Difference between revisions of "STEOP - Propaedeutikum KSA"
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Die '''historische Perspektive in der KSA beschäftigt sich mit '''kultureller und sozialer Diversität[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_will_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.2.1 Die Prämisse der Diversität|[2]]]''' in zeitlicher Dimension'''. Sie setzt sich mit historischem Quellenmaterial auseinander, teils um die historischen Entwicklungen in bestimmten Regionen oder Gruppen zu rekonstruieren, teils weil sie davon ausgeht, dass die heutigen Verhältnisse in konkreten empirischen Feldern in ihrer historischen Gewordenheit interpretiert werden müssen. Vielfach wird sie ergänzend zu ethnographischen Methoden eingesetzt (vgl. Wernhart und Zips 2008). <br/> | Die '''historische Perspektive in der KSA beschäftigt sich mit '''kultureller und sozialer Diversität[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_will_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.2.1 Die Prämisse der Diversität|[2]]]''' in zeitlicher Dimension'''. Sie setzt sich mit historischem Quellenmaterial auseinander, teils um die historischen Entwicklungen in bestimmten Regionen oder Gruppen zu rekonstruieren, teils weil sie davon ausgeht, dass die heutigen Verhältnisse in konkreten empirischen Feldern in ihrer historischen Gewordenheit interpretiert werden müssen. Vielfach wird sie ergänzend zu ethnographischen Methoden eingesetzt (vgl. Wernhart und Zips 2008). <br/> | ||
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− | Der '''komparative ( | + | Der '''komparative (vergleichende[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Vergleich/Diffusionismus_und_Kulturkreislehre#2.24 Vergleich|[3]]]) Ansatz fragt nach Unterschieden und Ähnlichkeiten partikularer kultureller und sozialer Phänomene in Zeit und Raum''' und leitet daraus verallgemeinernde Aussagen unterschiedlicher Reichweite ab (vgl. Gingrich und Fox 2002). '''Radcliffe-Brown[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie/UK_Funktionalismus#2.4.1 A. R. Radcliffe-Brown|[4]]]''', einer der Begründer der britischen funktionalistischen Schule, der ein stark universalistisches Forschungsprogramm vertrat, formulierte um die Mitte des 20. Jahrhunderts, das Ziel der "komparativen Methode" sei: "... to explore the varieties of forms of social life as a basis for the theoretical study of human social phenomena" (1951: 15). Die zu vergleichenden Falleinheiten können sehr unterschiedlich definiert werden: "soziale Systeme" oder Gesellschaften, als analog verstandene Institutionen und Prozesse in verschiedenen Gesellschaften, kulturelle Phänomene, materielle Objekte und dergleichen mehr. Ebenso kann die Variabilität der Vergleichsfälle auf sehr unterschiedlichen Ebenen angenommen werden: räumlich oder zeitlich, aber auch als soziale oder kulturelle Variation innerhalb eines gemeinsamen soziokulturellen Kontexts. <br/> |
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Die '''ethnographische Feldforschung''' - also die systematische Datenerhebung in intensivem Kontakt mit Menschen in konkreten empirischen Forschungsfeldern - schließlich ist nicht per se wichtiger als die beiden anderen Standbeine. Sie ist aber insofern von zentraler Bedeutung für unser Fach, als sie '''als typische Erhebungsmethode der KSA ein definierendes Kriterium der Disziplin''' bildet und diese am deutlichsten von anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet. <br/> | Die '''ethnographische Feldforschung''' - also die systematische Datenerhebung in intensivem Kontakt mit Menschen in konkreten empirischen Forschungsfeldern - schließlich ist nicht per se wichtiger als die beiden anderen Standbeine. Sie ist aber insofern von zentraler Bedeutung für unser Fach, als sie '''als typische Erhebungsmethode der KSA ein definierendes Kriterium der Disziplin''' bildet und diese am deutlichsten von anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet. <br/> | ||
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'''Was das Fach der Kultur- und Sozialanthropologie ausmacht und von anderen unterscheidet''', ist nicht nur eine bestimmte Perspektive auf konkrete menschliche Lebenswelten, die soziale und kulturelle Zusammenhänge unter der Prämisse der Diversität in den Blick nimmt. Es '''ist auch ein spezifischer methodischer Zugang: die ethnographische Feldforschung''' (vgl. Eriksen 2010: 27-43). <br/> | '''Was das Fach der Kultur- und Sozialanthropologie ausmacht und von anderen unterscheidet''', ist nicht nur eine bestimmte Perspektive auf konkrete menschliche Lebenswelten, die soziale und kulturelle Zusammenhänge unter der Prämisse der Diversität in den Blick nimmt. Es '''ist auch ein spezifischer methodischer Zugang: die ethnographische Feldforschung''' (vgl. Eriksen 2010: 27-43). <br/> | ||
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− | '''Ethnographische Feldforschung[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Ethnographie | + | '''Ethnographische Feldforschung[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Ethnographie#2.3 Ethnographie|[1]]] setzt gewöhnlich die längerfristige physische Anwesenheit der ForscherInnen in einem mehr oder weniger überschaubaren Forschungsfeld voraus.''' EthnographInnen beobachten und begleiten konkrete Menschen über längere Zeiträume in ihrem Alltagsleben. In intensiver Kommunikation mit ihnen erheben sie '''Datenmaterial[[Der_Prozess_der_Datenerhebung/Prozess#5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung|[2]]]''', das zu beschreibenden, analytischen, interpretierenden und/oder erklärenden Aussagen über konkrete Forschungsfragen führen soll. In der Geschichte des Faches bildeten lokale Gemeinschaften in fernen nicht industrialisierten Gesellschaften das typische Feld für ethnographische Untersuchungen. Die Dauer solcher Feldaufenthalte betrug nicht selten ein bis zwei Jahre. '''In den letzten Jahrzehnten haben sich die beforschten Felder und mit ihnen auch die Rahmenbedingungen ethnographischer Erhebungen zunehmend verändert.''' <br/> |
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Nach wie vor ist unser Zugang zur Ethnographie aber durch diese historischen Erfahrungen geprägt. Wesentliche '''Ansprüche an ethnographische Feldforschung''' sind auch heute Merkmale wie: <br/> | Nach wie vor ist unser Zugang zur Ethnographie aber durch diese historischen Erfahrungen geprägt. Wesentliche '''Ansprüche an ethnographische Feldforschung''' sind auch heute Merkmale wie: <br/> | ||
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In der ethnographischen Feldforschung dagegen gehe ich nicht nur davon aus, dass meine Vorannahmen keineswegs gesichert sind, sondern dass sie mich - da sie potentiell ethnozentrisch sind - in die Irre führen können, wenn ich sie im Forschungsprozess nicht kritisch hinterfrage. '''Die Anpassung der methodischen Zugänge an die gewonnenen Einsichten und die Neuorientierung während des Forschungsprozesses sind in der Ethnographie daher nicht methodische Fehler; sie sind vielmehr selbstverständlich und markieren einen Erkenntnisgewinn.''' <br/> | In der ethnographischen Feldforschung dagegen gehe ich nicht nur davon aus, dass meine Vorannahmen keineswegs gesichert sind, sondern dass sie mich - da sie potentiell ethnozentrisch sind - in die Irre führen können, wenn ich sie im Forschungsprozess nicht kritisch hinterfrage. '''Die Anpassung der methodischen Zugänge an die gewonnenen Einsichten und die Neuorientierung während des Forschungsprozesses sind in der Ethnographie daher nicht methodische Fehler; sie sind vielmehr selbstverständlich und markieren einen Erkenntnisgewinn.''' <br/> | ||
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− | Die Anwendung qualitativer Untersuchungsmethoden schließt den Anspruch auf Repräsentativität für eine klar definierte Gruppe oder Kategorie von Einzelfällen (die Grundgesamtheit oder Grundpopulation) von vornherein aus. Alle diese Begrifflichkeiten können nur in einem quantitativen Forschungszugang sinnvoll verwendet werden. '''Was wir für ethnographische Feldforschung beanspruchen können, ist '''Validität[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_kann_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.4.4 Validität|[4]]]''':''' dass bestimmte soziale und kulturelle Zusammenhänge auf gültige Weise dargestellt werden. Für welche Menschen diese Darstellung Gültigkeit hat - über diejenigen hinaus, mit denen wir in der Forschung kommuniziert haben -, ist eine kritische Frage, für die es keine simple, technisch korrekte Antwort gibt. Diese Frage steht auch mit dem Problem der sich verändernden Definition unserer Untersuchungseinheiten im Zusammenhang (früher "Gesellschaften" oder "Kulturen" und deren Strukturen, heute eher soziale Teilgruppen, Netzwerke oder Prozesse). Sie wird in Abhängigkeit von der jeweiligen Themenstellung unterschiedlich zu beantworten sein. '''Außer Zweifel steht jedenfalls, dass '''"dichte"[[Methodologische_Gegensatzpaare/Qualitativ-Quantitativ | + | Die Anwendung qualitativer Untersuchungsmethoden schließt den Anspruch auf Repräsentativität für eine klar definierte Gruppe oder Kategorie von Einzelfällen (die Grundgesamtheit oder Grundpopulation) von vornherein aus. Alle diese Begrifflichkeiten können nur in einem quantitativen Forschungszugang sinnvoll verwendet werden. '''Was wir für ethnographische Feldforschung beanspruchen können, ist '''Validität[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_kann_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.4.4 Validität|[4]]]''':''' dass bestimmte soziale und kulturelle Zusammenhänge auf gültige Weise dargestellt werden. Für welche Menschen diese Darstellung Gültigkeit hat - über diejenigen hinaus, mit denen wir in der Forschung kommuniziert haben -, ist eine kritische Frage, für die es keine simple, technisch korrekte Antwort gibt. Diese Frage steht auch mit dem Problem der sich verändernden Definition unserer Untersuchungseinheiten im Zusammenhang (früher "Gesellschaften" oder "Kulturen" und deren Strukturen, heute eher soziale Teilgruppen, Netzwerke oder Prozesse). Sie wird in Abhängigkeit von der jeweiligen Themenstellung unterschiedlich zu beantworten sein. '''Außer Zweifel steht jedenfalls, dass '''"dichte"[[Methodologische_Gegensatzpaare/Qualitativ-Quantitativ#1.4.1 qualitativ|[5]]]''', in die Tiefe gehende ethnographische Arbeiten sehr viel über Zusammenhänge oder Kollektive aussagen können''', an denen die untersuchten Personen teilhaben, die aber über diesen relativ kleinen Kreis unmittelbar Beteiligter weit hinausgehen. <br/> |
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<sup>verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter</sup> | <sup>verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter</sup> | ||
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− | '''Die Kultur- und Sozialanthropologie zählt zu den '''empirischen Sozialwissenschaften[[Methodologische_Gegensatzpaare/Verstehen-Erklären | + | '''Die Kultur- und Sozialanthropologie zählt zu den '''empirischen Sozialwissenschaften[[Methodologische_Gegensatzpaare/Verstehen-Erklären#1.1.2 Sozialwissenschaft im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften|[1]]]'''.''' Unter Empirie versteht man '''Wissen, das aus Erfahrung''' - also aus der systematischen Beobachtung der Welt - '''gewonnen wird'''. Viele andere Wissenschaften, wie etwa die Naturwissenschaften, arbeiten ebenfalls empirisch. Beispiele für nicht-empirische Wissenschaften wären Philosophie, Theologie, Mathematik oder Rechtswissenschaften. Aber auch nicht-empirische Disziplinen können empirische Teilbereiche haben, wie etwa die überwiegend normativ orientierten Rechtswissenschaften, die sich teilweise auch mit der Umsetzung von Recht in der sozialen Realität beschäftigen. <br/> |
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Diese Grenze ist also nicht immer eindeutig zu ziehen: '''Empirische und nicht- empirische Aspekte vermischen sich in verschiedenen Wissenschaften oft miteinander'''. Ähnliches gilt auch für die KSA. Anthropologisches Wissen wird nicht allein aus der Erfahrung gewonnen. Es bezieht sich zwar immer auf die reale, empirisch erfahrbare Welt. Es geht aber nicht nur vom beobachtbaren Erfahrungswissen aus. '''Ethnographische Daten setzen ganz entscheidend auch eine Interpretation des Erfahrenen voraus.''' Dieser Prozess des Wissenserwerbs durch Interpretation wird mit dem wissenschaftstheoretischen Begriff der '''Hermeneutik''' beschrieben. <br/> | Diese Grenze ist also nicht immer eindeutig zu ziehen: '''Empirische und nicht- empirische Aspekte vermischen sich in verschiedenen Wissenschaften oft miteinander'''. Ähnliches gilt auch für die KSA. Anthropologisches Wissen wird nicht allein aus der Erfahrung gewonnen. Es bezieht sich zwar immer auf die reale, empirisch erfahrbare Welt. Es geht aber nicht nur vom beobachtbaren Erfahrungswissen aus. '''Ethnographische Daten setzen ganz entscheidend auch eine Interpretation des Erfahrenen voraus.''' Dieser Prozess des Wissenserwerbs durch Interpretation wird mit dem wissenschaftstheoretischen Begriff der '''Hermeneutik''' beschrieben. <br/> | ||
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'''Hermeneutik''' kommt vom griechischen Verb ''hermeneuo'', d.h. etwa "erklären", "übersetzen", "auslegen" (im Sinne von interpretieren). In der '''Wissenschaftstheorie[http://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie [1]]''' bezieht sich Hermeneutik auf die Deutung und Interpretation von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen. '''Die KSA hat wesentliche hermeneutische Aspekte, die nicht strikt empirisch sind, weil sie nicht allein vom Beobachtbaren ausgehen, sondern versuchen, den Sinn, der hinter dem beobachtbaren Handeln von Menschen steht, zu deuten.''' <br/> | '''Hermeneutik''' kommt vom griechischen Verb ''hermeneuo'', d.h. etwa "erklären", "übersetzen", "auslegen" (im Sinne von interpretieren). In der '''Wissenschaftstheorie[http://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie [1]]''' bezieht sich Hermeneutik auf die Deutung und Interpretation von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen. '''Die KSA hat wesentliche hermeneutische Aspekte, die nicht strikt empirisch sind, weil sie nicht allein vom Beobachtbaren ausgehen, sondern versuchen, den Sinn, der hinter dem beobachtbaren Handeln von Menschen steht, zu deuten.''' <br/> | ||
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− | Der Begriff der '''Hermeneutik[[Einige_wissenschaftstheoretische_Grundlagen_der_empirischen_Sozialforschung/Nicht-Positivismus | + | Der Begriff der '''Hermeneutik[[Einige_wissenschaftstheoretische_Grundlagen_der_empirischen_Sozialforschung/Nicht-Positivismus#2.3.1 Die Hermeneutik|[2]]]''' stammt vor allem aus sprach- und literaturwissenschaftlichen Kontexten, in denen es um das Auslegen und Interpretieren von Texten geht. In der KSA hat ein analoges Verständnis von '''Kultur als "Text"[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Geertz#2.7 Clifford Geertz und die Folgen|[3]]]''' eine große Rolle gespielt. Am deutlichsten ausgeprägt war diese Analogie in der sogenannten '''"postmodernen" Kulturanthropologie der 1980er Jahre''', als behauptet wurde, Kultur funktioniere wie Text und müsse demnach wie Text gelesen und interpretiert werden. Wenn auch die Gleichsetzung von Kultur mit Text heute nicht mehr so radikal vertreten wird, so lassen sich gewisse Analogien zwischen der Interpretation kultureller Zusammenhänge und der Textdeutung nicht bestreiten. Der Hauptgrund dafür liegt in der grundlegenden '''Ähnlichkeit der Realitäten[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_untersucht_Kultur-_und_Sozialanthropologie#1.1.7 KSA als Lehre von den kulturellen und sozialen Aspekten des Menschseins|[4]]]''', mit denen sich das Fach beschäftigt, mit den Instrumenten, die es zu ihrer Darstellung und Erklärung verwendet: Da wie dort geht es um Denkmodelle, die letztlich kulturell geprägt sind. <br/> |
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Die Antwort auf die Frage, ob objektive Beschreibung und Erklärung in der KSA möglich ist, hat viel zu tun mit Art und Beschaffenheit der konkreten Realitäten, für die man sich gerade interessiert. Die mathematischen Prinzipien der Erbteilung etwa, die in einer bestimmten Gruppe zur Anwendung kommen, lassen sich recht gut objektivierend betrachten. Sie können unabhängig von der persönlichen Sichtweise beschrieben werden. Aber schon dort, wo erklärt werden soll, warum bei einer konkreten Teilung z.B. von Ackerland auf eine bestimmte Weise entschieden wird, die mit den abstrakten Regeln im Einklang steht, aber nicht zur Gänze durch diese determiniert wird, ist das nicht mehr möglich: Hier muss (im Dialog mit unseren Forschungssubjekten) interpretiert werden. <br/> | Die Antwort auf die Frage, ob objektive Beschreibung und Erklärung in der KSA möglich ist, hat viel zu tun mit Art und Beschaffenheit der konkreten Realitäten, für die man sich gerade interessiert. Die mathematischen Prinzipien der Erbteilung etwa, die in einer bestimmten Gruppe zur Anwendung kommen, lassen sich recht gut objektivierend betrachten. Sie können unabhängig von der persönlichen Sichtweise beschrieben werden. Aber schon dort, wo erklärt werden soll, warum bei einer konkreten Teilung z.B. von Ackerland auf eine bestimmte Weise entschieden wird, die mit den abstrakten Regeln im Einklang steht, aber nicht zur Gänze durch diese determiniert wird, ist das nicht mehr möglich: Hier muss (im Dialog mit unseren Forschungssubjekten) interpretiert werden. <br/> | ||
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− | '''Objektivität[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Objektivität | + | '''Objektivität[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Objektivität#2.15 Objektivität|[1]]]''' ist in Teilbereichen des Wissens, das die KSA anstrebt, also durchaus möglich.''' Aber gewöhnlich ist sie gerade dort, wo es für unser Fach interessant wird, nicht mehr möglich. Überall dort, wo es um sinngeleitetes Handeln geht, kann ich als BeobachterIn nicht von der Tatsache abstrahieren, dass ich selbst in Sinnzusammenhänge eingebettet bin und mir solche Zusammenhänge interpretierend erklären kann. '''Objektiv ist eine Aussage dann, wenn sie sich - unabhängig von der jeweiligen Person, die dies versucht - direkt an der Realität überprüfen lässt.''' '''In der KSA ist dies in den meisten Zusammenhängen nicht möglich''', weil zwischen der Realität und unseren Aussagen noch eine Zwischenebene liegt: jene des sinngeleiteten Verstehens, die sich nur der Interpretation erschließt, nicht aber der objektiven Beschreibung. <br/> |
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Die Gegenposition zu dieser Sicht, die davon ausgeht, dass ein direkter Zugang zu sozialen und kulturellen Realitäten möglich und unproblematisch ist, wird wissenschaftstheoretisch als Positivismus bezeichnet. In der Geschichte der KSA sind immer wieder auch positivistische Theorieansätze vertreten worden, so etwa durch '''Radcliffe-Brown[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie/UK_Funktionalismus#2.4.1 A. R. Radcliffe-Brown|[2]]]'''. In der Gegenwart werden solche Perspektiven aber nur von wenigen VetreterInnen des Faches eingenommen; die Mehrheit der AnthropologInnen steht '''positivistischen Ansätzen[[Einige_wissenschaftstheoretische_Grundlagen_der_empirischen_Sozialforschung/Positivismus|[3]]]''' kritisch gegenüber. <br/> | Die Gegenposition zu dieser Sicht, die davon ausgeht, dass ein direkter Zugang zu sozialen und kulturellen Realitäten möglich und unproblematisch ist, wird wissenschaftstheoretisch als Positivismus bezeichnet. In der Geschichte der KSA sind immer wieder auch positivistische Theorieansätze vertreten worden, so etwa durch '''Radcliffe-Brown[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie/UK_Funktionalismus#2.4.1 A. R. Radcliffe-Brown|[2]]]'''. In der Gegenwart werden solche Perspektiven aber nur von wenigen VetreterInnen des Faches eingenommen; die Mehrheit der AnthropologInnen steht '''positivistischen Ansätzen[[Einige_wissenschaftstheoretische_Grundlagen_der_empirischen_Sozialforschung/Positivismus|[3]]]''' kritisch gegenüber. <br/> | ||
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'''Wenn wesentliche Zusammenhänge, für die sich die KSA interessiert, nur interpretierend erschlossen werden können, so ergibt sich daraus notwendigerweise, dass Objektivität kein realistisches Ziel für ihre Beschreibung und Erklärung sein kann''', weil sie nicht erreicht werden kann. Für einen sinnvollen Anspruch auf Objektivität gibt es vor allem '''zwei große Hindernisse'''. <br/> | '''Wenn wesentliche Zusammenhänge, für die sich die KSA interessiert, nur interpretierend erschlossen werden können, so ergibt sich daraus notwendigerweise, dass Objektivität kein realistisches Ziel für ihre Beschreibung und Erklärung sein kann''', weil sie nicht erreicht werden kann. Für einen sinnvollen Anspruch auf Objektivität gibt es vor allem '''zwei große Hindernisse'''. <br/> | ||
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− | * Das '''erste Hindernis ergibt sich aus der außerordentlichen Komplexität sozialer und kultureller Zusammenhänge'''. Menschliches Handeln und Denken ist einer unüberschaubaren Fülle an Einflüssen, äußeren Rahmenbedingungen und kausalen Wechselwirkungen unterworfen. Soziales Handeln ist zwar durchaus in '''kausale Zusammenhänge[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Kausalität | + | * Das '''erste Hindernis ergibt sich aus der außerordentlichen Komplexität sozialer und kultureller Zusammenhänge'''. Menschliches Handeln und Denken ist einer unüberschaubaren Fülle an Einflüssen, äußeren Rahmenbedingungen und kausalen Wechselwirkungen unterworfen. Soziales Handeln ist zwar durchaus in '''kausale Zusammenhänge[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Kausalität#2.11 Kausalität|[1]]]''' eingebunden, an denen ein positivistisches Wissenschaftsverständnis ansetzt. Das Problem besteht aber darin, dass wir diese Zusammenhänge nicht in Isolation betrachten können. Wenn wir einen Zusammenhang zwischen zwei Beobachtungen zu erkennen glauben - und ihn vielleicht sogar statistisch bestätigen können - so heißt das noch lange nicht, dass dieser Zusammenhang kausaler Art sein muss. Vielleicht braucht es ja spezifische Rahmenbedingungen, die uns wegen ihrer Komplexität nicht klar sind, oder von uns nicht beachtete zusätzliche Faktoren, damit der beobachtete Zusammenhang zum Tragen kommt. Aufgrund dieser Komplexität unseres empirischen Feldes hat sich auch die Suche nach objektiven sozialen Gesetzmäßigkeiten als wenig ergiebig erwiesen. Es hat in der Geschichte des Faches immer wieder Versuche gegeben, solche Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Im Großen und Ganzen sind diese jedoch gescheitert, weil die behaupteten Gesetzmäßigkeiten entweder banal und somit uninteressant waren, oder weil sie im Fall weniger banaler Aussagen durch zusätzliche empirische Fallbeispiele meist relativ schnell widerlegt wurden.<br/> |
* Das '''zweite Hindernis ist die Notwendigkeit der Interpretation[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_kann_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.4.2 Interpretation und Objektivität|[2]]]'''. Menschliches Handeln ist nicht nur sinngeleitet, es steht auch mit objektiven Bedürfnissen und Interessen sowie kausalen Wechselwirkungen in Zusammenhang. Es ist aber immer auch sinngeleitet. Zumindest diese Sinnzusammenhänge lassen sich grundsätzlich nicht objektiv beschreiben. Sie müssen vielmehr interpretierend gedeutet werden, d.h. in das eigene Sinnsystem übersetzt werden. Natürlich lässt sich das eigene Verständnis im ethnographischen Kommunikationsprozess erweitern und über die eigenen kulturellen Prägungen hinaus entwickeln. Wäre das nicht möglich, so dürften wir den Anspruch, andere kulturelle Zusammenhänge verstehen zu können, gar nicht erheben. Ein solches Verständnis lässt sich jedoch nie objektivieren. Die Interpretation von Sinn bleibt notwendigerweise subjektiv.<br/> | * Das '''zweite Hindernis ist die Notwendigkeit der Interpretation[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_kann_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.4.2 Interpretation und Objektivität|[2]]]'''. Menschliches Handeln ist nicht nur sinngeleitet, es steht auch mit objektiven Bedürfnissen und Interessen sowie kausalen Wechselwirkungen in Zusammenhang. Es ist aber immer auch sinngeleitet. Zumindest diese Sinnzusammenhänge lassen sich grundsätzlich nicht objektiv beschreiben. Sie müssen vielmehr interpretierend gedeutet werden, d.h. in das eigene Sinnsystem übersetzt werden. Natürlich lässt sich das eigene Verständnis im ethnographischen Kommunikationsprozess erweitern und über die eigenen kulturellen Prägungen hinaus entwickeln. Wäre das nicht möglich, so dürften wir den Anspruch, andere kulturelle Zusammenhänge verstehen zu können, gar nicht erheben. Ein solches Verständnis lässt sich jedoch nie objektivieren. Die Interpretation von Sinn bleibt notwendigerweise subjektiv.<br/> | ||
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<sup>verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter</sup> | <sup>verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter</sup> | ||
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− | '''Die Kultur- und Sozialanthropologie ist (so wie die anderen Sozialwissenschaften[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Sozialwissenschaft | + | '''Die Kultur- und Sozialanthropologie ist (so wie die anderen Sozialwissenschaften[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Sozialwissenschaft#2.17 Sozialwissenschaft|[1]]]) eine vergleichsweise junge Disziplin[http://ksa.univie.ac.at/institut/geschichte/ [2]]'''. Fragen, die wir heute als typisch anthropologisch ansehen, haben zwar Philosophen und Historiker schon seit der Antike beschäftigt. '''Thomas Hylland Eriksen[http://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hylland_Eriksen [3]]''' (2010: 10ff.) rechnet diese Vorläufer der "Proto-Anthropology" zu. Theoretische Modelle sozialer und kultureller Zusammenhänge, die als solche rezipiert und diskutiert wurden - kurz: eine explizite anthropologische Theorienbildung - gab es aber erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus diesen Theoriediskursen bildete sich unser Fach, das etwa ab der Jahrhundertwende akademisch institutionalisiert wurde und sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts seine charakteristische Methodologie erarbeitete. '''Eriksen[http://www.amazon.co.uk/Small-Places-Large-Issues-Introduction/dp/0745317723 [4]]''' (2010: 10-26) gibt einen sehr nützlichen Überblick über die Entwicklung des Faches, der hier lediglich ergänzt und nuanciert werden soll. <br/> |
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'''Religiöse Institutionen und Praktiken stehen in enger Verbindung mit politischen und sozialen Organisationsformen.''' <br/> | '''Religiöse Institutionen und Praktiken stehen in enger Verbindung mit politischen und sozialen Organisationsformen.''' <br/> | ||
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− | Dies betrifft zum einen die Verflechtungen von '''Religion und Herrschaft''': Während spirituelle und soziale Funktionen bzw. Ämter häufig voneinander getrennt sind, kommt bzw. kam es in diversen kulturellen und historischen Kontexten auch zu einer weitgehenden Verschränkung von religiöser und politischer Macht. Beispiele dafür reichen u.a. von den katholischen Erzbischöfen in Mitteleuropa, den '''Inka- Herrschern im Andenraum[[Chronisten_und_Missionare/Poma_de_Alaya | + | Dies betrifft zum einen die Verflechtungen von '''Religion und Herrschaft''': Während spirituelle und soziale Funktionen bzw. Ämter häufig voneinander getrennt sind, kommt bzw. kam es in diversen kulturellen und historischen Kontexten auch zu einer weitgehenden Verschränkung von religiöser und politischer Macht. Beispiele dafür reichen u.a. von den katholischen Erzbischöfen in Mitteleuropa, den '''Inka- Herrschern im Andenraum[[Chronisten_und_Missionare/Poma_de_Alaya#1.5 Poma de Ayala oder die Chronik der Eroberten|[1]]]''', westafrikanischen "Gottkönigen", dem Dalai Lama in Tibet bis zu '''Schamanen[[Themenbereiche_der_KSA/Religion#3.1.5 Religion und spirituelle Erfahrung: Fallbeispiel Schamanismus|[2]]]''' in kleineren gesellschaftlichen Gefügen. <br/> |
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Zum anderen weist die Organisation religiöser Institutionen in vielen Fällen Parallelen zu gesellschaftlichen Strukturen auf. Die Verhältnisse des größeren sozialen Umfelds - etwa in Bezug auf Hierarchie und Egalität oder auch Genderbeziehungen - finden sich dort oft in ähnlicher Weise wieder. In gewissen Fällen können religiöse Gruppen jedoch auch konträre soziale Prinzipien verkörpern (z.B. egalitäre Prinzipien im Rahmen stark hierarchisierter soziopolitischer Gefüge). Schließlich existieren innerhalb großer Religionen (etwa im Buddhismus oder im Christentum) auch '''unterschiedliche Organisationsformen'''. <br/> | Zum anderen weist die Organisation religiöser Institutionen in vielen Fällen Parallelen zu gesellschaftlichen Strukturen auf. Die Verhältnisse des größeren sozialen Umfelds - etwa in Bezug auf Hierarchie und Egalität oder auch Genderbeziehungen - finden sich dort oft in ähnlicher Weise wieder. In gewissen Fällen können religiöse Gruppen jedoch auch konträre soziale Prinzipien verkörpern (z.B. egalitäre Prinzipien im Rahmen stark hierarchisierter soziopolitischer Gefüge). Schließlich existieren innerhalb großer Religionen (etwa im Buddhismus oder im Christentum) auch '''unterschiedliche Organisationsformen'''. <br/> | ||
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[[File:einfpropaedksa-74_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: Zulu Frauen und Mädchen bei einem Fest, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/waltercallens/6559744165/in/photostream/)]] | [[File:einfpropaedksa-74_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: Zulu Frauen und Mädchen bei einem Fest, Quelle: [flickr.com](http://www.flickr.com/photos/waltercallens/6559744165/in/photostream/)]] | ||
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− | In der Folge von Émile Durkheim, der die Bedeutung von Ritualen für gesellschaftliche Solidarität hervorhebt, betont der britische Sozialanthropologe '''Max Gluckman[[Geschichte_der_Organisations-_und_Betriebsanthropologie/Manchester | + | In der Folge von Émile Durkheim, der die Bedeutung von Ritualen für gesellschaftliche Solidarität hervorhebt, betont der britische Sozialanthropologe '''Max Gluckman[[Geschichte_der_Organisations-_und_Betriebsanthropologie/Manchester#2.2.1 Max Gluckman und die Manchester School|[1]]]''' ihren Stellenwert im Rahmen des Umgangs mit Spannungen und Konflikten. Für Gluckmann sind '''Rituale primär Ausdruck sozialer Spannungen''': Im Rahmen der performativen Handlungen zeigen sie oft dramatisch Konfliktlinien auf und stellen erst am Ende wieder soziale Einigkeit her. <br/> |
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In "Ritualen der Rebellion" wird der Status quo sozialer Hierarchien auf den Kopf gestellt, die normalen Regeln von Ordnung und Autorität werden ausgesetzt. Als Beispiel führt Gluckman unter anderem Agrarriten der Zulu in Südafrika an, in denen die Gender-Hierarchien umgekehrt werden: Die Frauen kleiden sich im Ritual als Männer und führen all jene Handlungen durch, die im Alltag den Männern vorbehalten sind. Diese temporäre Inversion der patriarchalen Gesellschaftsordnung trägt dazu bei, ihr Konfliktpotential einzuschränken. Das Ziel von '''"Ritualen der Rebellion"''' besteht laut Gluckmann darin, Konflikte zum Ausdruck zu bringen und dadurch das soziale Gleichgewicht zu erhalten (vgl. Bell 1997: 38-39). <br/> | In "Ritualen der Rebellion" wird der Status quo sozialer Hierarchien auf den Kopf gestellt, die normalen Regeln von Ordnung und Autorität werden ausgesetzt. Als Beispiel führt Gluckman unter anderem Agrarriten der Zulu in Südafrika an, in denen die Gender-Hierarchien umgekehrt werden: Die Frauen kleiden sich im Ritual als Männer und führen all jene Handlungen durch, die im Alltag den Männern vorbehalten sind. Diese temporäre Inversion der patriarchalen Gesellschaftsordnung trägt dazu bei, ihr Konfliktpotential einzuschränken. Das Ziel von '''"Ritualen der Rebellion"''' besteht laut Gluckmann darin, Konflikte zum Ausdruck zu bringen und dadurch das soziale Gleichgewicht zu erhalten (vgl. Bell 1997: 38-39). <br/> | ||
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Eine besondere Dimension des Kolonialismus bildet die '''''colonial frontier''''' ("Kolonisationsfront", Grenzzone). Sie befindet sich '''an inneren und äußeren Rändern kolonialer Gefüge''', an denen es oft (noch) keine eindeutigen Herrschaftsverhältnisse gibt, und involviert verschiedene Akteure, Interessen, Konzepte und Handlungsweisen in ein komplexes Feld von Interaktionen und Gewalt. <br/> | Eine besondere Dimension des Kolonialismus bildet die '''''colonial frontier''''' ("Kolonisationsfront", Grenzzone). Sie befindet sich '''an inneren und äußeren Rändern kolonialer Gefüge''', an denen es oft (noch) keine eindeutigen Herrschaftsverhältnisse gibt, und involviert verschiedene Akteure, Interessen, Konzepte und Handlungsweisen in ein komplexes Feld von Interaktionen und Gewalt. <br/> | ||
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− | Eine ''colonial frontier'' kann in einer Region über Jahrhunderte in veränderten Konstellationen bestehen und mit unterschiedlichen historischen und ökonomischen Prozessen vernetzt sein. So umfasst die ''colonial frontier'' im südamerikanischen Tiefland eine Vielfalt von regionalen Facetten in unterschiedlichen Zeitepochen. Beispiele für die Diversität dieser Grenzzonen sind etwa die '''Küste Brasiliens in der frühen Kolonialzeit[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden | + | Eine ''colonial frontier'' kann in einer Region über Jahrhunderte in veränderten Konstellationen bestehen und mit unterschiedlichen historischen und ökonomischen Prozessen vernetzt sein. So umfasst die ''colonial frontier'' im südamerikanischen Tiefland eine Vielfalt von regionalen Facetten in unterschiedlichen Zeitepochen. Beispiele für die Diversität dieser Grenzzonen sind etwa die '''Küste Brasiliens in der frühen Kolonialzeit[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden#1.4.2 Die Dynamik einer "colonial frontier"|[1]]]''', der Kautschukboom im 19. und 20. Jahrhundert und seine Folgen (vgl. Taussig 1987), aber auch Konfrontationen zwischen indigenen Gemeinschaften, Nationalstaaten und transnationalen Konzernen im Amazonasgebiet bezüglich Ressourcennutzung und Landrechtsfragen oder die anhaltende Missionstätigkeit in der Gegenwart. <br/> |
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Ein klassisches Beispiel für die Ränder und Fronten des Kolonialismus ist auch die '''US-Amerikanische '''"''frontier''"[http://en.wikipedia.org/wiki/Frontier [2]]''', der sogenannte "Wilde Westen"'''. So repräsentiert der "''spirit of the frontier''" eine typisch kolonialistische Ideologie der Überlegenheit, die Hand in Hand mit der gewaltsamen Aneignung von Land und Ressourcen geht. <br/> | Ein klassisches Beispiel für die Ränder und Fronten des Kolonialismus ist auch die '''US-Amerikanische '''"''frontier''"[http://en.wikipedia.org/wiki/Frontier [2]]''', der sogenannte "Wilde Westen"'''. So repräsentiert der "''spirit of the frontier''" eine typisch kolonialistische Ideologie der Überlegenheit, die Hand in Hand mit der gewaltsamen Aneignung von Land und Ressourcen geht. <br/> | ||
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Die '''Geschichte der Ethnographie sowie der Kultur- und Sozialanthropologie in Lateinamerika[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden#1 Chronisten und Missionare|[1]]]''' beginnt mit den ersten Berichten von '''Conquistadoren, Chronisten und Missionaren''' über Land und Leute. Bei diesen Frühformen ethnographischen Schreibens und den dort formulierten Kulturtheorien handelt es sich zwar nicht um wissenschaftliche Texte im Sinne der modernen '''Kultur- und Sozialwissenschaften als akademische Disziplinen[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie#2 Theoriengeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie|[2]]]''', die sich im 19. Jahrhunderts konstituierten, sie stellen jedoch eine wichtige Form der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen dar und haben die Entstehung dieser Wissenschaften wesentlich beeinflusst. <br/> | Die '''Geschichte der Ethnographie sowie der Kultur- und Sozialanthropologie in Lateinamerika[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden#1 Chronisten und Missionare|[1]]]''' beginnt mit den ersten Berichten von '''Conquistadoren, Chronisten und Missionaren''' über Land und Leute. Bei diesen Frühformen ethnographischen Schreibens und den dort formulierten Kulturtheorien handelt es sich zwar nicht um wissenschaftliche Texte im Sinne der modernen '''Kultur- und Sozialwissenschaften als akademische Disziplinen[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie#2 Theoriengeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie|[2]]]''', die sich im 19. Jahrhunderts konstituierten, sie stellen jedoch eine wichtige Form der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen dar und haben die Entstehung dieser Wissenschaften wesentlich beeinflusst. <br/> | ||
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− | Die Chroniken und Berichte entstanden im Zuge von Kontakten und Konfrontationen der EuropäerInnen mit den BewohnerInnen der "Neuen Welt". '''Der soziale und politische Kontext, in dem die frühen ethnographischen Texte entstanden, ist die gewaltsame Eroberung von Mittel- und Südamerika''' und das Implementieren des kolonialen Systems in Lateinamerika. Beispiele für solche Texte sind etwa die Rechenschaftsberichte an die Herrschenden (''relaciones''), das Bordbuch des '''Kolumbus[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden/Was_will_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.2 Columbus und die willfährigen Wilden|[3]]]''' (1492/1970), '''Hans Stadens[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden | + | Die Chroniken und Berichte entstanden im Zuge von Kontakten und Konfrontationen der EuropäerInnen mit den BewohnerInnen der "Neuen Welt". '''Der soziale und politische Kontext, in dem die frühen ethnographischen Texte entstanden, ist die gewaltsame Eroberung von Mittel- und Südamerika''' und das Implementieren des kolonialen Systems in Lateinamerika. Beispiele für solche Texte sind etwa die Rechenschaftsberichte an die Herrschenden (''relaciones''), das Bordbuch des '''Kolumbus[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden/Was_will_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.2 Columbus und die willfährigen Wilden|[3]]]''' (1492/1970), '''Hans Stadens[[Chronisten_und_Missionare/Hans_Staden#1.4 Hans Staden bei den "Menschenfresser-Leuten"|[4]]]''' Buch ''Die wahrhaftige Historie der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute'' (1557) oder die '''Chronik des Poma de Ayala[[Chronisten_und_Missionare/Poma_de_Alaya#1.5 Poma de Ayala oder die Chronik der Eroberten|[5]]]''' (1615). <br/> |
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[[File:einfpropaedksa-97_1.jpg|thumb|250px|right|Abbildung: Anteil der Internet NutzerInnen an der Gesamtbevölkerung 2012, International Telecommunications Union, Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/99/InternetPenetrationWorldMap.svg)]] | [[File:einfpropaedksa-97_1.jpg|thumb|250px|right|Abbildung: Anteil der Internet NutzerInnen an der Gesamtbevölkerung 2012, International Telecommunications Union, Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/99/InternetPenetrationWorldMap.svg)]] | ||
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− | Auch wenn '''Globalisierung kein neues Phänomen ist[[Themenbereiche_der_KSA/Globalisierung#3.4.6.2 Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien|[1]]]''' und sich über hunderte Jahre '''prozessual entwickelt[[Globalisierung_als_Herausforderung_an_die_KSA/Prozessuale_Entwicklungen | + | Auch wenn '''Globalisierung kein neues Phänomen ist[[Themenbereiche_der_KSA/Globalisierung#3.4.6.2 Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien|[1]]]''' und sich über hunderte Jahre '''prozessual entwickelt[[Globalisierung_als_Herausforderung_an_die_KSA/Prozessuale_Entwicklungen#1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung|[2]]]''' hat, finden sich sehr wohl '''neue Aspekte in der gegenwärtige Phase der Globalisierung''': <br/> |
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1. Die '''globale Verbreitung und Dominanz des neoliberalen Kapitalismus''' (vgl. Lewellen 2002, Eriksen 2007).<br/> | 1. Die '''globale Verbreitung und Dominanz des neoliberalen Kapitalismus''' (vgl. Lewellen 2002, Eriksen 2007).<br/> | ||
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[[File:einfpropaedksa-107_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: Korea Town, Toronto, Ph. Budka]] | [[File:einfpropaedksa-107_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: Korea Town, Toronto, Ph. Budka]] | ||
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− | Das '''kulturelle Vermischen durch Globalisierungsprozesse''' nimmt unterschiedlichste Formen an und ist immer auch ein Indikator für die Machtverhältnisse zwischen Menschengruppen. Dabei verhindert Vermischung nicht die Etablierung von Gruppenidentifikation und die Bildung kollektiver Identitäten. Und '''kulturelles Vermischen produziert nicht Homogenität sondern neue Konfigurationen von Diversität[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_will_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.2.1 Die Prämisse der Diversität|[1]]]'''. Kultur an sich war nie "rein" oder "begrenzt". Eine Erkenntnis, die wiederum Theorien zu Kreolisierung und Hybridisierung - so diese von "reinen" oder "begrenzten" Kulturen ausgehen, die gemeinsam etwas Neues formen - in Frage stellt. Die kulturelle Diffusion, die mit Globalisierung in Verbindung gebracht wird, kann dabei nicht als "Verwestlichung" bezeichnet werden, sondern vielmehr als '''kulturelle Glokalisierung[[Globalisierung_als_Herausforderung_an_die_KSA/KSA_Felder | + | Das '''kulturelle Vermischen durch Globalisierungsprozesse''' nimmt unterschiedlichste Formen an und ist immer auch ein Indikator für die Machtverhältnisse zwischen Menschengruppen. Dabei verhindert Vermischung nicht die Etablierung von Gruppenidentifikation und die Bildung kollektiver Identitäten. Und '''kulturelles Vermischen produziert nicht Homogenität sondern neue Konfigurationen von Diversität[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_will_Kultur-_und_Sozialanthropologie_wissen#1.2.1 Die Prämisse der Diversität|[1]]]'''. Kultur an sich war nie "rein" oder "begrenzt". Eine Erkenntnis, die wiederum Theorien zu Kreolisierung und Hybridisierung - so diese von "reinen" oder "begrenzten" Kulturen ausgehen, die gemeinsam etwas Neues formen - in Frage stellt. Die kulturelle Diffusion, die mit Globalisierung in Verbindung gebracht wird, kann dabei nicht als "Verwestlichung" bezeichnet werden, sondern vielmehr als '''kulturelle Glokalisierung[[Globalisierung_als_Herausforderung_an_die_KSA/KSA_Felder#1.3.4 Eine "Neue Unübersichtlichkeit"|[2]]]''' (vgl. Eriksen 2007: 122). <br/> |
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[[File:einfpropaedksa-117_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: China Town, Toronto, Ph. Budka ]] | [[File:einfpropaedksa-117_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: China Town, Toronto, Ph. Budka ]] | ||
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− | Ideen zur '''"Homogenisierung" und "Verwestlichung"''', besonders der kulturellen Welt, werden öfters mit Globalisierung in Zusammenhang gebracht (z.B. Ritzer 2004). Aus einer anthropologischen und ethnographischen Perspektive schaffen es diese Ideen, die eine globale Dominanz der "westlichen" Welt und einen einseitigen Strom vom Zentrum in die Peripherie implizieren, allerdings nicht tatsächliche Lebensumstände und Situationen zu erklären und zu verstehen. Denn wie beispielsweise Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a: 25) argumentieren, gestalten sich '''Globalisierungsprozesse[[Globalisierung_als_Herausforderung_an_die_KSA/Prozessuale_Entwicklungen | + | Ideen zur '''"Homogenisierung" und "Verwestlichung"''', besonders der kulturellen Welt, werden öfters mit Globalisierung in Zusammenhang gebracht (z.B. Ritzer 2004). Aus einer anthropologischen und ethnographischen Perspektive schaffen es diese Ideen, die eine globale Dominanz der "westlichen" Welt und einen einseitigen Strom vom Zentrum in die Peripherie implizieren, allerdings nicht tatsächliche Lebensumstände und Situationen zu erklären und zu verstehen. Denn wie beispielsweise Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a: 25) argumentieren, gestalten sich '''Globalisierungsprozesse[[Globalisierung_als_Herausforderung_an_die_KSA/Prozessuale_Entwicklungen#1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung|[1]]]''' als viel komplexer''' (vgl. auch Appadurai 1996). Es gibt kein kulturelles "Machtzentrum" in der Welt, sondern viele unterschiedliche Einflüsse, die sich gegenseitig befruchten. Globalisierung resultiert in miteinander verbundenen und verwobenen kulturellen Räumen, in welchen unterschiedliche Ströme von Bedeutungen und Ideen produziert, interpretiert und ausgetauscht werden. '''Globalisierung ist somit kein "westliches" oder euro-amerikanischen Phänomen oder Projekt sondern ein tatsächlich globales''' (vgl. Inda und Rosaldo 2002a: 26). <br/> |
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'''Globalisierung ist kein unidirektionaler Prozess''' (vgl. Eriksen 2007: 9). Er hat kein Ende und keinen intrinsischen Zweck und ist weder unbestritten, widerspruchsfrei noch allgegenwärtig. '''Globalisierung''', auch wenn von ökonomischen und technologischen Prozessen angetrieben, '''ist multidimensional'''. '''Globalisierung[[Themenbereiche_der_KSA/Globalisierung#3.4.1.1 Aspekte und Elemente der gegenwärtigen Globalisierung|[2]]]''' beinhaltet Prozesse der '''Homogenisierung[[Kultur_und_Globalisierung/Raum_und_Macht#7.1 Kultur, Raum und Macht|[3]]] und der Heterogenisierung.''' Das bedeutet Globalisierung macht uns einander gleichzeitig ähnlicher und unterschiedlicher: "... globalization does not entail the production of global uniformity or homogeneity. Rather it can be seen as a way of organizing heterogeneity. ... The local continues to thrive, although it must increasingly be seen as glocal, that is enmeshed in transnational processes" (Eriksen 2007: 10). <br/> | '''Globalisierung ist kein unidirektionaler Prozess''' (vgl. Eriksen 2007: 9). Er hat kein Ende und keinen intrinsischen Zweck und ist weder unbestritten, widerspruchsfrei noch allgegenwärtig. '''Globalisierung''', auch wenn von ökonomischen und technologischen Prozessen angetrieben, '''ist multidimensional'''. '''Globalisierung[[Themenbereiche_der_KSA/Globalisierung#3.4.1.1 Aspekte und Elemente der gegenwärtigen Globalisierung|[2]]]''' beinhaltet Prozesse der '''Homogenisierung[[Kultur_und_Globalisierung/Raum_und_Macht#7.1 Kultur, Raum und Macht|[3]]] und der Heterogenisierung.''' Das bedeutet Globalisierung macht uns einander gleichzeitig ähnlicher und unterschiedlicher: "... globalization does not entail the production of global uniformity or homogeneity. Rather it can be seen as a way of organizing heterogeneity. ... The local continues to thrive, although it must increasingly be seen as glocal, that is enmeshed in transnational processes" (Eriksen 2007: 10). <br/> | ||
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<li style="display: inline-block;">[[File:einfpropaedksa-122_2.jpg|thumb|250px|none|Foto: Weideflächen, Aran Inseln, Irland, E. Mader ]]</li> | <li style="display: inline-block;">[[File:einfpropaedksa-122_2.jpg|thumb|250px|none|Foto: Weideflächen, Aran Inseln, Irland, E. Mader ]]</li> | ||
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− | <blockquote>"Der '''Arbeitsprozess[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx | + | <blockquote>"Der '''Arbeitsprozess[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus/Marx#2.1.2.2 Arbeitsprozess und Produktionsprozess|[1]]]''', wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam." (Karl Marx 1977: 198)</blockquote> |
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'''Subsistenz''' als Bestreiten des materiellen Lebensunterhalts der Menschen in Auseinandersetzung mit der Natur, bzw. '''Subsistenzformen''' (Wirtschaftsweisen) als bestimmte Formen oder Typen des Bestreitens des materiellen Lebensunterhalts '''sind mit diversen sozialen und kulturellen Systemen verbunden'''. Studien zu dieser Thematik bilden eine Schnittstelle zwischen der Anthropologie der Natur, der '''Ökonomischen Anthropologie[[Themenbereiche_der_KSA/Oekonomische#3.6 Ökonomische Anthropologie|[2]]]''' und der Analyse sozialer Organisationsformen. <br/> | '''Subsistenz''' als Bestreiten des materiellen Lebensunterhalts der Menschen in Auseinandersetzung mit der Natur, bzw. '''Subsistenzformen''' (Wirtschaftsweisen) als bestimmte Formen oder Typen des Bestreitens des materiellen Lebensunterhalts '''sind mit diversen sozialen und kulturellen Systemen verbunden'''. Studien zu dieser Thematik bilden eine Schnittstelle zwischen der Anthropologie der Natur, der '''Ökonomischen Anthropologie[[Themenbereiche_der_KSA/Oekonomische#3.6 Ökonomische Anthropologie|[2]]]''' und der Analyse sozialer Organisationsformen. <br/> | ||
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<li style="display: inline-block;">[[File:einfpropaedksa-125_2.jpg|thumb|250px|none|Abbildung: "Blackbirds": Naturalisierende Darstellung afrikanischer Kinder (ca. 1890), Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:1890sc_Blackbirds_Poster.jpg)]]</li> | <li style="display: inline-block;">[[File:einfpropaedksa-125_2.jpg|thumb|250px|none|Abbildung: "Blackbirds": Naturalisierende Darstellung afrikanischer Kinder (ca. 1890), Quelle: [wikimedia.org](http://commons.wikimedia.org/wiki/File:1890sc_Blackbirds_Poster.jpg)]]</li> | ||
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− | '''Die Klärung des Verhältnisses von Natur und Kultur zählt für '''Claude Lévi- Strauss[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Strukturalismus#2.5 Claude Lévi-Strauss und der französische Strukturalismus|[1]]]''' zu den grundlegenden Aufgaben der KSA.''' Sie bildet die Basis vieler Fragestellungen im Rahmen seiner '''strukturalen Anthropologie[[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Strukturale_Anthropologie | + | '''Die Klärung des Verhältnisses von Natur und Kultur zählt für '''Claude Lévi- Strauss[[Theoriegeschichte_der_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Strukturalismus#2.5 Claude Lévi-Strauss und der französische Strukturalismus|[1]]]''' zu den grundlegenden Aufgaben der KSA.''' Sie bildet die Basis vieler Fragestellungen im Rahmen seiner '''strukturalen Anthropologie[[Grosse_Theorien_(1940-1970)/Strukturale_Anthropologie#3.3.1 Strukturale Anthropologie|[2]]]'''. Dabei wird der Mensch in strukturalen Analysen sowohl als biologisches Wesen als auch als gesellschaftliches Individuum betrachtet. '''Das Natürliche und das Kulturelle bilden Aspekte der Weltordnung.''' Das Verhältnis bzw. der Gegensatz von Natur und '''Kultur[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_untersucht_Kultur-_und_Sozialanthropologie#1.1.4 "Kulturen" und Kultur|[3]]]''' ist ein zentraler Aspekt der Mythologie, des Denkens und der Sprache, die von '''binären Oppositionen[http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-430.html [4]]''' geprägt sind (vgl. auch Descola 2005/2011, Oppitz 1993, Kauppert und Funcke 2008). <br/> |
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In seinem Buch ''Das Ende des Totemismus'' argumentiert '''Claude Lévi-Strauss[http://de.wikipedia.org/wiki/Claude_L%C3%A9vi-Strauss [5]]''' (1962/1965), dass der '''Totemismus[http://de.wikipedia.org/wiki/Totemismus [6]]''' weniger eine Institution von "primitiven" Gesellschaften darstellt, sondern vielmehr Ausdruck einer universellen klassifikatorischen Logik ist. Beobachtbare Differenzen zwischen Tier- und Pflanzenarten (Gestalt, Farbe, Habitat) dienen dazu Diskontinuitäten zwischen sozialen Gruppen in Begriffe zu fassen: "Der totemistische Code übersetzt die natürliche Differenz in eine soziologische Differenz." (ebd.: 19) '''Die Natur bildet in diesem Sinne einen "Leitfaden" oder eine "Denkmethode".''' <br/> | In seinem Buch ''Das Ende des Totemismus'' argumentiert '''Claude Lévi-Strauss[http://de.wikipedia.org/wiki/Claude_L%C3%A9vi-Strauss [5]]''' (1962/1965), dass der '''Totemismus[http://de.wikipedia.org/wiki/Totemismus [6]]''' weniger eine Institution von "primitiven" Gesellschaften darstellt, sondern vielmehr Ausdruck einer universellen klassifikatorischen Logik ist. Beobachtbare Differenzen zwischen Tier- und Pflanzenarten (Gestalt, Farbe, Habitat) dienen dazu Diskontinuitäten zwischen sozialen Gruppen in Begriffe zu fassen: "Der totemistische Code übersetzt die natürliche Differenz in eine soziologische Differenz." (ebd.: 19) '''Die Natur bildet in diesem Sinne einen "Leitfaden" oder eine "Denkmethode".''' <br/> | ||
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Zu den wichtigsten ökonomischen Theorien, die auch eine Basis der Wirtschaftsanthropologie darstellen, zählen: <br/> | Zu den wichtigsten ökonomischen Theorien, die auch eine Basis der Wirtschaftsanthropologie darstellen, zählen: <br/> | ||
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− | * '''Politische Ökonomie/Marxismus[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus|[1]]]''' (vgl. auch '''http://www.lateinamerika- studien.at/content/wirtschaft/ipo/ipo-1438.html[[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie | + | * '''Politische Ökonomie/Marxismus[[Marxismus_historischer_Materialismus_Evolutionismus#2 Marxismus, historischer Materialismus, Evolutionismus|[1]]]''' (vgl. auch '''http://www.lateinamerika- studien.at/content/wirtschaft/ipo/ipo-1438.html[[Oekonomische Theorien/Politische Ökonomie#2.4 Politische Ökonomie|[2]]]''')<br/> |
− | * '''Neoklassik/Rational Choice[[Neoklassik#3 Neoklassik oder Rational Choice|[3]]]''' (vgl. auch '''http://www.lateinamerika- studien.at/content/wirtschaft/ipo/ipo-753.html[[Oekonomische Theorien/Neoklassik | + | * '''Neoklassik/Rational Choice[[Neoklassik#3 Neoklassik oder Rational Choice|[3]]]''' (vgl. auch '''http://www.lateinamerika- studien.at/content/wirtschaft/ipo/ipo-753.html[[Oekonomische Theorien/Neoklassik#2.2 Neoklassik|[4]]]''')<br/> |
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− | Eine zentrale Forschungsrichtung der Ökonomischen Anthropologie ist der '''Institutionalismus''' oder '''Substantivismus[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3 Substantivisten|[5]]]'''. Die unter diesen Begriffen zusammengefassten theoretischen Ansätze gehen davon aus, dass die Ökonomie in die Gesamtheit aller Institutionen eingebettet ist. Dem gegenüber argumentieren VertreterInnen des '''Formalismus[[Neoklassik/Firth | + | Eine zentrale Forschungsrichtung der Ökonomischen Anthropologie ist der '''Institutionalismus''' oder '''Substantivismus[[Institutionalismus_und_Substantivismus/Substantivisten#4.3 Substantivisten|[5]]]'''. Die unter diesen Begriffen zusammengefassten theoretischen Ansätze gehen davon aus, dass die Ökonomie in die Gesamtheit aller Institutionen eingebettet ist. Dem gegenüber argumentieren VertreterInnen des '''Formalismus[[Neoklassik/Firth#3.1.1 Allgemeine Gesetzmäßigkeiten und spezifische ökonomische Systeme bei Firth|[6]]]''' in Anlehnung an die Position der Neoklassik, dass regionale ökonomische Besonderheiten nur Varianten von generellen Gesetzmäßigkeiten - die uneingeschränkt weltweit gelten - darstellen. Die Kontroversen zwischen diesen beiden Positionen dominierten vielfach die theoretischen Diskussionen in der Wirtschaftsethnologie im 20.Jahrhundert. <br/> |
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− | Besonders umstritten war und ist in diesem Zusammenhang das Modell des '''"''homo oeconomicus''"[[Oekonomische Theorien/Neoklassik/Diffusionismus_und_Kulturkreislehre#2.2.5.2 Der homo oeconomicus|[7]]]''', dessen Anwendbarkeit im Rahmen der '''Wirtschaftsanthropologie[[Neoklassik/Der_Grosse_Streit | + | Besonders umstritten war und ist in diesem Zusammenhang das Modell des '''"''homo oeconomicus''"[[Oekonomische Theorien/Neoklassik/Diffusionismus_und_Kulturkreislehre#2.2.5.2 Der homo oeconomicus|[7]]]''', dessen Anwendbarkeit im Rahmen der '''Wirtschaftsanthropologie[[Neoklassik/Der_Grosse_Streit#3.3.3.1 Kritik am homo oeconomicus aus nicht-formalistischer Perspektive|[8]]]''' immer wieder aus unterschiedlichen Gesichtspunkten debattiert wurde. <br/> |
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==3.8.3 Historische Entwicklung== | ==3.8.3 Historische Entwicklung== | ||
[[File:einfpropaedksa-154_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: Printmedien, Toronto, Ph. Budka ]] | [[File:einfpropaedksa-154_1.jpg|thumb|250px|right|Foto: Printmedien, Toronto, Ph. Budka ]] | ||
− | Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts befassten sich '''einige wenige SozialwissenschafterInnen[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Sozialwissenschaft | + | Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts befassten sich '''einige wenige SozialwissenschafterInnen[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Sozialwissenschaft#2.17 Sozialwissenschaft|[1]]]''' - zumeist im Rahmen größerer Forschungsprojekte - auch mit Medien und deren gesellschaftlicher und kultureller Relevanz. Dabei versuchten sie Fragen zu beantworten und bedienten sich methodischer Instrumente, die durchaus der '''Kultur- und Sozialanthropologie[[Was_ist_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Was_untersucht_Kultur-_und_Sozialanthropologie#1.1 Was untersucht Kultur- und Sozialanthropologie?|[2]]]''' zugerechnet werden können (vgl. Peterson 2003). <br/> |
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In der '''historischen Entwicklung der Medienanthropologie''' lassen sich zwei Stränge unterscheiden: <br/> | In der '''historischen Entwicklung der Medienanthropologie''' lassen sich zwei Stränge unterscheiden: <br/> |
Revision as of 13:13, 19 August 2020
Einführung und Propädeutikum Kultur- und Sozialanthropologie
verfasst von Elke Mader, Wolfgang Kraus, Philipp Budka, und Matthias Reitter, Fakultät für Sozialwissenschaften, WienDiese Lernunterlage gibt einen einführenden Überblick zur wissenschaftlichen Disziplin der Kultur- und Sozialanthropologie (KSA) mit besonderem Schwerpunkt auf die Situation und die Arbeit des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Neben der Frage, womit sich Kultur- und Sozialanthropologie beschäftigt und wie sie sich theoriegeschichtlich entwickelt hat, werden ausgewählte Themenbereiche vorgestellt. Die Lernunterlage richtet sich vor allem an StudienanfängerInnen, kann aber ebenso als Informationsquelle oder Lehr- und Lernmittel für allgemein an der Kultur- und Sozialanthropologie Interessierte dienen.
An der Erstellung dieser Lernunterlage mitgewirkt haben als AutorInnen: Elke Mader, Wolfgang Kraus, Philipp Budka und Matthias Reitter. Redaktionell bearbeitet wurde die Unterlage von Anna Ellmer, Matthias Reitter und Philipp Budka.
Kapitelübersicht
1 Was ist Kultur- und Sozialanthropologie?
- 1.1 Was untersucht Kultur- und Sozialanthropologie?
- 1.1.1 Die Kunde von den Völkern?
- 1.1.2 Die Lehre von den Ethnien?
- 1.1.3 Was ist Gesellschaft?
- 1.1.4 "Kulturen" und Kultur
- 1.1.5 Exkurs: "Kultur" im öffentlichen Diskurs
- 1.1.6 Der verlorene Gegenstand unseres Faches
- 1.1.7 KSA als Lehre von den kulturellen und sozialen Aspekten des Menschseins
- 1.1.8 Was ist "das Kulturelle"?
- 1.1.9 Was ist "das Soziale"?
- 1.1.10 Warum Kultur- und Sozialanthropologie?
- 1.1.1 Die Kunde von den Völkern?
- 1.2 Was will Kultur- und Sozialanthropologie wissen?
- 1.2.1 Die Prämisse der Diversität
- 1.2.2 Das Ziel wertfreien Verstehens
- 1.2.3 Zum Widerspruch von Prämisse und Ziel
- 1.2.4 Ethnozentrismus
- 1.2.5 Ethnozentrismus und das "anthropologische Projekt"
- 1.2.6 Methodologischer Skeptizismus
- 1.2.7 Methodologischer Relativismus
- 1.2.8 Relativismus und Universalismus
- 1.2.9 Exkurs: Homogenisierung, kulturelle Diversität und "Anthropology at Home"
- 1.2.1 Die Prämisse der Diversität
- 1.3 Methoden: Wie gelangt Kultur- und Sozialanthropologie zu ihrem Wissen?
- 1.4 Was kann Kultur- und Sozialanthropologie wissen?
- 1.5 Literatur
2 Theoriengeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie
- 2.1 Der klassische Evolutionismus
- 2.2 Diffusionismus und Kulturkreislehre
- 2.3 Franz Boas und der US-amerikanische Kulturrelativismus
- 2.4 Der britische Funktionalismus
- 2.5 Claude Lévi-Strauss und der französische Strukturalismus
- 2.6 Symbolische Anthropologie und konkurrierende Ansätze
- 2.7 Clifford Geertz und die Folgen
- 2.8 Literatur
- 3.1 Religion
- 3.2 Ritual
- 3.3 Kolonialismus
- 3.4 Globalisierung
- 3.4.1 Gegenwärtige Phase der Globalisierung
- 3.4.2 Thesen über und Perspektiven auf Globalisierung
- 3.4.3 Globalismus, Globalität und Globalisierung
- 3.4.4 Transnationalismus und Transnationalisierung
- 3.4.5 Dimensionen und Faktoren der Globalisierung
- 3.4.6 Anthropologie der Globalisierung
- 3.4.6.1 Das Globale und das Lokale
- 3.4.6.2 Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien
- 3.4.6.3 Globalisierung und kultur- und sozialanthropologische Methodologie
- 3.4.6.4 Globalisierung und Kultur
- 3.4.6.5 Kulturelle Globalisierung und die Kultur- und Sozialanthropologie
- 3.4.6.6 Homogenisierung und Heterogenisierung
- 3.4.6.7 Globale kulturelle Landschaften und (Handlungs)Räume
- 3.4.6.1 Das Globale und das Lokale
- 3.4.7 Literatur
- 3.4.1 Gegenwärtige Phase der Globalisierung
- 3.5 Anthropologie der Natur
- 3.5.1 Natur und Subsistenz
- 3.5.2 Kulturökologie
- 3.5.3 Natur und Weltbild
- 3.5.4 Natur ist "gut zum Denken": Claude Lévi-Strauss
- 3.5.5 Perspektiven des Bauens oder Bewohnens: Tim Ingold
- 3.5.6 Glokale Natur: Lokales/traditionelles Wissen und globale Prozesse
- 3.5.7 Anthropologie und Klimawandel
- 3.5.8 Natur, Geschichte und Politik
- 3.5.9 Schöne Natur: Landschaft, Repräsentation und Tourismus
- 3.5.10 Literatur
- 3.5.1 Natur und Subsistenz
- 3.6 Ökonomische Anthropologie
- 3.7 Anthropologie der Mythen
- 3.8 Medienanthropologie
- 3.8.1 Medientechnologien aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive
- 3.8.2 Medienethnographie
- 3.8.3 Historische Entwicklung
- 3.8.4 Ausgewählte theoretische Konzepte und Zugänge
- 3.8.5 Technologie im soziokulturellen Kontext
- 3.8.6 Digitale Medientechnologien als Forschungsfelder der Kultur- und Sozialanthropologie
- 3.8.7 Literatur
- 3.8.1 Medientechnologien aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive
- 3.9 Gender-Anthropologie