie Verwandtschaftsstrukturen, Kriegstechnologien und Produktionsformen in Europa, Afrika und den Amerikas wie auch dem pazifischen Raum.

Der transatlantische Sklavenhandel durchlief mehrere Phasen:

Im 15. und 16. Jahrhundert wurden die Sklaven in der Neuen Welt hauptsächlich für den Minenabbau von Silber, Gold und anderen Metallen eingesetzt, ab dem 17. Jahrhundert dominierte der Zuckerrohranbau auf den karibischen Inseln und der Tabakanbau in Nordamerika und damit wurde Plantagensklaverei die zentrale Produktionsweise der Neuen Welt. Das 18. Jahrhundert bezeichnet Wolf als "Goldenes Zeitalter der Sklaverei", mit Jamaica und Haiti als ökonomischen Zentren. Obwohl die Sklaverei um die Jahrhundertwende von den meisten am transatlantischen Handel beteiligten Mächten offiziell abgeschafft wurde, gelangten laut Wolf bis 1870 noch über 2 Mill. afrikanische Sklaven auf den Markt, wobei 80% davon in die Neue Welt importiert wurden, ein großer Teil davon nach Kuba als zentraler Zuckerproduzent des 19. Jahrhundert.

Wolf beschäftigt sich mit dem historischen Verlauf der Involvierung der europäischen und afrikanischen Mächte und Regionen, wobei sein Hauptinteresse auf den politisch-ökonomischen Motivationen und Auswirkungen des Handels liegt. Als einer der ersten im Bereich der Sozialanthropologie thematisiert Wolf die so entstehende internationale Arbeitsteilung wie die lokal-regionalen Auswirkungen auf alle Beteiligten:

Die Aufgabe, die Sklaven zu ergreifen, zu versorgen und innerhalb Afrikas zu transportieren, lag in afrikanischen Händen; die Europäer hingegen sorgten anschließend dafür, daß sie nach Übersee verfrachtet, dort akklimatisiert bzw. 'gebrochen' und abschließend an die Sklavenhalter verkauft wurden. Um die amerikanische Nachfrage befriedigen zu können, war der Sklavehandel darauf angewiesen, daß Menschenaufkäufer und Menschenlieferanten aktiv zusammenarbeiteten und daß diese Aktivitäten von beiden Seiten subtil aufeinander abgestimmt waren". (Wolf 1991: 322f)

In Auseinandersetzung mit den Thesen von Eric Williams zu frühem Kapitalismus und Industrialisierung Europas (Williams 1996), in denen er erläutert, dass England aufgrund seiner Dominanz im transatlantischen Handel die führende Position in der ökonomisch-technologischen Entwicklung einnahm, sieht Wolf den Sklavenhandel nicht als einziges Element, wohl aber als den "maßgeblichen dynamischen Faktor" der wirtschaftlichen Transformationen und des Aufstiegs Europas an.

Der transatlantische Sklavenhandel hatte auf alle Beteiligten, ob Profiteure, Agenten, Organisatoren oder Opfer, tief greifende und bis in die Gegenwart anhaltende Auswirkungen von globaler Dimension.


5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff


Aufriss des Sklavenschiffs "La Vigilante", Fassungsvermögen 227 Männer und 120 Frauen, ca 1822. Quelle: Assogba (1990: 31).

5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation


Bouche du roi. Installation von Romuald Hazoumé (2005), Houston, Texas: The Menil Collection.Quelle: Zinsou (2005: 83).

5.3.1.1.2.4 Warenströme


Romuald Hazoumé, "Porta via" (Installation), 2002, Foto Philippe Roudy. Quelle: Zinsou 2005.

Im 19. Jahrhundert erhöhte sich in Europa die Nachfrage nach Rohstoffen und Nahrungsmitteln und ließ einen stark erweiterten Markt von weltweiten Dimensionen entstehen.

Ganze Regionen spezialisierten sich auf die Produktion einiger weniger Rohstoffe oder landwirtschaftlich erzeugter Nahrungs- und Genussmittel. Ein solche regionale Spezialisierung hatte sich zum Teil schon unter der Ägide des Handels entwickelt - ein Beispiel ist die Zuckerproduktion in der karibischen Region. In anderen Fällen - das gilt z.B. für die Baumwollanbauregionen der Vereinigten Staaten, Ägyptens und Indiens - war die Spezialisierung die Antwort auf die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung." (Wolf 1991: 432)

Diese Entwicklungen intensivierten den Warentausch zwischen unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Gefügen bzw. Produktionsweisen. Wolf bezeichnet diesen Markt als "eine Arena, in der sich die widerstreitenden Produktionsweisen - auf der Ebene des Austausches ihrer verschiedenartigen Waren - aufeinander beziehen und miteinander in Konkurrenz treten konnten." Seine Analyse geht davon aus, dass jede Ware einen Bruchteil der gesellschaftlichen Arbeit verkörpert, die zur Umwandlung der Natur zum Nutzen des Menschen verausgabt wird, wobei diese gesellschaftliche Arbeit gemäß den herrschenden Bedingungen einer bestimmten Produktionsweise aufgeboten wird. "Im Rahmen dieser Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft hat der Kapitalismus die anderen Produktionsweisen nicht immer liquidiert, aber - häufig auf direktem Wege, ebenso häufig aber auch über Fernwirkungen - das Leben anderer Völker beeinflußt und umgekrempelt" (Wolf 1991: 433).

Warenströme prägen bis heute maßgeblich die ökonomischen und kulturellen Prozesse und werden meist in Zusammenhang mit Fragestellungen der Globalisierung (link maria) und/oder des transkulturellen Konsums untersucht (link maria). Da Waren bzw. Dinge nicht nur über Gebrauchs- und Tauschwert sondern auch über Bedeutung verfügen, fließen Warenströme und Kulturströme ('cultural flows') oft mit- und ineinander (vgl. z.B. Appadurai 2001, Spittler 2002).

5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika


Routen für den Nordamerikanischen Pelzhandel. Quelle: Wolf (1997), Karte: 162.
Über drei Jahrhunderte lang blühte und expandierte der Pelzhandel in Nordamerika und zog ständig neue Gruppen der Ureinwohner in die immer weiter aufgreifende Kreisläufe des Warentausches, der sich zwischen den hereinströmenden Europäern und ihren eingeborenen Handelpartnern angebahnt hatte. (Wolf 1991: 274)

Native Americans (USA, Kanada) lieferten seit dem 17. Jahrhundert durch eine Intensivierung der Jagd vor allem Biberpelze für den europäischen Hutmarkt und erwarben dafür diverse Produkte aus landwirtschaftlicher und industrieller Produktion. Neben den Hackbau treibenden Gruppen der Ostküste waren vor allem Jäger und Sammler-Gemeinschaften in die Handelsnetzwerke involviert. Der Pelzhandel und die europäischen Händler wanderten im Laufe der nächsten Jahrhunderte von Neufundland bis an die kanadische Pazifikküste, da die Biber-Bestände nach und nach ausgerottet wurden (Wolf 1986: 232).

Kwakiutl Chief, Ethnologisches Museum, Berlin, Foto JohnsonQuelle: https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html [1]

An der kanadischen Pazifikküste bei den Kwakiutl, Tlingit, Haida und Tsimian bildeten im 18. und 19. Jahrhundert Seeotterfelle eine wichtige Handelsware, die gegen Metallgegenstände, Stoffe, Decken, Rum, Tabak und Gewehre eingetauscht wurde. Der Handel hatte - neben den ökologischen Auswirkungen (Dezimierung der Seeotter) - eine Reihe von ökonomischen und sozialen Implikationen. Er stärkte die Position einiger Häuptlinge, die als lokale Händler fungierten und dadurch Macht über die neuen Güter besaßen. Diese Personen nutzten ihre führende Rolle im Pelzhandel u.a. "zur Aufstockung ihres potlatch - Vermögens (link Jäger und Sammler), zum Ausbau ihrer Verwandtschaftsbeziehungen durch gezielte Heiratspolitik, zur Ausweitung ihres Handelsnetzwerkes und zur Stärkung ihrer gesellschaftlichen Vorrechte" (Wolf 1991: 269).

Die wachsende Konservenindustrie (Lachs) in der Region beschäftigte im 19. Jahrhundert Männer der Kwakiutl als Fischer und Frauen als Arbeiterinnen. In dieser Zeit ging die Bevölkerungszahl in katastrophalem Ausmaß zurück, was größtenteils durch europäische Krankheiten wie Syphilis und Pocken verursacht war. Der folgende Goldrausch führte zur intensiven Kolonisierung der Region und zur Aneignung von Land und Ressourcen der lokalen Jäger- und Sammler - Gemeinschaften durch die USA und Kanada (Wolf 1991: 273-274). Die Auseinandersetzungen um Rechte auf Land, Ressourcen und politische Autonomie halten bis heute an.

Kwakiutl im WWW:

https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm [2]

https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm [3]

https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk [4]

https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html [5]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html
[2] https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm
[3] https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm
[4] https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk
[5] https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html

5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee


Warenströme kennzeichnen Handel und Eroberungspolitik in Asien im 18. und 19. Jahrhundert. Seit dem Beginn der europäischen Expansion in diesem Raum besteht ein Naheverhältnis von Handel (z.B. Gewürzhandel) und der Ausdehnung des Machtgefüges verschiedener europäischer Staaten (Portugal, Niederlande, England). So galt den Portugiesen der Pfeffer - der in Europa vor allem als Konservierungsmittel für Fleisch und Fisch gefragt war - als die "Substanz Ostindiens". Die frühe Phase der Expansion wurde maßgeblich von Handelshäusern - wie der 'East India Company' - bestimmt.

In verschiedenen Etappen der Kolonisation großer Teile Süd- und Südostasiens gewannen immer wieder andere Produkte und Warenströme besondere Bedeutung. So bestand im 18. und 19. Jahrhundert ein komplizierter Dreieckshandel zwischen Indien, England und China, dessen Triebfeder die rasant anwachsende Nachfrage nach Tee in Europa war: Im Jahre 1644 wurden das erste Kilo Tee von Holländern nach Europa importiert, 1783 verkauft allein die East India Company über 2,5 Millionen Kilo, zwei Jahre später fast 7 Millionen. Zusätzlich wurde etwa noch dieselbe Menge von privaten Händlern, die um die Teesteuer herumkommen wollten, nach England geschmuggelt (Wolf 1991: 357).

Die Teemengen, die in erster Linie aus China kamen, mussten in Silber bezahlt werden. Der Dreieckshandel, der dieses Unterfangen teilweise finanzierte, bestand aus

  • Baumwolllieferungen von Indien nach China, die in Silber an regionale Händler bezahlt wurden,
  • die Händler kauften mit diesem Silber Kreditbriefe der East India Company,
  • die East India Company kaufte mit dem Silber Tee in China.

Der Dreieckshandel konnte jedoch den Tee-Import nicht ausreichend finanzieren, und immer größere Mengen des amerikanischen Silbers[1] mussten in den Handel investiert werden. Es kam zu einem Abfluss an Edelmetallen - eine Dynamik, die seit dem römischen Reich immer wieder den europäischen Handel mit Indien und China gekennzeichnet hat.

Um diesen Kreislauf zu ihrem Vorteil zu unterbrechen, begann die schwer verschuldete 'East India Company' mit dem massiven Verkauf von indischem Opium in China, ein illegales doch äußerst profitables Geschäft. Der Bedarf an Opium stieg mit der raschen Verbreitung des Suchtmittels und nach einigen Jahrzehnten setzten bengalische, englische und amerikanische Händler Mengen von Opium um, die viermal so viel Wert waren als das gesamte Warenvolumen des China-Handels (Tee und andere Waren).

Der chinesische Staat versuchte immer wieder mit verschiedenen Maßnahmen den Handel mit, und den Konsum von Opium zu stoppen. Durch die Niederlage gegen England im Opiumkrieg (1839-1842) wurde China jedoch gezwungen, den unbegrenzten Import von Opium zuzulassen (Wolf 1991: 357-360, 475-480).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.1
[2] https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html
[3] https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/

5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet


Die Warenströme im 19. Jahrhundert beinhalteten auch pflanzliche Produkte für gewerbliche Zwecke. Dazu zählte der Kautschuk, der als industrieller Grundstoff nach der Erfindung der Vulkanisierungstechnik (1839) zuerst zur Herstellung von Regenmänteln, Schuhen, Fahrradreifen, Präservativen und anderen Bedarfsartikeln diente. Später wurde Kautschuk im Bereich des Eisenbahn- und Maschinenbaus, als Isoliermaterial in den neuen Brachen der Elektroindustrie und schließlich in der Automobilindustrie verwendet (Wolf 1991: 453).

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Kautschuk

(das Harz des Baums 'Hevea Brasliliensis') wurde während des größten Teils des 19. Jahrhunderts von wild wachsenden Bäumen in den tropischen Regenwäldern des Amazonasgebiets gezapft. Der Kautschukboom - die intensive Ausbeutung dieser natürlichen Ressource - begann in der Mitte des 19.Jahrhunderts, erreichte seinen Höhepunkt zwischen 1880 und 1910 und kam um 1920, nach der Ausbreitung der Kautschukplantagen in Malaysia und Indonesien zum Erliegen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Kautschuk als Rohmaterial zum Großteil durch Kunststoffe abgelöst.

  • Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.
  • Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.

Kautschuk wurde im Amazonasgebiet von Indianern und Siedlern gesammelt, in lokalen Manufakturen aufbereitet (eingedickt), von Großhändlern ("Kautschukbaronen") aufgekauft und nach Europa transportiert. Alle Akteure waren miteinander in einem ausgedehnten Produktions- und Zirkulationsnetz verbunden: Großhändler bzw. Handelshäuser statteten regionale Händler mit einem Vorschuss (Geld, Handelswaren) aus, der durch die entsprechenden Mengen an Kautschuk abgegolten werden musste. Das Prinzip setzte sich (mit immer schlechter werdenden Konditionen) bis zu den Kautschuksammlern fort und etablierte ein brutales System von Schuldknechtschaft und Zwangsarbeit.

Der Kautschukboom hatte weitreichende Folgen für die Bevölkerung des Amazonasgebiets, er wird von Santos-Granero (1996) als zweite Welle der Kolonisation bezeichnet (nach Conquista und Missionsherrschaft im 17. und 18 Jahrhundert). Die Auswirkungen auf indianische Gemeinschaften umfassen eine große Bandbreite von Phänomenen:

  • Genozid (etwa in der Region des Rio Putumayo in Kolumbien)
  • Zwangsumsiedlungen (z.B. Quechua in Ecuador und Peru)
  • Hungersnöte (durch die erzwungene Vernachlässigung der Subsistenztätigkeiten)
  • massiver Bevölkerungsrückgang durch eingeschleppte Krankheiten
  • großräumige Migrationsbewegungen
  • interethnische Konflikte
  • Aneignung von neuen Gütern
  • kulturelle Hybridisierung
  • Genese neuer kultureller und sozialer Gefüge
  • verschiedene Transformationen der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung einzelner Gruppen

5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)


Marilda Castanha. Die Schöpfung der Welt in der Mythologie der MundurukuQuelle: https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html [1]

Aufbauend auf den Studien von Robert Murphy (1960) erörtert Wolf Veränderungsprozesse der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung am Beispiel der Mundurucú in Brasilien. Die Kautschukgewinnung beeinflusste dort Siedlungsstruktur, Mobilität (link) und Subsistenz: Die traditionelle Subsistenz der Mundurucú ist eine Form der "tropical forest horticulture" (link) und umfasste Pflanzungen (primär Maniok), Sammeln, Jagd und Fischfang. Während sich die Wohnorte der Mundurucú - Gemeinschaften vorher stark an dem saisonalen Vorhandensein verschiedener natürlicher Ressourcen für ihre Subsistenz richteten, war später die Nähe von Kautschukbäumen ausschlaggebend für die Siedlungsstruktur. Einzelne Mundurucú - Gemeinschaften gründeten an den Flussufern Dauersiedlungen, in deren Umgebung sie bestimmte Waldgebiete exklusiv beanspruchten. Der Kautschuk wurde gegen Metallwerkzeuge, Kleidung und Nahrungsmittel eingetauscht.

Die Mundurucú - Gemeinschaften wurden zunehmend von den Artikeln abhängig, die ihnen die Händler als Vorschuss überließen. Die Dörfer lösten sich in zahlreiche kleine Haushalte auf, die jeder für sich über ein ganzes Netz von Austauschbeziehungen und wachsenden Schulden an den Handelposten gekettet waren. So wurde der Händler anstelle des Mundurucú-Häuptlings zum Drehpunkt der örtlichen Produktions- und Austauschbeziehungen (Wolf 1991: 453-456).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html

5.3.2 Sidney Mintz

Sidney Mintz (*1922)

Relevante Werke:

1960: Worker in the Cane

1985: Sweetness and Power

Sidney Mintz studierte gleichzeitig mit Eric Wolf an der Columbia University und gehörte wie dieser zum engeren Schülerkreis von Julian Steward. Ab den späten 1940er Jahren beschäftigte er sich mit der Zuckerproduktion in der Karibik, arbeite die inneren Widersprüche der Plantagensklaverei und deren ökonomische Verflechtung mit der Arbeiterklasse in englischen Fabriken auf (vgl. Durrenberger 2005: 131; Robotham 2005: 46).

Mit Eric Wolf teilt er auch sein intensives Interesse für historische Prozesse und Verbindungen. Auf theoretischer Ebene versucht er kulturanthropologische Ansätze mit historisch- materialistischen Konzepten zu verbinden. Regional liegt sein Fokus auf der Karibik und thematisch konzentriert er sich nach Sweetness and Power (1985) zunehmend auf eine Anthropologie der Ernährung.

Sidney Mintz im WWW:

https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/ [2]

Verweise:

[1] http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg
[2] https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/


5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers


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"Wenn man anfängt, danach zu fragen, wohin die tropischen Produkte gehen, wer sie nutzt und wozu und wieviel ihre Abnehmer für sie zu zahlen gewillt sind - worauf sie verzichten und welchem Preis sie zustimmen, um in ihren Besitz zu gelangen - , dann stellt man Fragen nach dem Markt. Damit aber fragt man auch nach der mutterländischen Metropole, dem Zentrum von Macht, und nicht nach der abhängigen Kolonie, dem Objekt, an dem und über das Macht ausgeübt wird. Und wenn man versucht, Konsumtion und Produktion, Kolonie und Metropole zusammenzubringen, dann geschieht es leicht, daß man die eine oder die andere - den »Mittelpunkt« oder den »Außenrand« nicht mehr so richtig scharf sieht. Wenn man auf Europa schaut, um Genaueres über die Kolonien als Produzenten und Europa als Konsumenten - oder auch umgekehrt - zu erfahren, dann heißt das nicht, daß man sich damit auch schon über die andere Seite der Beziehung ausreichend Klarheit verschaffen könnte. Wiewohl die Beziehungen zwischen Kolonien und Metropole in ihrem unmittelbaren Sinne klar und augenfällig sind, sind sie daneben auch verwirrend und voller Mysterien." (Mintz 1987: 13)

"Die süße Macht" (Mintz 1987) analysiert diese Prozesse am Beispiel des Zuckers. Das Buch beschäftigt sich mit verschiedenen Elementen bzw. Stadien im Zuge der "Biographie" (Kopytoff 1986) dieses tropischen Produkts. Dazu zählen:

  • Anthropologie der Ernährung
  • Bedeutung der Süße
  • Produktion von Zucker für das britische Königreich
  • Plantagenwirtschaft und Sklaverei in der Karibik
  • Geschichte des Konsums von Zucker im Abendland
  • Bedeutung von Zucker für die moderne Gesellschaft - Umstände, Zusammenhänge, Ursachen


5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker


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Der anthropologische Blick auf Essen und Ernährung als Teilstück einer Anthropologie des modernen Lebens fokussiert sich im ersten Abschnitt des Buches von Mintz (1987) das Süße: Süße ist ein Geschmack und eine Qualität, die von allen Menschen empfunden wird, jedoch in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gefügen spezifische Bedeutungen erfährt. Das Ausmaß und die Bedeutungen des Konsums von Süßem sind in ein breites Spektrum von historischen, sozialen und ökonomischen Prozessen eingebunden.

Mintz analysiert die Bedeutung der Süße im Rahmen der Geschichte der Nahrung in Europa.

Wenngleich Fürchte und Honig für die Engländer vor 1650 die Hauptquelle für Süße darstellten, scheinen sie in der englischen Kost keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Zucker, gewonnen aus dem Saft des Zuckerrohrs, erreichte England in kleinen Mengen etwa ums Jahr 1100; während der folgenden 500 Jahre stieg die Menge des verfügbaren Rohrzuckers ohne Zweifel an, aber nur langsam und keineswegs stetig. (Mintz 1987:26)

Ab dem 16. Jahrhundert kommt es zu einer erheblichen Steigerung des Konsums von Süßen, und zwar in erster Linie von Zucker, ein Prozess, der im 19.Jahrhundert extrem akzeleriert und im 20.Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht. Heute stellt Zucker einen unentbehrlichen Bestandteil der Ernährung in Europa (und anderswo) dar.

5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers


Zuckerwatte am Wiener Christkindlmarkt. Foto: Elke Mader

In Anbetracht der geringen Relevanz von Zucker bzw. Süßem für die europäischen Ernährungsgewohnheiten bis zum 19. Jahrhundert, wo Zucker zu einem festen Bestandteil der Ernährung wurde, analysiert Mintz (1987) die verschiedenen Gründe für diese Veränderungen. Eine zentrale Frage beschäftigt sich mit der Bedeutung des Zuckers.

Die »Bedeutung« läßt sich in diesem Fall nicht einfach »ablesen« oder »entziffern«, sie erwächst vielmehr aus dem kulturellen Gebrauch, den der Zucker von sich machen ließ, aus den Verwendungen, denen er zugeführt wurde. Kurz, die Bedeutung ist eine Konsequenz einer Aktivität. Das heißt nicht, Kultur sei nichts als eine Art von Verhalten (oder lasse sich alleine darauf reduzieren). Aber nicht danach zu fragen, wie die Bedeutung in das Verhalten hineingelangt, das Produkt ohne Kenntnis seiner Produktion erfassen zu wollen, heißt die Geschichte - wieder einmal - auszublenden, sie zu ignorieren. [...] Es gilt den Prozess der Kodifizierung und nicht nur den Kode selbst zu entschlüsseln. (Mintz 1987: 41)

Mintz widmet sich demnach primär einer politischen Ökonomie der Bedeutungen des Zuckers, die eng mit der Untersuchung der sozio-ökonomischen Dynamik von Produktion, Zirkulation und Konsum verflochten ist.

5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei


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Zuckerrohr wurde erstmals (ca. 8000 v. Chr.) in Neuguinea als Kulturpflanze angebaut und verbreitete sich von dort in mehreren Wellen durch Asien, nach Europa und schließlich nach Amerika. Die frühesten schriftlichen Beweise für die Herstellung von Zucker stammen aus Indien (500 n. Chr.), wo er wahrscheinlich schon lange existierte. Byzantinische Quellen verweisen auf die Verwendung von Zucker in Persien, die arabische Expansion nach Westen im 8. Jahrhundert bringt schließlich den Zucker nach Europa (Spanien). Bald darauf handeln bereits die Venezianer mit Zucker, um 1000 n. Chr. ist Zucker in großen Teilen Europas bekannt. Im 12. Jahrhundert kontrollieren die Kreuzfahrer einen Teil der - von den Sarazenen aufgebauten - Zuckerproduktion im Königreich Jerusalem und intensivieren den Handel mit Europa (Mintz 1987: 47-53).

In seiner langen Geschichte war Zucker nie ein Grundnahrungsmittel gewesen, in Europa stellte er bis ins 18.Jahrhundert einen Luxusartikel dar, nach dem jedoch zunehmende Nachfrage bestand. Die drastischen Veränderungen in Hinblick auf die Bedeutung und den Konsum von Zucker in Europa vom 17. zum 19. Jahrhundert stehen in direktem Zusammenhang mit einer bestimmten Produktionsweise des Zuckers, nämlich mit Plantagenwirtschaft und Sklaverei. Es bildeten sich Handelsdreiecke[1] heraus, die im 17. Jahrhundert entstanden und im 18. Jahrhundert zur Blüte gelangten:

Das erste und berühmtere Dreieck verband Britannien mit Afrika und der Neuen Welt: Fertigwaren wurden an Afrika verkauft, afrikanische Sklaven an beide Amerikas und amerikanische tropische Produkte (insbesondere Zucker) an das englische Mutterland und seine auf Importe angewiesenen Nachbarn. (Mintz 1987: 71)

Eine wichtige Besonderheit dieser beiden Dreiecke bestand darin, daß menschliches Frachtgut in ihrem Funktionszusammenhang eine entscheidend wichtige Rolle spielte. Es war nicht nur so, daß Zucker, Rum und Melasse nicht direkt gegen europäische Fertigwaren ausgetauscht wurden; in beiden transatlantischen Dreiecken gab es eine »falsche Ware« - die aber für das System absolut unentbehrlich war - sie bestand in menschlichen Wesen, in Menschen. Sklaven waren deshalb eine »falsche Ware«, weil der Mensch kein Gegenstand ist, selbst wenn er als solcher behandelt wird. (Mintz 1987: 72)</blockquote> Die Geschichte der Produktion von Zucker in der Neuzeit ist also aufs Engste mit dem Kolonialismus und insbesondere mit dem transatlantischen Sklavenhandel verflochten. Die Steigerung des Absatzes bzw. des Konsums von Zucker steht wiederum in Zusammenhang mit den Transformationen der Ökonomie und der Arbeitswelt in Europa.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3

5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht


Der Zucker durchdrang das soziale Verhalten und wurde, indem er neuen Verwendungsarten zugeführt und mit neuen Bedeutungen versehen wurde, von einer Kuriosität und einem Luxusgut in einen alltäglichen, notwendigen Gebrauchsartikel transformiert. Das Verhältnis von Produktion und Konsumtion findet möglicherweise sogar eine Parallele in dem Verhältnis von Verwendung und Bedeutung." (Mintz 1987: 27)

Mintz betrachtet die Veränderungen von Verwendung und Bedeutung von Zucker im Kontext der sozio-ökonomischen Veränderungen in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Durch die umfangreiche Produktion in den Zuckerkolonien mit Sklaverei wurde Zucker billiger und war reichlicher vorhanden, dementsprechend nahm sein Potential als Machtsymbol ab. Zucker wandelte sich von einer prestigereichen Zierde am Tisch des Adels und der Oberschicht zum Kapital. Der symbolische Prestigeverlust von Zucker ging Hand in Hand mit einem erhöhten Potential des Produkts als Quelle von Profit.

Im 18. Jahrhundert wurde das Geschäft mit dem Zucker, ob es sich um die Produktion, den Transport, das Raffinieren oder die Besteuerung handelte, insofern zu einer viel effektiveren Machtquelle für die Herrschenden, als die Geldsummen, um die es ging, nun sehr viel größer waren." (Mintz 1987: 125)

Die gestiegene Verwendung von Zucker stand auch in Zusammenhang mit drei anderen exotischen Importgütern - Tee, Kaffee und Kakao. Sie stammen ebenfalls aus den Tropen und ihre Produktion, Zirkulation und Konsumption ist wiederum aufs engste mit dem Kolonialismus verbunden (z.B. der Teehandel[1] mit der britischen Expansion in Asien). Alle drei stimulierenden Getränke sind bitter und ihre rapide Verbreitung in Europa seit dem 18. Jahrhundert geht Hand in Hand mit der Verbreitung des Zuckers.

Im 19.Jahrhundert steht der Konsum von zuckerreicher Nahrung, die sich auf immer größere Teile der Bevölkerung erstreckte, auch in Zusammenhang mit den veränderten Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Menschen durch Industrialisierung und Urbanisierung. Zucker liefert schnelle Kalorien und stillt den Hunger: Süßspeisen wurden immer stärker zur Nahrung der Arbeiter und der Armen. Bis hin zur Imbissgesellschaft der Gegenwart geht diese Entwicklung weiter und Zucker nimmt (z.B. in Gestalt des "Power-Riegels") immer neue Formen und Bedeutungen an.

  • Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader
  • Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader

Für die Entwicklung des Kapitalismus war der Zucker (ebenso wie Tee und Kaffee) eine geradezu ideale Substanz:

Ein arbeitsreiches Leben sah mit seiner Hilfe weniger aufreibend aus; in der Erfrischungspause erleichterte er tatsächlich oder scheinbar den Übergang von Arbeit zur Erholung und umgekehrt; er sorgte schneller für Völle - oder Sattheitsgefühle als komplexe Kohlehydrate dies vermochten; er ließ sich leicht mit anderen Nahrungsmitteln verbinden, deren Bestandteil er bisweilen war ( wie z.B. bei Tee und Keksen, Kaffee und Brötchen, Kakao und Marmeladebrot). [...] Kein Wunder, daß die Reichen und Mächtigen ihn so liebten, und kein Wunder, daß auch die Armen ihn lieben lernten." (Mintz 1987: 220)

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.4.2


5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung

"'Die süße Macht'"' (Mintz 1987) und "'Die Völker ohne Geschichte'"' (Wolf 1991) gehören der selben Forschungsrichtung an und weisen viele gemeinsame Ansätze und Fragestellungen auf. Die theoretische und thematische Ausrichtung beider Werke fokussiert auf Verflechtungen zwischen Menschen bzw. Kulturen durch Flüsse von Ideen und Gütern. Die ökonomischen Grundlagen dieser Verflechtungen und ihre Auswirkungen auf verschiedene Facetten der Gesellschaft in verschiedenen Weltgegenden stehen im Mittelpunkt der Betrachtung.

Während die "Die Völker ohne Geschichte" (Wolf 1991) globale Prozesse an Hand von Beispielen aus vielen verschiedenen Weltregionen analysieren, stellt "Die süße Macht" (Mintz 1987) eine Fallstudie dar, die sich an einem Produkt - in dem Geflecht von ökonomischen und kulturellen Verknüpfungen und Interaktionen - orientiert. Wolf legt das Hauptaugenmerk auf die Interaktionen von verschiedenen Produktionsweisen und untersucht vor allem weltumspannende Kreisläufe von Produktion und Zirkulation. Mintz konzentriert sich stärker auf Fragen des Konsums und der Konstruktion von Bedeutungen eines Produkts.

Beide Werke sind historisch orientiert und beschäftigen sich mit Aspekten der europäischen Expansion. So umfasst die "Kulturgeschichte des Zuckers" den Zeitraum zwischen der Entstehung des Welthandels in der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Beide Werke gegen von folgenden Ansätzen aus:

  • das Studium von Kultur und Geschichte ist aufs Engste mit dem Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden;
  • die Welt ist "als ganze, als Totalität, als System" zu betrachten;
  • die verschiedenen Teile des Systems sind auf komplexe Weise miteinander verflochten;
  • das Augenmerk gilt der Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde;
  • für die Analyse von komplexen gesellschaftlichen Gefügen ist die Untersuchung der Machtverhältnisse [1] sowie der historischen Prozesse von grundlegender Bedeutung (vgl. auch Wolf 1991).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz

Phone Shop in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Der Weltsystemansatz entstand in den 1970er Jahren und ist eng mit dem Namen Immanuel Wallerstein verbunden. Aufbauend auf der aus dem Funktionalismus entstandenen, Systemtheorie wird dabei der weltweite Kapitalismus als einheitliches System [1] betrachtet. Die Weltsystemtheorie wurden in der Folge in verschiedenen Fachdisziplinen und Forschungsfeldern rezipiert, kritisiert und weiterentwickelt, u.a. im Rahmen der Ökonomie, der Ökonomischen Anthropologie, der Entwicklungssoziologie und der historischen Forschung.

Die zentralen Thesen von Wallerstein betreffen

  • die systematische Ganzheit des Weltsystems in der modernen Welt
  • die ökonomische Differenzierung des Systems in verschiedene Zonen
  • Macht und Wirkungspotential der einzelnen Zonen

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie


5.3.4.1 Die Welt als System


Foto: Ulrike Davis-Sulikowski
"Leaving aside the now defunct mini-systems, the only kind of social system is a world-system, which we define quite simply as a unit with a single division of labor and multiple cultural systems. it follows logically that there can, however, be two varieties of such world-systems, one with a common political system and one without. We shall designate these respectively as world-empires and world-economies." (Wallerstein 2004: 63)

Ausgehend von der These des Funktionalismus, die Sozialwissenschaft solle soziale Ganzheiten studieren, argumentiert Wallerstein, dass in der modernen Welt nur noch eine soziale Einheit existiert: das Weltsystem. Das Weltsystem ist ökonomisch integriert, nicht aber politisch, d.h. Staaten können politisch voneinander unabhängig sein, ökonomisch sind sie jedenfalls interdependent.

Der Weltsystemansatz steht in enger Verbindung mit der Dependenztheorie[1], die eine Abhängigkeit (Dependenz) zwischen dominanten und ausgebeuteten Räumen, seien dies Kontinente, Nationen oder Regionen und die damit verbundenen Machtverhältnisse ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellt.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.2 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie

5.3.4.2 Zentrum und Peripherie


Graffiti in Akra (Ghana). Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Laut Immanuel Wallerstein ist das Weltsystem ökonomisch differenziert in

  • Zentren (cores) = USA und Westeuropa
  • Peripherie = 3. Welt
  • Semiperipherie = Pufferstaaten wie Mexiko, Südafrika, "Tiger-Staaten" etc.

Zwischen den verschiedenen Zonen besteht Ungleichheit, die als historisches Produkt der kapitalistischen Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert zu betrachten ist. Die Machtverhältnisse im Weltsystem sind das Produkt von vier Jahrhunderten kolonialer und postkolonialer Veränderungsprozesse.

Soziale Prozesse in konkreten Regionen können nur aus der Rolle, die diese Regionen im Weltsystem einnehmen, erklärt werden; wesentlich sind dabei zwei Faktoren:

  • neue Entwicklungen in den Zentren
  • Aufrechterhaltung der Erfordernisse des Systems als Ganzes

Wallersteins Theorie wurde vor allem aufgrund ihres statischen Modells kritisiert: So werden nur die Zentren als aktiv und bestimmend für das Weltsystem erachtet, die Ökonomie im Zentrum gilt als Maßstab für die ganze Welt. Die Peripherie wird ausschließlich als passiv - als Opfer bzw. Vollstrecker der Entwicklungen im Zentrum - betrachtet.

Während Eric Wolf[1] und Sidney Mintz[2] die komplexen Vernetzungen von kulturellen, ökonomischen und politischen Prozessen im Weltsystem herausarbeiten (Mintz 1987, Wolf 1991), kann das Modell Wallersteins bei weitem nicht alle Prozesse in der Peripherie erklären. Auch dort gibt es lebendige, funktionierende Märkte sowie Widerstand gegen die Forderungen des fremden Kapitals. Aus der Perspektive der Ökonomischen Anthropologie gibt es darüber hinaus Einwände gegen die vollständige Vernachlässigung der Bedeutung von (lokalen) kulturellen Gefügen für die Analyse des Weltsystems (Roseberry in Plattner 1989: 110f).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.3.2


5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität

Airport Vienna. Foto: Elke Mader

Menschen, Kulturen und Ökonomien stehen und standen nie für sich allein. Sie sind immer auch durch Kontakte und Verflechtungen gekennzeichnet, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen mehr oder weniger intensiv verlaufen. Im Zeitalter der Globalisierung gewinnen solche Interaktionen besonders an Bedeutung, sie erfolgen schneller, weiträumiger (globaler), intensiver und wirken sich auf mehr Menschen gleichzeitig aus als bisher. Hauser-Schäublin und Braukämper beschreiben diese Prozesse folgendermaßen:

Weltweite Verflechtungen, Verflechtungen verschiedenster Art und von verschiedenster Qualität, Verflechtungen die in unterschiedlichste Richtungen verlaufen, Verflechtungen mittels verschiedenster Medien, Verflechtungen von Menschen und ihren Handlungen, von Gütern, Ideen und Systemen, Verflechtungen, die mit unterschiedlichster Macht ausgestattet sind und Verflechtungen, die zur Erringung von Herrschaft und/oder Profit unterschiedlichster Gruppen dienen. (Hauser-Schäublin, Braukämper 2002: 10)

Die Dynamik der Verflechtungen prägt viele ökonomische Prozesse und ihre Untersuchung umfasst verschiedene Forschungsfelder, wie z.B.:

  • Analysen des Weltsystems[1] und seiner Interaktionen mit lokalen ökonomischen und kulturellen Gefügen (u.a. Eric Wolf[2], Sidney Mintz[3], Immanuel Wallerstein[4])
  • Warenströme und das "soziale Leben der Dinge" (u.a. Sidney Mintz[5], Arjun Appadurai, Igor Kopytoff, Gerd Spittler [6])
  • Globalisierung [7] (u.a. Ulrich Beck[8], Arjun Appadurai [9])

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie
[2] Siehe Kapitel 5.3.1
[3] Siehe Kapitel 5.3.2
[4] Siehe Kapitel 5.3.4
[5] Siehe Kapitel 5.3.2
[6] https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html
[7] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck
[9] https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/


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5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

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#5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur