Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie

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Contents

Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader, Universität Wien OEKU-Online: Finanziert durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projekt 10707, Jubiläumsfonds).

In verschiedenen Projekten, an denen das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie beteiligt war, entstanden 2005 und 2006 hypermediale Lehr- und Lernunterlagen, die online genutzt werden können. 2019 und 2020 wurden diese von Marlies Madzar und Clemens Schmid in ein aktuelles Wikiformat überführt. Für Anregungen, Hinweise und Kommentare, schreiben Sie bitte ein Mail an eksa(at)univie.ac.at

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Die aktuellen Modelle und Ansätze der Ökonomischen Anthropologie speisen sich aus zwei Quellen:

  • den Wirtschaftswissenschaften und
  • der Sozial- und Kulturanthropologie


Kapitelübersicht

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1 Vorläufer

1.1 Merkantilismus
1.2 Physiokratie
1.3 Klassische ökonomische Theorie
1.3.1 Historischer Kontext
1.3.2 Adam Smith
1.3.2.1 Wert bei Adam Smith
1.3.2.2 Smith's moralische Ableitung des Marktprinzips
1.3.3 David Ricardo
1.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus

2.1 Karl Marx
2.1.1 Historischer Kontext
2.1.2 Zum Gesamtwerk von Marx und Engels
2.1.2.1 Die Werttheorie von Karl Marx
2.1.2.1.1 Güter und Waren
2.1.2.1.2 Warenproduktion
2.1.2.1.3 Gebrauchswert und Tauschwert
2.1.2.1.4 Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft
2.1.2.1.5 Mehrwert und Kapital
2.1.2.1.6 Wert einer Ware bei Marx
2.1.2.1.7 Mehrwertproduktion im Kapitalismus
2.1.2.2 Arbeitsprozess und Produktionsprozess
2.1.2.3 Sozioökonomische Formationen: Begriffe
2.1.2.3.1 Produktivkräfte
2.1.2.3.2 Produktionsverhältnisse
2.1.2.3.3 Produktionsweisen
2.1.2.3.4 Sozioökonomische Formationen als historische Abfolge von Produktionsweisen
2.1.2.3.4.1 Kritik, Weiterentwicklung
2.2 Evolutionismus
2.2.1 Grundgedanken des unilinearen Evolutionismus
2.2.2 Lewis H. Morgans "Urgesellschaft"
2.2.3 Kritik am Evolutionismus
2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen
2.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

3 Neoklassik oder Rational Choice

3.1 Raymond Firth
3.1.1 Allgemeine Gesetzmäßigkeiten und spezifische ökonomische Systeme bei Firth
3.2 Melville J. Herskovits
3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit
3.3.1 Der Angriff der Substantivisten
3.3.2 Die Reaktion der Formalisten
3.3.3 Kritik an den Formalisten
3.3.3.1 Kritik am homo oeconomicus aus nicht-formalistischer Perspektive
3.3.3.2 Revisionen der formalistischen Theorie: Ian Prattis und sein strategising man
3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

4 Institutionalismus und Substantivismus

4.1 Vordenker
4.1.1 Émile Durkheim
4.1.1.1 Anti-Utilitarismus: Soziale und ökonomische Solidarität
4.1.1.2 Von der sozialen Teilung der Arbeit
4.1.1.3 Anti-Individualismus und Kollektive Repräsentationen
4.1.1.4 Wert, Gesellschaft, Symbol
4.1.1.5 Kontrollierte Bedürfnisse, kontrollierte Ökonomie
4.1.1.6 Typologischer Evolutionismus: Organische und mechanische Solidarität
4.1.2 Max Weber
4.1.2.1 Kultur und Wert
4.1.2.2 Wirtschaft, Werte, Religion: "Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus"
4.1.2.3 Form und "Geist" des Kapitalismus
4.1.2.4 Wirkungsweisen und geistige Ursachen des Kapitalismus
4.1.2.5 Askese und wirtschaftliches Handeln
4.1.2.6 Berufsidee und Gnadenwahllehre
4.1.2.7 Zeit ist Geld
4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus
4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild
4.1.3 Weber und Durkheim
4.1.3.1 Religiöse Weltbilder und die "Entzauberung der Welt"
4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
4.2 Frühe VertreterInnen
4.2.1 Richard Thurnwald
4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie
4.2.2.1 Bronislaw Malinowski
4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie
4.2.2.1.2 Kula
4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen
4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte
4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel
4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum
4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol
4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie
4.2.2.2 Marcel Mauss
4.2.2.2.1 Die Gabe
4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip
4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe
4.2.2.3 Mauss und Malinowski
4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur
4.3 Substantivisten
4.3.1 Karl Polanyi
4.3.1.1 The Great Transformation
4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi
4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität
4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution
4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung
4.3.1.2.4 Marktprinzip
4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt
4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld
4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi
4.3.2 George Dalton
4.3.3 Marshall Sahlins
4.3.3.1 Beispiel Tausch
4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins
4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins
4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität
4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society
4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San
4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion
4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse
4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production
4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

5 Neomarxismus

5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich
5.2 Französische VertreterInnen
5.2.1 Claude Meillassoux
5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse
5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit
5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"
5.2.2 Maurice Godelier
5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer
5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya
5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit
5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer
5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier
5.2.3 Emmanuel Terray
5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes
5.3 VertreterInnen in den USA
5.3.1 Eric Wolf
5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie
5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion
5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"
5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda
5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen
5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt
5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff
5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation
5.3.1.1.2.4 Warenströme
5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika
5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee
5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet
5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)
5.3.2 Sidney Mintz
5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers
5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker
5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers
5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei
5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht
5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung
5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz
5.3.4.1 Die Welt als System
5.3.4.2 Zentrum und Peripherie
5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität
5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur


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  • ruhelose Berufsarbeit, um sich der Gewissheit des Gnadenstandes zu versichern.

Der Glaube muss sich also an seiner Wirkung messen, und je effizienter dieses Wirken ist, desto höher ist die Gewissheit über den eigenen Gnadenstand.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051119155737/http://www.wissen.swr.de/sf/begleit/bg0039/ch07.htm


4.1.2.7 Zeit ist Geld


Quelle: www.three18.com/ p_faq.html[www.three18.com/ p_faq.html [1]]

Bei den Vertretern des Puritanismus findet man eine aus der traditionalistischen Moraltheologie entstandene Bewertung von Reichtum:

  • Reichtum an sich gilt zwar als sittliche Gefahr, die Askese des Puritanismus wendet sich scheinbar gegen jedes Streben nach Vermehrung des Reichtums, doch die eigentliche Ablehnung richtet sich gegen das Ausruhen auf und das Genießen von Besitz, da beides eine "[...] Ablenkung von dem Streben nach ‚heiligem' Leben [bedeutet]. Und nur weil der Besitz die Gefahr des Ausruhens mit sich bringt, ist er bedenklich" (Weber 1988: 167).
  • Nur das Handeln und nicht Muße dient der Vermehrung von Gottes Ruhm. Zeitvergeudung wird somit zur schweren Sünde. Der von Benjamin Franklin (einem Puritaner) stammende Ausdruck "Zeit ist Geld" ist in diesem Sinne zu verstehen: Jede verschwendete Stunde ohne Arbeit, ist die verlorene Zeit, Gottes Ruhm zu vermehren. Daher kommen auch die puritanische Wertschätzung der Arbeit und die Auforderung der Moraltheologen, hart im Beruf zu arbeiten. "Die Arbeitsunlust ist Symptom fehlenden Gnadenstandes" (Weber 1988: 171), und der Reichtum entbindet in keiner Weise von den oben angeführten Pflichten.

Verweise:

[www.three18.com/ p_faq.html [1] www.three18.com/ p_faq.html]


4.1.2.8 Geistige und materielle Grundlagen des Kapitalismus


Die protestantische Ethik greift einerseits mit voller Wucht den unbefangenen Genuss des Besitzes an, doch entlastet sie den Erwerb an sich von den traditionalistischen Hemmnissen und macht ihn geradezu zur Maxime des sittlichen Strebens.

Max Weber sieht jedoch in den Geistesströmungen des Protestantismus keineswegs die einzige oder die ausschlaggebende Ursache für die Entwicklung des Kapitalismus. Er geht von einer multikausalen Vernetzung verschiedener historischer, materieller und immaterieller Gegebenheiten aus: Die Genese des kapitalistischen Geistes, oder noch schlimmer - des Kapitalismus überhaupt - ausschließlich der Reformation zu zuschreiben wäre - laut Max Weber - genauso töricht, wie zu behaupten, die Reformation wäre aus der Entwicklungsgeschichte ökonomischer Veränderungen notwendig geworden (vgl. Weber 1988: 82f).


4.1.2.9 Ökonomie und Weltbild


  • Rituelle Waren: Christbaumschmuck. Foto: Elke Mader
  • Rituelle Waren: Gebetsfahnen. Foto: Elke Mader
  • Rituelle Waren: Santa Claus. Foto: Elke Mader

Wenngleich viele Aspekte der Arbeiten von Max Weber immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt waren (etwa sowohl die historischen Aspekte der "Protestantischen Ethik" als auch ihre Schlussfolgerungen), setzte er wesentliche Impulse für folgende Generationen von Sozial- und KulturwissenschafterInnen. Die Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen, kosmologischen Vorstellungen sowie religiös-moralischen Regelsystemen und verschiedenen Dimensionen des menschlichen Handels - u.a. im Bereich der Wirtschaft - bilden z.B. bis heute zentrale Themen der Kultur- und Sozialanthropologie.

Weber übte nachhaltigen Einfluss auf die Fragestellungen und Arbeitsfelder der ökonomischen Anthropologie aus: So stellen etwa die vielfältigen Verbindungsweisen zwischen (lokalen) symbolischen Systemen (Bedeutungen, Werten, "Geist") und wirtschaftlichen Prozessen in einem globalisierten Handlungs- und Bedeutungsraum gegenwärtig wichtige Forschungsfelder dar, zu deren Vordenkern Max Weber zählt (vgl. z.B. Spittler 2002).


4.1.3 Weber und Durkheim

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Weber und Durkheim dürften einander persönlich nicht gekannt, aber registriert haben. Beide werfen (Durkheim vom Standpunkt der Soziologie und Anthropologie - Weber vom Standpunkt der Soziologie und Religionssoziologie) einen breiten sozialwissenschaftlichen Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von menschlichen Gesellschaften und Kulturen. Beide repräsentieren auch eine Reaktion auf das Schaffen von Karl Marx.

Lange meinte man, die Werke von Weber und Durkheim richtig zu interpretieren, wenn man sie als den entscheidenden Gegensatz zu Marx's Theorien herausarbeitet. Neuere Autoren halten diesen Standpunkt aus heutiger Sicht eher durch die Politik des Kalten Krieges, als von intellektueller Redlichkeit geprägt. Beider Werke sind Reaktion und Erwiderung im Sinne eines komplementären Erweiterns dessen, worum es Marx grundsätzlich ging, um ein Verständnis von Gesellschaften und Gesellschaftsentwicklung.

In Bezug auf Fragen der ökonomischen Anthropologie verfügen die beiden Wissenschafter über folgende Gemeinsamkeiten:


4.1.3.1 Religiöse Weltbilder und die "Entzauberung der Welt"


Durkheim wurde im Elsaß als Sohn einer jüdischen, streng religiösen Familie geboren. Er studiert in Paris und macht persönliche Bekanntschaft mit Jean Jaurès, dem späteren Führer der französischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Durkheim wird dadurch zum Anhänger eines säkular modernistischenWeltbildes, aber die Spannung seiner Jugendzeit zwischen streng religiösem Hintergrund im Elsaß und den intellektuellen Pariser Studienjahren sowie die Freundschaft mit Jaurès prägen wichtige Aspekte seines Werkes. Der von ihm postulierte Gegensatz zwischen Sakralem und Profanem, zwischen Religiösem und Nicht-Religiösem wird dadurch erklärbar.

Aus der Erfahrung heraus, dass in der französischen Gesellschaft seiner Zeit manche Teile völlig in religiöse Weltbilder eingewoben sind, während andere Teile derselben Gesellschaft säkularen und modernistischen Weltbildern anhängen, versucht er auf vielen Wegen das Religiöse zu verstehen. Er versucht herauszuarbeiten - was ihm nach heutigem Forschungsstand gründlich misslingt -, dass es diesen Gegensatz in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten gegeben habe.

Dies ist auch ein entscheidender Unterschied zu Max Weber, der in einem Teil seines Werkes darauf hinweist, dass der westliche Sonderweg über die religiöse Reform, die Industrialisierung hin zur Aufklärung zu einem einzigartigen Ergebnis führt: zur Säkularisierung. Keine andere Gesellschaftsform oder Kultur der Gegenwart oder Vergangenheit sonst hat ein vorherrschend säkulares Weltbild aus sich heraus hervorgebracht. Weber bezeichnet diesen europäischen Sonderweg als die "Entzauberung der Welt".

4.1.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Appadurai, Arjun 1986: *The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective*. Cambridge: CUP.

Archetti, Eduardo 1997: *Guinea-Pigs. Food, Symbol and Conflict of Knowledge in Ecuador*. Oxford, New York: Berg.

Douglas, Mary; Isherwood, Baron 1979/1996: *The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption*. London, New York: Routledge.

Durkheim, Emile 1893/1933: 'The Division of Labour in Society'. New York: Macmillan.

-- 1893/2004: 'Über soziale Arbeitsteilung'. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

-- 1899/1953: 'Professional Ethics and and Civic Morals'. Glencoe, IL: Free Press.

-- 1912/1994: 'Die elementaren Formen des religiösen Lebens'. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

-- 1925/1961: *Moral Education: A study in the Theory and Application of the Sociology of Educadion*. Glencoe (IL): Free Press.

Friedman, Jonathan 1994: 'Cultural Identity and Global Process' (Theory, Culture & Society). London: Sage.

Gudeman, Stephen 1996: Stichwort: "economic anthropology". In A. Barnard, J. Spencer (Hg.): *Encyclopedia of social and cultural Anthropology*. London, New York: Routledge, S. 172-178.

Isaac, Barry L. 2005: Karl Polanyi. In J.G.Carrier (Hg.): *A Handbook of Economic Anthropology*. Cheltenham (UK), Northamton (USA): Edward Elgar, S. 14-25.

Pantoi, Thomas 2003: *Rezension des Buches: Protestantische Ethik und der quot;Geist" des Kapitalismus*. Unveröffentlichte Seminararbeit, Universität Wien.

Spittler, Gerd 2002: Globale Waren - lokale Aneignungen. In: B. Hauser-Schäublin, U. Braukämper (Hg.), 'Ethnologie der Globalisierung', Berlin: Reimer

Weber, Max 1905/1920/1988: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: M. Weber (Hg.): *Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie*. Band 1, Tübingen: Mohr/Siebeck, S. 17-206.

Wilk, Richard 1996: *Economies & Cultures. Foundations of Economic Anthropology*. Boulder: Westview Press.


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4.2 Frühe VertreterInnen

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Der Begriff Substantivisten wurde erst 1957 durch Karl Polanyi geprägt. Durch die Auseinandersetzung[1] zwischen Substantivisten und Formalisten in den späten 1950er und 1960er Jahren ist es erst zur Formierung der Ökonomischen Anthropologie als eigener Subdisziplin gekommen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind vor allem drei Autoren zu nennen, die empirisch und theoretisch bis heute die Kultur- und Sozialanthropologie und insbesondere die Ökonomische Anthropologie maßgeblich beeinflussten:

  • Richard Thurnwald
  • Bronislaw Malinowski
  • Marcel Mauss

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.3

Inhalt

4.2.1 Richard Thurnwald

Die frühe ökonomische Anthropologie (Malinowski, Mauss, Firth, Herskovits) wurde entscheidend von deutschsprachigen Autoren und insbesondere dem gebürtigen Österreicher Richard Thurnwald (1869-1954) beeinflusst.

So schreibt Marcel Mauss in seiner berühmten Gabe:

Das Buch von Malinowski, wie das von Thurnwald, zeugt von der meisterhaften Beobachtung eines wirklichen Soziologen. Es sind im übrigen die Beobachtungen von Thurnwald über das mamoko (...), die uns auf die Spur eines Teils dieser Fakten gebracht haben." (Mauss 1990: 65, FN 60)

Thurnwald lehnte sowohl den Evolutionismus als auch die Kulturkreislehre seiner Zeitgenossen ab. Er plädierte für die Herausarbeitung von "repräsentativen Lebensbildern"auf empirischer Grundlage, die weder evolutionäre Stufen, noch Kulturkreise, noch Idealtypen darstellen sollten (Köcke 1979: 145ff).

Die Ökonomie ist bei Thurnwald sozial determiniert. Die einzelnen Wirtschaftsarten sind Resultate von permanenten Anpassungsprozessen an verschiedene Umweltbedingungen. Gleichzeitig sind sie in unterschiedliche politische und soziale Konfigurationen eingebettet. Aus der Kombination verschiedener Wirtschaftsarten und unterschiedlicher politischer und sozialer Systeme ergeben sich die 'Wirtschaftscharaktere', die aber keiner historischen Stufenfolge entsprechen. (Link zu Steward)

ThurnwaldsKernkonzept (1932a, 1932b) bezieht sich auf die Verschränkung des Ökonomischen mit dem Politischen. Zunehmende Arbeitsteilung innerhalb einer Gruppe und Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen führen zu Differenzierung in der Gruppe und setzen Prozesse sozialer Stratifizierung in Gang. Aus kleinen, homogenen Gemeinschaften können so größere heterogene Gruppen entstehen. Gemeinsam mit einer Akkumulation von Fertigkeiten und Wissen im Umgang mit der physischen Umwelt führten diese Prozesse im Laufe der Geschichte zu immer komplexeren Gesellschaften.

Thurnwald war zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und von der Gemeinschaft, in der er lebt, abhängt. Eine Interaktion zwischen Personen folgt in homogenen Gemeinschaften dem Prinzip der Reziprozität und in stratifizierten Gesellschaften dem Prinzip der (Re)Distribution (Thurnwald 1912). "Primitive" Ökonomien beruhen wie unsere Ökonomie auf denselben allgemeinen Prinzipien des sozialen Lebens, nämlich Reziprozität und Distribution. Insbesondere diese zwei Begriffe wurden aufgegriffen und von Malinowski, Polanyi und Sahlins weiterentwickelt (Köcke 1979: 156ff).


4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie

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Die VertreterInnen der ökonomischen Anthropologie gehen prinzipiell von einer starken Vernetzung von Gesellschaft bzw. Kultur und ökonomischem Handeln aus. Je nach ihren generellen Standpunkten im Rahmen der kultur- und sozialanthropologischen Theorienbildung wird dem Individuum oder der Gemeinschaft mehr oder weniger Bedeutung bei der Gestaltung von wirtschaftlichen Prozessen zugemessen.

Dies kommt deutlich bei zwei wichtigen Vertretern der ökonomischen Anthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck, die wesentlich zur Professionalisierung der Kultur- und Sozialanthropologie als eigenständige Disziplin betrugen:

  • Bronislaw Malinowski
  • Marcel Mauss

Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Fragen der Distribution und des Austausches von Produkten. Ihre Analysen dieser Prozesse betonen die Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft, von sozialen und religiösen Institutionen und Konzepten sowie von individuellen Bedürfnissen und Interessen.

  • Bronislaw Malinowski liefert eine genaue ethnographische Beschreibung der Institution Kula in all ihren Dimensionen und analysiert sie im Rahmen des Funktionalismus. Seine Erkenntnisse basieren auf langjährigen Feldforschungen auf den Trobriand Inseln.
  • Marcel Mauss erstellt vergleichende Analysen und theoretische Überlegungen zum Konzept des Tausches bzw. der Gabe, wobei er (aufbauend auf der Arbeit von Malinowski) Kula zu anderen Formen von Austausch in verschiedenen Regionen und historischen Epochen (z.B. Potlatch in Nordwestamerika, Geschenksaustausch in Polynesien, Neuseeland und auf den Andamanen sowie im alten römischen und germanischen Recht) in Beziehung setzt.


4.2.2.1 Bronislaw Malinowski


Bronislaw Malinowski (1884-1942)

Relevante Werke:

1922: Argonauts of the Western Pacific

1935: Coral Gardens and Their Magic

Bronislaw Malinowski ist einer der bekanntesten Anthropologen des 20. Jahrhunderts. Seine methodischen und theoretischen Überlegungen sowie vor allem seine ethnographischen Beschreibungen etablierten wesentliche Merkmale der Fachdisziplin im allgemeinen und der britischen Sozialanthropologie im besonderen.

Er gilt als "Erfinder" der ethnologischen Feldforschung, dem methodischen Charakteristikum der Disziplin. Von seinen persönlichen Feldaufenthalten in Ozeanien (Trobriand-Inseln) stammen mehrere ausführliche Monographien über verschiedene Facetten der lokalen Kultur (u.a. Wirtschaft, Tausch und Handel 1922, Arbeit, Magie und Recht 1935, Sexualität, Liebe, Ehe 1929), die bis in die Gegenwart den Stil bzw. die Form ethnologischen Schreibens geprägt haben und prägen (vgl. Clifford 1986). Weiters hinterließ Malinowski ein Feld-Tagebuch (1967), das Anlass zu verschiedenen Kontroversen über politische und persönliche Dimensionen seiner Datenerhebungen gab.

Malinowki steht - gemeinsam mit A.R. Radcliffe-Brown [2] - im Mittelpunkt der funktionalistischen bzw. struktural-funktionalistischen Theorienbildung. Diese Betrachtungsweisen gehen vom Grundsatz aus, dasseine Gesellschaft eine organisierte, systematische und integrale Ganzheit darstellt, deren einzelne Teile funktional miteinander verbunden sind und zusammenwirken.

Bronislaw Malinowski im WWW:

https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html [3]

https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html [4]

https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm [5]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown
[3] https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html
[4] https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html
[5] https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm


4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie


Anhäufen von Yams, Foto: Bronislaw Malinowski. Quelle: Young 1997, Abb. 5.

Der Funktionalismus bildete eine wichtige theoretische Strömung der Anthropologie im 20.Jahrhundert und formulierte eine holistische und integrative Gesellschaftstheorie.

Er betrachtet sozio-kulturelle Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft wird dabei als ein organisches Ganzes verstanden, als ein Gefüge von Komponenten, die miteinander verbunden sind und sinnvoll zusammenwirken. Wichtige Fragestellungen des Funktionalismus beziehen sich auf die Prinzipien dieses Zusammenwirkens, z.B. auf die soziale Organisation. Einzelne Aspekte einer Gesellschaft werden nicht isoliert betrachtet und als Einzelphänomene mit anderen Gesellschaften verglichen, sondern im Kontext ihres spezifischen sozialen und kulturellen Gefüges untersucht und analysiert.

Ökonomie bzw. ökonomische Handlungen bilden in diesem Sinn einen integralen Bestandteil des sozialen und kulturellen Gefüges einer Gemeinschaft, erfüllen bestimmte Funktionen und sind eng mit anderen Gesellschaftsbereichen verbunden. Die Studie Malinowski´s über das Tauschsystem des Kula-Rings bildet ein klassisches Beispiel für diese Forschungsrichtung.

Der Funktionalismus wurde mit Aspekten des Strukturalismus kombiniert (Struktural-Funktionalismus) und war lange Zeit ein zentrales Paradigma der europäischen (vor allem der britischen) Sozialanthropologie. Viele Thesen des (Struktural-) Funktionalismus bauen auf den Theorien des Soziologen und Anthropologen Émile Durkheim[1] auf, wichtige Vertreter dieser Schule sind u.a. Bronislaw Malinowski, A.R. Radcliffe-Brown, Raymond Firth[2] (vgl. auch Kuper 1975).

Kritik am (Struktural-) Funktionalismus bezieht sich u.a. auf die holistische Betrachtung einzelner Kulturen und auf das Vernachlässigen transkultureller Interaktionen und Veränderungsprozesse.

Das Buch "Die Argonauten des westlichen Pazifik" (Malinowski 1922) gilt als eine der ersten großen Monographien im Forschungsfeld der ökonomischen Anthropologie.

Es beschäftigt sich mit verschiedenen Dimensionen von Produktion, Distribution und Konsumption in ihrem sozialen und religiösen Kontext. Im Mittelpunkt der Analyse steht das Tauschsystem des Kula. Das Buch beruht auf Feldforschungen die Malinowski 1915/16 und 1917/18 auf den pazifischen Trobriand Inseln durchgeführte.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.1.1
[2] Siehe Kapitel 3.1


4.2.2.1.2 Kula


Der Kula-Ring. Quelle: Malinowski (1984), Karte V: 82.

Kula ist ein Tauschsystem und erstreckt sich auf 14 Inselgruppen vor Ost-Papua Neuguinea (Trobriand). Es stellt keineswegs die einzige Form des Tausches in der Region dar (in Trobriand existieren ca. 80 verschiedene Formen des Tausches), es ist vielmehr die wichtigste Institution. Getauscht werden beim Kula im Kreis der Inseln zwei Typen von Wertgegenständen aus Muscheln: Im Uhrzeigersinn zirkulieren soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten), gegen den Uhrzeigersinn zirkulieren mwali (weiße Armbänder aus Kegelschnecken). In diesem Sinne spricht man auch vom "Kula Ring".

Der Tausch der Kula-Objekte ist in ein komplexes Gefüge von sozialen Prozessen und religiösen Ritualen eingebunden. Im Rahmen des Kula-Tausches wird Reichtum transferiert, Status erworben, Allianzen zwischen Personen und Gruppen werden geschlossen oder in Frage gestellt.

Every movement of the Kula articles, every detail of the transactions is fixed and regulated by a set of traditional rules and conventions, and some acts of the Kula are accompanied by an elaborate magical ritual and public ceremonies." (Malinowski 1922: 81)

4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen


  • Kula-Tauschobjekte. Quelle: Leach & Leach 1983.
  • Kula-Tauschobjekte. Quelle: Leach & Leach 1983.

Im Rahmen des Kula werden soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten) und mwali (weiße Armbänder aus Kegelschnecken) immer gegeneinander getauscht. Mehrere tausend solcher Objekte zirkulieren im Kula Ring. Ziel ist nicht die Akkumulation der Kula-Objekte, die immer nur im temporären Besitz einer Person sind, sondern das Etablieren von Tauschpartnerschaften.

... thus no man keeps any of the articles for any length of time in his possession. One transaction does not finish the Kula relationship, the rule being 'once in the Kula, always in the Kula'", and a partnership between two men is a permanent and lifelong affair." (Malinowski 1922: 81)

Wenn eine Person z.B. 'soulawa' - Ketten erhält, so muss sie eine entsprechende Menge 'mwali' - Armbänder zurückgeben. Da eine gleichwertige Rückgabe die Kula-Transaktion und die Tauschpartnerschaft beenden würde, wird immer ein höherer Wert als jener der Gabe zurückgegeben. Somit bleibt eine "Schuld" bestehen und die Tauschbeziehung wird fortgesetzt.

Das Etablieren und Erhalten von Tauschpartnerschaften in verschiedenen sozialen und geographischen Räumen ist mit komplexen ökonomischen, sozialen und rituellen Handlungen verknüpft.


4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte


Side by side with the Kula, the subsidiary trade goes on, the visitors acquiring a great number of articles of minor value, but of great utility, some of them unprocurable in Kiriwina, as, for instance, rattan, fibre, belts, cassowary feathers, certain kinds of spear wood, obsidian, red ochre and many other articles." (Malinowski 1922: 105).

Kula-Transaktionen beschränken sich nicht auf den Tausch der Kula-Objekte im engeren Sinn ('soulawa' und 'mwali'). Sie beinhalten - wie aus der obigen Beschreibung einer Kula-Expedition hervorgeht - ein breites Spektrum von "sekundären Tauschartikeln" bzw. Handelsgütern.

Neben den Prestigegütern zirkulieren also im Kula-Ring auch andere Materialien und Produkte: Auf diese Weise entstehen komplexe Handelsbeziehungen zwischen Inseln mit unterschiedlichen ökologischen Gegebenheiten, Ressourcen und SpezialistInnen.


4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel


Segelschiff, Foto: Bronislaw Malinowski.Quelle: Young 1997, Abb. 5.

Kula-Tausch findet in verschiedenen sozialen und geographischen Räumen statt. Eine Person verfügt immer über mehrere Tauschpartnerschaften, und zwar entsprechend Alter und Prestige, über eine unterschiedliche Zahl von Partnern in verschiedenen geographischen Zonen.

  • Inland-Kula: Getauscht wird innerhalb einer Kula-Gemeinschaft - zwischen verschiedenen Personen bzw. zwischen verschiedenen Dörfern einer Insel. Durch die Tauschbeziehungen werden soziale und ökonomische Netzwerke aufgebaut und persönlicher Status in der Gemeinschaft erlangt.
  • Kula-Gemeinschaft: Sie besteht aus einem Dorf oder einer Reihe von Dörfern, die gemeinsam im Kula-System nach außen agieren, d.h. gemeinsam Übersee -- Kula Expeditionen durchführen, die entsprechenden Rituale veranstalten etc.
  • Übersee-Kula: Getauscht wird zwischen Inseln bzw. Inselgruppen. Die Transaktionen auf dieser Ebene erfordern groß angelegte Schiffsreisen, die Tauschpartner sind Personen mit hohem sozialen Status bzw. politische Führer. Der Kula ist auf dieser Ebene mit weitreichenden sozialen und politischen Allianzen verbunden.
Thus the Kula partnership provides every man within its ring with a few friends near at hand, and with some friendly allies in the far- away, dangerous foreign districts. ... We see that all around the ring of Kula there is a network of relationsships, and that naturally the whole forms one interwoven fabric." (Malinowski 1922:92)

4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum


Männer bei Kula-Tausch, Foto: Bronislaw Malinowski.Quelle: Young 1997, Abb. 7.

Durch den gezielten und erfolgreichen Tausch von Kula-Objekten kann eine Person Ruhm, Macht und Reichtum erlangen.

  • Ruhm: Der soziale Aufstieg in der Gesellschaft der Trobriander besteht darin, sich "auf der Straße des Kula" einen Namen zu machen. Die Geschichten der großen Kula-Fahrten der Vorfahren werden in Mythen besungen und tradiert. Der temporäre Besitz und ein möglichst großer "flow" vieler Kula-Objekte sowie die "Kunst des Kula" - das Erlangen und die Weitergabe der Objekte in einem komplexen Netzwerk - schaffen Prestige.
  • Macht: Erfolg im Kula wird einer besonderen, persönlichen Macht bzw. "Magie" zugeschrieben. Das Konzept von persönlicher spiritueller Macht ist in Ozeanien weit verbreitet (z.B. mana). Aufgrund solcher Fähigkeiten (oder Begabungen) kann sich eine Person im Kula profilieren.
  • Reichtum: Je höher der Rang einer Person ist, je mehr Tauschpartner sie hat, umso mehr Güter befinden sich (temporär) in ihrem Besitz. Das wesentliche am Besitz ist die Möglichkeit, ihn an Andere zu verteilen. Jeder, der etwas besitzt, ist dazu verpflichtet, es zu teilen - je höher sein Rang ist, umso größer ist diese Verpflichtung. Großzügigkeit bei der Verteilung von Gütern bringt wiederum Prestige.
Thus the main symptom of being powerful is to be wealthy, and of wealth is to be generous." (Malinowski 1922: 97)

4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol


Frauen tragen Kula-Halsketten, Foto: Bronislaw Malinowski. Quelle: Young 1997, Abb. 6.

Bronislaw Malinowski bezeichnet ökonomische Aktivitäten explizit als soziales Phänomen; er schließt hiermit an Èmile Durkheim[1] an und wird in vieler Hinsicht als Wegbereiter der Substantivisten bewertet. Mit seiner Studie trägt Malinowksi auch wesentlich zu späteren Debatten um das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft bei:

  • Grundsätzlich geht er von der Annahme aus, dass alle Menschen auf rationale Weise ihre Bedürfnisse befriedigen wollen, dazu benutzen sie unterschiedliche Modelle und Lösungen, deren "Rationalität" nur im Rahmen spezifischer kultureller Parameter zu verstehen ist. Konkret wandte sich Malinowski mit diesem Ansatz gegen eine Reihe von Kolonialbeamten und Missionare, welche den Kula und andere Aspekte der Kultur der Trobriander als "verrückte und sinnlose Bräuche" abwerteten.
  • Malinowski stellt die universelle Gültigkeit der Prinzipien neoklassischer Ökonomie in Frage oder lehnt sie generell ab. Das Prinzip des Eigeninteresses im ökonomischen System der Trobriander erachtet er als irrelevant'*, den Begriff eines universellen 'homo economicus* ("Primitive Economic Man") hält er für unbrauchbar, um das ökonomische Handeln in verschiedenen Gesellschaften zu erklären. Eine Dominanz des utilitaristischen Handelns ist laut Malinowski weder für die Trobriander noch für den westlichen Kapitalismus zutreffend: Beide Systeme sind "voll von Magie und Symbolismus" (Malinowksi 1931: 636), handlungsleitend für ökonomische Aktivitäten sind generell Fragen von Prestige und Macht, von Glauben und Magie. In diesem Sinne - sowie in Hinblick auf das Konzept von Kultur - steht Malinowski auch in der Tradition von Max Weber[2] (vgl. Rössler 1999:77, Wilk 1996:113-114).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.1.1
[2] Siehe Kapitel 4.1.2

4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie


Die Institution des Kula steht im Mittelpunkt vieler sozial- und kulturanthropologischer Theorien des 20.Jahrhunderts. In Bezug auf die ökonomische Anthropologie sind vor allem folgende Themenfelder relevant.

  • Tausch: Malinowski betont die enge Verbindung von Formen des Tausches mit einem spezifischen sozialen und symbolischen System: So existieren in Trobriand ca. 80 verschiedene Formen des Tausches, die mit bestimmten Objekten und sozialen Beziehungen verknüpft sind. Die Verbindungsweisen von (dominanter) Tauschform und Gesellschaftsform bilden eine der zentralen Fragestellungen (und Debatten) der ökonomischen Anthropologie (vgl. Davis 1992).
  • Reziprozität: Kula bildet einen ethnographischen Prototyp für Theorien über Reziprozität. Beginnend mit Marcel Mauss wurde (am Beispiel des Kula) die ökonomische und soziale Bedeutung von Gabe und Gegengabe immer wieder aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven untersucht.

- Tausch und Reziprozität gelten vielen Theoretikern als Basis der menschlichen Gesellschaft (z.B. Marcel Mauss[1], Claude Lévi-Strauss [2]).

- Die Formen und der Stellenwert von Reziprozität für ein ökonomisches System wurden in einer großen Bandbreite von Kontexten analysiert und diskutiert (z.B. Karl Polanyi[3], Marshall Sahlins[4]).

  • Gegensatz zwischen "primitiver" und "moderner" Ökonomie: Malinowski betont immer wieder die kulturelle Gebundenheit des (ökonomischen) Denkens und Handelns der Trobriander. Die "andere Kultur" geht Hand in Hand mit einer "anderen Wirtschaftsform" (oft auch als "primitive Ökonomie" bezeichnet) - auch wenn alle Formen der Ökonomie dasselbe Ziel verfolgen (nämlich die Befriedigung von Grundbedürfnissen).
  • Dieser Ansatz wurde von vielen Autoren aufgegriffen und in diversen theoretischen Zusammenhängen erörtert und weiterentwickelt. Er bildet einen wichtigen Aspekt der Theorien der Substantivisten, die von einer substanziellen Differenz zwischen verschiedenen Typen von Ökonomien ausgehen (z.B. Karl Polanyi[5], George Dalton[6]). Sie postulieren einen grundsätzlichen Unterschied zwischen jenen Wirtschaftsformen, die auf reziprokem Tausch basieren, und der "Marktwirtschaft", in welcher der Warentausch in einem Marktsystem vorherrscht.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2
[2] Siehe Kapitel 10.3 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung
[3] Siehe Kapitel 4.3.1
[4] Siehe Kapitel 4.3.3
[5] Siehe Kapitel 4.3.1
[6] Siehe Kapitel 4.3.2


4.2.2.2 Marcel Mauss


Marcel Mauss (1872 -- 1950)

1923/24: Essai sur le don, dt.: Die Gabe

In der skandinavischen und in vielen anderen Kulturen finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen.[ ... ] Und da wir feststellen werden, dass diese Moral und diese Ökonomie sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken und da wir glauben, hier einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen, können wir daraus einige moralische Schlußfolgerungen bezüglich einiger Probleme ziehen, vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wirtschaft stellt." (Mauss 1990: 17;19)

Der französische Sozialwissenschafter Marcel Mauss, Neffe von Èmile Durkheim[2] und Onkel von Claude Lévi-Strauss, ist ein maßgeblicher Vertreter der Sozialanthropologie des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten umfassen ein breites Spektrum von thematischen Feldern und erstrecken sich von Fragen der Soziologie und der ökonomischen Anthropologie (Mauss 1923/24.[1990]) zu Forschungen über das Konzept der Person (Mauss 1938) oder über die Prinzipien der Magie (Mauss/Hubert 1902 [1972]).

Im Mittelpunkt seines Interesses steht das Verständnis sozialer Systeme, Mauss führt dabei in vieler Hinsicht die Ansätze Durkheims weiter aus. Verstehen bedeutet für ihn, soziale Phänomene in ihrer Totalität zu sehen, d.h. im Bezugsrahmen einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftern seiner Zeit betont Mauss immer wieder die Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit verschiedener Gesellschaften und Zivilisationen und verwendet den sonst so beliebten Begriff des "Primitiven" nicht.

Soziale Systeme sind für Mauss Netzwerke von reziproken Verpflichtungen, die im rituellen Austausch von Gütern und Dienstleistungen verwirklicht werden. Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen können entweder durch Kriege oder durch Geschenke geregelt werden. Die Gabe, ein Prozess aus Geben, Annehmen und Zurückgeben, ermöglicht Vertrauen und damit friedliches Zusammenleben.

"Indem die Völker die Vernunft dem Gefühl entgegenstellen und den Willen zum Frieden gegenüber plötzlichen Wahnsinnstaten geltend machen, gelingt es ihnen, das Bündnis, die Gabe und den Handel an die Stelle des Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen." (Mauss 1990: 181)

Marcel Mauss im WWW:

https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm [3]

https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm [4]

https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm [5]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html
[2] Siehe Kapitel 4.1.1
[3] https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm
[4] https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm
[5] https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm


4.2.2.2.1 Die Gabe


Sitka Potlach (Tlingit Indianer, 1904 Potlatch in Sitka, Alaska.) Quelle: https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg [2]

"Die Gabe" ('Essai sur le don' 1923/24) ist einer der einflussreichsten Aufsätze der Kultur- und Sozialanthropologie schlechthin.

Mauss geht davon aus, dass das soziale Leben eine relativ autonome Ebene der Untersuchung konstituiert. Die Gesellschaft entwickelt strukturelle Vorkehrungen, mit deren Hilfe das menschliche Zusammenleben gewährleistet werden soll.

Eines der sozialen Phänomene, die das friedliche Zusammenleben der Menschen stärken, ist die Gabe, das Geschenk. Dies führt zum Meisterwerk von Marcel Mauss, "Die Gabe".

Die Gabe im Mauss'schen Sinn ist ein "totales soziales Phänomen", das alle Mitglieder einer Gesellschaft zueinander in Beziehung setzt und integriert. Er versteht dabei unter "Gabe" primär Phänomene nicht-staatlicher Gesellschaften, bei denen Geschenke zwischen Individuen und zwischen Gruppen ausgetauscht werden. Als klassische Beispiele aus der Literatur zieht er dafür den "Kula-Austausch" unter den Trobriandern (Malinowski's Argonauten[1]) oder den von Boas in vielen Arbeiten beschriebenen "Potlatch" bei nordamerikanischen Indianern heran. Anhand von zahlreichen weiteren Belegen aus unterschiedlichen, gut dokumentierten Gesellschaften entwickelt Mauss das Reziprozitäts- und Tauschprinzip.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1
[2] https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg

4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip


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Laut Marcel Mauss begründet die Gabe eine Schuld; d.h., der Beschenkte fühlt sich in der Schuld des Schenkenden. Er ist bestrebt, diese Schuld durch ein Gegengeschenk auszugleichen. Ist ihm dies aus ökonomischen oder sozialen Gründen nicht möglich oder liegt ein längerer Zeitraum zwischen Gabe und Gegengabe, so wird zwischen Schenkendem und Beschenktem ein soziales Band geknüpft, ein Band von gegenseitigen Verpflichtungen. Genau dadurch wird die Gabe zu einem strukturellen Element, das den sozialen Zusammenhalt über große Distanzen hinweg und auch außerhalb des vertrauten, intimen Familienkreises ermöglicht.

Mauss versucht nachzuweisen, dass das Reziprozitäts- und Tauschprinzip universell ist. Geben, Nehmen und Zurückerstatten werden bei ihm -- unter Verwendung eines Begriffs von Durkheim -- zum "fait social total", zur totalen sozialen Tatsache, die über allem steht. Es gibt bei Mauss natürlich noch andere soziale Tatsachen, aber dieses Tauschprinzip ist das elementarste. Ohne dieses Tauschprinzip kann eine Gesellschaft nicht funktionieren.

Wenn er hier von "funktionieren" spricht, so meint er damit, dass ein funktionaler Zusammenhang zwischen den verschiedenen sozialen Tatsachen anzunehmen ist, die allerdings wieder von der Reziprozität geleitet werden. Durch dieses Tauschprinzip ist in einer Gesellschaft alles mit allem verwoben, es ist sozusagen der soziale Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Der Tausch ist deswegen die totale soziale Tatsache, weil im Tausch alle Formen von Institutionen gleichzeitig ihren Ausdruck finden; und zwar religiöse, moralische, rechtliche und ökonomische Institutionen.

4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe


Wie schon für Durkheim[1] ist auch für Mauss klar, dass derartige systematische Elemente des sozialen Zusammenhalts wie die Gabe nicht nur einen praktischen und einen Orientierungsaspekt haben, sondern immer zugleich auch einen ideellen, einen mentalen Aspekt. Durkheim spricht von Repräsentationen, die den sozialen Zusammenhalt auch dort gewährleisten, wo die Arbeitsteilung noch nicht sehr stark ausgeprägt ist. Mauss geht es in Fortsetzung dieses Ansatzes darum, zu zeigen, dass Handeln und Denken im Idealfall eins sein sollten. Weiters betont er, dass die Menschen nicht nur handeln, sondern spätestens nachher auch darüber nachdenken, was diese Handlungen zu bedeuten haben. Insofern gehen Handlungen, wie der Geschenkaustausch, immer auch mit Klassifikationssystemen einher, mit Vorstellungssystemen, mit Ideengebäuden der jeweiligen Gesellschaft und müssen im Zusammenhang damit auch von der Kultur- und Sozialanthropologie untersucht werden.

Mauss hat bereits 1903 in einem Artikel, den er gemeinsam mit Durkheim über "Primitive Klassifikationsformen" geschrieben hat, darauf hingewiesen, dass die Arbeitsteilung zwischen Gruppen -- die etwa Geschenke austauschen -- immer auch das Modell vorgibt, wie man sich den Austausch der Gaben vorstellt. Die Arbeitsteilung ist also quasi die Vorlage, nach der der Geschenkaustausch gedacht wird.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.1.1


4.2.2.3 Mauss und Malinowski


  • Malinowski hat im Kula-Tausch vor allem die soziale Funktion für den Einzelnen gesehen: Welche Stellung hat die einzelne Person im Netzwerk der Kula-Partner? Als junger Mann tauscht man sich in das Netzwerk hinein, baut dieses aus und verschafft sich mit der Zeit hohes Ansehen.
  • Mauss interpretiert Malinowskis Daten nicht aus der Perspektive des Individuums, sondern aus jener der Gesellschaft. Er sieht Geben -- Annehmen -- Erwidern als den Mechanismus, der Menschen, die an sich autark sind, miteinander verbindet.

4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur

Clifford, James 1986: Introduction: Partial Truths. In J. Clifford, G. E. Marcus. (Hg.): *Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography*. Berkeley: University of California Press. S. 1-26.

Davis, John 1992: 'Exchange'. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Durkheim, Emil; Mauss, Marcel 1903: "De quelques formes primitives de classifications. Contributions à l' étude des représentations collectives." In 'L' Année Sociologique' 6, S. 1-72.

Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The False Coin of Our Own Dreams*. New York: Palgrave.

Köcke, Jasper 1979: Some Early German Contributions to Economic Anthropology. In G. Dalton (Hg.): 'Research in Economic Anthropology'. A Research Annual. Greenwich, Connecticut: JAI Press Inc, S. 119-167.

Kuper, Adam 1996 (1975): *Anthropologists and Anthropology. The Modern British School*. London, New York: Routledge.

Leach, Jerry W. ; Leach, Edmund (Hg.) 1983: *The Kula. New Perspectives on Massim Exchange*. Cambridge: Cambridge University Press.

Malinowski, Bronislaw 1921: "The Primitive Economics of the Trobriand Islanders." 'Economic Journal' 31, S. 1-16.

--- 1929: *Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien. Liebe, Ehe und Familienleben bei den Eingeborenen der Trobriand-Inseln, Britisch-Neuguinea*. Frankfurt am Main: Syndikat.

--- 1931: Culture. In 'Encyclopedia of the Social Sciences', S. 621-646.

--- 1935: 'Coral Gardens and Their Magic'. Bloomington: Indiana University Press.

--- 1961 (1922): 'Argonauts of the Western Pacific'. New York: Dutton Press.

--- 1967: 'A Diary in the Strict Sense of the Term'. New York: Harcourt, Brace, & World.

--- 1984 (1922): 'Argonauts of the Western Pacific'. Prospect Heights: Waveland Press.

Mauss, Marcel 1938: "Une catégorie de l'esprit humain: la notion de personne, celle de 'moi', un plan de travail." *The Journal of the Royal Anthropological Institute* 68, S. 263-281.

--- 1990 (1923/24): *Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften*. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mauss, Marcel; Hubert, Henri 1972 (1904): 'A General Theory of Magic'. London: Routledge & Kegan Paul.

Radcliffe-Brown, A.R. 1952. *Structure and Function in Primitive Society*. London; Henley: Routledge & Kegan Paul.

Rössler, Martin 1999: 'Wirtschaftsethnologie'. Eine Einführung. Berlin: Reimer Verlag.

Thurnwald, Richard 1912: *Forschungen auf den Salomo-Inseln und auf dem Bismarck-Archipel*. Berlin.

--- 1932a: *Die menschliche Gesellschaft in ihren ethnosoziologischen Grundlagen*. Berlin, Leipzig.

--- 1932b: 'Economics in Primitive Communities'. London: Oxford University Press.

Wilk, Richard R. 1996: *Economies & Cultures. Foundations of Economic Anthropology*. Boulder: Westview Press.

Young, Michael W. (Hg.) 1979: *The Ethnography of Malinowksi. The Trobriand Islands 1915-18*. London & New York: Routledge & Kegan Paul.


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4.3 Substantivisten

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Inhalt


4.3.1 Karl Polanyi

Karl Polanyi (1886 -- 1964)

1944: The Great Transformation

1957: Trade and Market in the Early Empires

1979: Ökonomie und Gesellschaft

Karl Polyanis These besagt, dass die neoklassische Wirtschaftstheorie nur auf die moderne Marktwirtschaft industrialisierter Systeme anzuwenden ist. In dieser ist die Wirtschaft aus der Gesellschaft herausgelöst, wohingegen in früheren oder weniger entwickelten Gesellschaften die ökonomischen Beziehungen im Gesellschaftssystem eingebettet sind. Hier gibt es also nicht graduelle Systemunterschiede ("große und kleine Äpfel"), wie Firth behauptet, sondern es variiert die Art ("Äpfel und Birnen") des wirtschaftlichen Handelns. Im Gegensatz zu Firth[2] sieht Polanyi die institutionellen Gegebenheiten ("substantial propositions") als universell gültig an, wohingegen die Art des wirtschaftlichen Handelns variabel ist.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif
[2] Siehe Kapitel 3.1


4.3.1.1 The Great Transformation


  • Wir vertreten die These, daß die Idee des selbstregulierenden Marktes

eine krasse Utopie bedeutete.* (Polanyi 1978: 19)

Polanyi geht davon aus, dass der selbstregulierende Markt in seiner reinen Form Mensch und Gesellschaft zerstört. Staatliche und andere institutionelle Eingriffe in den Markt seien daher Selbstschutzmaßnahmen der Gesellschaft.

Die 'Great Transformation' ist 1944 erstmals erschienen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Terror und Zerstörungswut einen historischen Höhepunkt erreicht hatten. Polanyis explizites Ziel war, über die Befassung mit der Vergangenheit die Gegenwart zu erklären. Er versuchte herauszuarbeiten, welche ökonomischen und politischen Entwicklungen des 18 und 19. Jahrhunderts zu den Katastrophen der Ersten und Zweiten Weltkriegs und der von der Weltwirtschaftskrise geprägten Zwischenkriegszeit geführt hatten.

Seine zentrale These lautet: Die Ursprünge der Katastrophe liegen im utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus, ein selbstregulierendes Marktsystem zu errichten.

Marktsystem nach Polanyi:

  • Was auch immer die tatsächliche Einkommensquelle einer Person ist, sie ist das Ergebnis eines Verkaufs.
  • Marktwirtschaft: Dieses System müsse nach seiner Einführung sich selbst überlassen bleiben. Die Preise regulieren sich selbst.
  • Der Verkauf eines Kaufmanns umfasst nur Erzeugnisse. Dies hat noch keinen massiven Einfluss auf eine Gesellschaft.
  • Einkauf im Marktsystem: Rohstoffe und Arbeitskraft, also Mensch und Natur. "Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nicht Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren." Polanyi 1978: 70
  • Vor dem 19. Jahrhundert gab es keine Wirtschaftsform, die vom Markt gelenkt worden wäre. 'Adam Smiths[1]homo oeconomicus' ist nicht als Analyse der Vergangenheit, sondern als Projektion in die Zukunft entstanden.
  • Das Gemeinsame aller nicht-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsformen besteht darin, daß sie in die Gesamtgesellschaft eingebettet sind. Der Mensch wurde als gesellschaftliches Wesen konstituiert.
  • Die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen ist in seine Sozialbeziehungen eingebettet.
  • Nicht individuelles Interesse an materiellem Besitz, sondern an der Sicherung des gesellschaftlichen Ranges, der gesellschaftlichen Ansprüche und Wertvorstellungen bestimmt sein Handeln. Die genauen Ausformungen sind sehr verschieden, aber das Wirtschaftssystem wird in jedem Fall von nicht-ökonomischen Motiven getragen.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 1.3.2


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4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi


Polanyi postuliert vier Typen institutioneller wirtschaftlicher Gestaltungen, wobei die ersten drei sich grundlegend vom vierten unterschieden:

1. Reziprozität

2. Redistribution

3. Haushaltung

4. Markttausch.


4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität


In Agrarritualen in den Anden wird ein reziprokes Verhältnis zwischen Menschen und Gottheiten angestrebt (Abb.: Alberdi 1992)

Darunter versteht Polanyi alle Formen von Austausch, die auf der sozialen Ebene in einer symmetrischen, äquivalenten Beziehung ablaufen, wie Gabe und Gegengabe.

Dabei herrscht kein Gewinnstreben, kein Prinzip der Arbeit gegen Entlohnung und kein Prinzip des geringsten Aufwands vor. In Gesellschaften, die auf Reziprozität beruhen, existieren vor allem keine Institutionen, die ausschließlich wirtschaftliche Ziele verfolgen. Reziprozität setzt Symmetrie voraus. Sie tritt vor allem in Gesellschaftssystemen auf, die auf Verwandtschaft beruhen und wirkt in erster Linie auf Familie und Verwandtschaft. Sie regelt in einem bestimmten Verwandtschaftssystem, wer für wen zu sorgen hat. Im matrilinearen Verwandtschaftssystem der Trobriander beispielsweise hat jeder Mann zu allererst für seine Schwester und deren Kinder zu sorgen.

Reziprozität bedeutet also nicht, dass die Verpflichtung zur Erwiderung der Gabe dieselbe Person trifft, die etwas erhalten hat. Es ist ein sehr viel abstrakteres Prinzip, das auf der Ebene der Gesamtgesellschaft wirkt und sich nicht auf die Interaktion zwischen zwei konkreten Personen beschränken lässt (vgl. Polanyi 1978: 77ff).

4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution


Tribute an den Großkönig. Relief aus Persepolis. Quelle: https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/ [1]

Dieses Prinzip bezieht sich auf wirtschaftliche Bewegungen in Richtung auf ein Zentrum und zurück. Es beschreibt Güterflüsse in pyramidal geschichteten Gesellschaften. Redistribution ist ein Kennzeichen feudaler Systeme, bezieht sich auf ein Territorium und ist damit Teil des Bereichs der Politik.

Tribute, Steuern, oder Arbeitsleistungen gehen vom "gemeinen Volk" zum Häuptling, Herrscher, Priester, zur Regierung. Im Gegenzug erfolgen Leistungen der herrschenden Schicht (Güter und andere Leistungen) von oben nach unten, jedoch asymmetrisch und nicht äquivalent, d. h. von unten nach oben geht im Regelfall mehr als zurückkommt. In zentralisierten Häuptlingstümern werden z. B. Ressourcen an eine Zentralgewalt abgegeben, die diese hortet und wieder umverteilt.

Das Prinzip der Redistribution gibt aber noch keinen Aufschluss über die Herrschaftsform, diese kann despotisch und ausbeuterisch sein, aber auch auf Konsens beruhen. Wesentlich ist die Orientierung an einem Zentrum, auf das sich Güter und Leistungen richten, und das diese wieder umverteilt (Polanyi 1978: 81ff). Deshalb ist das Muster der Interaktion von Zentrizität gekennzeichnet. Entsprechende soziale Organisationsformen sind der vorkapitalistische Staat, Königtümer oder Stadtstaaten.

Die Produktion und Distribution von Gütern wird hauptsächlich durch Einsammlung, Lagerung und Redistribution organisiert, wobei der Häuptling, der Tempel, der Despot oder der Lord im Mittelpunkt dieses Systems steht. Da das Verhältnis zwischen den Führenden und den Geführten, je nach der Grundlage der jeweiligen politischen Macht, verschieden ist, wird auch das Prinzip der Redistribution so völlig verschiedene individuelle Motivationen berücksichtigen wie die freiwillige Aufteilung der Beute durch die Jäger bis zur Angst vor Strafe, die den Fellachen zur Ablieferung einer Art Steuern, der Naturalabgaben, veranlaßt." (Polanyi 1978: 83f)

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/

4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung


Gehöft von Bergbauern in Nepal, deren Wirtschaften stark auf den Eigenbedarf ausgerichtet ist. Foto: Elke Mader

Darunter versteht Polanyi die Produktion des Eigenbedarfs der Kleingruppe, die in sich möglichst geschlossen und autark ist.

Wie diese Gruppe in sich organisiert ist, spielt dabei keine Rolle. Polanyi bezieht sich auf die Unterscheidung von Aristoteles in Haushaltsführung ('oikonomía') und Gelderwerb. Aristoteles war davon überzeugt, dass die Produktion für den Gebrauch und der Verkauf von überschüssigen Gebrauchsgütern auf dem Markt einander nicht ausschließen und die Autarkie des Haushalts nicht gefährden würden.

Nur ein Genie der praktischen Vernunft konnte, wie er erkannt haben, daß das Gewinnstreben ein für die Marktproduktion charakteristisches Motiv ist und daß der Geldfaktor ein neues Element einführte; daß aber das Prinzip der Produktion für den Gebrauch weiterhin funktionieren würde, solange Märkte und Geld bloß Anhängsel eines ansonsten autarken Haushalts blieben." (Polanyi 1978: 85)

Diese drei Prinzipien unterscheiden sich aber grundsätzlich vom vierten, denn:

Im weiteren Sinn gilt jedoch die These, dass alle uns bekannten Wirtschaftssysteme bis zum Ende des Feudalismus in Westeuropa auf den Prinzipien der Reziprozität oder Redistribution oder aber der Haushaltung beziehungsweise einer Kombination dieser drei beruhte. Diese Prinzipien waren mit Hilfe gesellschaftlicher Organisationen institutionalisiert, die sich inter alia auch die Formen der Symmetrie, der Zentrizität und der Autarkie zunutze machten. In diesem Rahmen wurde die geordnete Produktion und Distribution von Gütern durch eine Vielfalt von individuellen Motivationen gesichert, die ihrerseits durch allgemeine Verhaltensnormen in Schranken gehalten wurden. Bei diesen Motivationen spielte das Gewinnstreben keine hervorragende Rolle. Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen, um den einzelnen zu Verhaltensnormen zu veranlassen, die letztlich seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten." (Polanyi 1978: 86f)

Sowohl dort wo Reziprozität vorherrscht als auch dort, wo Redistribution dominiert, ist das ökonomische System eine Funktion der gesellschaftlichen Organisation.

4.3.1.2.4 Marktprinzip


Altar umgeben von Pepsi-Cola Werbung, Nepal. Foto: Elke Mader

Beim (Markt)Tausch handelt es sich um Transaktionen zwischen Individuen nach dem Zufallsprinzip, die unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Beziehung sind. Nur diese beruhen auf rationaler Entscheidung und Nutzenmaximierung.

Was das Prinzip des Tauschhandels von den anderen fundamental unterscheidet, ist, dass seine Wirksamkeit von der Existenz des Marktes abhängig ist. Der Markttausch bedarf einer eigenen Institution, die nur ihm selbst dient, das Marktsystem. Dieses hat nach Polanyi ungeheure Bedeutung für die Gesamtgesellschaft, da das Marktsystem die Gesellschaft zu seinem Anhängsel degradiert: "Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet" (Polanyi 1978: 88f).

Dem Markttausch entspricht die Marktwirtschaft. In dieser wird die Warenproduktion und --distribution ausschließlich über märkte kontrolliert und gesteuert. Nur diese Wirtschaftsform beruht auf der Erwartung, dass Menschen sich immer so verhalten, um einen maximalen Gewinn zu erzielen. Sie setzt den Mechanismus der Preisbildung über Angebot und Nachfrage sowie den Einbezug von Arbeit, Boden und Geld in den Markt voraus (Polanyi 1978: 102).

Für ihn ist die Marktwirtschaft ein System von sich selbst regulierenden Märkten in dem das gesamte ökonomische Leben durch die Warenpreise am Markt bestimmt werden. Die Grundlage dieses Systems sah er im Profitmotiv und in der Existenz von Waren in Form von Land, Arbeit und Geld.

Trotz der Ausweitung des Marktwesens im Merkantilismus ab dem 16. Jahrhundert ist die Vorstellung eines sich selbst regulierenden Marktes erst im 19. Jahrhundert bedeutend geworden.

Die Nicht-Marktgesellschaft mit den Integrationsformen Reziprozität und Redistribution sah er als absolutes Gegenteil des Markttauschsystems. 1944, in 'The great Transformation' stellte er noch eine weitere Nicht-Marktintegrationsform auf, das "Haushalten" auf der Ebene von autarken Einzelhaushalten. Diese Prinzipien existieren meist nebeneinander.

Die Nicht-Marktökonomien zeichnen sich durch folgende Prinzipien aus:

  • es gibt kein Gewinnmotiv;
  • keine Nutzenmaximierung durch die Einzelnen;
  • es gibt keine Lohnarbeit und keine spezifisch ökonomischen Institutionen.

Für Polanyi hat die kapitalistische Ökonomie Ende des 18. Jhds eine radikal neue Form der ökonomischen Organisation hervorgebracht, die in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte keine Entsprechung hat. Und diese Organisationsform ist das Marktsystem.

4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt


Karl Polanyi hält das Marktprinzip für einen grundsätzlich die Gesellschaft zerstörenden Faktor. Seine Argumentationslinie lässt sich diesbezüglich wie folgt zusammenfassen:

Der Mensch ist von "Natur aus" gesellschaftlich konstituiert und in vielfältige soziale Beziehungen eingebettet. Im Rahmen dieser sozialen Einbettung finden auch seine wirtschaftlichen Aktivitäten statt, die in so ferne Grund legend sind als sie ihn als Individuum und als Gesellschaft physisch am Leben erhalten. Die Gesellschaften tragen über Normen und Prinzipien Sorge dafür, dass die wirtschaftliche Versorgung funktioniert, dieser kommt aber kein bestimmender Platz in der Gesellschaft zu. Durch die Durchsetzung des Marktsystems mit staatlichen Zwangsmitteln hat sich dieses Verhältnis zwischen den Institutionen einer Gesellschaft verändert. Das wirtschaftliche System wurde in eine separate Institution ausgelagert, die auf spezifischen Zielsetzungen und Motivationen beruht: dem homo oeconomicus. Die Gesellschaft muss nunmehr so gestaltet werden, dass das wirtschaftliche System in Einklang mit den eigenen Gesetzen der Institution -- jenen des selbst regulierenden Marktes -- funktionieren kann.

Dieser sich selbst regulierende Markt entstand allerdings keineswegs einfach so aus sich selbst heraus. Er bedurfte und bedarf enormer Machtmittel, um ihn durchzusetzen und zu schützen.


4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld


Warenangebot für TouristInnen, Nepal. Foto: Elke Mader

Die wesentlichste Voraussetzung für die Errichtung eines Marktsystems, also eines selbst regulierenden Marktes, ist die institutionelle Abtrennung der Sphäre der Wirtschaft aus den anderen Institutionen der Gesellschaft. Dies konnte nur erreicht werden durch die Transformation von Boden, Rohstoffen und Arbeit, also von Mensch und Natur in Waren, deren Preise über den Markt sich selbst regeln. Dazu müssen alle Elemente der wirtschaftlichen Tätigkeit -- auch Boden, Arbeit und Geld -- dem Marktsystem unterliegen. Dies war nach Polanyi vor dem Europa des 19. Jahrhunderts nie und nirgends der Fall. Waren sind nach Polanyi Objekte, die für den Verkauf auf dem Markt produziert werden. Sie unterliegen dem Angebots- und Nachfragemechanismus.

4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi


Chilis auf einem Markt in Burma. Foto: Elke Mader

Dementsprechend gibt es für ihn auch drei Formen des Handels:

1. Gabenhandel (Reziprozität), ('gift trade'): Jegliche Form von Gütertransaktion wird als Gabentausch inszeniert.

2. Verwalteter Handel (Redistribution), Preisregelung im "verwalteten Handel": Festsetzung von Festpreisen entweder durch eine Gruppenentscheidung von Anbietern oder von der Marktbehörde im Einvernehmen mit den Anbietern. Z. B. wurde im alten Athen der Preis von Mehl und Brot durch Gesetz im Verhältnis zum Getreidepreis festgesetzt. Handelsplätze ('Ports of Trade'): "Handelsplatz" ist Polanyis Bezeichnung für eine Niederlassung, die als Kontrollpunkt im Handel zwischen zwei Kulturen mit verschiedenartig strukturierten ökonomischen Institutionen fungiert -- im typischen Fall zwischen professionellen Händlern und einer marktlosen Gesellschaft. Handelsplätze sind eine Art von "Freihandelszonen", stehen unter dem Schutz der politischen Autoritäten, die Händler haben freies Geleit und dürfen sogar in Feindesland. Beispiele: phönikische Häfen des Altertums, assyrische Handelskolonien in Kleinasien, Handel zwischen indischen Häfen und Binnenhauptstädten. Die Handelsplätze sind eine Einrichtung, die die marktlose Macht unter Kontrolle hat und die sie vor Einflüssen schützen, die sonst ihre Wirtschaft und Gesellschaft zersetzen (z. B. chinesische Wirtschaftszonen als Pufferzone zwischen Händler und Hinterland). Örtliches Marktgeschäft und Fernhandel sind streng voneinander getrennt.

3. Markthandel existiert seit Ende des 18. Jhds (in Europa und Nordamerika). Reguliert sich selbst und jegliche Einflussnahme durch Gesellschaft und Staat wirkt verfälschend auf die Preise und die Produktion.

4.3.2 George Dalton

Maniok auf einem Markt in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski.

George Dalton war Schüler von Polanyi, er promovierte in den 50er Jahren an der Columbia University.

'Economic Theory and Primitive Society' (1961) gilt als das theoretische Credo der substantivistischen Position. Er arbeite mit Paul Bohannan ('spheres of exchange') zusammen, mit dem er, aufgrund von Forschungen in afrikanischen Ländern, drei Gesellschaftsformen unterschied:

1. Marktlose Gesellschaften:

Gekennzeichnet durch die Prinzipien der Reziprozität und -- seltener -- der Redistribution. Die "traditionellen" Untersuchungsgegenstände der Ethnologie durch z.B. Malinowski, Firth und Herskovits.

2. Gesellschaften mit peripheren Märkten:

Orientieren sich teilweise an Angebot und Nachfrage; die Preise sind an die angebotenen Güter und an soziale Faktoren gebunden. Nicht nur der schnelle Verkauf der Waren, sondern auch der Unterhaltungs- und Kommunikationswert des Marktes ist wichtig.

3. Westlich beeinflusste Gesellschaften (oder "soziale Situationen" wie moderne Städte):

Der Markt wird von abstrakten Preismechanismen, von Angebot und Nachfrage bestimmt.

4.3.3 Marshall Sahlins

Marshall Sahlins (geb. 1930)

Keiner quot;Schule" zuzuordnen

Relevante Werke:

1965: On the Sociology of Primitive Exchange

1972: Stone Age Economics

Marshall Sahlins gilt als einer der einflussreichsten und originellsten amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart (Barnard/Spencer 1996: 589). Er hat sich seit den 1960er Jahren zu einer Vielzahl von Themen zu Wort gemeldet. Im Rahmen der ökonomischen Anthropologie ist insbesondere seine 1972 erschienene Aufsatzsammlung 'Stone Age Economics' zu einem Klassiker geworden.

'Stone Age Economics' ist eine Verteidigungsschrift des Substantivismus und eine Auseinandersetzung mit marxistischen Modellen. Trotzdem kann Sahlins aber keiner speziellen Schule zugeordnet werden. Er argumentiert substantivistisch, formalistisch, strukturalistisch, marxistisch und neoevolutionistisch. Seine Arbeiten spiegeln Öffnung bzw. das Ende der Debatte zwischen den festgelegten Lagern der Formalisten und Substantivisten wider.

Sahlins im WWW:

https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html [2]

https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml [3]

https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html [4]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml
[2] https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html
[3] https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml
[4] https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html


4.3.3.1 Beispiel Tausch


Ausgehend von einer substantivistischen Sicht der Ökonomie stellt Sahlins in 'On the Sociology of Primitive Exchange' (1965/1972) die These auf, dass ein Tausch nicht ein eigenständiges Ereignis, sondern eine Momentaufnahme aus einer kontinuierlichen sozialen Beziehung ist. Materielle Transaktionen sind Teil von sozialen Beziehungen, sie lassen sich nicht isoliert betrachten. "If friends make gifts, gifts make friends" (1972: 186).

Sahlins übernimmt Polanyis Begriffe der Reziprozität[1] und der Redistribution[2] (oder 'pooling'), verfeinert sie jedoch und erstellt eine detaillierte Klassifikation:

Reziprozität ist eine 'between relation', sie erfordert das Vorhandensein von zwei Parteien.

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Redistribution ist eine 'within relation', sie verlangt kollektive Handlungen innerhalb einer Gruppe.

Theogrundlagen-283 2.gif


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 4.3.1.2.2


4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins


Karl Polanyi war der Ansicht, dass die Interaktion in reziproken Austauschbeziehungen grundsätzlich symmetrisch verlaufen würde. Sahlins bezweifelt das und unterscheidet in:

Generalisierte Reziprozität, Balancierte Reziprozität, Negative Reziprozität.

Diese Einteilung trifft er anhand von drei Kriterien

  • Zeitpunkt der Rückgabe
  • Äquivalenz der Gegengabe
  • Materielle und nicht-materielle Dimensionen des Austauschs.

1. Generalisierte Reziprozität:

A gibt eine Gabe/Leistung an B, die Beziehung bleibt aufrecht, auch wenn von B lange nichts zurückkommt. Typischer Fall: Beziehung zwischen Eltern und Kinder. Die Eltern bezahlen eine "Versicherungsprämie" an die Kinder (Unterhalt, Ausbildung) und erhalten die "Versicherungssumme" zurück, wenn sie alt und pflegebedürftig sind.

Die "Gabe" erscheint "interesselos", der Zeitpunkt der Rückgabe ist verzögert, niemand scheint sich um Äquivalenz zu kümmern, die nicht-materielle Dimension des Austauschs (z.B. "Elternliebe") steht im Vordergrund.

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2. Balancierte Reziprozität:

Güter und Leistungen wandern symmetrisch und äquivalent von A zu B und von B zu A.

Typischer Fall Tauschhandel:

Die "Gegengabe" erfolgt unmittelbar und ist Teil des Tauschaktes, beide Seiten bemühen sich um Äquivalenz, und es dominiert der materielle Aspekt.

Perfectly balanced reciprocity wurde ethnographisch auch bei bestimmten Heiratstransaktionen oder Freundschaftspakten beschrieben: Zwei Gruppen tauschen dieselbe Menge der gleichen Güter unmittelbar gegen einander aus. Diese Art der Transaktion ist im Gegensatz zum Tauschhandel gänzlich nicht-ökonomisch.

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3. Negative Reziprozität:

A gibt unfreiwillig durch z.B. Raub oder Diebstahl, B gibt nichts (z. B. Stämme überfallen einander und rauben sich die Frauen und anderes).

Negative Reziprozität ist im formalistischen Sinn am ökonomischsten: In einer Situation gegensätzlicher Interessen versuchen Individuen oder Gruppen ihren Nutzen auf Kosten anderer zu maximieren.

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Sahlins geht nun davon aus, dass in den meisten Gesellschaften alle drei Formen gleichermaßen vorkommen und auch, dass es fließende Übergänge zwischen ihnen gibt. Er ist auch der Ansicht, dass diese drei Formen überall moralisch bewertet sind:

The extremes are notably positive and negative in a moral sense. The intervals between them are not merely so many gradations of material balance in exchange, they are intervals of sociability. The distance between poles of reciprocity is, among other things, social distance" (Sahlins 1972: 191).

4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins


Wenn alle Formen der Reziprozität in fast allen Gesellschaften inklusive unserer vorkommen, stellt sich die Frage, ob es Regelmäßigkeiten im Auftreten der drei Formen gibt. Sahlins meint ja: Die soziale Distanz bestimmt den Tauschmodus.

==> Je enger das verwandtschaftliche Verhältnis und je geringer die räumliche Entfernung, umso generalisierter ist der Austausch.

==> Sind keinerlei verwandtschaftliche, tribale oder räumliche Beziehungen mehr vorhanden, schlägt der Tauschmodus in negative Reziprozität um.

Nach Sahlins inkludiert dies auch die Moral: Moralische Normen sind meist situativ und relativ, nicht abstrakt und universell. Handlungen sind daher nicht "an sich" gut oder böse, sondern es hängt auch davon ab, wer "der Andere" ist. So wird Diebstahl innerhalb der Gruppe in den meisten Gesellschaften als schwere Verfehlung betrachtet, außerhalb der Gruppe aber bewundert.

Quelle: Sahlins (1972: 199)

4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität


Sahlins' Modell der mit wachsender sozialer und räumlicher Entfernung abnehmenden generalisierten Reziprozität wurde z.B. von Tim Ingold (1986) kritisiert und weiter entwickelt. Ingold argumentiert, dass negative Reziprozität unabhängig ist von verwandtschaftlicher Entfernung. Es lässt sich ethnographisch belegen, dass "positive" und "negative" Reziprozität auf jeder Ebenen vorhanden ist. In der Kerngruppe steht dem Teilen, der Gabe, auch die Forderung gegenüber, genau so wie es im Kontakt mit anderen Gesellschaften nicht nur den Diebstahl, sondern auch das Geschenk, den Vertrag, etc. gibt.

Sowohl Sahlins' Modell als auch Ingolds Variation davon werden durch weitere Faktoren kompliziert. Politischer Rang und gesellschaftliche Hierarchisierung z.B. wirken auf die Tauschmodi ein und verändern sie in Richtung Redistributionsmodi (vgl.: Gregory 1998: 924f).

Quelle: Ingold (1986: 232)

4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society


!Kung San: JägerInnen und SammerInnen-Gemeinschaften im südlichen Afrika. Quelle: https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html [1]

Als Angriff auf den 'homo oeconomicus' par excellence gilt Sahlins' Aufsatz über die ursprüngliche Überflussgesellschaft, in erster Fassung 1968 auf Französisch publiziert. Der Mainstream der Anthropologie der damaligen Zeit war einhellig der Ansicht, dass Jäger- und Sammlergesellschaften auf Grund der widrigen Umstände, in denen sie leben, keine Chance haben, "Kultur" zu entwickeln. Technologische Inkompetenz hätte dazu geführt, dass Jäger und Sammler ständig von Hunger bedroht seien und um zu überleben, permanent arbeiten müssten. Sahlins meint polemisch, dies wäre das klassische "neolithische Vorurteil" mit dem Ziel diesen Gesellschaften ihren Lebensraum zu beschränken.

Argumentation:

  • Annahme seit Adam Smith[2] und länger: Bedürfnisse sind unendlich, aber die Mittel knapp.
  • Tragödie der Konsumgesellschaft: es sind so viele Güter verfügbar und nur wenige kann man erreichen. Jede Entscheidung für etwas, bedeutet gleichzeitig Verzicht auf etwas anderes.

==> Sahlins dagegen:Was ist, wenn Bedürfnisse sehr beschränkt, die Mittel, diese zu befriedigen aber unendlich und im Überfluss vorhanden sind?

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html
[2] Siehe Kapitel 1.3.2


4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San


Sahlins legt nun neues ethnographisches Material dar: Richard Lees Studien über die !Kung San in der Kalahari.

Lee begleitete 1969 vier Wochen lang ein Gruppe Dobe !Kung und zeichnete auf, welche Kalorienmenge in welcher Zeit erwirtschaftet und verbraucht wurde.

Die Dobe erjagten und ersammelten durchschnittlich 2.140 Kalorien täglich pro Kopf, wofür pro erwachsener Person ein durchschnittlicher Arbeitsaufwand von 2,2 Arbeitstagen pro Woche erforderlich war. Auf Grund der Zusammensetzung der Gruppe nach Alter und Geschlecht sowie der durchschnittlichen Körpergröße der Dobe !Kung errechnete Lee einen Nahrungsbedarf von 1.975 Kalorien täglich. "A ‚day's work' was about six hours; hence the Dobe work week is approximately fifteen hours, or an average of two hours, nine minutes per day" (Sahlins 1972: 21).

Vom Rhythmus her werden zwei bis drei Tage mit der Beschaffung der Subsistenzmittel verbracht, dann folgen mehrere Tage Pause mit gegenseitigen Campbesuchen, ausruhen, Tänzen, etc.

Auf die Frage, warum sie ihre Lebensweise nicht den umgebenden Ackerbauern und Viehzüchtern anpassten, erhielt Lee zur Antwort: "Why should we plant, when there are so many 'mongomongo nuts' in the world?" (Lee 1968: 33 zit. Nach Sahlins 1972: 27).

Gleichzeitig ist die Ausstattung mit materiellen Objekten (Werkzeugen, Kleidung, etc.) sehr gering und auf Besitz wird generell wenig Wert gelegt. Lee, Sahlins und andere bringen den Verzicht auf Besitz mit der Mobilität dieser Gruppen in Zusammenhang. Mobilität ist die Bedingung für den ökonomischen Erfolg von Jäger- und Sammlergesellschaften: "Of the hunter it is truly said that his wealth is a burden" (Sahlins 1972: 11). Wenn man alles, was man besitzt tragen muss, dann schließen Eigentum und Mobilität einander aus.

Vorratshaltung ist bekannt, wird aber für ökonomisch wertlos gehalten. Sie fixiert ein Camp an einen bestimmten Ort, der dadurch ökologisch überausgebeutet wird. Mobilität ist daher der zentrale ökonomischer Wert.

Sahlins schließt daraus: Nomadismus ist keine Flucht vor Hunger! Mobilität und Mäßigung bringen die Ziele der Jäger mit ihren technischen Möglichkeiten zusammen (Sahlins 1972: 34).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg


4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion


Leonard Holman "Homeless, San Francisco" (digital enhanced photography). Quelle: https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html [1]

Jede technische Innovation hat nicht Arbeit erspart, sondern mehr Arbeit ermöglicht. Die Menge der Arbeit pro Kopf wächst mit der Entwicklung der Kultur.

Trotzdem ist heute am Höchststand der technischen Entwicklung der Hunger eine Institution, d.h. die Menge des Hungers in der Welt nimmt mit der Entwicklung der Kultur zu.

Die Entwicklung der Wirtschaft führt zu zwei gegenteiligen Bewegungen: sie wirkt bereichernd und gleichzeitig verarmend: aneignend in Beziehung zur Natur und enteignend in Beziehung zum Menschen.

Armut ist keine Beziehung zur Natur, sie ist ein Verhältnis zwischen Menschen!

Polemisches Ende dieses Aufsatzes: Als die Kultur sich dem Höhepunkt der materiellen Errungenschaften näherte, errichtete sie einen Schrein für das Unerreichbare: "'Infinite Needs'" (Sahlins 1972: 39).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html


4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse


Sahlins' Portrait der ursprünglichen Überflussgesellschaften verleitet zu einem Bild von "arm aber glücklich". Völlig gegenteilige Images werden z.B. über Afrika in Weltbank- und UNO-Berichten vertreten.

Gerd Spittler bringt beide Theorien auf den Punkt:

Zwei Theorien stehen sich hier gegenüber, beide haben sie eine lange Tradition. Die eine geht davon aus, daß vorindustrielle Gesellschaften Mangelgesellschaften sind. Ihre geringe Güterausstattung verdammt sie zu Armut und Elend, und sie warten nur darauf, durch die Segnungen der Industrialisierung erlöst zu werden. Die andere Theorie geht von der Prämisse aus, daß die geringe Güterausstattung kein Ausdruck von Mangel ist, sonder den einfachen Bedürfnissen dieser Menschen entspricht." (Spittler 1991: 66)

Spittler plädiert in der Folge für ein differenziertes Bild und für eine Unterscheidung der Sachverhalte:

a) Einfache und begrenzte Bedürfnisse

b) Mangel, der aber nicht mit Armut gleichzusetzen ist

c) Armut im Rahmen von einfachen Bedürfnissen

d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion

a) Einfache und begrenzte Bedürfnisse

Einfache Bedürfnisse entsprechen in etwa dem, was Sahlins in seiner Original Affluent Society beschrieben hat. Nach Jack Goody (1982) sind diese für Gesellschaften typisch, die nicht in sozio-ökonomische Klassen aufgespalten sind. In Klassengesellschaften, v.a. in bäuerlichen Gesellschaften treten "begrenzte" Bedürfnisse auf. Es bestehen Normen und Mechanismen, die den Konsum der unteren Klassen einschränken. Ihre Bedürfnisse "werden begrenzt".

b) Mangel, der aber nicht mit Armut gleichzusetzen ist

Mangel ohne Armut setzt Spittler mit Gesellschaften in Verbindung, die regelmäßige saisonale Hungermonate kennen, wie sie Audrey Richards (1939) bei den Mbembe beschrieben hat als Ausdruck einer Weltsicht, "die den Wechsel von Fülle und Mangel akzeptiert" (Spittler 1991: 75). In den jährlichen Hungermonaten werden die Aktivitäten reduziert, die Leute sind fröhlich und beklagen sich nicht. Richards kommt zu dem Ergebnis, dass die Kultur den biologischen Bedürfnissen ihre konkrete Form gibt.

c) Armut im Rahmen von einfachen Bedürfnissen

Armut trotz einfacher Bedürfnisse tritt dann auf, wenn selbst einfache Bedürfnisse situationsspezifisch z.B. durch Dürren oder Kriege nicht befriedigt werden können. Gruppen oder Individuen geraten zeitweilig in Not.

d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion

Die moderne Armut beruht auf gestiegenen Ansprüchen ohne Aussicht auf die Mittel, diese auch befriedigen zu können. Die Betroffenen empfinden sich selbst explizit als arm, unabhängig von ihrem tatsächlichen Besitz und Einkommen. Moderne Armut schließt vom sozialen Leben aus, sie isoliert z.B. die Armen in den Slums.

Die gängige Erklärung dafür, warum Menschen ihre einfachen Bedürfnisse -- mit denen sie ja zufrieden waren -- nicht beibehalten, ist die Kommunikationsthese (Spittler 1991: 82f). Solange Bauern und Nomaden von der Industriegesellschaft isoliert waren, wussten sie nichts von den Reichtümern und Konsummöglichkeiten dieser Welt. Kaum werden sie davon informiert, wollen sie auch alle Konsumgüter der industrialisierten Welt haben.

Spittler setzt dem entgegen:
Ich vertrete die These, daß der Prozeß umgekehrt verläuft, wie es Lerner postuliert. Es sind nicht durch Kommunikation bewirkte neue Bedürfnisse, die bei Nichterfüllung zu Armut und Marginalisierung führen, sondern der Prozeß beginnt mit der Marginalisierung. Dabei wird das traditionelle Wertesystem aufgelöst, und die neuen Bedürfnisse der modernen Welt werden übernommen." (Spittler 1991: 83)

Am Beispiel der Errichtung von Schulen zeigt er, dass plötzlich alle, die keine Schule besucht haben, zu Analphabeten degradiert werden. Hatten sie vorher ein würdiges Leben geführt, sind sie jetzt hilflos den neuen Behörden und ihren sich vervielfachenden Verwaltungsakten ausgesetzt!

4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production


Viele indigene Gemeinschaften des Amazonasraums (z.B. die Achuar) können dem "Domestic Mode of Production" zugeordnet werden. Foto: Elke Mader

Marshall Sahlins(1972) zeigt weiters, dass in vielen kleinen, überschaubaren (= wenig stratifizierten) Gesellschaften die Produktionsweise auf den Haushalt beschränkt ist. Dieser ist eine Produktionseinheit von mehreren Generationen. In der Hausgemeinschaft gibt es Arbeitsteilung, jedoch nicht nach Kenntnissen, sondern nach Alter und Geschlecht. Der gesamte Produktionsprozess erfolgt in dieser Gemeinschaft und ist auf ihren Bedarf abgestellt. Alle Personen haben direkten Zugang zu allen Ressourcen.

Es wird nicht mehr produziert, als man benötigt. Weder die Ressourcen noch die Arbeitskraft werden voll ausgenützt. Arbeit und bearbeitete Fläche ändern sich im Verhältnis Produzenten zu Konsumenten ==> Tschajanow's Gesetz.

Nicht nur für russische Bauern der Zarenzeit gilt: Die Produktion passt sich dem Familienzyklus an: Die Arbeitszeit und die bearbeitete Fläche steigen mit der Zahl der Konsumenten im Verhältnis zu den Produzenten im Haushalt. Sinkt die Zahl der zu versorgenden Personen wieder, lässt die Arbeitsintensivität sofort nach.

Seither gab es verschiedene Versuche, den Eigenheiten der Häuslichen Produktionsweise auf die Spur zu kommen ==> Peasant societies.

4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Barnard, Alan; Spencer, Jonathan 1996: *Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology.* London, New York: Routledge.

Carrier, James G. (Hg.) 2005: 'A Handbook of Economic Anthropology.' Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar.

Goody, Jack 1982: *Cooking Cuisine and Class. A study in Comparative Sociology.* Cambridge.

Gregory, C.A. 1998: Exchange and reciprocity. In T. Ingold (Hg.):

  • Companion Encyclopedia of Anthropology. Humanity, Culture, and Social

Life.* London, New York: Routledge, S. 911-939.

Halperin, Rhoda H. 1994: 'Cultural Economies Past and Present.' Austin: University of Texas Press.

Ingold, Tim 1986: *The Appropriation of Nature: Essays on Human Ecology and Social Relations.* Manchester: Manchester University Press.

Isaac, Barry L. 2005: Karl Polanyi. In J. G. Carrier (Hrsg.): *A Handbook of Economic Anthropology.* Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar, S. 14-25.

Karl, Polanyi 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton (Hg.) 'Primitive, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi.' New York: Anchor Books, Doubleday & Company, INC., S. 139-174.

Polanyi, Karl 1978: *The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen.* Frankfurt am Main: Suhrkamp.

--- 1979: 'Ökonomie und Gesellschaft.' Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Polanyi, Karl; Arensberg, Conrad M.; Pearson, Harry W. (Hrsg.) 1957: 'Trade and Market in the Early Empires.' New York: Free Press.

Richards, Audrey 1995 (1939): *Land, Labour and Diet in Northern Rhodesia. An Economic Study of the Bemba Tribe.* Münster, Hamburg: LIT.

Sahlins, Marshall 1965: On the Sociology of Primitive Exchange. In M. Banton (Hg.) 'Stone Age Economics.' London: Tavistock, S. 185-275.

--- 1972: 'Stone Age Ecomomics.' London: Tavistock Publications Limited.

Spittler, Gerd 1991: "Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse." 'Zeitschrift für Ethnologie' 116: S. 65-89.


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5 Neomarxismus

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

  • Produktion von Töpferwaren in Nepal. Foto: Elke Mader
  • Produktion von Töpferwaren in Nepal. Foto: Elke Mader

Im Zentrum einer Politischen Ökonomie aus marxistischer Perspektive steht das Konzept der Produktionsweise. Daraus ergeben sich einerseits die Fokussierung auf Produktion und andererseits die Betonung der Bedeutung von Geschichte. Die Politische Ökonomie ist Teil einer "'broad Enlightenment metanarrative of progress'" (Robotham 2005: 41). Einzelne Gesellschaften werden in einem breiteren Kontext der sozialen Evolution untersucht.

Außerhalb der kommunistischen Länder kann bis in die 1960er Jahre nicht von einer marxistischen Anthropologie gesprochen werden. Haupthindernis war das Wissen, dass das Evolutionsschema, das Marx und Engels von Morgan übernommen hatten, falsch ist und niemand in den Geruch kommen wollte, Unsinn zu schreiben. Zudem waren insbesondere in der Zwischenkriegszeit marxistische Ansätze an westlichen Universitäten verpönt (Graeber 2001: 24).

In Frankreich änderte sich dies durch den Philosophen Louis Althusser in den 1960er Jahren. Er plädierte für eine flexiblere Begrifflichkeit rund um das Marx'sche Konzept der Produktionsweisen. Dies wurde von Sozialanthropologen wie Meillassoux[1], Terray[2] und Godelier[3] aufgegriffen und ausgebaut.

Aus dieser marxistischen Perspektive heraus argumentierten sie, dass sowohlFormalisten wie Substantivisten[4]unrecht hätten, da beide den Ausgangspunkt für ökonomisches Handeln im Austausch und der Distribution sehen.

Um eine Gesellschaft zu verstehen, müsse man zu allererst verstehen, wie sie es schafft, über die Zeit hinweg weiter zu bestehen, wie sie sich selbst reproduziert. Wie wird eine Gesellschaft durch verschiedene Arten produktiver Handlungen ständig neu geschaffen, und wie sind die grundlegenden Formen von Ausbeutung und Ungleichheit in den sozialen Verhältnissen verankert, durch die sich die Menschen reproduzieren?

Diese Fragestellungen sind sehr verschieden von funktionalistischen Ansätzen, die viele Formalisten und Substantivisten gemeinsam hatten. Diese gingen von "einer Gesellschaft" aus, und stellten sich dann die Frage, wie diese Gesellschaft zusammen gehalten wird. Geschichte hatte für sie wenig Bedeutung. Marxistische Ansätze, die sich mit Produktionsweisen auseinander setzen, wollen immer auch die Geschichte der Produktionsweisen, wie sich bestimmte Formen von Ausbeutung und Herrschaft entwickelt haben, nachzeichnen (vgl. Graeber 2001: 24; Robotham 2005).

In den USA gingen insbesondere Schüler des Neoevolutionisten und Kulturökologen Julian Steward (link) der Frage nach der Geschichte nicht-industrieller Produktionsweisen nach. Anthropologen wie Eric Wolf[5] oder Sidney Mintz[6] stellten dabei die Verflechtungen der kapitalistischen mit nicht-kapitalistischen Produktionsweisen in den Vordergrund.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.2
[4] Siehe Kapitel 3.3
[5] Siehe Kapitel 5.3.1
[6] Siehe Kapitel 5.3.2

Inhaltsverzeichnis

5 Neomarxismus

5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich
5.2 Französische VertreterInnen
5.2.1 Claude Meillassoux
5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse
5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit
5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"
5.2.2 Maurice Godelier
5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer
5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya
5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit
5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer
5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier
5.2.3 Emmanuel Terray
5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes
5.3 VertreterInnen in den USA
5.3.1 Eric Wolf
5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie
5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion
5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"
5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda
5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen
5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt
5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff
5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation
5.3.1.1.2.4 Warenströme
5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika
5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee
5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet
5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)
5.3.2 Sidney Mintz
5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers
5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker
5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers
5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei
5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht
5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung
5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz
5.3.4.1 Die Welt als System
5.3.4.2 Zentrum und Peripherie
5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität
5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

1 Vorläufer
2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus
3 Neoklassik oder Rational Choice
4 Institutionalismus und Substantivismus
5 Neomarxismus

Nächstes Kapitel: 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich


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5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Es gibt zwei moderne Strömungen der marxistischen Anthropologie, eine in Frankreich und eine in Amerika (vgl. Wilk 1996: 92ff).

Gemeinsamkeiten:

  • Ausgangspunkt: materielles System der Produktion und Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel
  • Fokus auf Fragen der Macht und der Ausbeutung
  • Auseinandersetzung mit Konflikt und Wandel
  • Analyse von Handlungen und Ereignissen als politische Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen, die durch die Kontrolle über Eigentum entschieden werden

Unterschiede:

  • Frankreich: strukturalistisch beeinflusst

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  • USA: stark historisch orientiert


Nächstes Kapitel: 5.2 Französische VertreterInnen


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5.2 Französische VertreterInnen

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Die marxistisch orientierte Gruppe in Frankreich, zu der mit Ausnahme von Maurice Godelier vor allem Afrikaspezialisten gehören, wird aufgrund des 'starken Einflusses des Strukturalismus'* auch als Structural Marxists'*' (Robotham 2005: 42f; Wilk 1996: 86) bezeichnet.

Das Spezifische dieser Gruppe besteht in der Kombination von traditioneller ethnographischer Empirie mit einer "self-consciously theoretical Orientation" (Robotham 2005: 43). Robotham weist auch darauf hin, dass vorher die theoretischen marxistischen Konzepte dazu tendiert hätten, anthropologische Erkenntnisse zu ignorieren. Vor Beginn der 1960er Jahre versuchte man die ethnographischen Fakten in vorgefertigte theoretische Schemen zu pressen. Anthropologen wie Claude Meillassoux, Maurice Godelier, Emmanuel Terray, Pierre-Phillip Rey, Georges Dupré oder Marc Augé sehen die Feldforschung als notwendigen Ausgangspunkt für Theorienbildung. Sie legen daher auch feinkörnige und detailreiche ethnographische Beschreibungen der ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen der von ihnen untersuchten Gesellschaften vor. "On this basis, they approached theory as a construct that should respect and be supported by the data" (Robotham 2005: 43).

Inhalt

5.2.1 Claude Meillassoux

Claude Meillassoux (1925 -- 2005)

Relevante Werke:

1964: Anthropologie économique des Gouro de Côte d'Ivoire

1975: Femmes, greniers et capitaux

Claude Meillassoux wird als Begründer der Ökonomischen Anthropologie in Frankreich bezeichnet (vgl. Copans 2005: 1). Er studierte zuerst in den USA Ökonomie, dann bei Georges Balandier in Paris, welcher eine gegenwartsbezogene, problemorientierte Afrikaforschung initiierte. Balandier gründete 1958 das Centre d'études africaines (CEA), aus dem eine Reihe links orientierter Ethnologen hervor gegangen sind (Petermann 2004: 831).

Was Claude Meillassoux zeitlebens auszeichnete, ist die enge Verbindung von Empirie, marxistisch inspirierter theoretischer Analyse und politischem Engagement (Schlemmer 2004; Copans 2005).

Meillassoux geht davon aus, dass die Konzepte von Marx über Ausbeutung, Ideologie und Macht gleichermaßen dazu verwendet werden können, staatenlose Gesellschaften und Gesellschaften ohne elaborierte politische Hierarchien zu verstehen. Er argumentiert, dass Verwandtschaft Teil der politischen Ökonomie ist und dass auch in egalitären Gesellschaften und Haushalten es Gruppen gibt, die andere ausbeuten. Die "traditionelle" Ideologie und der Symbolismus, den die Anthropologen so lieben, dienen tatsächlich zu nichts anderem, als diese Ausbeutung zu verstecken und zu rechtfertigen.

Meillassoux im WWW:

https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [1]

https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2]

https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [3]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm
[2] https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm
[3] https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html


5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse


Auf Basis seiner Feldforschung bei den Gouro an der Elfenbeinküste (Cote d'Ivoire) stellt Meillassoux fest, dass Verwandtschaft eng mit den Produktions- und Distributionsverhältnissen verknüpft ist. Jagd, Viehzucht, Ackerbau für den eigenen Verbrauch, aber auch der Anbau von Cash-Crops sind entlang der Verwandtschaft organisiert.

Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lineage entscheidet über den Zugang zum wichtigsten Produktionsmittel Land. Ähnlich ist es im Bereich der Zirkulation der wesentlichen Güter, wie sie z.B. über den Brautpreis erfolgen. Meillassoux schließt daraus, dass Verwandtschaft keineswegs Teil des "Überbaus" ist, sondern das wesentliche Produktionsverhältnis in der klassenlosen Gesellschaft der Gouro.

Meillassoux definiert eine häusliche Produktionsweise (*domestic mode of production*), in der die älteren Männer die jüngeren Männer und die Frauen ausbeuten, in dem sie die Kontrolle über deren Arbeitskraft ausüben. Ältere Männer steuern über das Verwandtschaftssystem die Heiraten der Töchter und Söhne, deren Brautpreis oder Mitgift.

Während in der kapitalistischen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrwert über das Eigentum an Produktionsmittel erfolgt, sind in der häuslichen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrarbeit und Mehrprodukt in der Kontrolle von Menschen begründet. Die Ältesten entscheiden, wer wen heiratet, zu welcher Lineage die Kinder gehören und wer ein Stück Land zur Bearbeitung erhält. Der ökonomische Surplus wird über Gebräuche und Familienverbindungen gesteuert und nicht über Löhne oder Tribute.

Für Meillassoux und Godelier ist Verwandtschaft jedenfalls ein Machtsystem, über das Arbeit organisiert und die Produkte von Arbeit gesteuert werden.

  • Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski
  • Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski


5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit


"Cash and Carry Ventures", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

In den "Wilden Früchten der Frauen" (1978) arbeitet Meillassoux im ersten Teil heraus, wie Produktion und Reproduktion in verschiedenen Wirtschaftsweisen organisiert sind, insbesondere die Spezifika der Haushaltswirtschaft in Getreidebaugesellschaften. Diese Produktionsform zieht ihre Stabilität aus der Fähigkeit, die Hausgemeinschaft über Generationen hinweg auf einer ständigen Kreditbasis zu reproduzieren.

Die Rhythmen des Jahreszyklusses bedingen das Anlegen von Vorräten, die reinvestiert werden müssen, um ein Mehrprodukt zu erringen. Dies bindet die Individuen aneinander. Es macht Sinn, bis zur Ernte zusammen zu bleiben und wegen des Saatguts bis zur nächsten Aussaat.

In dieser Sicht ist der landwirtschaftliche Zyklus von einer immer wieder erneuerten Zirkulation von Vorschüssen und Rückzahlungen des Produkts zwischen den produzierenden Gruppen der aufeinander folgenden Jahreszeiten begleitet: Die Gesamtheit der Arbeiter einer Saison schießt denen der folgenden Saison Nahrung und Saatgut vor" (Meillassoux 1978: 55).

Im Laufe der Zeit erfolgt ein Wechsel der Generationen, die Alten schießen den Jungen Saatgut vor, sie speichern das Produkt, während die Jungen die Aussaat besorgen und somit die Arbeit leisten. In der Hausgemeinschaft, die so aus dem Ackerbau entstand, sind die Hierarchisierung der Gesellschaft und das dauerhafte Zusammenleben in einer Haushaltsgemeinschaft angelegt. Die Hierarchisierung ergibt sich daraus, dass die Alten den Jungen immer etwas vorschießen.

Dies entspricht auch der Mauss'schen[1] Logik der Gabe, die davon ausgeht, dass das Geschenk, die Gabe, immer eine Schuld begründet, die den Nehmenden in eine untergeordnete Position gegenüber den Gebenden setzt.

Meillassoux sieht in den internen Dynamiken, die den Produktions- und vor allem den Reproduktionsverhältnissen der Hauswirtschaften im Ackerbau inhärent sind, das Potenzial für deren Ausbeutbarkeit angelegt. Durch die Notwendigkeit, über das Jahr und über die Generationen hinweg Vorräte zu erwirtschaften, die zur Risikominimierung das Niveau des unbedingt Nötigen überschreiten müssen, wird Mehrarbeit zur Selbstverständlichkeit und zur Quelle von Mehrprodukt, das abschöpfbar ist.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2


5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"


"Everything is step by step", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Im zweiten Teil der 'Wilden Früchte der Frauen' überprüft Meillassoux die Theorien des Lohns und der ursprünglichen Akkumulation (Meillassoux 1978: 113ff).

Die Phase der ursprünglichen Akkumulation wurde von Karl Marx als Übergangsphase aufgefasst, in der es im Bereich der kapitalistischen Produktionsweise zu einem besonders raschen Anwachsen des Kapitals gekommen ist. Durch den ständigen Zustrom von Arbeitskräften aus den nicht kapitalisierten Bereichen konnten die Löhne unter den gesamten Reproduktionskosten der Arbeitskraft[1] gehalten werden.

Für die von diesen Prozessen betroffenen Menschen[2] bedeutete dies Verelendung, Enteignung, Migrationsdruck, Migration in rasch wachsende Städte, entfremdete Arbeit unter meist katastrophalen Bedingungen, Slumbildung.

Zumindest die Produktion der Arbeitskraft als solche erfolgte im vorkapitalistischen Sektor. Diese Phase der ursprünglichen Akkumulation wurde als Übergangszeit theoretisiert, die mit der vollständigen Durchkapitalisierung abgeschlossen sein würde.

Meillassoux (1978:116f) weist nun darauf hin, dass der Bereich der bäuerlichen Hauswirtschaften keineswegs zur Gänze dem kapitalistischen Sektor unterworfen ist und auch hinreichend viel Spielraum erhält, um selbst reproduktionsfähig zu sein. Bäuerliche Gesellschaften bleiben qualitativ von der kapitalistischen Produktionsweise verschieden, aber:

die allgemeinen Bedingungen der Reproduktion des sozialen Ganzen dagegen hängen nicht mehr von den der häuslichen Produktionsweise innewohnenden Determinanten ab, sondern von im kapitalistischen Sektor getroffenen Entscheidungen. Durch diesen im Wesen widersprüchlichen Prozess wird die häusliche Produktionsweise sowohl erhalten wie zerstört: Erhalten als soziale Organisationsform, die für den Imperialismus Wert produziert; zerstört, da die Ausbeutung sie allmählich ihrer Reproduktionsmittel beraubt" (Meillassoux 1978: 116).

Durch die mehr oder weniger künstliche Aufrechterhaltung eines nicht vollständig durchkapitalisierten Sektors lässt sich die ursprüngliche Akkumulation in ein permanentes Ausbeutungsverhältnis umwandeln, insofern als es Regionen und gesellschaftliche Bereiche gibt, die Arbeitskräfte außerhalb der Zirkulationssphäre der reinen Warenwirtschaft produzieren und reproduzieren.

Meillassoux bezieht dieses Phänomen insbesondere auf Rotationswanderungen, wie sie beispielsweise durch das südafrikanische Apartheidsystem erzwungen wurden. In den Homelands wurde die häusliche Produktionsweise künstlich aufrechterhalten, um den Minenarbeitern nicht die vollen Reproduktionskosten bezahlen zu müssen (Meillassoux 1978: 135ff).

Regionen, in denen Subsistenzwirtschaft zumindest zum Teil beibehalten wird, dienen als Arbeitskraftreserven für die Industriegebiete. Ein klassischer Indikator für die Existenz und damit die Ausbeutung solcher nicht zur Gänze durchkapitalisierter Bereiche ist ein "doppelter" Arbeitsmarkt. Damit sind Berufssparten gemeint, in denen deutlich niedrigere Löhne ausbezahlt werden und in die bestimmte Bevölkerungsgruppen gezwungen werden.

Meillassoux hat sich damit als einer der ersten Anthropologen mit Fragen der Arbeitsmigration und dem Verhältnis zwischen kapitalistischer und häuslicher Produktionsweise befasst. Die häusliche Produktionsweise geht durch die kapitalistische Produktionsweise nicht unter, sondern liefert beständig billige Arbeitskräfte nach.

Trotz Kritik in vielen Teilbereichen wurde diese Arbeit von Meillassoux sowohl in der feministischen Anthropologie als auch in der Migrationsforschung und in der ökonomischen Anthropologie rezipiert und weiter entwickelt.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 2.1.1


5.2.2 Maurice Godelier

Maurice Godelier (geb. 1934)

Relevante Werke:

1982: La production des Grands Hommes

1984: L'idéel et le matériel

Maurice Godelier studierte zuerst Philosophie, interessierte sich dann für Ökonomie und kam durch Claude Lévi-Strauss zur Sozialanthropologie. Als Schüler des marxistischen Philosophen Louis Althusser und durch den Einfluss von Lévi-Strauss ist er stark strukturalistisch geprägt. Zwischen 1966 und 1988 führte Maurice Godelier mehrere Feldforschungen bei den Baruya im Hochland Papua-Neuguineas durch. Auf dieser ethnographischen Basis aufbauend beschäftigte er sich mit dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Sozialstruktur, mit der Entstehung politischer Macht und der Bedeutung von ideellen Konstrukten.

Über die intensive Beschäftigung mit klassenlosen Gesellschaften wie den Baruya kommt er zum Schluss, dass soziale Ungleichheit auch über das Verwandtschaftsverhältnis und die Ideologie hergestellt werden kann. Diese werden zum Produktionsverhältnis, das Alte und Junge, Männer und Frauen von einander trennt. Insbesondere die Frauen werden mit ideologischen Konstruktionen ihrer Produktionsmittel beraubt.

Es gibt nämlich keine Beziehung zwischen ökonomischer und politischer Macht in dieser klassenlosen Gesellschaft. Manche Baruyamänner werden zwar über den Salzhandel, den Gartenbau und die Jagd reich, sie können aber diesen Reichtum nicht in Macht verwandeln und Chefs werden. Politische Macht entsteht ausschließlich durch Erfolg in der Kriegsführung, durch die Kontrolle über Magie und Ritual und in erster Linie durch die Manipulation von Verwandtschaft. Verwandtschaft ist die wahre Basis aller Machtdifferenzen in der Baruyagesellschaft. Verwandtschaft ist in einer Ideologie verankert, welche die Macht den Männern auf Basis ihrer Kontrolle über die Fruchtbarkeit der Frauen zuordnet.

Godelier im WWW:

https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier [2]

https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html [3]

https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm [4]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier
[3] https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html
[4] https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm


5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer


"Großer Mann" der Baruya, Godelier 1986, Abb. 18.

Die Baruya, ein etwa 2000 Menschen zählender Stamm im Hochgebirge Papua-Neuguineas, kamen 1951 erstmals mit Weißen "physisch" in Berührung, waren aber bereits ein Jahrzehnt früher von deren materiellen Gütern wie Stahläxte und Macheten ökonomisch abhängig. 1960 fielen sie unter australische Kolonialverwaltung.

Godelier, der ab 1966 immer wieder lange und umfangreiche Feldforschungen bei ihnen durchführte, fasst sein Material 1982 unter dem Titel Die Produktion der Großen Männer'*'. Macht und männliche Vorherrschaft bei den Baruya in Neuguinea'*' zusammen. Es geht ihm dabei explizit um die Analyse der Mechanismen und Vorstellungen, die in dieser klassenlosen und bis 1960 staatenlosen Gesellschaft die männliche Herrschaft organisieren und legitimieren. Denn ohne Führungsklasse zu sein bedeutet nicht, dass es auch keine Ungleichheiten gibt:

Ein Teil der Gesellschaft, die Männer, lenkte den anderen, die Frauen; sie regierten die Gesellschaft zwar nicht ohne die Frauen, aber gegen sie. Damit kommt der Fall der Baruya, einer klassenlosen Gesellschaft, zu all denen hinzu, die bereits deutlich davon zeugen, daß die Ungleichheit unter den Geschlechtern, die Unterordnung, Unterdrückung, ja Ausbeutung der Frauen gesellschaftliche Realitäten sind, die nicht erst mit dem Auftauchen der Klassen entstanden, sondern schon vorher existierten, auch wenn sich die Herrschaft der Männer mit den tausend Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die den unseren vorausgingen, auf tausenderlei Arten gefestigt und erneuert hat." (Godelier 1987: 10)

Auch unter den Männern sind nicht alle gleich. Obwohl es keine soziale Klasse gibt, die sich über eine andere erhebt, existieren doch eine Anzahl von Funktionen, verdient oder ererbt, die Große Männer hervorbringen.

"Die Produktion »Großer Männer« ist somit die unerläßliche Ergänzung und Krönung der männlichen Herrschaft" (Godelier 1987: 11) und Godelier's zentrale Fragestellung.


5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya


Die Baruya leben in zwei Hochtälern im östlichen Hochland Neuguineas zwischen 1600 und 2300 Meter Seehöhe auf etwa 17 Dörfer verteilt. Es gibt keinen Häuptling, sondern 15 Clans, die wiederum in Lineages und diese in Segmente unterteilt sind. Die soziale Organisation der Clans und Untergruppen ist patrilinear und patrilokal.

Die wesentlichen Produktionszweige sind Brandrodungsfeldbau und der Anbau von Süßkartoffeln in dauerhaften Gärten, sowie die Schweinezucht. Ergänzend kommen Jagd- und Sammelwirtschaft hinzu, die von hohem zeremoniellen Wert aber geringem Subsistenzwert sind. Große ökonomische Bedeutung hatte bis in die 1960er Jahre die Salzproduktion aus einer Trockengrassorte, da Salz bei den Nachbarstämmen gegen Stein- und später Stahläxte und Macheten eingetauscht wurde.

Alle Tätigkeiten unterliegen einer strengen gesellschaftlichen Arbeitsteilung und sind einem bestimmten Geschlecht oder einer Altersgruppe zugewiesen. Nur die Salzproduktion bildet ein spezialisiertes Handwerk, das auf technischen und magischen Geheimnissen beruht und ausschließlich von eigens dafür ausgebildeten Männern durchgeführt wird. Grund und Boden ist im Besitz einer männlichen Abstammungsgruppe und kann von Frauen niemals ge- oder vererbt werden. Insgesamt sind Frauen vom Zugang zu den wichtigsten Produktionsmitteln (Grund und Boden, die Herstellung von und Kontrolle über Werkzeuge) und Destruktionsmitteln (Waffen), sowie von der Salzproduktion kategorisch ausgeschlossen.

Die Unterordnung der Frauen ist in der räumlichen Anordnung der Dörfer, in den Begegnungen, Gesten und Verhaltensnormen zwischen den Geschlechtern tagtäglich sichtbar und präsent. Die an den Hängen gelegenen Dörfer haben im höchst gelegenen Teil einen Bereich mit einem oder mehreren Männerhäusern, der ausschließlich Knaben und Männern vorbehalten ist. Im mittleren Teil leben die Familien und im unteren Teil des Dorfes befinden sich Gestrüpp und Laubverschläge. Dorthin ziehen sich die Frauen zum menstruieren und gebären zurück. Der Bereich der Frauen gilt bei den Männern als unrein und Ekel erregend. Begegnen sich Männer und Frauen am Weg, so haben die Frauen stehen zu bleiben, auszuweichen, sich weg zu drehen und das Gesicht zu bedecken, während die Männer vorbeigehen, als wäre da niemand.

Godelier fragt sich nun, worauf diese offensichtliche Herrschaft der Männer über die Frauen begründet ist.

An der Arbeitsteilung kann es nicht liegen, weil diese die Unterordnung der Frauen unter die Männer bereits voraussetzt. Die Tätigkeiten der Frauen werden systematisch abgewertet. Es sind ihnen nur die mühsamen, eintönigen, sich täglich wiederholenden Arbeiten erlaubt. Frauen ist es verboten - und zwar zum Teil unter Androhung der Todesstrafe - Wissen und Kenntnisse über die hoch bewerteten Männerarbeiten zu erwerben.

Frauen verrichten fast die gesamte Arbeit in den Kartoffelgärten und füttern die Schweine. Wird ein Tier geschlachtet, so steht der überwiegende Teil des Fleisches -- mit Ausnahme der Eingeweide und der Zunge, die als unrein gelten -- wiederum nur den Männern zu. Die besten Teile werden ins Männerhaus geliefert und dort von den Initianten und verheirateten Männern gemeinsam gegessen.

Diese Entnahme und dieser kollektive Verzehr bezeugen deutlich die männliche Herrschaft und bekräftigen die kollektive Kontrolle der Männer über ein Produkt, das sie im wesentlichen der Arbeit der Frauen verdanken." (Godelier 1987: 35f)


5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit


Während der Initiationszeremonie der Baruya, Godelier 1986, Abb. 16.

Nachdem Godelier die Subsistenzweise, die Produktions- und Arbeitsprozesse, die soziale Struktur der Baruya, die Rituale der Männer -- und Fraueninitiationen, die Vorstellungen über Körper und Sexualität dargelegt hat, gelangt er zu folgenden Schlüssen: Es ist "die Maschinerie der männlichen und weiblichen Initiationen", welche die "allgemeine, prinzipielle Herrschaft der Männer, aller Männer als solcher, über die Frauen, alle Frauen als solche, zu instituieren und zu legitimieren" vermag. (Godelier 1987: 111)

Was passiert nun in der Knabeninitiation, die insgesamt zehn Jahre dauert und in der Initiation der Mädchen, die nach zwei Wochen abgeschlossen ist:

Die Knabeninitiation trennt die etwa zehn Jahre alten Buben von ihren Müttern und überführt sie ins Männerhaus, wo sie in einer ausschließlichen Männerwelt bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr erzogen werden. Sie werden ohne Frauen als Männer quasi neu geboren, der Anteil der Frauen an der Produktion von Männern soll damit ausgelöscht werden. Im Männerhaus werden die Initianten in die Grundlagen der sozialen und kosmischen Ordnung eingeführt, die sie später zu den Großen Männern in ihrer Gesellschaft machen können. Dazu gehört vor allem das Wissen über die Bedeutung, die den Körperflüssigkeiten, insbesondere dem Sperma zukommt: "Und auch im Prozess der Produktion des Lebens behaupten sie, die erste Rolle zu spielen, da sie das Kind im Bauch der Mutter erzeugen, mit ihrem Sperma den Fötus und die Mutter ernähren, mit Hilfe der Sonne, des göttlichen Vaters aller Menschen" (Godelier 1987: 298).

Für die ältern Schwestern eines jüngeren Knaben wird dieser durch die

Initiation zum älteren Bruder.
Die männliche Initiation verwandelt folglich alle Frauen in die jüngeren Schwestern ihrer jüngeren Brüder und verschiebt aus politischen und ideologischen Gründen den Platz, den die Frauen innerhalb der Genealogien und Verwandtschaftsbeziehungen einnehmen, nach unten" (Godelier 1987: 111).

Die Schwelle zum Männerhaus bildet ein bemaltes Brett und dieses Brett ist das Symbol für den Körper aller Frauen, den jeder Initiant, jeder erwachsene Mann im Laufe seines Lebens viele hunderte Male überschreitet. Das Geheimnis dieser symbolischen Unterordnung der Frauen wird aber nicht den zehnjährigen Buben, die ins Männerhaus kommen, mitgeteilt, dieses Geheimnis erfahren sie erst kurz bevor sie mit etwas über zwanzig das Männerhaus verlassen, um dann als erster Frau ihrer Ehegattin gegenüber zutreten. Die Ehen werden nämlich bereits bei der Geburt der Kinder oder spätestens zu Beginn der Pubertät zwischen den Patrilineages arrangiert, meist in Form des einfachen Schwesterntauschs.

Verwandtschaftssystem und Ideologie, die am stärksten in der Knabeninitiation zum Ausdruck kommen, begründen und legitimieren somit die Abwertung und Unterordnung der Frauen.

Verstärkt wird dies durch die Mädcheninitiation, die nach der ersten Menstruation durchgeführt wird, und in der alle Frauen dem jungen Mädchen nur eines versuchen zu vermitteln: Dass sie die Unterordnung unter die Männer zu akzeptieren haben.

5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer


Ritueller Übergang von der weiblichen zur männlichen Welt, Godelier 1986, Abb. 9.

Im letzten Teil der Produktion der Großen Männer, den Godelier mit 'Die Bauchrednermaschine' übertitelt, geht er auf die Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer ein:

Dieser Glaube [an die Überlegenheit der Männer] aber wurde von beiden Geschlechtern geteilt, den eben diese gemeinsamen Vorstellungen bildeten die wichtigste, stumme und unsichtbare Kraft der männlichen Herrschaft" (Godelier 1987: 299).

Aber das Teilen der Ideen reicht nicht aus, Herrschaft funktioniert überall dann am klaglosesten, wenn die Unterdrückten die Schuld am eigenen Schicksal tragen:

Und wir wissen, daß, was die Unterdrückung betrifft, die Herrschaft eines Teils der Gesellschaft über einen anderen (Geschlecht, Kaste, Klasse, Rasse) nur dann wirklich begründet, legitimiert ist, wenn die Opfer die schuldigen werden, wenn sie für das Los das sie erdulden, als erste verantwortlich sind." (Godelier 1987: 303f)

Die einfachste Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Unterschied zu legitimieren, besteht darin, ihn in der "Natur " fest zu machen, an natürlichen Unterschieden. Die Körper von Männer und Frauen unterscheiden sich und damit kann das gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnis für alle evident gemacht werden. Die Frauen stimmen ihrem Schicksal zu, da sie ihren anderen Körper nicht zum Verschwinden bringen können (vgl. Godelier 1987: 304).

Die Sexualität wirkt wie eine Bauchrednermaschine. Sie spricht selbst nicht und doch wird ständig durch sie gesprochen. Durch sie wird gezeigt, wo der Platz der Männer und wo jener der Frauen im ideologischen System und im realen Leben der Baruya ist.

Diese Argumentationsweise Godelier's wurde von Nicole-Claude Mathieu (1985, vgl. auch Langheiter 1989) heftig kritisiert. Die These der Zustimmung und des Mitmachens unterschätzt nämlich die Gewalt, der Frauen physisch wie symbolisch tagtäglich ausgesetzt sind. Obwohl man nicht sagen kann, dass Godelier diese Gewalt gänzlich verleugnet, so schwächt er sie doch deutlich ab:

In der männlichen Macht gibt es neben der Gewalt auch die List, den Betrug, das Geheimnis, bewußt eingesetzt, um den Abstand, der die Männer von den Frauen trennt und sie vor ihnen schützt und ihre Überlegenheit sichert, aufrecht zu erhalten und zu vertiefen." (Godelier 1987: 303)

5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier


Godelier verwendet eine marxistische Terminologie, gleichzeitig sind seine Ansichten in hohem Ausmaß von Durkheim und Lévi-Strauss geprägt. Ein Beispiel für diese Synthese bietet folgendes Zitat:

Und was eigentlich besagt das Inzesttabu? Grundsätzlich ist es in jeder Gesellschaft die Anwesenheit eines Ordnungsgesetzes, einer grundlegenden Eigenschaft des menschlichen Daseins. Weil die Menschen im Unterschied zu den geselligen Tieren und ihren Vettern, den Schimpansen und Pavianen -- ungeachtet der Soziologen und Anthropologen -, nicht nur in Gesellschaft leben, sondern auch Gesellschaft produzieren, um leben zu können. Und eben dieses Ordnungsgesetz zeigt sich und wirkt durch das Inzesttabu und weit darüber hinaus. Das wurde von Lévi-Strauss ausgezeichnet gesehen und gesagt. Doch woran liegt es, daß der Mensch sich nicht damit zufrieden gibt, in Gesellschaft zu leben, sondern seine Gesellschaft auch produziert und verändert, um leben zu können, wenn nicht an einem objektiven, unumgänglichen Faktum, das nicht von seinem Willen abhängt: nämlich an der Tatsache, daß er die ihn umgebende Natur verändern und damit seine eigene Natur verändern kann? Das Inzestverbot, das den Wunsch des Individuums von denjenigen ablenkt, die zusammengearbeitet haben, um ihm das Leben zu schenken (und nicht nur seine nahen Angehörigen), bekräftigt tagtäglich und überall, daß das Individuum, so groß es auch sei, niemals der Ausgangspunkt der Gesellschaft ist, daß kein Individuum und keine Gruppe aus sich selbst, in der Isolierung und der Autarkie alle Bedingungen finden kann, die notwendig sind, um real, das heißt gesellschaftlich zu existieren." (Godelier 1987: 308f)

Durch den Produktionsprozess[1] verändert der Mensch die Natur um sich und damit auch sich selbst. Da er ein grundsätzlich gesellschaftliches Wesen ist, produziert er auch Gesellschaft[2]. Gesellschaft wird damit zur Existenzbedingung von Menschen, die nicht auf dem Willen von Individuen beruht. Der Beweis dafür ist das Inzesttabu als Ordnungsgesetz, das in jeder Gesellschaft "tagtäglich und überall" wirkt (vgl. Lévi-Strauss [3]).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2
[2] Siehe Kapitel 4.1.1
[3] Siehe Kapitel 3.3 in der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


5.2.3 Emmanuel Terray

Romuald Hazoumé, "Citoyenne", 1997, Foto: Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.

Emmanuel Terray geb. 1935

Relevante Werke:

1974 Zur politischen Ökonomie der 'primitiven' Gesellschaften

1974 Long Distance Exchange and the Formation of the State. The Case of the Abron Kingdom of Gyaman

Als Schüler von Louis Althusser geht Terray davon aus, dass die Inhalte, Widersprüche und Antagonismen einer Produktionsweise für jede Gesellschaft einzeln bestimmt werden können, wobei immer eine Interdependenz von lokalen Ausprägungen und der jeweiligen, in letzter Instanz übergeordneten, globalen Produktionsweise besteht.

Seine methodisch - theoretischen Überlegungen sind ursächlich mit seinen Forschungen in Westafrika, im Senegal (Dida) und in der Elfenbeinküste (Abron), verbunden, da gerade das postkoloniale Afrika von tief greifenden Widersprüchen zwischen politischer Form und materieller Basis geprägt ist. Für die ökonomische Anthropologie ist sein Ansatz von großer Bedeutung, da er genaue ethnographische und lokale Fragestellungen unter Beibehaltung überlokaler sozio-historischer Perspektiven ermöglicht, was Terray vor allem in seiner Arbeit über Staatsmacht und Fernhandel am Beispiel des Abron Reiches ausführt. Sein Konzept der Produktionsweise ist aber auch insofern wegweisend, als es methodischen Umgang mit sozialer Dynamik operationalisiert.

Das Gesamtwerk von Terray ist von einem anhaltenden Interesse an den Antagonismen zwischen Staat und Ökonomie, Fragen zu Macht, Gewalt und politischer Aktion geprägt. Seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich unter großem persönlichem Engagement (Terray und Goussault 1990) vorwiegend mit europäischer Politik, Menschenrechten, Asyl und Migration.


5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes


In Terrays Analysezugang ist die "Produktionsweise" die zentrale anthropologisch-ökonomische Grundkategorie. Die Produktionsweise umfasst Produktivkräfte (Beziehung Mensch -- Natur) und Produktionsverhältnisse (Beziehung Mensch -- Mensch), hat also technologische und soziale Dimensionen. Er versteht sie als historischen Komplex, der drei Ebenen umfasst:

1) ökonomische Basis

2) rechtlich-politischer Überbau

3) ideologischer Überbau

Anders als Meillassoux[1] sieht Emmanuel TerrayVerwandtschaft nicht als Teil der Ökonomie, die wiederum bei ihm die eigentlich determinierende gesellschaftliche Instanz ist. Verwandtschaft, Politik, Religion, Recht sind Instanzen des Überbaus, in welchem sie auf zahlreichen Ebenen "Repräsentationen" haben, die die Produktionsverhältnisse reflektieren. Letztere allein können Aufschluss geben über die politisch-ideologischen Verhältnisse. In diesem Sinne sind Repräsentationen in der Superstruktur sowohl Ausdruck wie Deformation ihrer Basis, wobei es aber erst durch sie zum Funktionieren jener kommt und sie beträchtliche Eigendynamik entwickeln.

Basierend auf seiner Sichtweise von Marx schlägt er zur Untersuchung einer bestimmten sozioökonomischen Formation oder Gesellschaft folgende Analyseschritte vor:

  • erstens die Bestimmung der Arbeitsprozesse, die Rohstoffe in Produkte verwandeln;
  • zweitens die Verteilung der Produkte, daraus folgt der Zugang zu den Produktionsverhältnissen, die wiederum über die Distribution die Konsumption regeln.

Subjekte des Arbeitsprozesses sind die Produktionseinheiten, die ihrerseits von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmt sind, z.B. bedingt ein dorfgemeinschaftliches Produktionsverhältnis andere Wirtschaftssubjekte (Haushalt) als ein kapitalistisches (Lohnarbeiter und Kapitaleigner).

Alle drei Ebenen der Produktionsweise spielen in einem einzelnen sozioökonomischen Phänomen eine Rolle und sind in einer *causalité triplement complex*, einer dreifach komplexen Kausalität, miteinander verwoben. Eine Produktionseinheit (Ebene 1) kann z.B. zugleich Verwandtschaftseinheit (Ebene 2) sein, wie auch gleichzeitig eine religiöse Gruppe (Ebene 3) konstituieren. Terray besteht darauf, dass gerade in der Sozialanthropologie immer alle drei Ebenen einer Erscheinung oder Handlung analytisch zu trennen und für sich zu betrachten sind, wobei er voraussetzt, dass sie in der sozialen Realität vernetzt sind oder gleichzeitig auftreten. Weiters nimmt er an, dass die Koexistenz mehrerer Produktionsweisen gleichzeitig möglich ist.

Heftige Kritik erfährt Terray von Pierre-Philippe Rey, der ihm theoretisch unzulängliche Vernachlässigung der Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse bei nicht-kapitalistischen Formationen vorwirft (Rey 1975). Eine weitere Kritik kommt von feministischer Seite von Maxine Molyneux, die seine ökonomischen Schlussfolgerungen aufgrund seiner androzentristischen Perspektive als verfälscht und damit ungültig ansieht (Molyneux 1977).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.2.1


Nächstes Kapitel: 5.3 VertreterInnen in den USA


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Vorheriges Kapitel: 5.2 Französische VertreterInnen

5.3 VertreterInnen in den USA

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

In den USA entwickelte sich ebenfalls eine marxistisch orientierte Politische Ökonomie, die sich mit Fragen nach den Zusammenhängen und Abhängigkeiten zwischen Weltregionen befasst (Narotzky 2005: 84f). Wichtige Werke in diesem Zusammenhang sind '*Eric Wolf's'Europe and the People without History (1982) und 'Sidney Mintz's'Sweetness and Power'*' (1985). Anhand der Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern versuchen beide globale historische Entwicklungen im ökonomischen Bereich nachzuzeichnen. Gerade diese zwei Werke bauen nicht auf eigener Empirie auf, sondern versuchen in einer Langzeitperspektive herauszuarbeiten, wie verschiedene Gesellschaften und Regionen in die kapitalistische Weltökonomie einbezogen wurden.

Inhalt

5.3.1 Eric Wolf

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Eric Wolf (1923-1999)

  • My primary interest is to explain something out there that impinges me,

and I would sell my soul to the devil if I thought it would help.* (Wolf im Interview mit Friedman, 1987:144)

Relevante Werke:

1966: Peasants.

1969: Peasant Wars of the Twentieth Century.

1982: Europe and the People without History

Eric Wolf wurde 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. Er verbrachte seine Kindheit in Böhmen bevor seine Eltern auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus über Großbritannien in die USA übersiedelten. Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte er als Soldat auf Seiten der Alliierten an der deutsch-italienischen Sprachgrenze in Südtirol. Dorthin kehrte er Anfang der 1960er Jahre mit John Cole zurück, um mit diesem gemeinsam die Ursachen der ethnischen Konflikte in Südtirol/Trentino zu beforschen (Cole/Wolf 1974/1995).

1946 nahm er sein Ph.D. Studium der Anthropologie bei Ruth Benedict und Julian Steward auf. Insbesondere Steward mit seiner Kulturökologie und seinem 'cultural materialism' (Harris 2001/1968: 654) übte nachhaltigen Einfluss auf Eric Wolf aus. Er nahm -- wie auch Sidney Mintz -- in den späten 1940er Jahren an Steward's Puerto Rico Forschungsprojekt teil und beschäftigte sich ab dann mit Peasants (è link), Macht und Klassen. Dabei richtete er seine Aufmerksamkeit immer auf historische Prozesse und kritisierte eine Anthropologie, welche die von ihr untersuchten Gesellschaften als statisch und isoliert präsentierte.

"Unsere Menschenwelt stellt sich als eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar, und Untersuchungen, die diese Totalität zerstückeln, ohne sie wieder zusammenzusetzen, verfälschen die Realität." (Wolf 1991: 17)

Eric Wolf leistete wesentliche Beiträge zu vielen Forschungsfeldern der Kultur- und Sozialanthropologie.

  • Im Rahmen der allgemeinen Theorienbildung dieses Faches bildet sein Werk eine wichtige Grundlage für eine Reihe von theoretischen Ansätzen in Bezug auf transkulturelle bzw. transnationale Beziehungen und Globalisierung (Wolf 1982).
  • In Bezug auf Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas [1] entwickelte er Modelle zur Analyse der Verflechtungen[2] ökonomischer, sozialer und historischer Faktoren, welche die komplexe Gesellschaft Lateinamerikas prägen. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht immer wieder die Frage nach den historischen Prozessen sowie nach den Machtverhältnissen und ihren Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Personen und Gruppen.

Für die ökonomische Anthropologe leistet er u.a. wesentliche Beiträge zur Analyse von

  • Wirtschaft und Gesellschaft von Bauern
  • dem Konzept der Produktionsweisen[3]
  • kulturellen, ökonomischen und politischen Verflechtungen in der Neuzeit

Eric Wolf im WWW:

https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html [4]

https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm [5]

https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf [6]

https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm [7]

Verweise:

[1] Siehe Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas: Eine Einführung[2 Siehe Kapitel %%chapter-id%% der Lernunterlage Lernunterlagen-title]
[2] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[3] Siehe Kapitel 2.1.2.3.3
[4] https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html
[5] https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm
[6] https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf
[7] https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm


5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie


Allegorie Europas, die von den anderen Erdteilen gehuldigt wird. B.Picart 1719. Quelle: Kohl 1982.

Das bekannteste und einflussreichste Werk von Eric Wolf bildet sein Buch: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400 (1986). Er versteht es als einen Beitrag zu einer analytischen Geschichtsbetrachtung, welche "die Wurzeln der Gegenwart in der Vergangenheit" aufdecken will.

Eine solche Untersuchung kann sich nicht auf eine Kultur, Gesellschaft oder Region beschränken, sondern muss die Vielfalt der Verflechtungen berücksichtigen, durch welche sich die verschiedenen Kulturen wechselseitig beeinflussen. Diese kulturellen Verbindungen werden im Lichte einer historisch orientierten Politischen Ökonomie neu durchdacht.

Dabei überschreitet Wolf die gängigen Darstellungsweisen der Geschichte der westlichen Welt. Er geht davon aus, dass weltweite historische und ökonomische Prozesse die verschiedenen Völker miteinander verknüpfen. Unterschiedlichste Gesellschaften waren an Veränderungsprozessen beteiligt, welche durch die Expansion der Europäer in der Neuzeit in Gang gekommen waren, und haben zu diesen Prozessen einen eigenen Beitrag geleistet. Wolf zeigt die Vielfalt solcher Prozesse in diversen Regionen und Kulturen auf und analysiert sie mit Konzepten der Politischen Ökonomie.

Das Studium von Kultur und Geschichte ist demnach aufs Engste mit dem Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden. Durch die Betrachtung der Welt "als ganze, als Totalität, als System", will das Buch dazu beitragen Grenzen zwischen westlicher und nicht-westlicher Geschichte aufzuheben. Dieser Ansatz erfordert einen interdisziplinären Zugang: So integriert das Werk Konzepte und Kenntnisse der Kultur- und Sozialanthropologie, der Geschichte und der Politischen Ökonomie (vgl. Wolf 1991: 9-11).


5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion


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Die Grundlagen der Politischen Ökonomie[1] bilden in Eric Wolf's"Die Völker ohne Geschichte"' den analytischen Rahmen für die Untersuchung historischer, kultureller und ökonomischer Verflechtungen.

Die Basis bildet die These von Karl Marx, dass keine Trennung zwischen sozialen und ökonomischen Prozessen besteht. Wie Marx vertritt Eric Wolf einen ganzheitlichen Ansatz der Wissenschaft vom Menschen: Ökonomische Prozesse sowie die Beziehung zwischen Mensch und Natur sind als Teil eines gesellschaftlichen Gefüges zu betrachten. Besonderen Stellenwert nimmt dabei das Konzept der Produktionsweisen und der sozio-ökonomischen Formationen ein. (èLink- Gerti)

Auf dieser theoretischen Basis untersucht Wolf die ökonomische und politische Bedingtheit der Verflechtungen von Kulturen, wobei er von der bestimmenden Natur der ökonomischen und politischen Prozesse ausgeht. Die weltweiten Vernetzungen betreffen vor allem verschiedene Produktionsweisen, die miteinander in Interaktion bzw. in Konflikt treten.

Diese Betrachtungsweise impliziert einen Kulturbegriff, der sich vom Konzept einer eigenständigen und integralen Kultur - das aus den politischen Bestrebungen des Nationalismus des 19.Jahrhunderts erwachsen ist - unterscheidet.

Wenn wir demgegenüber die Realität von Gesellschaft in historisch wandelbaren, nicht endgültig abgegrenzten, vielfältigen und aufgefächerten gesellschaftlichen Formationen verorten, wird damit allerdings die Vorstellung einer ein für allemal feststehenden innerlich geschlossenen und deutlich nach außen abgegrenzten Kultur abgelöst durch ein Gespür für die Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde." (Wolf 1991: 534)

Verweise:

[1] Siehe Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie - Eine Einführung

5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"


Romuald Hazoumé, "Dogon", 1996, Foto Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.

Menschen bzw. Gesellschaften sind "... unauflösbar sowohl mit nahen als auch weit entfernten anderen Gesamtheiten in eine Art Netz oder Geflecht von Zusammenhängen eingebunden..." (Lesser 1961: 42 in Wolf 1991: 531), Kulturen und Ökonomien werden durch diese Netzwerke geformt.

Den zeitlichen Ausgangspunkt für die Analyse dieser Verflechtungen bildet bei Eric Wolf das Jahr 1400, als die Welt bereits eine Fülle regionaler Verknüpfungen und Zusammenhänge aufweist:

Aber erst das Ausgreifen der Europäer über die Ozeane hinweg hat diese regional geknüpften Verbindungsnetzwerke zu einer globalen Partitur vereint und sie einem weltumspannenden Rhythmus unterworfen. Von diesen Kräften wurden Menschen von ganz unterschiedlicher Herkunft und aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen in gleichartige Tätigkeiten hineingezogen und dazu gedrängt, sich am Aufbau einer einzigen gemeinsamen Welt zu beteiligen. [...] Die Gesellschaften und Kulturen all dieser Menschen machten während dieses Prozesses entscheidende Veränderungen durch." (Wolf 1991: 531-532)

Eric Wolf (1986) untersucht diese Prozesse an Hand von vielfältigen Beispielen. Er analysiert u.a.:

  • Die politischen und ökonomischen Bedingungen und Ziele der europäischen Expansion in der Neuzeit und erarbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf einzelne Staaten oder Verbände (Spanien, Portugal, England, Frankreich, Niederlande).
  • Die "Jagd nach den Reichtümern der Welt": Hier verortet Wolf die diversen Unternehmungen in verschiedenen Regionen in einem immer stärker weltumspannenden Gefüge von Produktion, Zirkulation und Macht. Die Kolonisation Lateinamerikas durch die Iberer, der Pelzhandel in Nordamerika, der Sklavenhandel sowie Handel- und Eroberungspolitik in Asien zeigen verschiedene Facetten dieser Prozesse und ihrer Auswirkungen auf die Menschen.
  • Die industrielle Revolution und der aufstrebende Kapitalismus prägen im 19.Jahrhundert die sozioökonomischen Bedingungen der diversen Verflechtungen. Diese wirken sich auf die verschiedenen Abschnitte des ökonomischen Prozesses (Produktion, Zirkulation, Konsumtion) aus. Sie bedingen z.B. die Entstehung neuer Warenströme sowie der neuer Arbeiter, Arbeitsmärkte und des Handels mit Arbeitskräften (z.B. chinesische Arbeitskräfte in Amerika) und binden immer wieder andere regionale Kulturen und Ökonomien in das weltumspannende Netzwerk ein.

Auf den folgenden Seiten werden aus der Fülle der Analysen von Eric Wolf einige Fallbeispiele ausgewählt und kurz skizziert.


5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda


Bergbau im kolonialen Südamerika. Stich von de Bry 1601. Quelle: Kohl 1982.

Die Conquista, die Eroberung und Kolonisation der indianischen Gesellschaften in Mittel- und Südamerika durch Spanien und Portugal etablierte das erste große Kolonialsystem der Neuzeit (èlink). Die koloniale Ökonomie und (Kultur-) Politik stellt eine Arena für Verflechtungen auf verschiedenen Ebenen dar, die stark von den Herrschaftsverhältnissen in dem System geprägt werden. Ein wesentliches Element in diesem Gefüge war der Handel:

Spanien bezog aus der Neuen Welt Silber, Gold, Kakao, Koschenille und Indigo, in umgekehrter Richtung lieferte es teure Manufaktur- und Luxusprodukte. Ein großer, wenn nicht der größte Teil dieser Produkte stammte nicht aus Spanien selber, sondern vor allem aus Nordwesteuropa." (Wolf 1991: 204)

Die Ökonomie der spanischen Kronländer beruhte zu einem guten Teil auf der Gewinnung von Edelmetallen. Zwischen 1503 und 1660 trafen in Sevilla knapp 3,5 Millionen Kilo amerikanischen Silbers ein, wodurch sich die europäischen Silbervorräte verdreifachten. Die "Silberökonomie" (besonders ausgeprägt in Mexiko, Peru und Bolivien) band durch transkontinentalen Handel mit Europa und Asien lokale (indianische) Gemeinschaften in ein großräumiges ökonomisches Gefüge ein.

Wolf spricht in diesem Zusammenhang von "erzwungenem Handel" (erzwungen durch die einseitige Nachfrage auf europäischer Seite), der zwei unterschiedliche kommerzielle Kreisläufe umfasste: einen transatlantischen und einen inneramerikanischen. Die Preispolitik und die Kontrolle der Handelsaktionen lag in der Hand der spanischen Krone, und war geprägt durch steigende Preise für europäische Manufakturwaren - dementsprechend sank der Tauschwert von Silber und anderen amerikanischen Waren (Wolf 1991: 205).

Die sozioökonomische Organisation des kolonialen Lateinamerikas beruhte auf feudalen Strukturen, die eng mit der (land)wirtschaftlichen Produktion verbunden sind. Besonders deutlich kommt dies in der Institution der 'encomienda' und später der hacienda (èlink) zum Ausdruck, welche der Herrschaft über die lokale Bevölkerung und der Aneignung und Kontrolle ihrer Arbeitskraft diente. Eine 'encomienda' war ein zeitlich begrenzter treuhänderischer Besitztitel, der von der Krone an bestimmte Personen vergeben wurde. Ihr Inhaber konnte Tribute und Arbeitsleistungen der Indianer (landwirtschaftliche und handwerkliche Produkte, Arbeitsdienste in den Minen etc.) für die Krone und bis zu einer gewissen Grenze für die eigenen Zwecke in Anspruch zu nehmen.

In der späteren Kolonialzeit gingen die Ländereien in das Privateigentum der Besitzer über ('hacienda'), die Leibeigenschaft der indianischen Bewohner blieb jedoch in vielen Regionen (z.B. Ecuador, Peru) erhalten. Das Hacienda'-System' war in einigen Andenländern bis ca. 1960 in Kraft und prägt bis heute das sozioökonomische Gefüge vieler Regionen Lateinamerikas (vgl. Wolf 1991: 192-216).

5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen


Zuckerverarbeitung in Brasiien. Gemälde von M.Rugendas 1835, Quelle Kohl 1982.

In Brasilien war die frühe koloniale Ökonomie durch weitreichende Handels- und Tauschbeziehungen geprägt (z.B. im Rahmen des Handels mit Brasil-Holz und Gewürzen), welche im Rahmen einer Kolonisationsgrenze ('colonial frontier') verschiedene indianische und europäische Gruppen und Akteure (Portugiesen, Franzosen, Deutsche) in einem komplexen Geflecht von Handelsplätzen[1], Handelsketten, Allianzen, und Feindschaften [2] vernetzt.

Kulturelle und ökonomische Verflechtungen ergaben sich auch im Zuge der Aneignung und Verbreitung von Nahrungspflanzen. Pflanzen indianischer Züchtung wurden in anderen Teilen der Welt verbreitet und beeinflussten deren (Eß-) Kulturen und Ökonomien nachhaltig - u.a. Kartoffel, Mais [3], Tomate, Kakao, Tabak, Maniok und Kürbis. Zu Nahrungspflanzen aus Asien, die über Europa nach Lateinamerika gelangten, zählen u.a. Zuckerrohr[4], Kaffee, Reis und Bananen. Sie prägten maßgeblich Subsistenz und Ernährungsgewohnheiten (link Maria?) lokaler Gemeinschaften sowie nationale und globale ökonomische Prozesse.

Eric Wolf behandelt vor allem die Entwicklung der Zuckerökonomie in Brasilien und der Karibik (1986: 217-227). Im Nord-Osten Brasiliens wurden im 16. Jahrhundert die ersten Zuckerrohrplantagen angelegt:

...wurde damit eine Agrikultur in die Neue Welt verpflanzt, die schon lange im östlichen Mittelmeer zuhause war, wo die Araber sie gegen Ende des ersten Jahrtausends n.Chr. eingeführt hatten. In den Jahrhunderten vor der Eroberung der Neuen Welt hatte sich der Zuckeranbau über die Mittelmeerinseln langsam nach Westen vorgeschoben." (Wolf 1991: 217)

Die Zuckerproduktion wurde von mehreren Staaten und ihren Handelsagenturen dominiert. In Brasilien bestimmten die Portugiesen die Produktion, während Flamen und Holländer die Verbreitung des Produkts und die Finanzierung des Transports bewerkstelligten. So wurden Antwerpen und Amsterdam zu den wichtigsten Zentren der Zuckerraffinerien, wie auch zu Finanzzentren des portugiesischen Zuckerhandels (Wolf 1991: 218).

In Brasilien involvierte die Zuckerökonomie verschiedene Bevölkerungsgruppen: Der ständige wachsende Bedarf an billigen Arbeitskräften führte zur Versklavung der lokalen indianischen Gemeinschaften. Die Sklavenjagden im Amazonasgebiet und im heutigen Paraguay wurden teilweise von den Jesuiten [5] militärisch gebremst, die den Indianern Schutz gewährten. Sie siedelten einen Teil der indianischen Gemeinschaften in reduccionen' [6]' an und unterzogen sie einer intensiven Missionierung und Europäisierung.

Die relativ kleine indianische Bevölkerung konnte jedoch den Bedarf an Sklaven keineswegs decken. So sind Zuckerproduktion und andere Formen der Plantagenwirtschaft aufs Engste mit dem transatlantischen Sklavenhandel[7] verbunden, der das kulturelle und soziale Gefüge in Brasilien[8], der Karibik und den USA maßgeblich prägte.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.3.1.5
[2] Siehe Kapitel 1.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[3] Siehe die Lernunterlage Mais - Ernährung und Kolonialismus in Lateinamerika
[4] Siehe Kapitel 5.3.2.1
[5] Siehe Kapitel 1.6 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[6] Siehe Kapitel 1.5.1 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[7] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3
[8] Siehe die Lernunterlage Brasilien 1889 - 1985: Von der Ersten Republik bis zum Ende der Militärdiktatur

5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt


Sklaven auf dem Weg in die Neue Welt. Quelle: Assogba (1990: 29).

Eric Wolf ordnet den Sklavenhandel im Zuge der aggressiven Expansion Europas als wesentlichen Bestandteil in der Konstituierung des internationalen Handelsnetzes und des Aufstiegs Europas zur Weltmacht ein.

Wenn auch Sklaverei und Sklavenhandel keine historischen Neuerscheinungen waren (Wolf 1991: 286; weiters z.B. Patterson 1982) und sich zum Beispiel über den Mittelmeerraum als Drehscheibe seit langem ein etabliertes Sklavenhandelsnetz zwischen Europa und der islamischen Welt erstreckte, so entfaltete sich mit der Kolonialisierung der Amerikas eine völlig neue Dynamik. Mit dem 15.Jahrhundert stieg der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft in den Amerikas rapide an und diese wurde vorwiegend aus Afrika importiert: "Schwarzes Elfenbein" -- versklavte Menschen, wurden damit zur wichtigsten Exportware Afrikas.

Die Portugiesen initiierten den transatlantischen Sklavenhandel im Zuge ihrer Erkundungsfahrten und Kolonialisierungen entlang der afrikanischen Küsten, sie erhielten bald Konkurrenz durch die Holländer, dann folgten Engländer und Franzosen als internationale Hauptlieferanten und Konsumenten. Alle afrikanischen Küstenregionen und auch die meisten Binnengesellschaften wurden vom Handel erfasst -- so erhielten zum Beispiel in Westafrika zahlreiche Staaten durch den Sklavenhandel ihren Gründungsimpuls, wie Ashanti, Oyo oder Dahomey, während im Kongo-Gebiet bereits bestehende Staaten geschwächt oder zerstört wurden.

Ursprünglich suchten die europäischen Händler primär nach Edelmetallen und --hölzern, Gewürzen, Kautschuk und Tabak und erst in zweiter Linie Sklaven. Da aber die Profitspannen im Vergleich zu den anderen Handelsgütern um das Vier- bis mitunter Zwanzigfache höher waren, wurden Sklaven bald die Hauptware, was direkte und indirekte ökonomische Auswirkungen auf alle beteiligen Länder und ihre Innen- und Außenmärkte hattte. Warum gerade Afrika zum Hauptlieferanten der Ware Mensch für die Europäer wurde, erläutert Wolf an zahlreichen historischen Beispielen und jeweils bestehenden sozio-politischen und -ökonomischen Verflechtungen wie Verwandtschaftsstrukturen, Kriegstechnologien und Produktionsformen in Europa, Afrika und den Amerikas wie auch dem pazifischen Raum.

Der transatlantische Sklavenhandel durchlief mehrere Phasen:

Im 15. und 16. Jahrhundert wurden die Sklaven in der Neuen Welt hauptsächlich für den Minenabbau von Silber, Gold und anderen Metallen eingesetzt, ab dem 17. Jahrhundert dominierte der Zuckerrohranbau auf den karibischen Inseln und der Tabakanbau in Nordamerika und damit wurde Plantagensklaverei die zentrale Produktionsweise der Neuen Welt. Das 18. Jahrhundert bezeichnet Wolf als "Goldenes Zeitalter der Sklaverei", mit Jamaica und Haiti als ökonomischen Zentren. Obwohl die Sklaverei um die Jahrhundertwende von den meisten am transatlantischen Handel beteiligten Mächten offiziell abgeschafft wurde, gelangten laut Wolf bis 1870 noch über 2 Mill. afrikanische Sklaven auf den Markt, wobei 80% davon in die Neue Welt importiert wurden, ein großer Teil davon nach Kuba als zentraler Zuckerproduzent des 19. Jahrhundert.

Wolf beschäftigt sich mit dem historischen Verlauf der Involvierung der europäischen und afrikanischen Mächte und Regionen, wobei sein Hauptinteresse auf den politisch-ökonomischen Motivationen und Auswirkungen des Handels liegt. Als einer der ersten im Bereich der Sozialanthropologie thematisiert Wolf die so entstehende internationale Arbeitsteilung wie die lokal-regionalen Auswirkungen auf alle Beteiligten:

Die Aufgabe, die Sklaven zu ergreifen, zu versorgen und innerhalb Afrikas zu transportieren, lag in afrikanischen Händen; die Europäer hingegen sorgten anschließend dafür, daß sie nach Übersee verfrachtet, dort akklimatisiert bzw. 'gebrochen' und abschließend an die Sklavenhalter verkauft wurden. Um die amerikanische Nachfrage befriedigen zu können, war der Sklavehandel darauf angewiesen, daß Menschenaufkäufer und Menschenlieferanten aktiv zusammenarbeiteten und daß diese Aktivitäten von beiden Seiten subtil aufeinander abgestimmt waren". (Wolf 1991: 322f)

In Auseinandersetzung mit den Thesen von Eric Williams zu frühem Kapitalismus und Industrialisierung Europas (Williams 1996), in denen er erläutert, dass England aufgrund seiner Dominanz im transatlantischen Handel die führende Position in der ökonomisch-technologischen Entwicklung einnahm, sieht Wolf den Sklavenhandel nicht als einziges Element, wohl aber als den "maßgeblichen dynamischen Faktor" der wirtschaftlichen Transformationen und des Aufstiegs Europas an.

Der transatlantische Sklavenhandel hatte auf alle Beteiligten, ob Profiteure, Agenten, Organisatoren oder Opfer, tief greifende und bis in die Gegenwart anhaltende Auswirkungen von globaler Dimension.


5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff


Aufriss des Sklavenschiffs "La Vigilante", Fassungsvermögen 227 Männer und 120 Frauen, ca 1822. Quelle: Assogba (1990: 31).

5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation


Bouche du roi. Installation von Romuald Hazoumé (2005), Houston, Texas: The Menil Collection.Quelle: Zinsou (2005: 83).

5.3.1.1.2.4 Warenströme


Romuald Hazoumé, "Porta via" (Installation), 2002, Foto Philippe Roudy. Quelle: Zinsou 2005.

Im 19. Jahrhundert erhöhte sich in Europa die Nachfrage nach Rohstoffen und Nahrungsmitteln und ließ einen stark erweiterten Markt von weltweiten Dimensionen entstehen.

Ganze Regionen spezialisierten sich auf die Produktion einiger weniger Rohstoffe oder landwirtschaftlich erzeugter Nahrungs- und Genussmittel. Ein solche regionale Spezialisierung hatte sich zum Teil schon unter der Ägide des Handels entwickelt - ein Beispiel ist die Zuckerproduktion in der karibischen Region. In anderen Fällen - das gilt z.B. für die Baumwollanbauregionen der Vereinigten Staaten, Ägyptens und Indiens - war die Spezialisierung die Antwort auf die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung." (Wolf 1991: 432)

Diese Entwicklungen intensivierten den Warentausch zwischen unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Gefügen bzw. Produktionsweisen. Wolf bezeichnet diesen Markt als "eine Arena, in der sich die widerstreitenden Produktionsweisen - auf der Ebene des Austausches ihrer verschiedenartigen Waren - aufeinander beziehen und miteinander in Konkurrenz treten konnten." Seine Analyse geht davon aus, dass jede Ware einen Bruchteil der gesellschaftlichen Arbeit verkörpert, die zur Umwandlung der Natur zum Nutzen des Menschen verausgabt wird, wobei diese gesellschaftliche Arbeit gemäß den herrschenden Bedingungen einer bestimmten Produktionsweise aufgeboten wird. "Im Rahmen dieser Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft hat der Kapitalismus die anderen Produktionsweisen nicht immer liquidiert, aber - häufig auf direktem Wege, ebenso häufig aber auch über Fernwirkungen - das Leben anderer Völker beeinflußt und umgekrempelt" (Wolf 1991: 433).

Warenströme prägen bis heute maßgeblich die ökonomischen und kulturellen Prozesse und werden meist in Zusammenhang mit Fragestellungen der Globalisierung (link maria) und/oder des transkulturellen Konsums untersucht (link maria). Da Waren bzw. Dinge nicht nur über Gebrauchs- und Tauschwert sondern auch über Bedeutung verfügen, fließen Warenströme und Kulturströme ('cultural flows') oft mit- und ineinander (vgl. z.B. Appadurai 2001, Spittler 2002).

5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika


Routen für den Nordamerikanischen Pelzhandel. Quelle: Wolf (1997), Karte: 162.
Über drei Jahrhunderte lang blühte und expandierte der Pelzhandel in Nordamerika und zog ständig neue Gruppen der Ureinwohner in die immer weiter aufgreifende Kreisläufe des Warentausches, der sich zwischen den hereinströmenden Europäern und ihren eingeborenen Handelpartnern angebahnt hatte. (Wolf 1991: 274)

Native Americans (USA, Kanada) lieferten seit dem 17. Jahrhundert durch eine Intensivierung der Jagd vor allem Biberpelze für den europäischen Hutmarkt und erwarben dafür diverse Produkte aus landwirtschaftlicher und industrieller Produktion. Neben den Hackbau treibenden Gruppen der Ostküste waren vor allem Jäger und Sammler-Gemeinschaften in die Handelsnetzwerke involviert. Der Pelzhandel und die europäischen Händler wanderten im Laufe der nächsten Jahrhunderte von Neufundland bis an die kanadische Pazifikküste, da die Biber-Bestände nach und nach ausgerottet wurden (Wolf 1986: 232).

Kwakiutl Chief, Ethnologisches Museum, Berlin, Foto JohnsonQuelle: https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html [1]

An der kanadischen Pazifikküste bei den Kwakiutl, Tlingit, Haida und Tsimian bildeten im 18. und 19. Jahrhundert Seeotterfelle eine wichtige Handelsware, die gegen Metallgegenstände, Stoffe, Decken, Rum, Tabak und Gewehre eingetauscht wurde. Der Handel hatte - neben den ökologischen Auswirkungen (Dezimierung der Seeotter) - eine Reihe von ökonomischen und sozialen Implikationen. Er stärkte die Position einiger Häuptlinge, die als lokale Händler fungierten und dadurch Macht über die neuen Güter besaßen. Diese Personen nutzten ihre führende Rolle im Pelzhandel u.a. "zur Aufstockung ihres potlatch - Vermögens (link Jäger und Sammler), zum Ausbau ihrer Verwandtschaftsbeziehungen durch gezielte Heiratspolitik, zur Ausweitung ihres Handelsnetzwerkes und zur Stärkung ihrer gesellschaftlichen Vorrechte" (Wolf 1991: 269).

Die wachsende Konservenindustrie (Lachs) in der Region beschäftigte im 19. Jahrhundert Männer der Kwakiutl als Fischer und Frauen als Arbeiterinnen. In dieser Zeit ging die Bevölkerungszahl in katastrophalem Ausmaß zurück, was größtenteils durch europäische Krankheiten wie Syphilis und Pocken verursacht war. Der folgende Goldrausch führte zur intensiven Kolonisierung der Region und zur Aneignung von Land und Ressourcen der lokalen Jäger- und Sammler - Gemeinschaften durch die USA und Kanada (Wolf 1991: 273-274). Die Auseinandersetzungen um Rechte auf Land, Ressourcen und politische Autonomie halten bis heute an.

Kwakiutl im WWW:

https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm [2]

https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm [3]

https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk [4]

https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html [5]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html
[2] https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm
[3] https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm
[4] https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk
[5] https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html

5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee


Warenströme kennzeichnen Handel und Eroberungspolitik in Asien im 18. und 19. Jahrhundert. Seit dem Beginn der europäischen Expansion in diesem Raum besteht ein Naheverhältnis von Handel (z.B. Gewürzhandel) und der Ausdehnung des Machtgefüges verschiedener europäischer Staaten (Portugal, Niederlande, England). So galt den Portugiesen der Pfeffer - der in Europa vor allem als Konservierungsmittel für Fleisch und Fisch gefragt war - als die "Substanz Ostindiens". Die frühe Phase der Expansion wurde maßgeblich von Handelshäusern - wie der 'East India Company' - bestimmt.

In verschiedenen Etappen der Kolonisation großer Teile Süd- und Südostasiens gewannen immer wieder andere Produkte und Warenströme besondere Bedeutung. So bestand im 18. und 19. Jahrhundert ein komplizierter Dreieckshandel zwischen Indien, England und China, dessen Triebfeder die rasant anwachsende Nachfrage nach Tee in Europa war: Im Jahre 1644 wurden das erste Kilo Tee von Holländern nach Europa importiert, 1783 verkauft allein die East India Company über 2,5 Millionen Kilo, zwei Jahre später fast 7 Millionen. Zusätzlich wurde etwa noch dieselbe Menge von privaten Händlern, die um die Teesteuer herumkommen wollten, nach England geschmuggelt (Wolf 1991: 357).

Die Teemengen, die in erster Linie aus China kamen, mussten in Silber bezahlt werden. Der Dreieckshandel, der dieses Unterfangen teilweise finanzierte, bestand aus

  • Baumwolllieferungen von Indien nach China, die in Silber an regionale Händler bezahlt wurden,
  • die Händler kauften mit diesem Silber Kreditbriefe der East India Company,
  • die East India Company kaufte mit dem Silber Tee in China.

Der Dreieckshandel konnte jedoch den Tee-Import nicht ausreichend finanzieren, und immer größere Mengen des amerikanischen Silbers[1] mussten in den Handel investiert werden. Es kam zu einem Abfluss an Edelmetallen - eine Dynamik, die seit dem römischen Reich immer wieder den europäischen Handel mit Indien und China gekennzeichnet hat.

Um diesen Kreislauf zu ihrem Vorteil zu unterbrechen, begann die schwer verschuldete 'East India Company' mit dem massiven Verkauf von indischem Opium in China, ein illegales doch äußerst profitables Geschäft. Der Bedarf an Opium stieg mit der raschen Verbreitung des Suchtmittels und nach einigen Jahrzehnten setzten bengalische, englische und amerikanische Händler Mengen von Opium um, die viermal so viel Wert waren als das gesamte Warenvolumen des China-Handels (Tee und andere Waren).

Der chinesische Staat versuchte immer wieder mit verschiedenen Maßnahmen den Handel mit, und den Konsum von Opium zu stoppen. Durch die Niederlage gegen England im Opiumkrieg (1839-1842) wurde China jedoch gezwungen, den unbegrenzten Import von Opium zuzulassen (Wolf 1991: 357-360, 475-480).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.1
[2] https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html
[3] https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/

5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet


Die Warenströme im 19. Jahrhundert beinhalteten auch pflanzliche Produkte für gewerbliche Zwecke. Dazu zählte der Kautschuk, der als industrieller Grundstoff nach der Erfindung der Vulkanisierungstechnik (1839) zuerst zur Herstellung von Regenmänteln, Schuhen, Fahrradreifen, Präservativen und anderen Bedarfsartikeln diente. Später wurde Kautschuk im Bereich des Eisenbahn- und Maschinenbaus, als Isoliermaterial in den neuen Brachen der Elektroindustrie und schließlich in der Automobilindustrie verwendet (Wolf 1991: 453).

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Kautschuk

(das Harz des Baums 'Hevea Brasliliensis') wurde während des größten Teils des 19. Jahrhunderts von wild wachsenden Bäumen in den tropischen Regenwäldern des Amazonasgebiets gezapft. Der Kautschukboom - die intensive Ausbeutung dieser natürlichen Ressource - begann in der Mitte des 19.Jahrhunderts, erreichte seinen Höhepunkt zwischen 1880 und 1910 und kam um 1920, nach der Ausbreitung der Kautschukplantagen in Malaysia und Indonesien zum Erliegen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Kautschuk als Rohmaterial zum Großteil durch Kunststoffe abgelöst.

  • Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.
  • Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.

Kautschuk wurde im Amazonasgebiet von Indianern und Siedlern gesammelt, in lokalen Manufakturen aufbereitet (eingedickt), von Großhändlern ("Kautschukbaronen") aufgekauft und nach Europa transportiert. Alle Akteure waren miteinander in einem ausgedehnten Produktions- und Zirkulationsnetz verbunden: Großhändler bzw. Handelshäuser statteten regionale Händler mit einem Vorschuss (Geld, Handelswaren) aus, der durch die entsprechenden Mengen an Kautschuk abgegolten werden musste. Das Prinzip setzte sich (mit immer schlechter werdenden Konditionen) bis zu den Kautschuksammlern fort und etablierte ein brutales System von Schuldknechtschaft und Zwangsarbeit.

Der Kautschukboom hatte weitreichende Folgen für die Bevölkerung des Amazonasgebiets, er wird von Santos-Granero (1996) als zweite Welle der Kolonisation bezeichnet (nach Conquista und Missionsherrschaft im 17. und 18 Jahrhundert). Die Auswirkungen auf indianische Gemeinschaften umfassen eine große Bandbreite von Phänomenen:

  • Genozid (etwa in der Region des Rio Putumayo in Kolumbien)
  • Zwangsumsiedlungen (z.B. Quechua in Ecuador und Peru)
  • Hungersnöte (durch die erzwungene Vernachlässigung der Subsistenztätigkeiten)
  • massiver Bevölkerungsrückgang durch eingeschleppte Krankheiten
  • großräumige Migrationsbewegungen
  • interethnische Konflikte
  • Aneignung von neuen Gütern
  • kulturelle Hybridisierung
  • Genese neuer kultureller und sozialer Gefüge
  • verschiedene Transformationen der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung einzelner Gruppen

5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)


Marilda Castanha. Die Schöpfung der Welt in der Mythologie der MundurukuQuelle: https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html [1]

Aufbauend auf den Studien von Robert Murphy (1960) erörtert Wolf Veränderungsprozesse der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung am Beispiel der Mundurucú in Brasilien. Die Kautschukgewinnung beeinflusste dort Siedlungsstruktur, Mobilität (link) und Subsistenz: Die traditionelle Subsistenz der Mundurucú ist eine Form der "tropical forest horticulture" (link) und umfasste Pflanzungen (primär Maniok), Sammeln, Jagd und Fischfang. Während sich die Wohnorte der Mundurucú - Gemeinschaften vorher stark an dem saisonalen Vorhandensein verschiedener natürlicher Ressourcen für ihre Subsistenz richteten, war später die Nähe von Kautschukbäumen ausschlaggebend für die Siedlungsstruktur. Einzelne Mundurucú - Gemeinschaften gründeten an den Flussufern Dauersiedlungen, in deren Umgebung sie bestimmte Waldgebiete exklusiv beanspruchten. Der Kautschuk wurde gegen Metallwerkzeuge, Kleidung und Nahrungsmittel eingetauscht.

Die Mundurucú - Gemeinschaften wurden zunehmend von den Artikeln abhängig, die ihnen die Händler als Vorschuss überließen. Die Dörfer lösten sich in zahlreiche kleine Haushalte auf, die jeder für sich über ein ganzes Netz von Austauschbeziehungen und wachsenden Schulden an den Handelposten gekettet waren. So wurde der Händler anstelle des Mundurucú-Häuptlings zum Drehpunkt der örtlichen Produktions- und Austauschbeziehungen (Wolf 1991: 453-456).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html

5.3.2 Sidney Mintz

Sidney Mintz (*1922)

Relevante Werke:

1960: Worker in the Cane

1985: Sweetness and Power

Sidney Mintz studierte gleichzeitig mit Eric Wolf an der Columbia University und gehörte wie dieser zum engeren Schülerkreis von Julian Steward. Ab den späten 1940er Jahren beschäftigte er sich mit der Zuckerproduktion in der Karibik, arbeite die inneren Widersprüche der Plantagensklaverei und deren ökonomische Verflechtung mit der Arbeiterklasse in englischen Fabriken auf (vgl. Durrenberger 2005: 131; Robotham 2005: 46).

Mit Eric Wolf teilt er auch sein intensives Interesse für historische Prozesse und Verbindungen. Auf theoretischer Ebene versucht er kulturanthropologische Ansätze mit historisch- materialistischen Konzepten zu verbinden. Regional liegt sein Fokus auf der Karibik und thematisch konzentriert er sich nach Sweetness and Power (1985) zunehmend auf eine Anthropologie der Ernährung.

Sidney Mintz im WWW:

https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/ [2]

Verweise:

[1] http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg
[2] https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/


5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers


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"Wenn man anfängt, danach zu fragen, wohin die tropischen Produkte gehen, wer sie nutzt und wozu und wieviel ihre Abnehmer für sie zu zahlen gewillt sind - worauf sie verzichten und welchem Preis sie zustimmen, um in ihren Besitz zu gelangen - , dann stellt man Fragen nach dem Markt. Damit aber fragt man auch nach der mutterländischen Metropole, dem Zentrum von Macht, und nicht nach der abhängigen Kolonie, dem Objekt, an dem und über das Macht ausgeübt wird. Und wenn man versucht, Konsumtion und Produktion, Kolonie und Metropole zusammenzubringen, dann geschieht es leicht, daß man die eine oder die andere - den »Mittelpunkt« oder den »Außenrand« nicht mehr so richtig scharf sieht. Wenn man auf Europa schaut, um Genaueres über die Kolonien als Produzenten und Europa als Konsumenten - oder auch umgekehrt - zu erfahren, dann heißt das nicht, daß man sich damit auch schon über die andere Seite der Beziehung ausreichend Klarheit verschaffen könnte. Wiewohl die Beziehungen zwischen Kolonien und Metropole in ihrem unmittelbaren Sinne klar und augenfällig sind, sind sie daneben auch verwirrend und voller Mysterien." (Mintz 1987: 13)

"Die süße Macht" (Mintz 1987) analysiert diese Prozesse am Beispiel des Zuckers. Das Buch beschäftigt sich mit verschiedenen Elementen bzw. Stadien im Zuge der "Biographie" (Kopytoff 1986) dieses tropischen Produkts. Dazu zählen:

  • Anthropologie der Ernährung
  • Bedeutung der Süße
  • Produktion von Zucker für das britische Königreich
  • Plantagenwirtschaft und Sklaverei in der Karibik
  • Geschichte des Konsums von Zucker im Abendland
  • Bedeutung von Zucker für die moderne Gesellschaft - Umstände, Zusammenhänge, Ursachen


5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker


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Der anthropologische Blick auf Essen und Ernährung als Teilstück einer Anthropologie des modernen Lebens fokussiert sich im ersten Abschnitt des Buches von Mintz (1987) das Süße: Süße ist ein Geschmack und eine Qualität, die von allen Menschen empfunden wird, jedoch in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gefügen spezifische Bedeutungen erfährt. Das Ausmaß und die Bedeutungen des Konsums von Süßem sind in ein breites Spektrum von historischen, sozialen und ökonomischen Prozessen eingebunden.

Mintz analysiert die Bedeutung der Süße im Rahmen der Geschichte der Nahrung in Europa.

Wenngleich Fürchte und Honig für die Engländer vor 1650 die Hauptquelle für Süße darstellten, scheinen sie in der englischen Kost keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Zucker, gewonnen aus dem Saft des Zuckerrohrs, erreichte England in kleinen Mengen etwa ums Jahr 1100; während der folgenden 500 Jahre stieg die Menge des verfügbaren Rohrzuckers ohne Zweifel an, aber nur langsam und keineswegs stetig. (Mintz 1987:26)

Ab dem 16. Jahrhundert kommt es zu einer erheblichen Steigerung des Konsums von Süßen, und zwar in erster Linie von Zucker, ein Prozess, der im 19.Jahrhundert extrem akzeleriert und im 20.Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht. Heute stellt Zucker einen unentbehrlichen Bestandteil der Ernährung in Europa (und anderswo) dar.

5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers


Zuckerwatte am Wiener Christkindlmarkt. Foto: Elke Mader

In Anbetracht der geringen Relevanz von Zucker bzw. Süßem für die europäischen Ernährungsgewohnheiten bis zum 19. Jahrhundert, wo Zucker zu einem festen Bestandteil der Ernährung wurde, analysiert Mintz (1987) die verschiedenen Gründe für diese Veränderungen. Eine zentrale Frage beschäftigt sich mit der Bedeutung des Zuckers.

Die »Bedeutung« läßt sich in diesem Fall nicht einfach »ablesen« oder »entziffern«, sie erwächst vielmehr aus dem kulturellen Gebrauch, den der Zucker von sich machen ließ, aus den Verwendungen, denen er zugeführt wurde. Kurz, die Bedeutung ist eine Konsequenz einer Aktivität. Das heißt nicht, Kultur sei nichts als eine Art von Verhalten (oder lasse sich alleine darauf reduzieren). Aber nicht danach zu fragen, wie die Bedeutung in das Verhalten hineingelangt, das Produkt ohne Kenntnis seiner Produktion erfassen zu wollen, heißt die Geschichte - wieder einmal - auszublenden, sie zu ignorieren. [...] Es gilt den Prozess der Kodifizierung und nicht nur den Kode selbst zu entschlüsseln. (Mintz 1987: 41)

Mintz widmet sich demnach primär einer politischen Ökonomie der Bedeutungen des Zuckers, die eng mit der Untersuchung der sozio-ökonomischen Dynamik von Produktion, Zirkulation und Konsum verflochten ist.

5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei


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Zuckerrohr wurde erstmals (ca. 8000 v. Chr.) in Neuguinea als Kulturpflanze angebaut und verbreitete sich von dort in mehreren Wellen durch Asien, nach Europa und schließlich nach Amerika. Die frühesten schriftlichen Beweise für die Herstellung von Zucker stammen aus Indien (500 n. Chr.), wo er wahrscheinlich schon lange existierte. Byzantinische Quellen verweisen auf die Verwendung von Zucker in Persien, die arabische Expansion nach Westen im 8. Jahrhundert bringt schließlich den Zucker nach Europa (Spanien). Bald darauf handeln bereits die Venezianer mit Zucker, um 1000 n. Chr. ist Zucker in großen Teilen Europas bekannt. Im 12. Jahrhundert kontrollieren die Kreuzfahrer einen Teil der - von den Sarazenen aufgebauten - Zuckerproduktion im Königreich Jerusalem und intensivieren den Handel mit Europa (Mintz 1987: 47-53).

In seiner langen Geschichte war Zucker nie ein Grundnahrungsmittel gewesen, in Europa stellte er bis ins 18.Jahrhundert einen Luxusartikel dar, nach dem jedoch zunehmende Nachfrage bestand. Die drastischen Veränderungen in Hinblick auf die Bedeutung und den Konsum von Zucker in Europa vom 17. zum 19. Jahrhundert stehen in direktem Zusammenhang mit einer bestimmten Produktionsweise des Zuckers, nämlich mit Plantagenwirtschaft und Sklaverei. Es bildeten sich Handelsdreiecke[1] heraus, die im 17. Jahrhundert entstanden und im 18. Jahrhundert zur Blüte gelangten:

Das erste und berühmtere Dreieck verband Britannien mit Afrika und der Neuen Welt: Fertigwaren wurden an Afrika verkauft, afrikanische Sklaven an beide Amerikas und amerikanische tropische Produkte (insbesondere Zucker) an das englische Mutterland und seine auf Importe angewiesenen Nachbarn. (Mintz 1987: 71)

Eine wichtige Besonderheit dieser beiden Dreiecke bestand darin, daß menschliches Frachtgut in ihrem Funktionszusammenhang eine entscheidend wichtige Rolle spielte. Es war nicht nur so, daß Zucker, Rum und Melasse nicht direkt gegen europäische Fertigwaren ausgetauscht wurden; in beiden transatlantischen Dreiecken gab es eine »falsche Ware« - die aber für das System absolut unentbehrlich war - sie bestand in menschlichen Wesen, in Menschen. Sklaven waren deshalb eine »falsche Ware«, weil der Mensch kein Gegenstand ist, selbst wenn er als solcher behandelt wird. (Mintz 1987: 72)</blockquote> Die Geschichte der Produktion von Zucker in der Neuzeit ist also aufs Engste mit dem Kolonialismus und insbesondere mit dem transatlantischen Sklavenhandel verflochten. Die Steigerung des Absatzes bzw. des Konsums von Zucker steht wiederum in Zusammenhang mit den Transformationen der Ökonomie und der Arbeitswelt in Europa.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3

5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht


Der Zucker durchdrang das soziale Verhalten und wurde, indem er neuen Verwendungsarten zugeführt und mit neuen Bedeutungen versehen wurde, von einer Kuriosität und einem Luxusgut in einen alltäglichen, notwendigen Gebrauchsartikel transformiert. Das Verhältnis von Produktion und Konsumtion findet möglicherweise sogar eine Parallele in dem Verhältnis von Verwendung und Bedeutung." (Mintz 1987: 27)

Mintz betrachtet die Veränderungen von Verwendung und Bedeutung von Zucker im Kontext der sozio-ökonomischen Veränderungen in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Durch die umfangreiche Produktion in den Zuckerkolonien mit Sklaverei wurde Zucker billiger und war reichlicher vorhanden, dementsprechend nahm sein Potential als Machtsymbol ab. Zucker wandelte sich von einer prestigereichen Zierde am Tisch des Adels und der Oberschicht zum Kapital. Der symbolische Prestigeverlust von Zucker ging Hand in Hand mit einem erhöhten Potential des Produkts als Quelle von Profit.

Im 18. Jahrhundert wurde das Geschäft mit dem Zucker, ob es sich um die Produktion, den Transport, das Raffinieren oder die Besteuerung handelte, insofern zu einer viel effektiveren Machtquelle für die Herrschenden, als die Geldsummen, um die es ging, nun sehr viel größer waren." (Mintz 1987: 125)

Die gestiegene Verwendung von Zucker stand auch in Zusammenhang mit drei anderen exotischen Importgütern - Tee, Kaffee und Kakao. Sie stammen ebenfalls aus den Tropen und ihre Produktion, Zirkulation und Konsumption ist wiederum aufs engste mit dem Kolonialismus verbunden (z.B. der Teehandel[1] mit der britischen Expansion in Asien). Alle drei stimulierenden Getränke sind bitter und ihre rapide Verbreitung in Europa seit dem 18. Jahrhundert geht Hand in Hand mit der Verbreitung des Zuckers.

Im 19.Jahrhundert steht der Konsum von zuckerreicher Nahrung, die sich auf immer größere Teile der Bevölkerung erstreckte, auch in Zusammenhang mit den veränderten Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Menschen durch Industrialisierung und Urbanisierung. Zucker liefert schnelle Kalorien und stillt den Hunger: Süßspeisen wurden immer stärker zur Nahrung der Arbeiter und der Armen. Bis hin zur Imbissgesellschaft der Gegenwart geht diese Entwicklung weiter und Zucker nimmt (z.B. in Gestalt des "Power-Riegels") immer neue Formen und Bedeutungen an.

  • Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader
  • Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader

Für die Entwicklung des Kapitalismus war der Zucker (ebenso wie Tee und Kaffee) eine geradezu ideale Substanz:

Ein arbeitsreiches Leben sah mit seiner Hilfe weniger aufreibend aus; in der Erfrischungspause erleichterte er tatsächlich oder scheinbar den Übergang von Arbeit zur Erholung und umgekehrt; er sorgte schneller für Völle - oder Sattheitsgefühle als komplexe Kohlehydrate dies vermochten; er ließ sich leicht mit anderen Nahrungsmitteln verbinden, deren Bestandteil er bisweilen war ( wie z.B. bei Tee und Keksen, Kaffee und Brötchen, Kakao und Marmeladebrot). [...] Kein Wunder, daß die Reichen und Mächtigen ihn so liebten, und kein Wunder, daß auch die Armen ihn lieben lernten." (Mintz 1987: 220)

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.4.2


5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung

"'Die süße Macht'"' (Mintz 1987) und "'Die Völker ohne Geschichte'"' (Wolf 1991) gehören der selben Forschungsrichtung an und weisen viele gemeinsame Ansätze und Fragestellungen auf. Die theoretische und thematische Ausrichtung beider Werke fokussiert auf Verflechtungen zwischen Menschen bzw. Kulturen durch Flüsse von Ideen und Gütern. Die ökonomischen Grundlagen dieser Verflechtungen und ihre Auswirkungen auf verschiedene Facetten der Gesellschaft in verschiedenen Weltgegenden stehen im Mittelpunkt der Betrachtung.

Während die "Die Völker ohne Geschichte" (Wolf 1991) globale Prozesse an Hand von Beispielen aus vielen verschiedenen Weltregionen analysieren, stellt "Die süße Macht" (Mintz 1987) eine Fallstudie dar, die sich an einem Produkt - in dem Geflecht von ökonomischen und kulturellen Verknüpfungen und Interaktionen - orientiert. Wolf legt das Hauptaugenmerk auf die Interaktionen von verschiedenen Produktionsweisen und untersucht vor allem weltumspannende Kreisläufe von Produktion und Zirkulation. Mintz konzentriert sich stärker auf Fragen des Konsums und der Konstruktion von Bedeutungen eines Produkts.

Beide Werke sind historisch orientiert und beschäftigen sich mit Aspekten der europäischen Expansion. So umfasst die "Kulturgeschichte des Zuckers" den Zeitraum zwischen der Entstehung des Welthandels in der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Beide Werke gegen von folgenden Ansätzen aus:

  • das Studium von Kultur und Geschichte ist aufs Engste mit dem Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden;
  • die Welt ist "als ganze, als Totalität, als System" zu betrachten;
  • die verschiedenen Teile des Systems sind auf komplexe Weise miteinander verflochten;
  • das Augenmerk gilt der Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde;
  • für die Analyse von komplexen gesellschaftlichen Gefügen ist die Untersuchung der Machtverhältnisse [1] sowie der historischen Prozesse von grundlegender Bedeutung (vgl. auch Wolf 1991).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz

Phone Shop in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Der Weltsystemansatz entstand in den 1970er Jahren und ist eng mit dem Namen Immanuel Wallerstein verbunden. Aufbauend auf der aus dem Funktionalismus entstandenen, Systemtheorie wird dabei der weltweite Kapitalismus als einheitliches System [1] betrachtet. Die Weltsystemtheorie wurden in der Folge in verschiedenen Fachdisziplinen und Forschungsfeldern rezipiert, kritisiert und weiterentwickelt, u.a. im Rahmen der Ökonomie, der Ökonomischen Anthropologie, der Entwicklungssoziologie und der historischen Forschung.

Die zentralen Thesen von Wallerstein betreffen

  • die systematische Ganzheit des Weltsystems in der modernen Welt
  • die ökonomische Differenzierung des Systems in verschiedene Zonen
  • Macht und Wirkungspotential der einzelnen Zonen

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie


5.3.4.1 Die Welt als System


Foto: Ulrike Davis-Sulikowski
"Leaving aside the now defunct mini-systems, the only kind of social system is a world-system, which we define quite simply as a unit with a single division of labor and multiple cultural systems. it follows logically that there can, however, be two varieties of such world-systems, one with a common political system and one without. We shall designate these respectively as world-empires and world-economies." (Wallerstein 2004: 63)

Ausgehend von der These des Funktionalismus, die Sozialwissenschaft solle soziale Ganzheiten studieren, argumentiert Wallerstein, dass in der modernen Welt nur noch eine soziale Einheit existiert: das Weltsystem. Das Weltsystem ist ökonomisch integriert, nicht aber politisch, d.h. Staaten können politisch voneinander unabhängig sein, ökonomisch sind sie jedenfalls interdependent.

Der Weltsystemansatz steht in enger Verbindung mit der Dependenztheorie[1], die eine Abhängigkeit (Dependenz) zwischen dominanten und ausgebeuteten Räumen, seien dies Kontinente, Nationen oder Regionen und die damit verbundenen Machtverhältnisse ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellt.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.2 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie

5.3.4.2 Zentrum und Peripherie


Graffiti in Akra (Ghana). Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Laut Immanuel Wallerstein ist das Weltsystem ökonomisch differenziert in

  • Zentren (cores) = USA und Westeuropa
  • Peripherie = 3. Welt
  • Semiperipherie = Pufferstaaten wie Mexiko, Südafrika, "Tiger-Staaten" etc.

Zwischen den verschiedenen Zonen besteht Ungleichheit, die als historisches Produkt der kapitalistischen Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert zu betrachten ist. Die Machtverhältnisse im Weltsystem sind das Produkt von vier Jahrhunderten kolonialer und postkolonialer Veränderungsprozesse.

Soziale Prozesse in konkreten Regionen können nur aus der Rolle, die diese Regionen im Weltsystem einnehmen, erklärt werden; wesentlich sind dabei zwei Faktoren:

  • neue Entwicklungen in den Zentren
  • Aufrechterhaltung der Erfordernisse des Systems als Ganzes

Wallersteins Theorie wurde vor allem aufgrund ihres statischen Modells kritisiert: So werden nur die Zentren als aktiv und bestimmend für das Weltsystem erachtet, die Ökonomie im Zentrum gilt als Maßstab für die ganze Welt. Die Peripherie wird ausschließlich als passiv - als Opfer bzw. Vollstrecker der Entwicklungen im Zentrum - betrachtet.

Während Eric Wolf[1] und Sidney Mintz[2] die komplexen Vernetzungen von kulturellen, ökonomischen und politischen Prozessen im Weltsystem herausarbeiten (Mintz 1987, Wolf 1991), kann das Modell Wallersteins bei weitem nicht alle Prozesse in der Peripherie erklären. Auch dort gibt es lebendige, funktionierende Märkte sowie Widerstand gegen die Forderungen des fremden Kapitals. Aus der Perspektive der Ökonomischen Anthropologie gibt es darüber hinaus Einwände gegen die vollständige Vernachlässigung der Bedeutung von (lokalen) kulturellen Gefügen für die Analyse des Weltsystems (Roseberry in Plattner 1989: 110f).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.3.2

5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität

Airport Vienna. Foto: Elke Mader

Menschen, Kulturen und Ökonomien stehen und standen nie für sich allein. Sie sind immer auch durch Kontakte und Verflechtungen gekennzeichnet, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen mehr oder weniger intensiv verlaufen. Im Zeitalter der Globalisierung gewinnen solche Interaktionen besonders an Bedeutung, sie erfolgen schneller, weiträumiger (globaler), intensiver und wirken sich auf mehr Menschen gleichzeitig aus als bisher. Hauser-Schäublin und Braukämper beschreiben diese Prozesse folgendermaßen:

Weltweite Verflechtungen, Verflechtungen verschiedenster Art und von verschiedenster Qualität, Verflechtungen die in unterschiedlichste Richtungen verlaufen, Verflechtungen mittels verschiedenster Medien, Verflechtungen von Menschen und ihren Handlungen, von Gütern, Ideen und Systemen, Verflechtungen, die mit unterschiedlichster Macht ausgestattet sind und Verflechtungen, die zur Erringung von Herrschaft und/oder Profit unterschiedlichster Gruppen dienen. (Hauser-Schäublin, Braukämper 2002: 10)

Die Dynamik der Verflechtungen prägt viele ökonomische Prozesse und ihre Untersuchung umfasst verschiedene Forschungsfelder, wie z.B.:

  • Analysen des Weltsystems[1] und seiner Interaktionen mit lokalen ökonomischen und kulturellen Gefügen (u.a. Eric Wolf[2], Sidney Mintz[3], Immanuel Wallerstein[4])
  • Warenströme und das "soziale Leben der Dinge" (u.a. Sidney Mintz[5], Arjun Appadurai, Igor Kopytoff, Gerd Spittler [6])
  • Globalisierung [7] (u.a. Ulrich Beck[8], Arjun Appadurai [9])

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie
[2] Siehe Kapitel 5.3.1
[3] Siehe Kapitel 5.3.2
[4] Siehe Kapitel 5.3.4
[5] Siehe Kapitel 5.3.2
[6] https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html
[7] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck
[9] https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/


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5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Appadurai, Arjun 2001: 'Globalization'. Durham, London: Duke University Press.

Assogba, Romain-Philippe Ekanyé 1990: *Le Museé d'Histoire de Ouidah. Découverte de la Côte des Esclaves*. Ouidah: Edition Saint Michel.

Cole, John W., Eric R. Wolf. 1995: *Die unsichtbare Grenze. Ethnizität und Ökologie in einem Alpental*. Wien, Bozen: Folio-Verlag.

Copans, Jean 2005: "Claude Meillassoux (1925-2005)." *Cahiers d'études africanes*. Online: https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [1] (02.08.2005)

Durrenberger, E.Paul 2005: Labour. In J. G. Carrier (Hg.): *A Handbook of Economic Anthropology*. Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar, S. 125-140.

Friedman, Jonathan 1987: An Interview with Eric Wolf. *Current Anthropology* 28: 107-118.

Genovese, Eugene D. 1976: 'Roll Jordan Roll: The World the Slaves Made'. New York: Vintage Books.

Godelier, Maurice 1982: *La production des Grands Hommes. Pouvoir et domination masculine chez les Baruya de Nouvelle Guinée*.

--- 1987: 'Die Produktion der Großen Männer'. Frankfurt, New York: Campus.

--- 1984: 'L' Idéel et le matériel. Pensée, économies, sociétés'. Paris.

Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The False Coin of Our Own Dreams*. New York: Palgrave.

Harris, Marvin 2001 (1968): *The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture*. Walnut Creek: Altamira

Hauser-Schäublin, Brigitta; Braukämpfer Ulrich 2002: *Ethnologie der Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen*. Berlin: Reimer Verlag.

Kohl, Karl Heinz (Hg.) 1982: *Mythen der Neuen Welt. Zur Endeckungsgeschichte Amerikas.* Berlin: Fröhlich & Kaufmann.

Kopytoff, Igor 1986: The Cultural Biography of Things: Commodization as a Process. In: Appadurai, Arjun (Hg.), *The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective*. Cambridge and New York, Cambridge University Press: 64-91.

Langheiter, Eva 1989: Mittäterinnen oder Opfer? In: Kossek, Brigitte; Langer, Dorothea; Seiser, Gerti (Hg.), *Verkehren der Geschlechter. Reflexionen und Analysen von Ethnologinnen*. Wien, Wiener Frauenverlag: 36-44.

Lovejoy, Paul E. (Hg.) 1986: *Africans in Bondage: Studies of Slavery and the Slave Trade*. Madison: University of Wisconsin Press.

Mathieu, Nicole-Claude (Hg.) 1985: *L'Arraisonnement des Femmes, Cahiers de l'Homme, nouvelle série XXIV.*, Edition de l'Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris.

Meillassoux, Claude 1964: *Anthropologie économique des Gouro de Cote d'Ivoire: de l'économie de subsistance à l'agriculture commerciale*. Paris: Mouton.

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#5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
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