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Contents

Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten: Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie

verfasst von Hermann Mückler

Die Erörterungen in dieser Lernunterlage zu den Themen, Staat, Migration und Globalisierung beleuchten diese aus dem Blickwinkel der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie. Die drei Themenblöcke können jeder für sich gelesen werden, sie sind aber miteinander verknüpft und bilden ein großes Ganzes. Neben der Zugänge der Ethnologie zu den Themen soll klar werden, dass diese eng miteinander verflochten sind, was eine gemeinsame Betrachtung sinnvoll macht.

Im zu dieser Thematik erschienenen Buch Staat-Migration-Globalisierung (Hg.: J. Dvorak u. H. Mückler; Wien 2011, Facultas Verlag) werden die in dieser Lernunterlage angesprochenen Themen umfassender hinterfragt und weitere Definitionen, Literaturhinweise, Beispiele und kontextuelle Einbettungen angeboten. Der Kauf des Buches wird zum unfassenden Verständnis von Staat, Migration und Globalisierung aus ethnologischer Perspektive empfohlen.

  • Texte und Bilder: Hermann Mückler;
  • Aufbereitung, Gestaltung und Umsetzung der hypermedialen Lernunterlage: Philipp Budka.


Kapitelübersicht

1 Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie

1.1 Zugänge der Kultur- und Sozialanthropologie
1.1.1 Auflösung von Dichotomien, Entgrenzung
1.1.2 Schlagworte der Globalisierung
1.1.3 Begriffsdefinition
1.1.4 Historische Formen von Globalisierung
1.1.5 Beschleunigung in der jüngsten Vergangenheit
1.1.6 Eine neue globale "awareness" entsteht
1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung
1.2.1 Globalisierung und Fragmentierung
1.2.1.1 Reich-Arm-Dichotomie
1.2.1.2 Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft
1.2.2 Dynamik der zyklischen Expansion und Kontraktion
1.2.2.1 Re-Lokalisierung
1.2.2.2 Neue Themen für die Kultur- und Sozialanthropologie
1.2.3 Globalisierung und Grenzen
1.3 Kultur- und sozialanthropologische Forschungsfelder
1.3.1 Mega-Cities und rurale Entvölkerung
1.3.2 Subkulturforschung
1.3.3 Postkoloniale Studien
1.3.4 Eine "Neue Unübersichtlichkeit"
1.3.5 "Creolization Paradigm"
1.4 Bibliographie

2 Migrationsforschung in der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie

2.1 Abgrenzungen
2.2 Qualitative Erforschung von Betroffenheitsszenarien
2.3 Ethnohistorie und historische Migrationssforschung
2.4 Aufgabenfelder
2.4.1 Rahmenbedingungen, Arten, Ursachen und Auswirkungen von Migration
2.4.2 Konkreten Einzelstudien
2.4.2.1 Migrationsstudien in Österreich und in Europa
2.4.2.2 Migrationsstudien außerhalb Europas
2.5 Rezente Zugänge
2.5.1 Arbeitsmigration
2.5.2 Multikulturalität
2.5.3 Interkulturalität
2.5.4 Aufgaben der Ethnologie
2.6 Beispiele
2.7 Bibliographie

3 Die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie und der Staat

3.1 Interessensabgleich
3.2 Konflikthaftigkeit
3.3 Bedürfnisbefriedigung
3.4 Der Staat als Organisationsstruktur
3.5 Vor- und Nicht-staatliche Gesellschaften
3.6 Die Entstehung staatlicher Strukturen
3.6.1 Diffusität politischer Gemeinwesen
3.6.2 Segmentäre Gesellschaften
3.6.3 Vom Einfacheren zum Komplexeren
3.6.4 Historische Theoriebildung zur Staatsentstehung
3.6.4.1 "Early State"
3.6.4.2 Materialistische Theorie
3.6.4.3 Hydraulische Theorie
3.6.4.4 Theorie der natürlichen Grenzen
3.6.4.5 Eroberungs- und Unterwerfungstheorie
3.6.4.6 Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie
3.6.4.7 Definition des frühen Staates
3.6.4.8 Typen des frühen Staates
3.6.5 Moderner Staat und andere Formen politischer Organisation
3.6.5.1 Koloniales Erbe
3.6.5.2 Transnationalismus und Staat
3.7 Beispiele
3.8 Bibliographie


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1 Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie

verfasst von Hermann Mückler


Der suchende Mensch, H. Mückler

Der "homo globatus", wie Eric Hobsbawm[1] (1999) einmal den modernen in einer globalisierten Welt lebenden Menschen bezeichnete, hat mit gravierenden Veränderungen umzugehen, die in vielerlei hybriden Identitäten ihren sichtbarsten Ausdruck finden. Für die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie (die beiden Begrifflichkeiten sind synonym zu verstehen) bedeutet dies neue Aufgaben und neue Herangehensweisen. Diese Veränderungen betreffen auch und vor allem ein Aufbrechen der Nah-Fern-Dichotomie[2], welche das Fach lange in seiner grundsätzlichen Orientierung bestimmte, und erfordern so eine Neudefinition des Faches.

Gab es früher klar abgegrenzte Bereiche, nämlich die außereuropäische Welt als Forschungsgegenstand, während das nähere Umfeld von der Volkskunde, heute Europäische Ethnologie, abgedeckt wurde, so sieht das heute gänzlich anders aus. Das Eigene und das Fremde[3], das Hier und das Dort - das sind Kategorien, die uns lange vertraut waren und die so heute ihre Gültigkeit verloren haben. Entgrenzung, Hybridisierung, Multipolarität und Network-Society[4] sind die bestimmenden Begriffe dieser neuen Unübersichtlichkeit. Rezente Ausrichtungen[5] sprechen daher eher von einer "transnationalen Anthropologie", wie es der skandinavische Ethnologe Ulf Hannerz (1997) einmal formulierte.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Eric_Hobsbawm
[2] Siehe Kapitel 1.1.1
[3] Siehe die Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (KSA)
[4] Siehe Kapitel 1.1.2
[5] Siehe Kapitel 1.3

Inhaltsverzeichnis

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

2 Migrationsforschung in der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie
3 Die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie und der Staat

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1.1 Zugänge der Kultur- und Sozialanthropologie

verfasst von Hermann Mückler


In der Gegenwart ist der grundsätzliche Zugang und Anspruch, den das Fach mit seinen Untersuchungen in der Ferne verband, ein anderer geworden. Hier kann Bruno Latour[1] (1995) zitiert werden, der meinte, dass, indem die Ethnologie den Exotismus opferte (indem sie sich der modernen Welt im hier und heute hinwandte, das verloren hat, was gerade die Originalität ihrer Forschungen ausmachte). In den "Tropen", welche hier als Synonym für die außereuropäische Welt, das traditionelle Forschungsgebiet der Ethnologie steht, hatte die Anthropologin der Anthropologe sich nämlich nicht mit dem Studium der Randbereiche dieser anderen Kulturen begnügt, sondern war angetreten, deren Zentrum zu rekonstruieren. Die Ethnologie hat versucht, bei der Untersuchung anderer Kulturen deren Glaubenssystem, deren Techniken, ihre Ethnowissenschaften, ihr Machtmechanismen, ihre Ökonomien, usw. zusammen zu erforschen und zu einer interpretativen Gesamtschau zu kommen.

Die meisten klassischen Monographien unseres Faches zeugen von diesem Anspruch, der nicht immer erfolgreich eingelöst, aber immer wieder versucht worden ist. Bei der Untersuchung von Themen in der eigenen Gesellschaft[2], welche durch andere Mechanismen, die uns scheinbar komplexer erscheinen, organisiert ist und weil es sich um die "moderne" Welt handelt, wird dieser Anspruch häufig aufgegeben. Latour kritisierte die fehlende Symmetrie des Gesamten (nämlich auch in der eigenen Gesellschaft "ganzheitlich" zu forschen) als Problem und Ursache für die Desorientiertheit, aber auch mangelnde Sichtbarkeit des Faches gegenüber anderen Wissenschaften, wie der Soziologie, der Geschichte oder der Psychologie. Die Globalisierung vieler Themen hat für das Fach der Ethnologie bei der Hinwendung zu neuen Themen eher eine Fragmentierung und Partikularisierung bewirkt, als eine Beibehaltung traditioneller Herangehensweisen und Stärken.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Latour
[2] Siehe Kapitel 2.4.2.1

Inhalt

1.1.1 Auflösung von Dichotomien, Entgrenzung

Neben den mit der Globalisierung einhergehenden veränderten räumlichen Bedingungen begegnen wir heute der Auflösung der Dichotomien' und dem Annehmen des Faktums, dass 'das Fremde[1] hier und heute unmittelbar Teil auch der eigenen Kultur geworden ist, während sogenannte "eigene" kulturelle Werte im entferntesten Winkel der Welt ihre Entsprechung finden können und von uns dort als vertraut wiedererkannt werden. Grenzen haben sich verschoben. Die Trennschärfe muss darunter nicht zwangsläufig leiden, aber sie unterliegt heute neuen und anderen Beobachtungs- und Bewertungsparametern, als noch vor einer Generation. Im Zuge der Globalisierung sind neue, transnationale[2] und entnationalisierte soziale Räume[3] entstanden, sodass es heute Fachwissenschafter nicht mehr mit vermeintlich abgrenzbaren überschaubaren kleinen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entitäten zu tun haben, sondern diese sich mit den weltweiten Verflechtungen und der Einbindung ihrer Untersuchungsgruppen in die Prozesse der Globalisierung auseinanderzusetzen haben.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.4 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (KSA)
[2] Siehe Kapitel 3.6.5.2
[3] Siehe Kapitel 1.2.3


1.1.2 Schlagworte der Globalisierung

Die heutige ethnologische Forschung setzt sich vermehrt mit den Divergenzen und Differenzen jener Prozesse, aber auch mit dem Verschmelzen, der Amalgamierung von globalen und lokalen Elementen auseinander. Dabei verschwindet das Lokale nicht, sondern tritt in eine neue Beziehung zum Globalen und gebiert unter Umständen etwas Neues. In diesem Zusammenhang wurde auf die Begriffe Uniformierung, Lokalisierung, Indigenisierung und als Verbindungsglied zwischen den beiden Polen Globalisierung und Lokalisierung, die sogenannte "Glokalisierung"[1], fokussiert, und neue Begrifflichkeiten für das Entstehen neuer "Aggregatszustände" und Wechselbeziehungen erfunden: Hybridisierung, McDonaldisierung, Corollarisation, Melange-Effekt, Mimikry, Kreolisierung[2], Transnationale Netzwerke, Synkretisierung, usw.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.4
[2] Siehe Kapitel 1.3.5


1.1.3 Begriffsdefinition

Eine genauere Beleuchtung des Verhältnisses der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie zu Globalisierungsprozessen[1] setzt eine Begriffsbestimmung voraus, die grundsätzlich, je nach dem Blickwinkel und Fokus, unterschiedlich ausfallen muss. Allgemein kann man Globalisierung als Bezeichnung für den Prozess einer zunehmenden internationalen Verflechtung in allen Lebensbereichen, insbesondere der Wirtschaft, Kommunikation[2], Politik, Kultur und Umwelt verstehen. Dieser Verflechtung sind alle Individuen, Gruppen, Gesellschaften und Institutionen und somit auch Staaten[3] unterworfen. Die Konsequenzen mögen für alle Genannten regional und inhaltlich unterschiedlich sein, in ihren grundsätzlichen Auslösern können jedoch Gemeinsamkeiten erkannt und ausdifferenziert werden. Globalisierung kann man aber nicht nur an exponentiell gestiegenen Verflechtungen festmachen, sondern auch an der Intensität, Geschwindigkeit und Beschleunigung diesbezüglicher Prozesse. Themenbezüglich kann man eine Globalisierung der Wirtschaft von jener der Politik unterscheiden, die der Kultur[4] von jener der Umwelt differenzieren.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2
[2] Siehe die Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten: Globalisierung in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
[3] Siehe Kapitel 3
[4] Siehe Kapitel 1.3


1.1.4 Historische Formen von Globalisierung

Immer wieder wurde die Frage nach dem Beginn, einem hypothetisch angenommenen Anfang, der Globalisierung gestellt. Generell neigen die Sozialwissenschaften dazu, jene vielfältigen Prozesse, die unter dem Stichwort Globalisierung zusammen gefasst werden, zu historisieren, d.h. sie nicht als neuartige Phänomene des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts zu begreifen. Diese Prozesse werden statt dessen meist in eine historisch weit zurückreichende "Traditions"-Linie gestellt, deren Beginn sich mit unterschiedlichen Phasen, Epochen und technologischen Sprüngen korrelieren lassen.

Manche wählen das 16. Jahrhundert und die Entwicklung im Zeitalter des Merkantilismus als Initialzündung, manche gehen zeitlich noch weiter zurück und verweisen auf antike Handelswege und - dynamiken, welche die damals bekannte Ökumene umfassten, und datieren Frühformen der Globalisierung (wenn auch in anderen Größenordnungen, Intensitäten und mit anderen Geschwindigkeits- und Zeitparametern) bis ins 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung.

In der Geschichte werden bezüglich einer Fokussierung auf historische und rezente Globalisierungsformen im Rahmen der sogenannten "connected histories", die Subbereiche "cultural history", "global history", "transnational history" und "entangled history" zusammen gefasst und vor dem Hintergrund eines "shifts" von globalgeschichtlichen und transnationalen hin zu einer transregionalen Herangehensweise beleuchtet. Dabei können, historisch und rezent Phasen und Dominanzbereiche definiert werden, wie z.B. die sogenannte "Anglobalisierung", also die federführende Rolle angelsächsischer Länder in manchen Prozessen und insbesondere die Geschichte der USA im Kontext seiner globalen Positionierung.


1.1.5 Beschleunigung in der jüngsten Vergangenheit

Ohne das "ab wann?" endgültig klären zu können, kann eine Richtungsänderung und ein nochmaliger Sprung in der Beschleunigung ab dem Zeitpunkt des Jahres 1989 festgestellt werden, dem Jahr des Falls der Berliner Mauer[1]. Mit Sicherheit hat die Ausbreitung des westlichen marktwirtschaftlichen kapitalistischen Systems auf die Länder des ehemaligen Ostblocks eine zusätzliche Dynamisierung im Bereich wirtschaftlicher Durchdringung und eine Beschleunigung von Verflechtungen im Warenverkehr gebracht (natürlich haben auch die hohen Wachstumsraten in den Staaten Südost- und Ostasiens vor der Asienkrise einen ebenso großen Effekt für diese Dynamisierung und den Zugewinn an Geschwindigkeit in diesem Prozess der 1990er Jahre).

Der mobile Mensch, H. Mückler

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Mauer


1.1.6 Eine neue globale "awareness" entsteht

Im Jahr 1989 fanden in Paris, London und Amsterdam die ersten Konferenzen statt, die den globalen Zustand des Planeten zu analysieren versuchten. Auch wenn es davor schon vereinzelt ähnliche Initiativen gab (z.B. den Club of Rome in den 1970er Jahren), so markierte 1989 eine neue Form der "awareness", die manche mit dem Anfang vom Ende des kapitalistischen Systems, wie wir es heute kennen, gleichsetzen. Die unbegrenzte ressourcenbezogene Eroberung und totale Beherrschung der Natur wurde durch die schrittweise Erkenntnis der Unmöglichkeit, den eingeschlagenen Weg ohne signifikante Kurskorrekturen in allen Lebensbereichen weitergehen zu können, ersetzt. Der drohende Kollaps des Weltklimas, das Kippen der Meere, die Verknappung zentraler Ressourcen und die drohende Unbewohnbarkeit riesiger Flächen durch Verwüstung, Versalzung, Überflutung etc. bei einem Beibehalten des eingeschlagenen Weges einer nicht nachhaltigen Ressourcennutzung, zwingt den Menschen ein Umdenken auf.

Es handelt sich um Probleme und Herausforderungen, die nicht an nationalen Grenzen[1] Halt machen und damit nicht eingrenzbar und von isoliert agierenden politischen und sozialen Gemeinwesen bewältigt werden können. Zaghaft, und aus heutiger Sicht noch immer absolut ungenügend, setzt sich aber schrittweise eine völlig neue Denk- und Handlungsweise durch, die hier dem Verschwinden der Möglichkeit unbegrenzter Ressourcenausbeutung und Beherrschung der Natur, Rechnung zu tragen versucht.

Auch das ist Globalisierung: dass man erkannte bzw. langsam aber stetig wachsend zu erkennen beginnt, dass viele Dinge nur im Zusammenspiel aller bekämpft und verändert werden können; dass die Erkenntnis reift(e), dass gewisse Dinge alle in ähnlicher Weise treffen. Globalisierung kann und muss so unter dem Gesichtspunkt der Änderung von Denk- und Handlungsweisen betrachtet werden.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.3


Nächstes Kapitel: 1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung


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1.2 Prozessuale Entwicklungen der Globalisierung

verfasst von Hermann Mückler


Globalisierung ist ein Prozess, der von Dynamik, Wechselwirkungen und Determiniertheit geprägt ist. Eine Entwicklung wird als dynamisch bezeichnet, wenn laufend Veränderungen stattfinden, die - durch einen Zeitmaßstab und der Zeitdauer der Beobachtung des Phänomens definiert - als solche wahrgenommen werden, indem in ihren diachronisch wahrgenommenen Erscheinungsformen objektiv Unterschiede erkannt werden können. Wechselwirkungen ergeben sich aus der Verknüpfung von Einzelfaktoren und Elementen, die wiederum einander bedingen können und damit eine Determiniertheit generieren. Tatsächlich ist der Prozeß der Globalisierung nur durch eine methoden- und theoriepluralistische Annäherung [1] möglich und führt zu komplexen und multikausalen Erklärungsansätzen.

Verweise:
[1] Siehe die Lernunterlag Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften

Inhalt

1.2.1 Globalisierung und Fragmentierung

Während es insbesondere im Medien- und Telekommunikationssektor sowie in der Finanzwelt, aber auch in der Welt der Moden und Geschmäcker scheinbar einen Trend zu Vereinheitlichung, Verschmelzung und einem Aufgehen in größeren, einheitlicheren Entitäten gab, entwickelte sich gleichzeitig parallel dazu ein Trend zur Fragmentierung, der sich beispielsweise in der Zunahme ethno-nationalistischer Konflikte, dem Zerfall von Staaten[1], aber auch in der Krise der Finanzen, dem Abbau des Sozialstaates, der Zementierung der Zwei-Drittel-Gesellschaft und der Dichotomie von globalisiertem Reichtum und lokalisierter Armut - eine Dualität, die von Zygmunt Bauman[2] in mehreren Werken (z.B. Bauman 1998) thematisiert wurde - manifestiert. Globalisierung führt also gleichzeitig zu Vereinheitlichung und Fragmentierung.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Zygmunt_Bauman


1.2.1.1 Reich-Arm-Dichotomie

Der Politikwissenschafter Ulrich Menzel[1] hat bereits in den 1990er Jahren diesen Umständen Aufmerksamkeit geschenkt, und auf deren Ursachen und Entwicklungen Bezug genommen (Menzel 1998). Baumans Kritik war und ist, dass mit der Globalisierung Privilegien und Reichtum neu verteilt werden. Es entsteht die Gruppe der "Reichen", die globalisiert sind, nicht mehr an den Ort gebunden und keine Zeit mehr haben, auf der anderen Seite die "Armen", die räumlich gebunden sind und nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Die "Reichen" sind aber nun, im Gegenzug zu früher, nicht mehr auf die "Armen" angewiesen. Die alten Reichen brauchten früher die Armen, um reich zu werden und reich zu bleiben.

Nach Bauman existiert zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlieren weder eine Einheit noch eine Abhängigkeit, eine Form der Entsolidarisierung wird sichtbar, die völlig neue soziale Probleme und Herausforderungen für die Erhaltung der Gemeinwesen und des sozialen Friedens mit sich bringt. Diese Entkoppelung und Fragmentierung[2] hat im Gefüge der Gesellschaften fatale Konsequenzen für deren Zusammenhalt. Neben der Tertiarisierung und Virtualisierung der Ökonomie kommt es zu einem Prekariat ganzer Bevölkerungsschichten, mit allen daraus ableitbaren Folgekonsequenzen, wie Massenarbeitslosigkeit, Sozialdumping, Verslumung ganzer Stadtteile[3], Anstieg der Gewaltkriminalität und Elendswanderung[4].

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Menzel
[2] Siehe Kapitel 1.2.1
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
[4] Siehe Kapitel 2.5.1


1.2.1.2 Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft

Die, ebenfalls durch globale Prozesse bewirkte, Ent- Industrialisierung in Europa, die neue Fokussierung auf Dienstleistungsberufe, insbesondere im FIRE-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate) führt zu einem Auseinaderklaffen der sozialen Schere. Diese Reich-Arm-Dichotomie[1] muss nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern kann auch, global gesehen, zwischen Staaten[2] ihren Ausdruck finden. Die Marginalisierung peripher gelegener Gebiete, die geographisch von potentiellen Märkten zu weit entfernt sind oder nur ungenügende Ressourcen haben, sodass sie für die Ressourcenausbeutung durch Industriestaaten uninteressant sind, zeigt sich an Gebieten wie beispielsweise Ozeanien, dessen kleine Inselstaaten hier als besonders benachteiligt gesehen werden müssen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1.1
[2] Siehe Kapitel 3


1.2.2 Dynamik der zyklischen Expansion und Kontraktion

Beim Prozess der Globalisierung handelt es sich nicht notwendigerweise um einen unumkehrbaren gerichteten Prozess, der nur in eine Richtung stetig voranschreitet. Vielmehr gab es auch in der Vergangenheit[1] immer wieder Phasen, in denen es zu einer Verlangsamung oder zu einem Stillstand gesellschaftlicher Entwicklungen kam, ja sogar zu Umkehrtrends, die in unserem Fall als Deglobalisierung bezeichnet werden müßten.

Peter Feldbauer[2] und andere Autoren (Feldbauer et.al. 2009) haben anhand der Darstellung historischer Fallbeispiele auf diese mögliche Entwicklungsrichtung hingewiesen. Mir persönlich scheinen diese Gedanken, die bisher in der Öffentlichkeit nicht ausreichend diskutiert werden, jedoch das Potential alternativer Entwicklungen grundsätzlich beinhalten, als bedenkens- und beachtenswert. Erste Anzeichen in dieser Richtung sind für mich unübersehbar. So folgte dem Wettlauf um die Zusammenlegung von Großkonzernen zu immer größeren "Weltunternehmen" der Katzenjammer der Schwierigkeit, unterschiedliche Unternehmenskulturen einfach zu verschmelzen. Das Experiment von Daimler-Chrysler, welches von Daimler-Benz nach Milliardenverlusten beendet wurde, zeigt dies exemplarisch. Zwischenzeitig entflechten auch andere Großkonzerne still und heimlich ihre unüberschaubar gewordenen Firmenkonglomerate und ein "small is beautiful" regt sich zaghaft in unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen. Aufblähungen wechseln sich offensichtlich, zumindest in einigen Bereichen, mit Reduktionen ab.

Der akkumulierende Mensch

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] https://wirtschaftsgeschichte.univie.ac.at/menschen/emeritierte-und-im-ruhestand-befindliche/feldbauer-peter/


1.2.2.1 Re-Lokalisierung

Autoren wie der Kanadier Jeff Rubin[1] (2009), der als Ökonom und Wirtschaftsberater Jahrzehnte lang die Ölförderung und -industrie beobachtet hat, sagt nicht nur die Abnahme der Erdölförderung aufgrund abnehmender Ressourcen voraus (der "peak-oil-point" ist bald oder bereits erreicht), sondern sieht mit den steigenden Energiepreisen ein Ende der Globalisierung, zumindest in bestimmten Produktionsbereichen. Bei extrem gestiegenen Erdölpreisen wird es sinnlos, Textilien billig in Fernost produzieren zu lassen, denn der Kostenvorteil durch niedrige Lohnkosten in Asien werden durch die signifikant sich erhöhenden Transportkosten mehr als aufgehoben.

Wenn das ein- und zutrifft, dann wird sich unsere Wirtschaft ein weiteres Mal fundamental verändern. Das weitgespannte logistische Netz vieler westlicher Industrien wird in Teilbereichen an Bedeutung und Intensität verlieren, der Stellenwert von Import und Export wird sich neu definieren. Als Folgewirkung könnte eine Renaissance der heimischen Produktionswirtschaft bevorstehen, lokale Produkte könnten wieder konkurrenzfähig werden und dadurch stärker wieder unsere Märkte prägen. Die heutige Dienstleistungsgesellschaft würde sich wieder, in Teilbereichen, in eine Produktionsgesellschaft wandeln, was nicht zuletzt Auswirkungen und Handlungsbedarf für den Ausbildungsbereich mit sich bringt.

Verweise:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Jeff_Rubin


1.2.2.2 Neue Themen für die Kultur- und Sozialanthropologie

Was uns als Kultur- und SozialanthropologInnen wichtig zu sein hat, ist die Tatsache, dass jede dieser Veränderungen, in welche Richtung auch immer, das Individuum und dessen Stellung sowie dessen Beziehungen in der Gesellschaft betreffen, diese neu definieren und gravierenden Adaptionsbedarf bei jedem Einzelnen notwendig machen. Die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere die Sichtbarmachung persönlicher Betroffenheitsszenarien[1] ist die Aufgabe künftiger Kultur- und SozialanthropologInnen[2], denn diese sind verbunden mit der Veränderung von Verortungen und Identitäten. So haben manche global zu beobachtende Phänomene, dazu gehört auch der Klimawandel und die dadurch verursachte bzw. prognostizierte territoriale Instabilität (Wüstenbildung, Überflutungen, Unbewohnbarkeit von Küstengebieten, Veränderung der Fertilität eines Landstrichs, etc.), eine Veränderung der geotopologischen Identität mit sich gebracht. Was das für Rückwirkungen auf das Sozialverhalten haben wird, ist dabei offen und untersuchenswert.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
[2] Siehe Kapitel 1.3


1.2.3 Globalisierung und Grenzen

Die beobachteten scheinbaren Grenzauflösungen, nicht nur im Warenverkehr, im Zuge der Globalisierung sind fast überall nur Grenzverschiebungen. Die Beweggründe mancher Grenzkonstituierung wurden nicht eliminiert, sondern haben sich verändert und verschoben. Ausschließungsgründe, beispielsweise bei der Handhabung der Immigrationsfrage[1], wurden inhaltlich kaum gelöst, dafür verschob sich räumlich die Exekution der Zurückweisung von unerwünschten Einwanderungswilligen. Fragen der Rückwirkung auf die inneren Strukturen der Gesellschaft solcher Dynamiken können hier von Kultur- und SozialanthropologInnen gerade auch mit dem Wissen um die verschiedenen Spielarten der Selbstorganisation von sozialen Gruppen und der Rolle der "Spielregeln" komparativ angegangen werden, da beispielsweise das Wesen der Grenzkonstitution ein interessantes Thema darstellt.

Die Metapher der Grenze ist auf viele soziale Sachverhalte anwendbar, wenn man davon ausgeht, dass jede Gruppe eine Grenze aufweist, die Personen innerhalb und außerhalb der Gruppe trennt. Setzt man sich mit der Grenze als definierenden Faktor auseinander, so sind vier Eigenschaften zu berücksichtigen: Kriterien der Eingrenzung, der Ausgrenzung, der Separation und der Kommunalität. In der Auseinandersetzung mit Globalisierung kommt sowohl der Beschäftigung mit den Elementen "Grenzkonstitution" und "Grenzübergang" eine zentrale Rolle zu als auch dem Konzept der "offenen" bzw. "geschlossenen Gesellschaften", wobei letztgenannte Metaphern in Verbindung mit Migration[2] überwiegend in Bezug auf die Außengrenzen nationalstaatlich verfasster Gesellschaften[3] Anwendung finden, sowie auf die Bereitschaft gesellschaftlicher Institutionen, Rahmenbedingungen für eine Integration von Migranten und Migrantinnen zu schaffen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
[2] Siehe Kapitel 2
[3] Siehe Kapitel 3.4


Nächstes Kapitel: 1.3 Kultur- und sozialanthropologische Forschungsfelder


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1.3 Kultur- und sozialanthropologische Forschungsfelder

verfasst von Hermann Mückler


Es geht um Globalisierung von Kulturen bzw. des Kulturellen. Unser Fach, welches sich grundsätzlich mit lebensweltlichen Prozessen befasst, die direkt oder indirekt auf die prägenden demographischen, politischen und technologischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zurückgehen, hat hier zu analysieren und Antworten zu geben. Es beobachtet beispielsweise Veränderungen der Sozialstrukturen in bäuerlichen Gesellschaften im Gefolge der grünen Revolution in der Landwirtschaft sowie der Abwanderung in die Städte[1], beschäftigt sich mit den politischen, sozialen und kulturellen Langzeitwirkungen des Kolonialismus in Form von verschiedenen Spielarten von Post- und Neokolonialismus, mit regionalen und transnationalen Migrationsströmen[2] sowie mit der zunehmenden Dominanz urbaner Lebensformen und der dort anzutreffenden Auffächerung in neue soziokulturelle Aggregatszustände. Neue Formen der Ethnizität, der Religiosität, der familiären Solidarität, der sozialen Organisation des Zugangs zu Arbeit, zu Wohnraum usw. stehen in engem Zusammenhang mit diesen gesellschaftlichen Prozessen, in denen auch der Faktor Demographie eine entscheidende Rolle spielt.

Der vordringende Mensch, H. Mückler

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5
[2] Siehe Kapitel 2.4

Inhalt

1.3.1 Mega-Cities und rurale Entvölkerung

Die kulturelle Distanz zwischen ruralen und urbanen Gebieten ist in der Gegenwart größer geworden. Insbesondere sogenannte Mega-Cities sind Orte der kulturellen Globalisierung geworden, während ländliche Regionen häufig kulturell verarmen (vgl. Feldbauer et.al. 1997). Da die Arbeitsmigration[1] vor allem von jungen Männern und Frauen unternommen wird, fehlt es den ländlichen Gebieten weltweit an unternehmerischer und kultureller Dynamik. So sind in der Westukraine, in Moldawien, aber auch in Teilen Rumäniens zahlreiche Dörfer buchstäblich nur mehr von Kindern und alten Leuten bewohnt, weil der überwiegende Teil der männlichen und weiblichen Dorfangehörigen mittleren Alters in Süd- und Westeuropa arbeitet und nur sporadisch heimkehrt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5.1


1.3.2 Subkulturforschung

Städte sind heute durch ihre vielfältigen Spielarten der Selbstorganisation der einzelnen ethnischen und sozialen Gruppen, ein Spielfeld für die Untersuchung zahlreicher Gruppen geworden, die Subkulturen gebildet haben. Der Ethnologe und Stadtanthropologe Ulf Hannerz[1], der sich selbst mit den Afroamerikanern im Ghetto von Washington auseinandergesetzt hat, hatte in seinem Buch Exploring the City (Hannerz 1980) festgestellt, dass sich die Urban-Anthropologie zwar seit ihrer Entstehung intensiv mit Subkulturen befaßte, dass aber die kulturelle Komplexität, dessen Ausdruck Subkulturen waren, dabei selbst nicht ernsthaft analysiert wurde. Subkulturen wurden wie unvollständige, abhängige Varianten von traditionellen Kulturen verstanden, denen bei aller zugestandenen Veränderung eine vermeintliche Homogenität erhalten blieb.

Hannerz postulierte, dass die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie für ihre Forschungen in Städten einen neuen Kulturbegriff[2] zu definieren habe. Die Konzepte, die er für die Analyse der kulturellen Komplexität in Großstädten entwickelte, übertrug er sukzessive auf das Studium globaler kultureller Prozesse. Hannerz’ Kulturbegriff führte das Problem der Repräsentativität ein und will verstehen, wie Gesellschaften kulturelle Diversität organisieren. Hannerz tritt hier für einen sozialanthropologischen Kulturbegriff ein, der sich deutlich von der kulturanthropologischen Sicht unterscheidet, wonach Kultur dasjenige sei, das die Mitglieder einer Gesellschaft teilen, unabhängig davon, welche soziale Positionen diese einnehmen.

Verweise:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Ulf_Hannerz
[2] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen PoWi


1.3.3 Postkoloniale Studien

Ein anderer Ethnologe, der sich schwerpunktmäßig mit Postkolonialismus auseinandersetzte, der aus Bombay stammende Arjun Appadurai[1], kam zu ähnlichen Konzeptualisierungen von Kultur im Kontext der Globalisierung. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die europäische Kolonialherrschaft die ehemaligen kolonialen Gesellschaften und ihre Traditionen nachhaltig verändert haben, folgerten Vertreter der Post Colonial Studies, dass Gesellschaften und Kulturen heute nicht mehr unabhängig von globalen Prozessen[2] verstanden werden können.

Appadurai gehört zu jener ersten Generation postkolonialer Eliten, die in den westlichen Metropolen Sozialwissenschaften studiert hatten und er zählt - wie auch Edward Said[3]], Stuart Hall[4] und Homi K. Bhabha[5] - zu den Begründern eines Diskurses, der mit seiner Kritik an westlichen Universalismusansprüchen die Sozial- und Kulturwissenschaften in eine neue Richtung einer dezidiert postkolonialen und globalen Perspektive bewegt hat (Appadurai 1986).

Inhaltlich wendet sich Appadurai gegen die als hegemonial und provinziell empfundene Modernisierungstheorie, die nicht mehr in der Lage sei, die heutigen Prozesse der sozialen und kulturellen Globalisierung zu erfassen. Die Globalisierung habe, so sein Vorwurf, die Modernisierungsprozesse allzu lange innerhalb des Rahmens von Nationalstaaten[6] untersucht, wo sie lokalisiert blieben und wo ihre verschiedenen Dimensionen (Wirtschaft, Technik, Medien, Kultur) aufeinander bezogen blieben. Heute haben sich die verschiedenen Dimensionen der Modernisierung entnationalisiert und verallgemeinert, globalisiert, und bringen dabei Entwicklungen hervor, die neu und unvorhergesehen sind (vgl. Appadurai 1998). Appadurai spricht hier von einer relativen Autonomie, Eigenständigkeit und Eigenlogik einer "glokalen" Kultur-Ökonomie.

Verweise:
[1] http://www.arjunappadurai.org/
[2] Siehe Kapitel 1.2
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Said
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Stuart_Hall_%28Soziologe%29
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Homi_K._Bhabha
[6] Siehe Kapitel 3


1.3.4 Eine "Neue Unübersichtlichkeit"

Mit der Globalisierung sind viele Gewissheiten, feste Orientierungspunkte und gewohnte Auf- und Zuteilungen hinfällig geworden. Jürgen Habermas[1] hat diesbezüglich von der "Neuen Unübersichtlichkeit"[2] gesprochen, und Zygmunt Bauman[3] vom "Ende der Eindeutigkeit". Roland Robertson, der den Begriff der "Glokalisierung" in Zusammenhang mit der Verknüpfung von Globalem und Lokalem erfunden hat (vgl. Robertson 1992) meinte damit in etwa, dass dies zwei Seiten einer Medaille insofern seien, als das Lokale als Aspekt des Globalen verstanden werden muss und Globalisierung das Aufeinandertreffen lokaler Kulturen bedeutet, die dann inhaltlich neu bestimmt werden müssen.

Mit dieser neuen Unordnung sind aber bei vielen auch Ängste entstanden, begründete und unbegründete Bedrohungsszenarien haben sich entwickeln und darauf aufbauend konfrontative Erklärungsansätze Fuß fassen können. Samuel Huntingtons[4] Bestseller Clash of Civilizations ist dafür das beste Beispiel, dass es zu einer Renaissance des Realismus, der Geopolitik, der Geokultur und der Geoökonomie, also des Insistierens auf Nation, Territorium und Ethnizität gekommen ist. Die bei Huntington (1996) formulierten scheinbaren Wechselwirkungen der von ihm postulierten Kulturräume scheinen unausweichlich einer Konfrontation zuzusteuern. Kritisches Hinterfragen und die Ablehnung eindimensionaler Erklärungsansätze sind schon deshalb vonnöten, um der publizistischen Breitenwirkung solcher Werke entgegen zu wirken und damit eine mögliche Dynamik im Sinne einer "self-fullfilling prophecy" zu verhindern.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Habermas
[2] Siehe Kapitel 3.1 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (KSA)
[3] Siehe Kapitel 1.2.1
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Phillips_Huntington


1.3.5 "Creolization Paradigm"

Aus der Dialektik der Globalisierung entwickeln sich heute hybride Formen der Konsumkultur, die mit dem Begriff "creolization paradigm" zusammen gefasst werden können. Das Wort "Kreolisierung", ursprünglich aus der Sprachwissenschaft kommend, bezeichnet dabei den Prozess, bei dem es zu einer Rekontextualisierung von Gütern kommt, die aus anderen kulturellen Kontexten stammen. Der Gegenbegriff wäre das "homogenization paradigm", also die globale Ausbreitung einheitlicher Konsummuster und gleichzeitig auftretender lokaler Adaptionsleistungen in verschiedenen Gesellschaften, die sich jedoch, wie bereits eben angemerkt, bisher nicht als generalisierender Trend beobachten lassen. Mit Formen von Aneignungen und Inkorporationen hat sich die Ethnologie intensiv auseinandergesetzt und dabei sowohl die Gesamtheit der Phänomene betrachtet, als auch Teilaspekte, beispielsweise die unterschiedlichen geschlechterspezifischen Betroffenheitsszenarien bestimmter Entwicklungen in der Konsumgüter- und Arbeitswelt sowie Migrationsdynamiken[1] und die Rolle der Nationalstaaten[2] untersucht.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2
[2] Siehe Kapitel 3


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1.4 Bibliographie

verfasst von Hermann Mückler


Appadurai Arjun (Hg.) (1986): The social life of things. Commodities in cultural perspective. Cambridge, Cambridge University Press.

Bauman, Zygmunt (1998): Globalization: The Human Consequences. New York: Columbia University Press.

Dvorak, Johann/ Mückler, Hermann (Hg.) (2011): Staat-Migration- Globalisierung. Wien: Facultas Verlag.

Feldbauer, Peter/ Husa, Karl/ Pilz, Erich/ Stacher, Irene (Hg.) (1997): Mega-Cities. Die Metropoloen des Südens zwischen Globalisierung und Fragmentierung. Historische Sozialkunde, Band 12, Frankfurt/Main: Brandes & Apsel.

Feldbauer, Peter/ Hödl, Gerald/ Lehners, Jean-Paul (Hg.) (2009): Rhythmen der Globalisierung. Expansion und Kontraktion zwischen dem 13. und 20. Jahrhundert. Wien: Mandelbaum Verlag.

Hannerz, Ulf (1980): Exploring the City – Inquiries toward an Urban Anthropology. New York: Columbia University Press.

Hannerz, Ulf (1997): Flows, Boundaries and Hybrids: Keywords in Transnational Anthropology. Stockholm: Dep. of Social Anthropology.

Hobsbawm, Eric (1999): Uncommon People: Resistance, Rebellion and Jazz. New York: New Press.

Huntington, Samuel (1996): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Welt im 21. Jahrhundert. München/Wien: Europa-Verlag.

Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen, Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Akademie Verlag.

Robertson, Roland (1992): Globalization: Social Theory and Global Culture. London: Sage.

Rubin, Jeff (2009): Warum die Welt immer kleiner wird. Öl und das Ende der Globalisierung. München: Carl Hanser.


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Vorheriges Kapitel: 1.4 Bibliographie

2 Migrationsforschung in der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie

verfasst von Hermann Mückler


Die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie befasst sich seit ihrem Bestehen als wissenschaftliche Disziplin nachhaltig mit den Konsequenzen jener gesellschaftlichen Prozesse, denen Menschen unterworfen sind, die aus den unterschiedlichsten Faktoren ein hohes Maß an Mobilität und Flexibilität entwickeln müssen. Arten der (Fort-)Bewegung, das Entstehen, Bestehen sowie Veränderungen kultureller und sozialer Identität, die Verortung des Einzelnen und der Gruppe (also das Einbeziehen räumlicher Kategorien und Wahrnehmungsmodelle), und schließlich allgemein Fragen nach Ethnizität, Abgrenzung und Inkorporation in Zusammenhang mit der Bewegung von Individuen und Gruppen im Raum und den damit verbundenen Veränderungen in Lebens- und Arbeitsräumen sind die primären Fragen, mit denen sich die Ethnologie heutzutage befasst.

Inhaltsverzeichnis

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

1 Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie
3 Die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie und der Staat

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Vorheriges Kapitel: 2 Migrationsforschung in der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie

2.1 Abgrenzungen

verfasst von Hermann Mückler


Es unterscheiden sich die Themen und Herangehensweisen der Ethnologie von jenen anderer Fachwissenschaftler, so beispielsweise der Politikwissenschaftler, die migrationspolitische Entwicklungen vor dem Hintergrund des Vergleichs von Einwanderungs- und Asylpolitiken verschiedener Staaten sehen, oder die politische Teilhabe von Zugewanderten in den politischen Entscheidungsfindungsprozessen eines Landes beleuchten. Soziologen wiederum fokussieren auf gesellschaftliche Folgen von Migration und Formen sozialer Transformation mit einem gewissen Schwerpunkt auf quantitativen Untersuchungen, in den Wirtschaftswissenschaften werden ökonomische Ursachen und Konsequenzen von Migration auch und vor allem mit Blick auf arbeitsmarktbezogene Veränderungen behandelt, und in der Geographie werden nicht zuletzt demographische Veränderungen als Auslöser und Folge von Migrationsbewegungen gedeutet und deren Einfluss auf Wohn- und Siedlungsstrukturen im urbanen und ruralen Raum untersucht.

Diese Auflistung hier ist exemplarisch und Berührungen und Überlappungen zwischen Themen, Zugängen sowie zwischen den Fokussierungen von Fachwissenschaftlern sind eher die Regel als die Ausnahme, was die Notwendigkeit der Inter- und Multidisziplinarität innerhalb der Migrationsforschung unterstreicht.


Nächstes Kapitel: 2.2 Qualitative Erforschung von Betroffenheitsszenarien


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2.2 Qualitative Erforschung von Betroffenheitsszenarien

verfasst von Hermann Mückler


Bei der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie[1] stehen häufig nach wie vor qualitative Forschungsmethoden[2] im Vordergrund, auch wenn sich in der Realität überwiegend eine Triangulation qualitativer und quantitativer[3] Herangehensweisen und Forschungsmethoden als sinnvoll erwiesen hat. Es ist der Einzelfall, das betroffene Individuum, dass aus der Anonymität komplexer prozessual ablaufender Entwicklungen herausgegriffen und beleuchtet wird. Somit werden MigrantInnen als selbstständig Agierende wahrgenommen, die von den Bedingungen, unter denen Migration abläuft[4] geprägt werden, diese aber selbst wieder prägen. Anders ausgedrückt wird damit der Erkenntnis Rechnung getragen, dass deren migrationsspezifischen Erfahrungen verhaltensbestimmende Elemente zugrunde liegen, die zu analysieren sind, will man zu brauchbaren Aussagen über Ursachen und Konsequenzen in den individuellen Betroffenheitsszenarien kommen, die mit der räumlichen Bewegung zur Veränderung des Lebensmittelpunktes über substantielle Entfernungen verbunden sind. Zahlreiche einführende Werke beschäftigen sich mit diesen Fragen.

Verlassenheit, F. Drtikol ("Die Seele", 1931)

Verweise:
[1] Siehe die Lernunterlage Einführung in die empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[2] Siehe die Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie
[3] Siehe Kapitel 2.6 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie: Empirische Forschung in den Sozialwissenschaften
r /> [4] Siehe Kapitel 2.4.1


Nächstes Kapitel: 2.3 Ethnohistorie und historische Migrationssforschung


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2.3 Ethnohistorie und historische Migrationssforschung

verfasst von Hermann Mückler


Das Phänomen Migration' wird als zentrales Element zur Erhellung menschlicher Entwicklungsgeschichte gesehen. Die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie war und ist immer auch eine historische Wissenschaft. Der zentrale Teilbereich der Ethnohistorie hat nach wie vor und vielleicht gerade heute in einer Zeit der Globalisierung[1], in der man deren Anfänge und Verläufe zu rekonstruieren versucht, Bedeutung. So haben beispielsweise in der Vergangenheit Fragen nach der Herkunft und Verbreitung kulturtragender Gruppen, besiedlungsgeschichtliche Rekonstruktionen, die Suche nach dem Ursprung und der Verbreitung von Ideen sowie technologischen Fertigkeiten und Elementen sozialer Organisation[2]' die Aufmerksamkeit von Ethnologinnen und Ethnologen bei der Rekonstruktion der menschlichen Entwicklungsgeschichte geweckt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 3.6


Nächstes Kapitel: 2.4 Aufgabenfelder


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Vorheriges Kapitel: 2.3 Ethnohistorie und historische Migrationssforschung

2.4 Aufgabenfelder

verfasst von Hermann Mückler


Grundsätzlich muss man betonen, dass man sich dem Thema Migration in all seinen Ausformungen nur sinnvoll nähern kann, wenn man sie als die Folge komplexer politischer, ideologischer, sozialer und ökonomischer Prozesse begreift, deren Auslöser und Konsequenzen immer aus einer Vielzahl von Faktoren bestehen, was notwendigerweise in der Auseinandersetzung mit diesem Thema entsprechende Berücksichtigung finden muss und dem heute von der Ethnologie in Form inter- und transdisziplinär angelegter Forschungen Rechnung getragen wird. Die Aufmerksamkeit der Ethnologie wendet sich dabei zwei, respektive vier großen Aufgabenfeldern[1] im Bereich Migration zu.

Begrenztheit, H. Mückler

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5

Inhalt

2.4.1 Rahmenbedingungen, Arten, Ursachen und Auswirkungen von Migration

Eine genauere theoriegeleitete Definition des Begriffs Migration lässt eine Vielzahl von Erklärungsansätzen zu. Er wird sowohl im nichtwissenschaftlichen Gebrauch als auch in der wissenschaftlichen Literatur uneinheitlich verwendet, sodass sich zahlreiche Definitionen gegenüberstehen. Gerade im Fall von Migrationstheorien kann von einer vergleichsweise größeren Quantität definitorischer Zugriffe gesprochen (Santel 1995; vgl. Treibel 1999; Treibel listet insgesamt zehn verschiedene Definitionsansätze auf) und bei der Beschreibung von Wanderungsbewegungen verschiedene Kriterien angelegt werden, wie etwa Dauer, Periodizität, Distanz, Geschwindigkeit, räumlicher Verlauf, strukturelle Merkmale der MigrantInnen, strukturelle Ursachen, persönliche Motive und Auswirkungen im Herkunfts- und Zielgebiet. Sowohl die kognitive Anthropologie als auch die Ethnohistorie nehmen sich, aus durchaus unterschiedlichen Blickwinkeln, dieser Fragestellungen an (vgl. Mückler 1998). Zu Begrifflichkeiten für eine Einteilung unterschiedlicher Formen von Migration bzw. Mobilität von Menschen im Raum siehe Mückler (2004)[[Migrationsforschung_in_der_Ethnologie_bzw_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Bibliographießß}#2.7 Bibliographie|[1]]].

Verweise:
[[Migrationsforschung_in_der_Ethnologie_bzw_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Bibliographießß}#2.7 Bibliographie|[1] Siehe Kapitel 2.7]]


2.4.2 Konkreten Einzelstudien

Zu migrierenden Individuen und Gruppen und den Konsequenzen für die Betroffenen[1] werden konkrete Einzelstudien angefertigt. Fragen zu Ethnizität und Identität stehen dabei im Vordergrund. Zwei Arbeitsbereiche seien hier erwähnt: einerseits die sogenannte Diaspora-Forschung und andererseits (und vielfach überlappend) die ethnologische Stadtforschung bzw. Urban Anthropology. Geographisch lassen sich dabei zwei weitere große Arbeitsgebiete unterscheiden, und zwar:

  • Migrationsstudien in Österreich und Europa
  • Migrationsstudien außerhalb Europas

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2


2.4.2.1 Migrationsstudien in Österreich und in Europa

Bei diesen Studien liegt das Hauptaugenmerk auf der Untersuchung von ethnischen und kulturellen Gruppen aus dem außereuropäischen Raum, die sich in Österreich niedergelassen haben. Fragen der Integration sowie Integrationskonzepte[1]; deren Anwendbarkeit und Realisierung und die Entfaltungsbereiche der Hinzugekommenen und das Verhältnis im Zusammenleben mit den Einheimischen sind hier Punkte von Projekten und Analysen. Ein gutes Beispiel für Untersuchungen in diese Richtung bildete das Symposium "Wir und die Anderen"[2], welches zum Verhältnis von Islam, Literatur und Migration in Wien abgehalten wurde und von den institutionellen Voraussetzungen des Miteinanderlebens und beiderseitigen Feindbildern bis zu Sozialisation, Identität und "Lebenswelt Schule" von Kindern aus Migrationsverhältnissen reichte.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten: Migration in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
[2] https://ubdata.univie.ac.at/AC02529580


2.4.2.2 Migrationsstudien außerhalb Europas

Dies ist ein traditionelles Arbeitsfeld von EthnologInnen. Als Beispiel sei hier nur eine Weltregion, der pazifische Inselraum (Ozeanien) erwähnt, dessen Inseln der drei Großregionen Melanesien, Mikronesien und Polynesien durch kleine Landflächen mit geringen Ressourcen und dazwischen liegenden großen Entfernungen gekennzeichnet sind und die seit der Zeit der maritimen Besiedlung aufgrund dieser sehr spezifischen äußeren Rahmenbedingungen als "Kulturen der Distanz" bezeichnet werden können. Als solche besitzen diese ein außerordentlich 'komplexes System von Migrationsdynamiken[1]' und damit verbundenen kulturspezifischen Handlungsabläufen, Ritualen sowie technologischen und navigatorischen Fähigkeiten, um die räumlichen Entfernungen überwinden und nutzen zu können.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.6


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2.5 Rezente Zugänge

verfasst von Hermann Mückler


Erschöpftheit, K. Kollwitz ("Heimarbeit", 1925)

'Historiker[1]' sprechen von einer Universalgeschichte von Völkerwanderungen und Kriegen, Flucht und Vertreibung und verweisen dabei, bezogen auf die europäische Geschichte, auf jene Ereignisse, die zu den zentralen identitätsstiftenden literarischen Werken der abendländischen Kultur gehören. Bereits in den antiken Werken wird dem Thema Wanderung bzw. Migration breiter Raum gewidmet, so beispielsweise die Reise des Aeneas nach Sizilien als Spiegelbild des Bevölkerungsdrucks in Westgriechenland und die griechische Koloniebildung in Italien. Ebenso finden sich in der Bibel zahlreiche Geschichten von Flucht und Vertreibung. Das jüdische Volk bildet geradezu den Archetypus für Flucht und Vertreibung, angefangen vom babylonischen Zwangsexil, über die Zerstreuung im Römischen Reich, den Massenausweisungen in Spanien, bis hin zu Flucht und "Endlösung" im Dritten Reich.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3

Inhalt

2.5.1 Arbeitsmigration

Die mit Blickrichtung auf Zuwanderung[1] stimulierte und formulierte "Ausländerfrage" erweist sich häufig als ein Element des Vergessens der eigenen Geschichte. Zu der Fülle von Vorurteilen, die von aufnehmenden Gruppen bei Zuwanderung immer wieder aufgegriffen werden, gehören zwei, die meistens gleichzeitig formuliert werden, nämlich die Ansicht, dass das "Boot voll" sei und man daher niemanden aufnehmen könne, während andererseits ein Aussterben durch zu niedrige Geburtenraten, Vergreisung, Entvölkerung etc. in Aussicht gestellt wird.

Gerade die Interessensgruppen und Parteien am politisch rechten Rand neigen zur schizophrenen Sichtweise der Ausblendung des grundsätzlichen Zusammenhangs dieser beiden Faktoren. Die heutige Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen beruflicher Mobilität in Europa (als der heute hierzulande häufigsten Form von Migration), also den Grenzen von Zuwanderung und einer möglichen Integration, wird durch die Tatsache, dass global alle Gesellschaften einen massiven und irreversiblen Trend zu ethnisch und kulturell heterogenen staatlichen Gebilden[2] durchmachen, bestimmt.

Das Faktum, dass sich alle Staaten der Erde von einem homogenen Nationalstaat wegbewegen und damit zu vielstimmigeren "multikulturellen"[3] Gebilden werden, hat unterschiedlichste Reaktionen der betroffenen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger ausgelöst, deren Bandbreite von einer bewussten Forcierung und Steuerung dieser Entwicklung bis zu rigider Abgrenzung und dem Betonen nationaler Eigenheiten reichen. Zugrunde liegen diesen beiden potentielle Reaktionen auf die möglichen Auswirkungen von Migration einerseits das Begreifen von Vielfalt und Vielstimmigkeit als Chance einer kulturellen Bereicherung, die letztlich allen zugute kommen kann, oder andererseits das Ausgehen von der fiktiven Prämisse, dass nationale, respektive politische Identifikationsfaktoren, mit ethnischen und kulturellen Elementen der Mehrheit der Bewohner eines Landes deckungsgleich sein könnten und sollten.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.6 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten: Migration in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
[2] Siehe Kapitel 3.6.5
[3] Siehe Kapitel 2.5.2


2.5.2 Multikulturalität

Der Begriff der "multikulturellen" Gesellschaft ist erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden und entstammt der kanadischen Diskussion um die Rechte derjenigen, die sich weder zur englischsprachigen Mehrheit noch zur frankokanadischen Minderheit rechneten. Das Schlagwort vom multikulturellen Kanada hatte 1964 der Senator Paul Yuzyk, ukrainischer Herkunft, in Umlauf gebracht.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft zunächst von der politischen Linken und in pädagogischen Diskussionen propagiert. Ein im Jahr 1980 erschienener Band der Reihe "Kursbuch" hatte den damals provozierenden Titel "Vielvölkerstaat Bundesrepublik". Der Begriff "Multikulturalität" hat in der Folge eine fast inflationär erscheinende häufige Verwendung gefunden und steht für sowohl ernstgemeinte Bestrebungen von (Kommunal-)Politikern und Gesellschaftswissenschaftlern, das "Nebeneinander"-leben von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Herkunft und kulturellen Backgrounds zu einem "Miteinander"-leben umzufunktionieren, als auch in seiner schlagwortartigen Verwendung für politische Entschlusslosigkeit in einzelnen Sachfragen und hat so zu einer nur scheinbaren Harmonisierung interethnischer Konflikte beigetragen. Vor allem aus diesem letztgenannten Grund hat sich ein Teil der Befürworter der multikulturellen Gesellschaft von diesem Konzept zwischenzeitlich distanziert und es als Modeerscheinung abqualifiziert.


2.5.3 Interkulturalität

Im Laufe der 1990er Jahre setze sich zunehmend der Begriff der "Interkulturalität" durch, "...da dieses Konzept auf die gegenseitige Beziehung, auf das zu gestaltende Zusammenleben abhebt und die Vorstellung eines "Multikulturellen Nebeneinanders" für unzureichend hält" (vgl. Robertson-Wensauer 1993, zit.n. Treibel 1999, S. 66). Wenn man jedoch nach der Definition eines x- beliebigen Fremdwörterbuches geht, wonach "multikulturell"[1] auf vielfältige Lebensformen, Welt- und Menschenbilder ausgerichtete Gesellschaft interpretiert wird, die eine auf Toleranz und wechselseitige Anerkennung der verschiedenen kulturellen Erfahrungen gerichtete Sozialordnung zum Ziel hat, dann hätte man beim ursprünglichen Begriff bleiben und diesen als operables Instrument einsetzen können.

Da jedoch die Begrifflichkeit Moden und somit auf einer emotionalisierten Ebene bewussten und unbewussten Empfindungen unterworfen ist, favorisiert man heute den präziseren Begriff Interkulturalität. Dieser Begriff setzt explizit auf die Beziehung(en) zwischen zwei oder mehr Kulturen und damit weniger auf ein (friedliches) Nebeneinander, sondern auf das "Wie" des Interagierens, also des sozialen Miteinanders.

Anders ausgedrückt: die angenommenen Unterschiede zwischen Kulturen werden nicht zwangsläufig als etwas Trennendes, sondern als Chance zum Austausch zwischen den Kulturen gesehen. Interkulturalität bedeutet in diesem Sinn nicht nur, dass in einer Situation verschiedene Teilnehmer aus unterschiedlichen Kulturen agieren, sondern, dass sich dabei durch Dynamiken und Wechselbeziehungen (die es von EthnologInnen zu untersuchen gilt) etwas entwickelt, was über die Addition der Wesenszüge und Merkmale der beteiligten Kulturen hinausgeht: Es entsteht etwas produktiv Neues. Diese prozessualen Entwicklungen und deren zugrunde liegende Mechanismen und Strukturen zu dekodieren und damit transparent zu machen, ist eine der Aufgaben der Ethnologie[2].

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5.2
[2] Siehe Kapitel 2.5.4


2.5.4 Aufgaben der Ethnologie

Entscheidend in diesem Zusammenhang ist für die Ethnologie die Verknüpfung und die wechselseitige Beeinflussung von Faktoren in dem Sinne, dass Migration zur (irreversiblen und potentiell konfliktschaffenden) Zunahme von multi- bzw. interkulturellen gesellschaftlichen Gebilden führt, deren Erscheinungsformen und Auswirkungen für die darin Agierenden, Partizipierenden und peripher Betroffenen gravierende Folgen haben können, welche die Ethnologie unter die Lupe zu nehmen hat.

Oftmals ist die Distanz für eine unvoreingenommene und alle Faktoren berücksichtigende Betrachtung ein entscheidendes Element. Aus diesem Grund haben Studien über Migrationsprozesse mit ihren jeweils spezifischen Dynamiken in außereuropäischen Ländern[1] auch Rückwirkung auf diejenigen Prozesse, die in unserer unmittelbareren Nähe ablaufen. Die Ethnologie trägt durch ihre große Bandbreite an Zugängen zu allen Kulturregionen des Globus dazu bei, komparative Studien zu ermöglichen und empirisches Material einer Einzelstudie vor Ort in den jeweils größeren Kontext überregionaler und globaler Dynamiken zu stellen. Sie ermöglicht damit entscheidend eine Vergleichsschau, die unter Umständen Rückschlüsse auf zu erwartende Prozesse im Kleinen geben können.

Wiederum anders formuliert: Die Beschäftigung mit Migrationsdynamiken und damit in Verbindung stehenden Prozessen im außereuropäischen Ausland kann auch für die Analyse und Interpretation von ähnlichen Entwicklungen im näheren Umfeld[2] eminente Bedeutung haben, da wir andere kontextuelle Zugänge finden, die aus einer reinen Eigensicht nur schwer zu finden wären. Voraussetzung für eine komparative, also vergleichende Betrachtungsweise von Fallbeispielen aus den großen Migrationsbereichen Flucht- und Arbeitsmigration ist aber die Festlegung von Parametern, als Eckpunkte für eine potentielle Vergleichbarkeit. Die Festlegung von Parametern ist wiederum eng mit der verwendeten Begrifflichkeit verbunden. Als eines der jüngsten Werke, die sich mit der Verknüpfung von Migrationsforschung und dem Fach der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie auseinandersetzen, ist der von Six-Hohenbalken/ Tosic (2009)[[Migrationsforschung_in_der_Ethnologie_bzw_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Bibliographießß}#2.7 Bibliographie|[3]]] herausgegebene Sammelband zu empfehlen, der neben theoretischen Grundlagen anhand ausgewählter Anwendungsfelder interdisziplinäre Aspekte vor dem Hintergrund der Verflechtung von Multikulturalität, Identität und Geschlecht abhandelt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4.2.2
[2] Siehe Kapitel 2.4.2.1
[[Migrationsforschung_in_der_Ethnologie_bzw_Kultur-_und_Sozialanthropologie/Bibliographießß}#2.7 Bibliographie|[3] Siehe Kapitel 2.7]]


Nächstes Kapitel: 2.6 Beispiele


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2.6 Beispiele

verfasst von Hermann Mückler


Zwei Beispiele für mögliche Themen aus dem Bereich der Migrationsforschung, die für EthnologInnen bzw. Kultur- und SozialanthropologInnen interessant sein können sind

  1. Besiedlung und historische Migration in Ozeanien[1], und
  2. Remittances (Geldüberweisungen) als bestimmendes Element von Arbeitsmigration[2].

Beide Beispiele gehen bewußt in eine jeweils völlig andere Richtung. Und zwar insofern, als das erste Beispiel eine historische Entwicklung aufgreift, um zu Erhellungen für besiedlungsgeschichtliche Interpretationen zu gelangen - ein Thema, welches weit weg führt von den aktuellen Migrations- und Integrationsdebatten, die in den westeuropäischen Ländern abläuft, und zeigt, dass in der Ethnologie auch ganz andere Themenbereiche Teil einer Migrationsforschung sein können.

Im zweite Beispiel wird ein konkretes arbeits-migrationsspezifisches Phänomen angesprochen, nämlich die Geldrücküberweisungen von ArbeitsmigrantInnen an ihre im Ursprünglichen Heimatland verbliebenen Familien und Verwandten, ein Thema, welches anhand der Situation in einer ziemlich peripher gelegenen Region (Pazifik) skizziert wird, aber durchaus exemplarisch für andere Weltregionen stehen kann und somit wieder Relevanz für gegenwärtig dort aber auch hierzulande ablaufende gesellschaftliche und soziale migrationsintendierte Prozesse entwickeln kann.

Ausgeliefertheit, H. Mückler

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4.2.2
[2] Siehe Kapitel 2.5.1


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2.7 Bibliographie

verfasst von Hermann Mückler


Dvorak, Johann/ Mückler, Hermann (Hg.) (2011): Staat-Migration- Globalisierung. Wien: Facultas Verlag.

Mückler, Hermann (1998): Migrationsforschung und Ethnohistorie. In: Wernhart, Karl R./ Zips, Werner (Hg.): Ethnohistorie. Rekonstruktion und Kulturkritik, Eine Einführung. Wien: Promedia, S. 113-134.

Mückler, Hermann (2004): Migrationsdynamiken: Auslöser, Erklärungsmodelle, Konsequenzen. In: Niederle, Helmuth/ Mader, Elke (Hg.): Die Wahrheit reicht weiter als der Mond. Europa - Lateinamerika: Literatur, Migration und Identität. Wien: Wiener Universitätsverlag. S. 41-60.

Robertson-Wensauer, Caroline Y. (Hg.) (1993): Multikulturalität, Interkulturalität? Probleme und Perspektiven der multikulturellen Gesellschaft. Schriften des Institut für Angewandte Kulturwissenschaften der Universität Karlsruhe, Band 1, Baden- Baden: Nomos.

Santel, Bernhard (1995): Migration in und nach Europa; Erfahrungen. Strukturen. Politik. Opladen: Leske & Budrich.

Six-Hohenbalken, Maria/ Tosic, Jelena (Hg.) (2009): Anthropologie der Migration: Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Aspekte. Wien: Facultas.

Treibel, Anette (1999): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung und Gastarbeit. Weinheim/München: Juventa.


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3 Die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie und der Staat

verfasst von Hermann Mückler


Wie bei allen Kultur- bzw. Sozialwissenschaften steht auch in der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie der Mensch als handelndes Subjekt, als sozial agierendes Wesen im Mittelpunkt der Betrachtung. Jede(r) von uns steht grundsätzlich nicht allein, sozusagen im luftleeren Raum, sondern wir interagieren ununterbrochen mit anderen Menschen. Wir sind als soziale Wesen von der ersten Sekunde unseres Lebens an darauf angewiesen, mit anderen Menschen in Wechselbeziehungen zu treten.

Inhaltsverzeichnis

Weitere Kapitel dieser Lernunterlage

1 Globalisierung als Herausforderung an die Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie
2 Migrationsforschung in der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie

Nächstes Kapitel: 3.1 Interessensabgleich


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3.1 Interessensabgleich

verfasst von Hermann Mückler


Wenn zwei Menschen beisammenstehen, um sich über einen Termin oder über die Betrachtung einer Sache zu einigen, dann bedarf dies des Interessensabgleichs. Dieser verläuft über verschiedene Wege der Kommunikation, deren wichtigste und sichtbarste vordergründige "Werkzeuge" die Sprache, Gestik und Mimik sind also Werkzeuge erster Ordnung. Andere Elemente, wie beispielsweise die Schrift, Piktogramme, Symbole, verschiedene Zeichen, denen eine eigene Bedeutung aber noch viel mehr eine Wirkung zugrunde liegt (damit beschäftigt sich die explizit die Semantik als Bedeutungslehre im Kontext und als Teilbereich der Semiotik, der Zeichentheorie) würde ich als Werkzeuge zweiter Ordnung bezeichnen.

Zwei Menschen, die miteinander kommunizieren, müssen sich also zuerst darüber im Klaren sein, mit welchen Werkzeugen und nach welchen Dekodierungs- und Verständnisparametern dieses Interagieren ablaufen kann, bevor es zum Interessensabgleich kommt. Die geschieht in der Regel unbewusst, denn wir lernen von Geburt an die Regeln und Mechanismen, die in unserer eigenen Kultur gelten, zu deuten, zu erlernen und anzuwenden. Wir nennen das Sozialisation, bzw. ist es ein Teil dessen, was wir allgemein als Sozialisation bezeichnen.


Nächstes Kapitel: 3.2 Konflikthaftigkeit


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3.2 Konflikthaftigkeit

verfasst von Hermann Mückler


Dieser Interessensabgleich[1] bringt uns zum zweiten damit eng verknüpften Begriff: der Konflikthaftigkeit jeglichen Interagierens. Konflikthaftigkeit ist nichts Negatives, auch wenn man Konflikt meistens mit Konfrontation in seiner negativen Konotation in Beziehung zu setzen geneigt ist. Dort, wo zwei Individuen oder ein Individuum und eine Gruppe oder zwei Gruppen miteinander in Beziehung treten, geht es um den Abgleich von Bedürfnissen, die wir hier als Interessen bezeichnen. Dass die Bedürfnisse des einen nicht notwendigerweise deckungsgleich mit den Bedürfnissen eines anderen, oder anderer sind, kann vorausgesetzt werden. Aus diesem Grund ist jedes Interagieren immer auch ein Abtasten zwischen zwei oder mehreren Menschen, wie weit man selbst mit seinen Interessenslagen gehen kann, ohne die Bedürfnisse bzw. Interessen anderer zu stören bzw. zu behindern.

Immanuel Kant[2] hat dieses Beziehungsverhältnis in seinem berühmt gewordenen sogenannten Kategorischen Imperativ (KI) kongenial zusammengefasst, auch wenn er weiterführende grundsätzliche Gedanken der Moral und des Willens des Menschen sowie, damit in Verbindung stehend, das sich daraus ableitende Pflichtgefühl des Menschen damit verknüpfte. Im Prinzip könnte eine Form des sogenannten Kategorischen Imperativs folgendermaßen lauten: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde" (vgl. Kant 2004).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant


Nächstes Kapitel: 3.3 Bedürfnisbefriedigung


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3.3 Bedürfnisbefriedigung

verfasst von Hermann Mückler


Um Kommunizieren zu können, um die Zeichen zu verstehen, muss Einigkeit darüber herrschen, was sie bedeuten, bzw. wie sie zu deuten sind. Es geht hier um ein Beziehungsverhältnis zwischen einem Sender und einem Empfänger bzw. Adressaten. Letztlich dient alles Kommunizieren der Bedürfnisbefriedigung. Dazu zählt nicht nur die Abdeckung grundlegender Bedürfnisse ("food, shelter, health, care, education") sondern auch Werte mit Bedürfnischarakter, wie beispielsweise akzeptiert werden, sich Ansehen erwerben, geachtet sein, als Kompetenzträger gesehen werden, usw.

Damit aber alle diese Dinge, nämlich der Interessensabgleich[1] und die Bedürfnisbefriedigung - oder besser der Interessensabgleich zur Bedürfnisbefriedigung - funktionieren kann, bedarf es Regeln. Regulative, die ich lieber als "Spielregeln" bezeichnen möchte und die sich Kinder in der Sandkiste unbewusst genauso geben, wie Politiker, die in Den Haag beim Internationalen Gerichtshof oder in New York bei den Vereinten Nationen sitzen und sehr bewusst um Regeln für das Interagieren auf internationaler Ebene ringen. Das Völkerrecht ist dabei genauso ein Regelwerk, wie die Straßenverkehrsordnung oder die ausgehängten Jugendschutzbestimmungen in einem Lokal.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1


Nächstes Kapitel: 3.4 Der Staat als Organisationsstruktur


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3.4 Der Staat als Organisationsstruktur

verfasst von Hermann Mückler


Das Fach der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie beschäftigt sich mit den drei Teilbereichen Interessensabgleich[1], Konflikthaftigkeit[2] und Bedürfnisbefriedigung[3] in ihren jeweiligen Bedingungen, Wechselwirkungen und Konsequenzen zueinander, und zwar global, vergleichend und alle Spielarten berücksichtigend, die sich aus unterschiedlicher Größe der Gruppen und Gemeinwesen ergeben.

Der kontrollierende Staat, H. Mückler

EthnologInnen beschäftig(t)en sich daher mit jenen "Spielregeln", die einfache und komplexere Gesellschaften oder Sozietäten[4] zu allen Zeiten an allen Orten entwickelt haben, um das Zusammenleben der Menschen zu strukturieren, zu organisieren und zu für die qualifizierte Mehrheit einer Gruppe zufriedenstellenden Handlungsanweisungen und damit zu Lebenslösungen zu gelangen. Dazu gehört zentral die Untersuchung der dazu nötigen bzw. sich daraus bildenden Organisationsstrukturen. Dazu zählt auch der Staat[5]. Der Staat ist eine spezielle, sehr komplexe und in vielen Bereichen ausgereifte, manchmal jedoch auch unübersichtliche Form eines sehr großen politischen Gemeinwesens.

Im Vergleich dazu gibt es viele andere, meistens kleinräumigere und kleingekammertere Formen politischer Organisation[6]. Historisch hat sich die Ethnologie lange mit diesen kleineren, einfacheren, Formen politischer Organisation beschäftigt. Heute gibt es hier keine Präferenzen mehr.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1
[2] Siehe Kapitel 3.2
[3] Siehe Kapitel 3.3
[4] Siehe Kapitel 3.6.3
[5] Siehe Kapitel 3.6
[6] Siehe Kapitel 3.5


Nächstes Kapitel: 3.5 Vor- und Nicht-staatliche Gesellschaften


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3.5 Vor- und Nicht-staatliche Gesellschaften

verfasst von Hermann Mückler


Lange hat sich die Ethnologie so definiert, dass es sich mit außereuropäischen Gesellschaften beschäftigte, die überwiegend als vorstaatliche oder nicht-staatliche Gesellschaften (d.h. ohne Zentralinstanz) und damit nicht als Staat klassifiziert werden konnten. Aber auch bei staatlich organisierten Gesellschaften, hat man Parameter für diesen festzulegen versucht und genaue Unterscheidungen gemacht.

So haben die beiden britischen Ethnologen Meyer Fortes[1]] und Edward E. Evans-Pritchard[2] (1940) in ihrem Klassiker zu afrikanischen Gesellschaften einerseits "primitive states", die sich durch ein Zentrum, eine Verwaltung und Gerichtsbarkeit sowie einen Herrschaftsanspruch über ein Territorium auszeichnen, und "stateless societies" oder segmentäre Gesellschaften[3] unterschieden. Daneben gab es noch die sogenannten Hochkulturen, die wiederum durch eigene Kriterien (z.B. das Vorhandensein von Schrift) charakterisiert wurden. Die Präferenz mancher Ethnologen lag lange auf der Beschäftigung mit stabilen, überschaubaren Kleingruppen, die sich durch eine hohe Kommunikationsdichte aller abhängigen Gesellschaftsmitglieder auszeichnen (sogenannte "face- to-face" Beziehungen) und sehr oft verwandtschaftlich oder quasi-verwandtschaftlich organisiert sind. Gerade in Kleingruppen kann man mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung[4] und im Rahmen qualitativer Studien zu sinnvollen und modellhaften Aussagen gelangen.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Meyer_Fortes
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Edward_E._Evans-Pritchard
[3] Siehe Kapitel 3.6.2
[4] Siehe Kapitel 5.1.1.2 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie


Nächstes Kapitel: 3.6 Die Entstehung staatlicher Strukturen


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3.6 Die Entstehung staatlicher Strukturen

verfasst von Hermann Mückler


Der unkontrollierte Staat, H. Mückler

Die Entstehung staatlicher Strukturen bildet ein Kernthema innerhalb der Politik-Ethnologie bzw. Politischen Anthropologie, eines Teilgebietes der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie. Dies folgt der Erkenntnis, dass verschiedene Faktoren wie demographisches Anwachsen, ökonomische Surplus (d.h. Mehrwert-) Produktion, günstige Lage, Ressourcenreichtum und zunehmende Arbeitsteiligkeit, um nur einige zu nennen, eine Vergrößerung und zunehmende Komplexität eines gesellschaftlichen Systems bedingen. Differenzierungen verursachen Hierarchisierungen und erfordern eine Verwaltung, welche wiederum den Aufbau einer Bürokratie und (zentral-)staatlicher Institutionen mit sich bringt. Welche Faktoren hier im Einzelnen wirksam werden und wie diese zueinander stehen, welche Entwicklungen zwangsläufig und welche optional sind - das sind die Inhalte, mit deren Beschäftigung eine Voraussetzung für die Definition, was Staat sein kann, geschaffen wird.

Inhalt

3.6.1 Diffusität politischer Gemeinwesen

Die Frage nach der Entstehung staatlicher Strukturen[1] setzt voraus, dass man sich mit nichtstaatlichen oder vorstaatlichen Strukturen beschäftigt. Dabei lag das Hauptaugenmerk der Ethnologie lange auf der Untersuchung von Kleingruppen, wie beispielsweise der Familie, der Horde, der Lineage, der Sippe oder des Klans. Hierbei konnte eine Hierarchisierung verschiedener Ebenen eines politischen Gemeinwesens beobachtet werden. Man kann auch von Politik auf verschiedenen Ebenen sprechen, wenn politische Gemeinwesen in mehrere, voneinander relativ unabhängige Ebenen politischen Handelns zerfallen.

Diese wurden von der Ethnologin Lucy Mair[2] (1962) als "diffus" bezeichnet. Diese Diffusität politischer Gemeinwesen ist durch mehrere Ebenen gekennzeichnet, die wiederum mehrere gleichartige Gebilde umfassen, die zumindest je eine der Funktionen der politischen Organisation erfüllen. Diese Gebilde, die auf den unteren Ebenen als funktional bedeutsam, auf den höheren Ebenen als sogenannte "Sekundärgruppen" erkannt wurden und so groß und verstreut sind, dass nicht mehr alle Angehörigen deren Handeln ständig koordinieren können, folgen drei organisatorischen Grundprinzipien:

  1. der Verwandtschaft (z. B. die Familien, Klane, Sippen),
  2. der Territorialität (Haushalte, Dörfer) und
  3. dem willentlichen Zusammenschluss oder der "Assoziation" (z. B. in Gefolgschaften einzelner Führer) (vgl. Stagl 1998).

Diese Ebenen des politischen Gemeinwesens sind nicht statisch. Sie können sich vermischen, ineinander übergehen, sich in Subgebilde untergliedern oder in Supergebilden zusammenschließen. Eine derartige Strukturierung eines Gemeinwesens kann "segmentäres System" genannt werden, wobei jedes segmentäre System Teilgebilde verschiedener Größenordnung beherbergt, die auf mehreren Ebenen in- und miteinander verknüpft sind.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Lucy_Mair


3.6.2 Segmentäre Gesellschaften

Segmentären Gesellschaften – ein Begriff, der von dem Franzosen Émile Durkheim[1] 1893 geprägt wurde – sind schon bei Meyer Fortes und Edward E. Evans-Pritchard angesprochen worden[2]. Der ethnologische Klassiker von Fortes und Evans- Pritchard über afrikanische politische Systeme, begründete durch die akribische vergleichende Untersuchung verschiedener politischer Systeme afrikanischer Gesellschaften das Fach der Politischen Anthropologie bzw. Politikethnologie mit (Fortes/ Evans-Pritchard 1940). In diesem standen Untersuchungen zu Ursprung, Dynamik und Ausprägung von sozialen Ungleichheiten sowie von gesellschaftlichen Machtverhältnissen im Vordergrund. Folgerichtig waren Untersuchungen zu Organisationsformen der Macht, deren Verteilung und Bindung an Individuen und Gruppen innerhalb einer Kultur, aber auch Machtverhältnisse zwischen Gruppen (und dazu zählen auch Kolonisierung, Krieg, Segmentation, Formen regulierter Anarchie, etc.) für die Inhalte dieses Zweigs ethnologischer Forschung bestimmend.

In der Ethnologie wurden eine zeitlang einer angenommenen Universalität von Herrschaft bzw. Herrschaftsverhältnissen durch die Fokussierung auf segmentäre, staatenlose, akzephale und vorstaatliche Gesellschaften relativierende Herrschaftssysteme gegenübergestellt. Segmentäre Gesellschaften bestehen aus einer Anzahl von gleichartigen und gleichrangigen Segmenten, die über Lineages organisiert sind und weiter in Subsegmente unterteilt sein können. Im Wesentlichen basieren diese Segmente auf Abstammung und Verwandtschaft, aber auch auf religiös-kultischer oder territorialer Basis, wobei diese Segmente bzw. Gruppen zwar unterschiedliche Größenordnungen haben können, mehrheitlich jedoch vergleichsweise klein sind. Die teilweise komplexe Verschachtelung der Segmente gewährleistet eine gewisse Selbstregulierung von Kooperations- und Konfliktbeziehungen[3] ohne die Notwendigkeit zur Ausbildung einer dauerhaften zentralen politischen Autorität.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89mile_Durkheim
[2] Siehe Kapitel 3.5
[3] Siehe Kapitel 3.2


3.6.3 Vom Einfacheren zum Komplexeren

Die Beschäftigung mit der schrittweisen Entwicklung vor- oder nichtstaatlicher Strukturen ergibt im Wesentlichen eine Entwicklung vom Einfacheren zum Komplexeren, vom Überschaubaren zum Unüberschaubaren, von räumlich und zahlenmäßig kleinen zu größeren Gebilden ist. Wichtig ist dabei die Dichotomie von staatlichen und nichtstaatlichen Gesellschaften. Hier wurde von der Kultur- und Sozialanthropologie auf die mit zunehmender Größe der Gemeinwesen notwendige Arbeitsteilung, die erforderliche Spezialisierung bestimmter technischer, handwerklicher, ökonomischer und dienstleistungsbezogener Kenntnisse und Fähigkeiten fokussiert.

Hinzu kommt die Entstehung von Hierarchien, die sich nicht nur aus der Arbeitsteilung, sondern aus einer zunehmenden Gewaltentrennung ergeben, die auch beispielsweise in einer Trennung säkularer und sakraler Kompetenzen oder in der Entstehung klar abgegrenzter legislativer und exekutiver Kompetenzen ihren Niederschlag gefunden hat. Die Entstehung von Bildungsschichten, die Entwicklung und der Aufbau komplexer Verwaltungssysteme (dazu gehören u. a. Kontroll-, Finanz-, Infrastrukturerhalte- und Rekrutierungseinrichtungen), die Bildung von Besteuerungsmechanismen und schließlich die Massenorganisation von Arbeit zum Zweck der Errichtung kommunaler, sakraler, verteidigungsrelevanter und/oder prestigeträchtiger Großbauten: all dies war nur auf der Grundlage einer schrittweisen Zentralisierung der Gemeinwesen sowie deren relativer politischer Stabilität möglich.


3.6.4 Historische Theoriebildung zur Staatsentstehung

Bei der vergleichenden Beobachtung verschiedener Beispiele sogenannter "Früher Staaten"[1] fielen den EthnologInnen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf, die eine Kategorisierung erschwerten. Mehrere skizzierte Theorieansätze verdeutlichen die unterschiedlichen Zugänge, die zur Analyse von Staaten gewählt wurden. Diese geben auch wissenschaftsgeschichtlich über die Entwicklung des Faches Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie Auskunft und spiegeln zeitgeistige Strömungen wider.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.1


3.6.4.1 "Early State"

Der Staat ist ein politisches und soziales Phänomen, das erstmals vor einigen tausend Jahren auftauchte. Zur Erklärung seines Ursprungs existieren zahlreiche, einander teilweise widersprechende Theorien. Einen Überblick über die wichtigsten Ansätze bietet das einleitende Kapitel des 1978 erschienenen, umfangreichen Werks The Early State[1]] von Henri J. M. Claessen[2] und Peter Skalník. Die beiden Anthropologen beschäftigten sich in The Early State mit dem Charakter und vor allem mit der Entstehung und frühen Entwicklung des Staats.

Ziel ihrer Untersuchung war es, erstens die generellen Charakteristika, zweitens eine minimale Definition, drittens unterscheidbare Typen und viertens den wahrscheinlichsten Entstehungsprozess des frühen Staats zu beschreiben (Claessen/ Skalník 1978). Diesem Ziel näherten sich die Wissenschaftler, indem sie bestehende Theorien analysierten und daraus Hypothesen zu den genannten vier essenziellen Forschungsfragen ableiteten.

Verweise:
[1] https://www-degruyter-com.uaccess.univie.ac.at/view/title/5842
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Henri_J._M._Claessen


3.6.4.2 Materialistische Theorie

Die Staatsentstehung nahm vor allem bei den Evolutionisten einen besonderen Stellenwert ein (vgl. Lewellen 1992). Dem gegenüber stand die britische funktionalistische Schule mit Forschern wie Fortes und Evans-Pritchard (1940), die weniger daran interessiert waren, ob sich Gesellschaften in einer bestimmten (Ab-)Folge entwickelten, sondern die Organisationsweise einer Gesellschaft in den Vordergrund ihrer Aufmerksamkeit stellten.

In der marxistischen Theorie wurden Spekulationen über die Gründe, die zur Entwicklung von Staatsgebilden geführt haben in besonderer Weise erörtert. Man ging dabei von einer Kettenreaktion aus, die von neuen Technologien über einen Produktionsüberschuss zur Akkumulation von Privateigentum geführt hatte, welches schließlich durch eine permanente und stabile Herrschaft geschützt werden musste. Diese sogenannte materialistische Theorie wurde von Friedrich Engels[1] entscheidend mitentwickelt (Engels 1884).

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Engels


3.6.4.3 Hydraulische Theorie

Mit China hatte sich der deutsche Soziologe Karl August Wittfogel[1] auseinander gesetzt, der die Entwicklung und Organisation von Bewässerungssystemen in den Vordergrund seiner Erörterungen gestellt hatte und von "hydraulischen Staaten" sprach (Wittfogel 1977). Die Notwendigkeit der kommunalen Organisation zur Bewältigung der komplexen Aufgaben, welche die Anlage von Bewässerungssystemen bedingte, eine Theorie der hydraulischen Staaten, wurden schließlich von Oskar Weggel (1990) aufgegriffen, und am Beispiel Vietnams in abgewandelter Form zur Anwendung gebracht.

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_August_Wittfogel


3.6.4.4 Theorie der natürlichen Grenzen

Der amerikanische Ethnologe Robert L. Carneiro[1] hat in seinem Aufsatz "A Theory of the Origin of the State" eine Theorie der natürlichen Grenzen ("Circumscription Theory") entwickelt, die auf der Annahme beruhte, dass im Falle einer Eroberung[2] die Unterlegenen im Regelfall an einen anderen Ort fliehen; als ein Beispiel nannte er die Amazonas-Indianer (Carneiro 1970). Nur wenn es natürliche Begrenzungen (Wüste, Berge, Meer) gebe, bleibe die unterlegene Gruppe am Ort der Niederlage. Unter diesen speziellen topographischen Bedingungen entstehe nach Carneiro der Staat auf die Weise, dass es bei wachsender Bevölkerung um Streit um das knappe Land komme und so ein Dorf das Nachbardorf zu erobern und unterwerfen versuche, wodurch es zur Entstehung staatlicher Herrschaft komme.

Er sah in den natürlichen Grenzen der frühen, an Flüssen gelegenen Staaten, einen entscheidenden Faktor. Wüsten und Berge verhinderten seiner Meinung nach eine Zersiedelung und das staatliche System habe sich so schneller entwicklen und gegenüber anderen durchsetzen können. Robert L. Carneiro unterschied zwischen den ursprünglich entstandenen Staaten ("primäre Staaten"), von denen er an sechs Orten des Globus solche lokalisieren zu können glaubte (Niltal, Peru, Mesoamerika, Gelber Fluss in China, Industal und Mesopotamien) und durch Kontakt mit diesen entstandene Staaten ("sekundäre Staaten").

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_L._Carneiro
[2] Siehe Kapitel 3.6.4.5


3.6.4.5 Eroberungs- und Unterwerfungstheorie

Die Eroberungs- und Unterwerfungstheorie, auf die Carneiro[1] reagiert hatte, gab es spätestens seit dem Mittelalter und war von Franz Oppenheimer[2], der sich mit Herrschaftssoziologie beschäftigt hatte, favorisiert worden. Die Eroberungs- und Unterwerfungstheorie geht davon aus, dass der Staat in einem Prozess der Unterwerfung friedlicher Bauernvölker durch kriegerische Hirtenvölker entstanden ist.

Nach Oppenheimers Modell vollzog sich die Staatswerdung in sechs Phasen, die teilweise mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauerten (Oppenheimer 1996 [1907]). Oppenheimer verstand seine Ausführungen als Fortführung der sozialdarwinistischen und heute überholten sogenannten "ethnischen Überlagerungstheorie" von Ludwig Gumplowicz. Die Eroberungs- und Unterwerfungstheorie, nach der staatliche Herrschaft im Zuge der der Eroberung friedlicher Bauernvölker durch kriegerische Hirtenstämme entstand, gilt als eine ethnologisch durchaus abgesicherte Sichtweise.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.4
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Oppenheimer


3.6.4.6 Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie

Manche Autoren betonten im Zusammenhang der Eroberungs- und Unterwerfungstheorie[1] die Art und Weise und Komplexität der Kriegsführung. Andere Theorien sahen in der wachsenden Bevölkerung den ausschlaggebenden Faktor, der zu neuen Technologien und folglich zu einer komplexer organisierten Gesellschaft führt, oder sie fokussierten auf soziale Abhängigkeiten.

  • So ist nach der Patriarchaltheorie staatliche Herrschaft eine Art Weiterentwicklung der männlichen Dominanz in der Familie: Die Macht der Männer über die Frauen greife auf andere Bereiche des Soziallebens über und führe so zu einer dauerhaften Etablierung von Machtstrukturen, die schließlich in ein Gewaltmonopol des Stärksten münden.
  • Nach der sogenannten Patrimonialtheorie gründet staatliche Herrschaft in privatem Eigentum an Grund und Boden. Der Grundeigentümer habe sich dadurch das Gewaltmonopol über die auf seinem Land Ansässigen verschafft.
  • Die Vertragstheorie wiederum geht davon aus, dass staatliche Herrschaft aufgrund eines freiwilligen Vertrages entstanden sei, um bestimmte gesellschaftliche Probleme (Ressourcenknappheit; Verwaltung öffentlicher Anlagen zur Wasserbewirtschaftung) zentral zu lösen.

Wie man sieht, versuchten schier unzählige Theorien auf die vielfältigen möglichen Faktoren, die bestimmenden Einfluss auf die Staatsentstehung haben konnten zu reagieren.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.5


3.6.4.7 Definition des frühen Staates

Als minimale Definition des frühen Staats schlugen der holländische Ethnologe Henri Claessen und sein polnischer Kollege Peter Skalník folgendes vor: Der frühe Staat[1] ist die Organisation für die Regulierung sozialer Beziehungen in einer Gesellschaft, die in mindestens zwei auftauchende soziale Klassen gespalten ist, nämlich Herrscher und Beherrschte (Claessen/ Skalník 1978). Die generellen Charakteristika des frühen Staats fassen die beiden Autoren in sieben Punkte zusammen:

  1. Der frühe Staat verfügt über eine Anzahl an Menschen, die ausreicht, um soziale Kategorisierung und Spezialisierung zu ermöglichen.
  2. Die Staatsangehörigkeit wird bestimmt durch Wohnsitz oder Geburt auf einem bestimmten Gebiet.
  3. Es gibt eine zentrale Regierung, welche die Macht besitzt, Recht und Ordnung durch Autorität und (die Androhung von) Gewalt zu erhalten.
  4. Der Staat ist, zumindest de facto, unabhängig und verfügt über genügend Macht, um Separatismus vorzubeugen, und über die Kapazität zur Verteidigung seiner Integrität gegen Bedrohungen von außen.
  5. Die Produktivität ist so weit entwickelt, dass ein regelmäßiger Überschuss zur Erhaltung der Staatsorganisation erwirtschaftet werden kann.
  6. Die Bevölkerung ist so weit sozial differenziert, dass soziale Klassen (Herrscher und Untertanen) unterschieden werden können.
  7. Es existiert eine allgemeine Ideologie, auf der die Legitimität der herrschenden Schicht basiert.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.1


3.6.4.8 Typen des frühen Staates

Claessen und Skalník (1978) unterschieden drei Typen, denen sie jeweils bestimmte typische Merkmalezuschrieben:

  1. den 'beginnenden/unvollkommenen frühen Staat[1]' (inchoate early state),
  2. den typischen frühen Staat (typical early state) und
  3. den frühen Staat in der Übergangsphase (transitional early state).

Das Hauptaugenmerk ihrer Arbeit richteten Claessen und Skalník auf den Prozess der Entstehung (bzw. der frühen Entwicklung) des Staats. Sämtliche unterschiedlichen Ansätze lassen sich, so Claessen/ Skalník in zwei Kategorien zusammenfassen, gemäß denen der Staat entweder

  • auf sozialer Ungleichheit (social inequality) oder
  • einer Art von "sozialem Vertrag" (social contract) beruht.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.1


3.6.5 Moderner Staat und andere Formen politischer Organisation

Interessante Forschungsthemen ergeben sich dort, wo es zu einer Berührung, Überlappung und meistens konfrontativen Situation zwischen Staaten und in diesen befindlichen kleineren Einheiten politischer Gemeinwesen kommt. Forschungen zu Rechtspluralismus lassen sich folgerichtig als Untersuchungsthema ableiten. Es geht um Wechselwirkungen zwischen dem modernen Staat und anderen, einfacheren Formen politischer Organisation. Der moderne Staat wird oft als organische Zusammenfassung einer einigermaßen homogenen Gesellschaft durch ein einziges Führungssystem, einer sogenannten Zentralinstanz, gesehen, welche innerhalb eines bestimmten Territoriums jederzeit das Monopol physischer Gewaltanwendung als letztes Mittel zur Herstellung von (erzwungener) Gemeinsamkeit beansprucht. Solche Staaten, die klare Grenzen haben, kennen Recht und Krieg als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ordnung nach innen und außen. Aus dieser Konstellation ergeben sich zwangsläufig zahlreiche Konfliktfelder.

Der erschöpfte Staat, H. Mückler


3.6.5.1 Koloniales Erbe

In fast allen entkolonisierten ehemaligen Kolonialgebieten haben wir heute moderne nach westlichem Vorbild strukturierte (National-)Staaten mit teilweise unter äußerst fragwürdigen Bedingungen festgelegten Grenzziehungen, und gleichzeitig eine unter Umständen extrem ethnisch heterogene Situation, die sich in der Existenz zahlreicher Subgruppen manifestiert, die eine nur rudimentäre Anbindung an die Zentralmacht wollen und haben. In den Themenbereichen und Schlagworten wie Tribalismus, Sezessionskriege, Abspaltung, Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, Befreiungsbewegungen, Aufstände, Cargo-Kulte, Erweckungsbewegungen, usw. stecken die aus solchen Gemengelagen resultierenden Konflikt- und Problemfelder. Gerade die Erforschung der Kolonialzeit, der Dekolonisierung und der heutigen postkolonialen Entwicklungen, aber auch die Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe birgt ein riesiges Potential an Inhalten, bei denen das konflikthafte Miteinander-in- Wechselwirkung-treten[1] von modernen und einfacheren gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen beobachtet werden kann. Die Kolonialismuskritik[2] steht damit in Verbindung.

Der herausgeforderte Staat, H. Mückler; Plakat von Rapa Nui-Demonstranten für mehr Autonomie und gegen die chilenische Regierung.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.2
[2] Siehe Kapitel 1.3.3


3.6.5.2 Transnationalismus und Staat

Studien zu der Verbindung zwischen transnationalen Dynamiken haben innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie insbesondere zu einer sozialanthropologischen Erforschung von unterschiedlichen Formen von Staatlichkeit sowie der globalen Zirkulation von Personen, Ideen und Objekten[1] geführt. Untersucht wird dabei beispielsweise, wie ökonomische, soziale, politische oder religiöse Ideen und Wissenskomplexe in unterschiedlichen Lokalitäten handlungswirksam werden können; wie z. B. Modelle einer staatlichen Ordnung zirkulieren, angeeignet und durchgesetzt werden, oder wie in Behörden, Schulen, Gerichten, aber auch im Alltagshandeln der Bürgerinnen und Bürger staatlich sanktionierte Rechte und Pflichten ausgehandelt werden. Thema ist dabei auch, wie Vergemeinschaftungsprozesse oder strategisches Handeln sozialer Gruppen über Staatsgrenzen hinweg neue Formen sozialer Organisation hervorbringen. In der globalisierten Welt[2] ist Staatlichkeit wesentlich durch transnationale Prozesse beeinflusst, seien dies Migrationsbewegungen[3], Rechtsexport oder wirtschaftliche Verkoppelungen. Insofern bilden die Elemente Transnationalismus und Staatlichkeit in ihrer wechselseitigen Verschränktheit einen zentralen Fokus bei der Betrachtung von Staat in seinen Wirkungen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 1.2
[3] Siehe Kapitel 2.5


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3.7 Beispiele

verfasst von Hermann Mückler


Im Buch Staat-Migration-Globalisierung (Hg: J. Dvorak u. H. Mückler; Wien 2011, Facultas Verlag) werden drei Beispiele angeführt, anhand derer exemplarisch detailliert unterschiedliche Formen früher Staatsbildung sowie die Wechselbeziehung zwischen modernen Staat und nichtsstaatlichen Strukturen erörtert werden. Es handelt sich dabei um die Industal-Kultur, den melanesischen "Big-Man" und die polynesische Ancestral Polynesian Society.


Nächstes Kapitel: 3.8 Bibliographie


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3.8 Bibliographie

verfasst von Hermann Mückler


Carneiro, Robert Leonard (1970): A Theory of the Origin of the State. In: Science, Vol. 169, 21. August 1970, S. 733–738.

Claessen, Henri J. M./ Skalník, Peter (Hg.) (1978): The Early State. Studies in Social Sciences, Vol. 32, The Hague: Mouton Publishers.

Dvorak, Johann/ Mückler, Hermann (Hg.) (2011): Staat-Migration- Globalisierung. Wien: Facultas Verlag.

Engles, Friedrich (1884): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Hottingen-Zürich: Schweizerische Genossenschaft.

Fortes, Meyer/Evans-Pritchard, Edward E. (1940): African Political Systems. Oxford: Oxford University Press.

Lewellen, Ted C. (1992): Political Anthropology: An Introduction. 2. Aufl. Westport: Bergin & Garvy.

Mair, Lucy (1962): Primitive Government. Harmondsworth: Penguin.

Oppenheimer, Franz (1996): Der Staat. Original 1907; wiederveröffentlicht in: Franz Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Band II, Politische Schriften, Berlin: Akademie Verlag, S. 309-385.

Stagl, Justin (1998): Politikethnologie. In: Fischer, Hans (Hg.): Ethnologie. Einführung und Überblick. Berlin: Dietrich Reimer.

Weggel, Oskar (1990): Indochina – Vietnam, Kambodscha, Laos. München: Beck’sche Reihe.

Wittfogel, Karl August (1977): Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. Frankfurt/Main: Ullstein.


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