Einführung in die Organisations- und Betriebsanthropologie

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Contents

Einführung in die Organisations- und Betriebsanthropologie

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser


Kapitelübersicht

1 "Organisations- und Betriebsanthropologie": Annäherungen und Abgrenzungen

1.1 Womit beschäftigt sich die Organisations- und Betriebsanthropologie?
1.1.1 Typen von Organisationen
1.1.2 Ethnographischer Zugang zu Organisationen
1.1.3 Produktdesign
1.2 Anwendungsorientierung der Organisations- und Betriebsanthropologie
1.3 Verwendete und weiterführende Literatur

2 Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie

2.1 Formative Phase in den USA
2.1.1 William Lloyd Warner (1898-1970)
2.1.1.1 Yankee City Studies (1930-1934)
2.1.1.2 Soziale Klasse bei W. L. Warner
2.1.1.3 Social Research Incorporated
2.1.2 Hawthorne Experiments
2.1.2.1 Hawthorne Experiments: Phase 1 (1924-1927)
2.1.2.2 Hawthorne Experiments: Phase 2 (1927-1930)
2.1.2.3 Hawthorne Experiments: Phase 3 (1931-1932)
2.1.2.3.1 Eigenschaften der informellen Organisation der Arbeiter
2.1.2.4 Würdigung und Kritik
2.1.3 Human Relations Movement
2.1.3.1 Pareto Circle
2.1.3.1.1 Vilfredo Pareto
2.1.3.1.2 Elton Mayo
2.1.3.1.3 Robert Merton
2.1.3.1.4 Talcott Parsons
2.1.3.1.5 Chester Barnard
2.1.3.1.6 George Homans
2.1.3.1.7 Fritz Roethlisberger
2.1.4 1940er bis Mitte der 1960er Jahre in den USA
2.1.4.1 Beispiele für Untersuchungsfelder
2.1.4.2 Theoretische Schwerpunkte
2.1.4.3 Methodische Weiterentwicklungen
2.1.5 1960er und 1970er Jahre: Einfluss der Ethikdebatte auf die Industrial Anthropology
2.1.5.1 Anlass
2.1.5.2 “Principles of Professional Responsibilities”
2.1.6 Weiterführende Literatur und Quellen
2.2 Manchester Shop Floor Studies
2.2.1 Max Gluckman und die Manchester School
2.2.1.1 Blick auf Konflikte
2.2.1.2 Fokussierender Zugang
2.2.2 Theoretischer Zugang der Manchester Shop Floor Studies
2.2.3 Erhebungsdesign
2.2.4 Ergebnisse oder der Streit um den Kontext
2.2.4.1 Tom Lupton und die Spezifika der verschiedenen Branchen
2.2.4.2 Cunnison und die durchlässigen Fabrikswände
2.2.4.3 Emmett und Morgan zu den Formen des Widerstands
2.2.4.4 Ausblicke
2.2.5 Weiterführende Literatur und Quellen
2.3 1960 bis 1980: "Es tut sich wenig" im Feld der Organisationsanthropologie
2.3.1 (neo)marxistische Kritik des Industriekapitalimus
2.3.2 Ethnographien über Berufsgruppen: "industrial ethnology" - "occupational ethnographies"
2.3.3 Verwendete und weiterführende Literatur
2.4 Anthropologie und Organisationsforschung in den 1980er Jahren
2.4.1 Migration des Kulturbegriffs in die Organisations- und Managementforschung
2.4.2 Clifford Geertz und die Organisationskulturforschung
2.4.2.1 Zum Kulturbegriff von Clifford Geertz
2.4.3 Verwendete und weiterführende Literatur
2.5 Entwicklungen und Forschungsstränge der Organisationsanthropologie ab 1980
2.5.1 Anthropology of Work Studies: Managementkritik und globale Prozesse
2.5.2 Anthropologische Forschung über Organisationskulturen
2.5.3 Border Crossing in a Global Context
2.5.4 Regionale Perspektiven auf Arbeit und Unternehmen
2.5.5 Verwendete und weiterführende Literatur

3 Ausgewähltes aus anderen Disziplinen und der Praxis

3.1 Das interdisziplinäre Feld der Organisationskulturforschung
3.1.1 Hat eine Organisation Kultur oder ist sie eine Kultur?
3.1.2 Worauf richten ForscherInnen ihren Blick, wenn sie Organisationskultur sehen?
3.1.2.1 Die Integrationsperspektive
3.1.2.2 Die Differenzierungsperspektive
3.1.2.2.1 Vertikale - horizontale - organisationsübergreifende Subkulturen
3.1.2.3 Die Fragmentierungsperspektive
3.1.3 Verwendete und weiterführende Literatur
3.2 Organisationskultur: Managementtrend der 1980er Jahre
3.3 Kulturvergleichende Managementforschung
3.3.1 Geert Hofstede: fünf Kulturdimensionen
3.3.2 Verwendete und weiterführende Literatur

4 Staatliche Organisationen und Non-Profit-Organisationen

4.1 Dienstleistungseinrichtungen und Verwaltungsorganisationen
4.1.1 Organisationen als Bürokratien
4.1.1.1 Charakteristika von Bürokratien nach Max Weber
4.1.1.2 Street-Level Bureaucracy (Lipsky 1980)
4.1.1.3 Heyman (2004) über bürokratisches Denken
4.2 Beispiel Universitäten aus organisationsanthropologischer Perspektive
4.2.1 Pierre Bourdieu: Homo Academicus
4.2.1.1 Machtarten nach Bourdieu
4.2.1.2 Hierarchien nach Bourdieu
4.2.2 Nöbauer/Zuckerhut (2002): Differenzen – Einschlüsse und Ausschlüsse in der Wissenschaft
4.2.2.1 Nöbauer/Zuckerhut (2002): Vorgehensweisen und Methoden
4.2.2.2 Nöbauer/Zuckerhut (2002): ausgewählte Ergebnisse - soziale Kategorien in der KSA
4.2.2.3 Nöbauer/Zuckerhut (2002): Ausgewählte Ergebnisse - Vergleich Physik/KSA
4.2.3 Schliesselberger/Strasser (1998): In den Fußstapfen der Pallas Athene: Mentoring an der Universität Wien
4.2.3.1 Schliesselberger/ Strasser (1998): Methoden
4.2.3.2 Schliesselberger/ Strasser (1998): ausgewählte Ergebnisse
4.2.4 Aufgabe: Universitätsgesetz 2002
4.3 Beispiel Gesundheitswesen
4.3.1 Abraham (1997) Interkulturelle Kommunikation in einem Krankenhaus
4.3.1.1 Abraham (1997): Methoden und Vorgehensweise
4.3.1.2 Abraham (1997): Ergebnisse
4.3.2 Sobo/Sadler (2002) Improving Communication and Cohesion in Health Care
4.3.2.1 Sobo/Sadler (2002): Historischer Kontext
4.3.2.2 Sobo/Sadler (2002): Projekt
4.3.2.3 Sobo/Sadler (2002): Ergebnisse
4.3.2.4 Selbstrepräsention von "Childrens"
4.4 Weiterführende Literatur und Quellen

5 Profit-Organisationen: Ausgewählte Studien

5.1 Elizabeth Dunn (2004) "Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor"
5.1.1 Dunn (2004): Das Forschungsfeld: Alima-Gerber in Rzeszów, Polen
5.1.2 Dunn (2004): Methodisches Vorgehen: "Fieldwork Is Work"
5.1.3 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 1: Dichotomisierung von Produkten und Menschen
5.1.4 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 2: Gegenstimmen aus der Produktionshalle
5.1.4.1 Zitat aus Dunn (2004): Produktion in der Division 4
5.1.5 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 3: Arbeitsplatzbewertung und Entlohnungssystem
5.1.5.1 Abbildungen aus Dunn (2004): Faktoren der Arbeitsplatzbewertung und Kriterienbeschreibung
5.2 Ailon-Souday/Kunda (2003) "The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization"
5.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Forschungsfeld und methodisches Vorgehen
5.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ergebnisse
5.2.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Forschungsnotizen
5.2.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Interviews
5.2.3 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ausgewählte Schlussfolgerungen
5.3 Parker (2000) "Organizational Culture and Identity. Unity and Divison at Work"
5.3.1 Parker (2000): Forschungsfeld Vulcan Industries und methodisches Vorgehen
5.3.2 Parker (2000): Ausgewählte Ergebnisse Vulcan Industries
5.3.3 Parker (2000): Organisationen - Einheit und Differenz
5.3.4 Parker (2000): Trennlinien sind symbolische Ressourcen
5.4 Wittel (1997) "Belegschaftskultur im Schatten der Firmenideologie"
5.4.1 Beispiele von Leitbildern verschiedener Organisationen und Lernaufgabe
5.5 Novak (1994) ’’Die Zentrale. Ethnologische Aspekte einer Unternehmenskultur"
5.5.1 Novak (1994): Inhaltliche Gliederung
5.5.2 Jordan (2003): Universelle Komponenten von Kultur und Organisationskultur
5.6 Ong (1987) "Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in Malaysia"
5.6.1 Ong (1987): Das Forschungsfeld Freie Handelszone Telok
5.6.2 Ong (1987): Industrialisierung in Malaysia
5.7 Verwendete und ausgewählte weiterführende Literatur

6 Ethnographische Feldforschung in Organisationen

6.1 Begriff "Ethnographie"
6.2 Erkenntnisgewinnung durch Feldforschung
6.2.1 Teilnahme
6.2.2 Beobachtung
6.2.2.1 Beispiel Hawthorne
6.2.3 Eingrenzung des Feldes
6.2.4 Vergleich
6.2.5 Offenheit des Forschungsprozesses
6.2.6 Methodenvielfalt
6.2.7 Selbstreflexion
6.3 Spezifika der Feldforschung in Organisationen
6.3.1 Projektentwicklung
6.3.1.1 Forschungsgenehmigung
6.3.1.2 Ethikfragen
6.3.2 Abtesten des Projektes
6.3.3 Ins Feld gehen – Studiendurchführung
6.3.3.1 Rollen im Feld: die Praktikantin
6.3.3.2 Rollen im Feld: die Professionistin
6.3.3.3 Rollen im Feld: der Forscher
6.3.4 Datenaufbereitung
6.3.5 Schriftliche Ausarbeitung / Publikation
6.4 Qualitätskriterien für "gute" Ethnographie
6.5 Weiterführende Literatur und Quellen

7. Bildquellen und Lizenzen

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1. "Organisations- und Betriebsanthropologie": Annäherungen und Abgrenzungen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
"Organisations- und Betriebsanthropologie" ist eine der möglichen Benennungen für ein breit gestreutes Feld der Kultur- und Sozialanthropologie, das sich mit modernen Organisationsformen in Marktgesellschaften beschäftigt.

Für die anthropologische Auseinandersetzung mit Wirtschaftsbetrieben jedweder Art hat sich in den USA ab 1980 der Begriff "Business Anthropology" etabliert. Dies gilt insbesondere für die anwendungsorientierten Forschungen in dem Bereich. Vor 1980 waren Begriffe wie "Industrial Anthropology" und eine Zeitlang auch "Applied Anthropology in Industry“ gebräuchlich (Baba 2006: 83).

"Anthropology of Work" wiederum beschreibt ein Forschungsfeld, das sich eher management- und kapitalismuskritisch versteht bzw. Arbeit in vielerlei Zusammenhängen - unter anderem Lohnerwerbsarbeit innerhalb moderner Organisationen - untersucht (vgl. Nash 1998; Society for the Anthropology of Work[1]).

In Großbritannien wird anstelle von "Business Anthropology" eher von "Organisational Anthropology" oder "Anthropology of Organisations" gesprochen, was auch einer etwas anderen Schwerpunktsetzung entspricht. Die US-amerikanische Anthropologin Marietta L. Baba (2006: 83) beispielsweise bezieht den Begriff "Business Anthropology" ausschließlich auf den privatwirtschaftlichen Sektor in Marktgesellschaften. Sammelbände aus Großbritannien (Wright 1994; Gellner/Hirsch 2001; Jiménez 2007) fassen unter "Anthropology of Organisations" Studien in staatlichen Organisationen, Non-Profit-Einrichtungen und privatwirtschaftlichen Betrieben zusammen, wobei Profitunternehmen nur einen sehr kleinen Teil des Gesamtspektrums ausmachen.

Im deutschsprachigen Raum hat die historisch andere Einteilung der Wissenschaftsdisziplinen in Volkskunde, Völkerkunde und Soziologie bis in die 1990er Jahre eine kultur- und sozialanthropologische Auseinandersetzung mit modernen Organisationen und Privatunternehmen behindert. Inzwischen werden auch hier zunehmend mehr Studien unter den Titeln "Industrieethnologie", "Unternehmensethnologie", "Betriebsanthropologie" oder "Ethnologie/Anthropologie der Arbeitswelt" durchgeführt (Gamst/Helmers 1991; Helmers 1993; Götz/Wittel 2000).

Trotz dieser unterschiedlichen Bezeichnungen bezieht man sich doch in historischen Analysen auf eine halbwegs einheitliche Geschichte und gemeinsame „Ahnen“ und "Ahninnen", seien dies nun bestimmte Werke oder Personen. Es fällt jedoch auf, wie stark die US-amerikanische Organisationsanthropologie europäische, inbesondere britische, Entwicklungen ignorierte.

Verweise:
[1] https://saw.americananthro.org/


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1.1 Womit beschäftigt sich die Organisations- und Betriebsanthropologie?

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Der Kulturanthropologe Thomas Wilson (1998) unterscheidet in Bezug auf die Europäische Union zwei grundsätzliche Perspektiven, die auch für die Organisations- und Betriebsanthropologie nützlich erscheinen: Eine "anthropology from above" und eine "anthropology from below".

Diese zwei Perspektiven könnten auch als Innen- und Außenperspektive auf Organisationen bezeichnet werden. Daraus ergeben sich folgende Felder:

File:Images/organthro-2 1.gif
Abbildung: Womit beschäftigt sich die OBA?

Beide Perspektiven finden sich in den vier zentralen Forschungsschwerpunkten, die John Van Maanen in der ethnographisch arbeitenden Organisationsforschung erkennt, zu der auch die Organisationsanthropologie zählt (Van Maanen 2001):

  • Der Forschungsschwerpunkt Organisationsprozesse und informelle Beziehungen stellt Fragen wie: Wie wird Arbeit strukturiert? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie wird Kontrolle ausgeübt und wie wird ihr entgegengearbeitet? Wie wird Autonomie erreicht?
  • Organisationale Identität und Veränderung: Welche symbolische Bedeutung geben die Organisationsmitglieder dem, was sie tun? Wie produzieren, reproduzieren und verändern diese symbolische Bedeutung? Welche Bedeutung geben sie radikaler Veränderung, zum Beispiel durch die Einführung neuer Technologien oder veränderter Organisationsstruktur?
  • Kontext von Organisationen: Welchen Einfluss hat das gesellschaftliche Umfeld auf das Geschehen innerhalb der Organisation? Welchen Einfluss haben Organisationen auf gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen?
  • Organisationale Moral und Konflikt: Forschungen über tatsächliche oder imaginierte Verstöße gegen die normative Ordnung, die mit Organisationen assoziiert wird. Van Maanen fasst darunter Forschungen über Konflikte und illegale Praktiken in Profit- und Non-Profit- Organisationen genauso wie Studien über illegale oder "gegenkulturelle" Organisationen wie z.B. Gangs, Drogenhandelringen oder religiösen Kulten.

Diese vier Forschungsschwerpunkte finden sich in einem der drei Gegenstandsbereiche der Business Anthropology wieder, die die Anthropologin Marietta L. Baba (2006) benennt: dem Bereich des "Organizational Behavior and Management"[1] bzw. der Organisationsanthropologie im engeren Sinn. Die Lehrveranstaltung "Einführung in die Organisations- und Betriebsanthropologie" befasst sich mit diesem Teilbereich der Business Anthropology.

Die zwei anderen Bereiche - 1) Design von Produkten[2], Dienstleistungen und Arbeitsprozessen sowie 2) Marketing und KonsumentInnenverhalten - werden im Rahmen der Lehrveranstaltung nicht behandelt und bleiben in dieser Lernunterlage daher unberücksichtigt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5
[2] Siehe Kapitel 1.1.3


1.1.1 Typen von Organisationen

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Foto: Menschen in Organisationen (© EASA-Conference Vienna, 2004)

Es gibt zahlreiche Typologien zur Einteilung von Organisationen in verschiedene Gruppen, wobei die Grenzen oft verschwimmen und nach Regionen und Staaten verschieden sein können. Diese Einteilungen kommen primär aus den anderen Sozialwissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften. In der Kultur- und Sozialanthropologie wurden in bezug auf gegenwärtige Industrie- und postindustrielle Gesellschaften keine eigenen Typologien entwickelt. Als historisch älteste und prototypische Unterscheidung gilt jene in Arbeitsorganisation und Verwaltung (Müller-Jentsch 2003: 34). Auch Verwaltungen müssen Arbeit organisieren, und Produktionsunternehmen benötigen eine Verwaltung, die regulierende und redistributive Funktionen hat. Trotzdem steht in Wirtschaftsunternehmen die Arbeitsorganisation im Vordergrund während es in einer staatlichen Verwaltungseinheit die bürokratischen Aufgaben sind.

Organisationen können auch nach der Art und Weise, wie Kontrolle über die Mitglieder ausgeübt wird unterschieden werden in:

  • Zwangsorganisationen (z.B. Gefängnisse, geschlossene Psychiatrie); Kontrollmodus ist hier physischer Zwang;
  • utilitaristische Organisationen (z.B. Unternehmen); Kontrollmodus läuft über materielle Entschädigung;
  • normative Organisationen (z.B. Kirchen, politische Parteien); Kontrollmodus ist normative Integration.

Auch bei dieser von Amitai Etzioni 1971 entwickelten Typologie gibt es Mischformen (Müller-Jentsch 2003: 29).

Organisationen lassen sich auch nach dem Zustandekommen ihrer Mitgliedschaft unterscheiden - "von unten" (z.B. Selbsthilfegruppen), "von oben" (z.B. Staatsbürgerschaft), nach den Zielsetzungen (Profit, Non- Profit) etc. Für Typologieinteressierte bietet die Einführung in die Organisationssoziologie von Müller-Jentsch (2003) verschiedenste Varianten und weiterführende Literatur.


1.1.2 Ethnographischer Zugang zu Organisationen

Verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen befassen sich mit Aspekten von modernen Organisationen, insbesondere die Wirtschaftswissenschaften, die Politikwissenschaften und die Soziologie. Jede dieser Disziplinen hat eine Vielzahl von Begriffsdefinitionen, theoretische wie empirische Modelle, Konzepte und Annäherungen an Organisationen hervorgebracht.

Die meisten neueren Kultur- und SozialanthropologInnen stehen Begriffsdefinitionen, die doch nichts anderes bewerkstelligen als Phänomene zu kategorisieren und zu essentialisieren, eher skeptisch gegenüber. Feldforschung betreibende Kultur- und SozialanthropologInnen versuchen, theoretische Modelle aus der Empirie zu entwickeln. Sie gehen daher nicht von Begriffen aus, die sie vorab definieren, sondern grenzen ein Phänomen grob ein und versuchen es dann zu "ethnographisieren" (Baumann 1999: 143ff). Das bedeutet auf die Organisations- und Betriebsanthropologie umgelegt, man geht nicht von einer Definition von Organisation aus und fragt dann, ist die konkrete Einrichtung, mit der ich mich befasse, beispielsweise ein Fußballverein, auch eine Organisation im Sinne der Definition, sondern man beschreibt und analysiert den Verein.


1.1.3 Produktdesign

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Foto: Werbung des Technischen Museums Wien: Detail (© Gertraud Seiser, 2007)

Im Rahmen der Lehrveranstaltung wird auf Studien im Feld des Produktdesigns nicht eingegangen werden. An dieser Stelle soll ein konkretes Beispiel einen Hinweis geben, wobei es dabei gehen kann.

Wenn wir einen Kopierer benützen, dann wir davon aus, dass der Startknopf immer grün und etwas größer als die anderen Knöpfe ist. Die fast schon weltweite Einheitlichkeit der grünen Start-Knöpfe bei Kopierern ist das Arbeitsergebnis der Anthropologin Lucy Suchman am Palo Alto Research Center aus einer Auftragsarbeit für Xerox 1979. Es wurden damals immer komplexere und leistungsfähigere Kopierer entwickelt. Suchman hat mittels teilnehmender Beobachtung untersucht, wie Kopierer benützt werden und festgestellt, dass komplizierte Maschinen mit vielen Möglichkeiten zwar gewünscht werden, aber schwer zu bedienen sind. Einfachheit ist ebenso wichtig wie eine Vielfalt an Möglichkeiten. Jetzt haben alle Kopierer, egal was sie sonst noch alles können, einen einfachen grünen Knopf für die schnelle Kopie zwischendurch (Jordan 2003: 3).

Der Einsatz von kultur- und sozialanthropologischen Methoden und Zugängen im Bereich von Produktdesign oder allgemeiner, dem der Mensch-Maschine- Kommunikation, wird immer wichtiger. Zunehmend mehr AnthropologInnen arbeiten in diesen Feldern (Suchman 1987; Squires/Byrne 2002; vgl. Baba 2006).


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1.2 Anwendungsorientierung der Organisations- und Betriebsanthropologie

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Durch die Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie ziehen sich sowohl anwendungsorientierte, teils "management-zentrische", als auch (gesellschafts-) kritische Forschungen. Marietta L. Baba kommentiert die Entwicklung:

During much of the 20th century, anthropologists were more or less partisans in the continuing struggle between these two classes of employees [management and workers] that coexist in business organizations. In Warner’s era, anthropologists were management centric in their views, following Mayo’s influence; Marxists held sway in the years between 1960 and 1980. [...] [A]nthropologists are no longer so polarized. [...] Thus, rather than focusing either on workers or managers and ignoring or caricaturing the other, anthropologists have tended to talk to both groups and include their voices in published work. (Baba 2006: 107)

In ihren Darstellungen der Geschichte und Entwicklungen der Organisationsanthropologie heben Ann T. Jordan (2003) und Marietta L. Baba (2006) eher die Anwendungs- und Problemlösungsorientierung, June Nash (1998) die gesellschaftskritische und politische Relevanz organisationsanthropologischer Forschung hervor. Alberto Corsín Jiménez spricht von Kritik als Aufgabe der Anthropologie und verortet die Debatten der Organisationsanthropologie innerhalb der großen Debatten der Gesamtdisziplin (2007: xxiv ff).

Die Anwendungsorientierung der US-amerikanischen Business Anthropology hängt mit der großen Anzahl von Anthropologie-AbsolventInnen zusammen. Seit 1946 haben 13.000 AnthropologInnen ihr Studium mit einem Ph.D. und 35.000 mit einem M.A. abgeschlossen (Baba 1994; Zahlen bis 2003 hochgerechnet). Die AbsolventInnenzahlen übersteigen seit 1970 auch in den USA die Anzahl der offenen Forschungs- und Lehrstellen an Universitäten und wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen (Baba 2006: 98). Der Einstieg in fachnahe Berufsfelder bzw. die Laufbahn als "practicing anthropologist" als Alternative zur akademischen Karriere liegt demnach nahe.

Marietta Baba berichtet von etwa 100 AnthropologInnen, die 1990 in den USA als "full time business practitioners" tätig waren (2006: 98). Aktuelle, verlässliche Zahlen liegen nicht vor. Ann T. Jordan bezieht sich auf einen Zeitungsartikel (Weise 1999) und meint, geschätzte 2.000 AnthropologInnen seien im Bereich der Business Anthropology aktiv (Jordan 2003: 2). Der Tätigkeitsbereich der praktizierenden Business Anthropologists ist vielfältig: Manche sind als ForscherInnen in großen Unternehmen angestellt (z.B. bei GM, IBM, Intel, Microsoft, Motorola, Xerox), andere in Geschäftsbereichen wie z.B. Marketing oder in Marktforschungs- oder Beratungsunternehmen tätig (Baba 2006: 98).

Organisiert sind die angewandten AnthropologInnen in den USA in der Society for Applied Anthropology (SfAA)[1] und der National Association for the Practice of Anthropology (NAPA)[2], in Großbritannien im Netzwerk The ASA Network of Applied Anthropologists (‘Apply’)[3].

Das Spannungsfeld zwischen dem, was sich innerhalb und außerhalb der Universitäten an Themen und Ergebnissen "verkaufen" lässt, ist bis heute nicht geklärt. Innerhalb der Universitäten wird wirtschaftsnahe Forschung oft als unethisch, zu wenig anthropologisch, zu wenig wissenschaftlich abgetan. Aus Sicht jener, die den Spagat zu den Wirtschaftswissenschaften machen oder in der Privatwirtschaft arbeiten, kommen dazu oft sehr sarkastische Kommentare:

Social anthropologists face a problem that there is nothing for them to do to earn a living but teach other people to be social anthropologists. This is not healthy. This problem seems to have arisen in large part because of the enduring primitivism of the subject. The smaller, the more exotic and the more materially empoverished the people of your study, the more prestigious was your work in academic circles; that was your reward. The punishment was that nobody outside academia cared: you had no knowledge to sell for which there was a large consumer demand. (Chapman 2001: 32)

Verweise:
[1] http://www.sfaa.net/
[2] http://www.practicinganthropology.org/
[3] https://www.theasa.org/networks/apply.phtml

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1.3 Verwendete und weiterführende Literatur

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Baba, Marietta L.

1986 Business and Industrial Anthropology: An Overview. NAPA Bulletin 2.
1994 The Fifth Subdiscipline: Anthropological Practice and the Future of Anthropology. Human Organization 53: 174- 186.
2006 Anthropology and Business. In: H. James Birx (ed.), Encyclopedia of Anthropology; pp. 83- 117. Thousand Oaks: Sage Publications

Baumann, Gerd

1999 The Multicultural Riddle. Rethinking National, Ethnic, and Religious Identities. New York; London: Routledge

Chapman, Malcolm

2001 Social Anthropology and Business Studies. Some Considerations of Method. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work; pp. 19-33. Oxford; New York: Berg

Gamst, Frederick C., and Sabine Helmers

1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit. Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25-41.

Gellner, David N., and Eric Hirsch (eds.)

2001 Inside Organizations. Anthropologists at Work. Oxford, New York: Berg

Götz, Irene, and Andreas Wittel (eds.)

2000 Arbeitskulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation. Münster; New York; München; Berlin: Waxmann

Helmers, Sabine (ed.)

1993 Ethnologie der Arbeitswelt. Beispiele aus europäischen und außereuropäischen Feldern. Bonn: Holos Verlag

Hirsch, Eric, and David N. Gellner

2001 Introduction: Ethnography of Organizations and Organizations of Ethnography. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work; pp. 1-15. Oxford; New York: Berg

Jiménez, Alberto Corsin (ed.)

2007 The Anthropology of Organisations. Aldershot; Burlington: Ashgate

Jordan, Ann T.

2003 Business Anthropology. Long Grove, Illinois: Waveland Press

Müller-Jentsch, Walther

2003 Organisations-Soziologie. Eine Einführung. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag (Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek, 1)

Sackmann, Sonja A. (ed.)

1997 Cultural Complexity in Organizations. Inherent Contrasts and Contradictions. Thousand Oaks; London; New Delhi: Sage Publications

Squires, Susan, and Bryan Byrne (eds.)

2002 Creating Breakthrough Ideas. The Collaboration of Anthropologists and Designers in the Product Development Industry. Westport, CN: Bergin and Garvey

Suchman, Lucy

1987 Plans and Situated Actions. The Problem of Human- Machine Communication. Cambridge: Cambridge University Press

Van Maanen, John

2001 Afterword: Natives ‚R’ Us. Some Notes on the Ethnography of Organizations. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work. Oxford; New York: Berg

Weise, Elizabeth

1999 Companies Learn Value of Grass Roots; Anthropologists Help Adapt Products to World’s Cultures, USA Today, 26. Mai 1999, p. 4

Wilson, Thomas M.

1998 An Anthropology of the European Union, From Above and Below. In: S. Parman (ed.), Europe in the Anthropological Imagination. Upper Saddle River: Prentice Hall

Wischmann, Maike

1999 Angewandte Ethnologie und Unternehmen. Die praxisorientierte Forschung zu Unternehmenskulturen. Lit Verlag

Wright, Susan (ed.)

1994 Anthropology of Organizations. London and New York: Routledge

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2. Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
Betriebsanthropologie/ Unternehmensanthropologie/ Organisationsanthropologie sind keineswegs neue Tätigkeitsfelder. Sie gehen bis in die formative Phase der modernen Sozial- und Kulturanthropologie Ende der 1920er Jahre zurück. Allerdings war dieser Forschungsbereich immer etwas abseits vom Mainstream des Faches und vor 1980 auf wenige, jedoch durchaus prestigeträchtige Universitäten beschränkt.

  • USA: Harvard University und University of Chicago; zentrale Person: William Lloyd Warner[1].
  • Großbritannien: Department of Social Anthropology and Sociology at Manchester University; zentrale Person: Max Gluckman[2].

Die Entwicklung der Organisationsanthropologie durchlief mehrere Phasen: Die erste Phase ist von William Lloyd Warner (Hawthorne Experimente, Human Relations Bewegung, Industrial Anthropology) geprägt; die zweite Phase von Max Gluckman (Manchester Shop Floor Studies). Der Beginn der dritten und bis heute andauernden Phase der Organisationsanthropologie wird mit etwa 1980 angesetzt. Die „Renaissance“ der Organisationsanthropologie ab 1980 hängt mit der Erweiterung des analytischen Blicks der Anthropologie und mit der Diskussion rund um „Unternehmenskultur“ genauso zusammen wie mit der pragmatischen Frage nach Möglichkeiten, anthropologisches Können auch abseits akademischer Karrieren einzusetzen.

Erste Beiträge im deutschsprachigen Raum

Im deutschsprachigen Raum hat man sich an den Völkerkundeinstituten vor 1990 wenig mit Phänomenen moderner Organisationen oder der Arbeitswelt beschäftigt. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der stärkeren Abgrenzung zwischen den Wissenschaftsdisziplinen Volkskunde, Völkerkunde und Soziologie.

Seit Ende der 1980er Jahre arbeiten auch im deutschsprachigen Raum Kultur- und SozialanthropologInnen ethnographisch in Betrieben und Organisationen. Wenn diese aus dem disziplinären Umfeld der Völkerkunde kommen, dann verorten sie sich selbst in der angloamerikanischen Tradition (z.B. Sabine Helmers, Andreas Novak[3]). Kommen sie aus dem Bereich der Volkskunde (z.B. Irene Götz, Andreas Wittel oder Heike Wieschiolek), dann stellt die volkskundliche Erforschung von Arbeit und Arbeitskulturen das theoretische Bezugsfeld dar (vgl. Götz/Wittel 2000).

Erste Beiträge befassten sich mit den Unterschieden zwischen Stammesgesellschaften und Unternehmen bzw. zwischen „Stammeskulturen“ und „Unternehmenskulturen“ (Hauschild 1988; Janata 1988; Thiel 1988). Richard Rottenburg beteiligte sich 1988 an Kurzzeitstudien in Berliner und ostdeutschen Unternehmen (Rottenburg 1991; Rottenburg/Brand/Merkens 1988; 1989). Auch Birgit Müller (1991; 1993), Rolf-Dieter Reineke (1991) und Heike Wieschiolek (1996) befassten sich mit Organisationen in Ost- und Westdeutschland im Kontext des wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses (vgl. Helmers 1993; Novak 1994).

Sabine Helmers (1990; 1993a) setzte sich mit dem Beitrag der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschungauseinander und veröffentlichte einen Sammelband unter dem Titel "Ethnologie der Arbeitswelt" (1993b), in dem u.a. ein Artikel von Irene Götz über Filialarbeiterinnen einer Großbäckerei erschien (Götz 1993). 1994 publizierte Andreas Novak mit „Die Zentrale“ seine Dissertation über ein deutsches Einzelhandelsunternehmen.

Ein früheres Ausnahmewerk, auf das häufig Bezug genommen wird und das sich selbst "Soziographie" nennt, ist die 1933 erstmals erschienene Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel.

Literatur:

Gamst, Frederick C., and Sabine Helmers

1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit. Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25- 41.

Götz, Irene

1993 Die Arbeitswelt von Filialverkäuferinnen. Aspekte der Unternehmenskultur einer Großbäckerei. In: Sabine Helmers (ed.), Ethnologie der Arbeitswelt. Beispiele aus europäischen und außereuropäischen Feldern.; pp. 69-104. Bonn: Holos Verlag

Hauschild, Thomas

1988 Unternehmenskultur und "Corporate Identity". Diskussionsbeitrag eines Ethnologen. In: Uta Brandes et al. (eds.), Unternehmenskultur und Stammeskultur. Metaphysische Aspekte des Kalküls; pp. 47-53. Darmstadt

Helmers, Sabine

1990 Theoretische und methodische Beiträge der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschung. WZB Berlin FS II: 90- 106.
1993a Beiträge der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschung. In: Meinolf Dierkes et al. (eds.), Unternehmenskultur in Theorie und Praxis; Konzepte aus Ökonomie, Psychologie und Ethnologie; pp. 147-187. Frankfurt am Main: Campus
1993b Ethnologie der Arbeitswelt. Beispiele aus europäischen und außereuropäischen Feldern. Bonn: Holos Verlag

Janata, Alfred

1988 Kult gleich Kultur? In: Uta Brandes et al. (eds.), Unternehmenskultur und Stammeskultur. Metaphysische Aspekte des Kalküls; pp. 55-61. Darmstadt

Müller, Birgit

1991 Einbruch der Marktwirtschaft in die Alltäglichkeit von zwei Betrieben in der DDR (Sozialanthropologische Arbeitspapiere. Institut für Ethnologie der FU Berlin, 37)
1993 The Wall in the Heads. East-West German Stereotypes and the Problems of Transition in Three Enterprises in East Berlin. Anthropological Journal on European Culture 2.

Novak, Andreas

1994 Die Zentrale. Ethnologische Aspekte einer Unternehmenskultur. Bonn: Holos

Reineke, Rolf-Dieter

1991 Anpassung west- und ostdeutscher Unternehmenskulturen: Eine konzeptionelle Analyse. In: G. Aßmann et al. (eds.), Deutsch-deutsche Unternehmen. Ein unternehmenskulturelles Anpassungsproblem. Stuttgart

Rottenburg, Richard

1991 "Der Sozialismus braucht den ganzen Menschen". Zum Verhältnis vertraglicher und nichtvertraglicher Beziehungen in einem VEB. Zeitschrift für Soziologie 20: 305-322.

Rottenburg, Richard, R. Brand, and H. Merkens

1988 "Mit den Augen stehlen": Lernen am Bau. Berichte aus der Arbeit des Instituts für Allgem. und Vergl. Erziehungswissenschaft, Abt. empirische Erziehungswissenschaft der FU Berlin, Nr. 5
1989 Auf dem Weg in die neue Zukunft: Zur Sozialisation der Auszubildenden in die Unternehmenskultur eines Telekommunikationsunternehmens. Berichte aus der Arbeit des Instituts für Allgem. und Vergl. Erziehungswissenschaft, Abt. empirische Erziehungswissenschaft der FU Berlin, Nr. 6

Thiel, Josef Franz

1988 Unternehmenskulturen und Stammeskulturen. In: Uta Brandes et al. (eds.), Unternehmenskultur und Stammeskultur. Metaphysische Aspekte des Kalküls; pp. 75-79. Darmstadt

Wieschiolek, Heike

1996 Handschlag und Hierarchie. Beobachtungen in einem mecklenburgischen Betrieb. In: W. Kokot and D. Dracklé (eds.), Ethnologie Europas. Grenzen, Konflikte, Identitäten; pp. 155- 178. Berlin: Reimer Verlag

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] Siehe Kapitel 2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.5


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2.1 Formative Phase in den USA

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

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Foto: Hawthorne Werke um 1910. Quelle aus: Warner, Sam Bass, Jr. The Urban Wilderness: A History of the American City. Berkeley: University of California Press, 1995. Quelle

Die 1920er und 1930er Jahre waren in den USA von riesigen interdisziplinären sozialwissenschaftlichen Projekten geprägt, die zum Großteil von privaten Stiftungen, wie der Rockefeller Foundation, finanziert wurden. Auf deren Initiative wurde 1923 das Social Science Research Council (SSRC) gegründet, um problemorientierte interdisziplinäre Forschung in den Sozialwissenschaften zu fördern (Patterson 2001: 72).

Im Rahmen dieser Großprojekte - das erste und berühmteste davon sind die Hawthorne Experiments - wurden auch AnthropologInnen in die empirische Erforschung moderner Gesellschaften einbezogen. Dies führte zu "what was perhaps the first anthropological study of industrial work" (Silverman 2005: 294).

Interdisziplinär formierte sich die Human-Relationsbewegung, die sich in Abgrenzung zum Taylorismus definierte. Diese Bewegung ging davon aus, dass nicht nur physische Arbeitsbedingungen, sondern auch die sozialen Rahmenbedingungen der Arbeit in der Fabrik Einfluss auf die Arbeitsergebnisse haben. Ausgangsort der Human-Relations Bewegung war der Pareto Circle in Harvard, der sich für ein Social Engineering of Sentiments, also für die soziale Steuerung der Gefühle durch das Management einsetzte. Auch in dieser Gruppe gehörten Anthropologen zu den Gründungsmitgliedern.

Die zentrale Figur auf Seiten der Anthropologie war in den 1930er bis 1960er Jahren William Lloyd Warner, ein sehr dynamischer Schüler von A.R. Radcliffe- Brown, der vor allem in seiner Chicagoer Zeit für die US-Business Anthropology konstitutiv war. Besonders interessant an Warner ist sein Klassenverständnis, da er Klasse nicht, wie die Marxisten, über das Eigentum an Produktionsmitteln, sondern über die Konsummuster definierte.

Warner und seine Schüler beschränkten sich nicht auf das Aktionsfeld Forschung und Lehre, sondern wollten die Sozialanthropologie vor allem als anwendungsorientierte Disziplin verstehen. Ihr Engagement für eine angewandte Anthropologie ist bis heute relevant:

  • Mitgründung der "Society for Applied Anthropology",
  • Gründung der Beratungsfirma “Social Research Incorporated”, die im Bereich der Markt- und Motivforschung tätig war.

2.1.1 William Lloyd Warner (1898-1970)

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Abbildung: "Heirat und Klasse bei Warner" aus: Warner/Lunt 1941: 94

When I went to Australia, I told my friends, Professor Robert H. Lowie and Professor Alfred Radcliffe-Brown, that my fundamental purpose in studying primitive man was to get to know modern man better; that some day I proposed to investigate (just how I did not then know) the social life of modern man with the hope of ultimately placing the researches in a larger framework of comparison which would include the other societies of the world. (Warner/Lunt 1941: 3f)

William Lloyd Warner hat bei Robert Lowie an der University of California, Berkeley studiert, als er erstmals mit Bronislaw Malinowski und Alfred R. Radcliffe-Brown auf deren Amerikareisen 1926 zusammentraf. Radcliffe-Brown hat Warner für ein Forschungsstipendium nach Australien rekrutiert, wo letzterer drei Jahre Feldforschung zu Verwandtschaft und Ökonomie bei den Murngin durchführte (Partridge/Eddy 1987: 20). 1929 kehrte er in die USA zurück, um am Department of Anthropology der Harvard University eine Instruktorenstelle anzutreten. Dort traf er auf Elton Mayo, einen langjährigen Freund von Malinowski. Mayo holte Warner 1930 in das Hawthorne Projekt[1]. Unmittelbar danach hat sich Warner der Untersuchung von modernen amerikanischen Gemeinden mit kultur- und sozialanthropologischen Methoden zugewandt. Zwischen 1931 und 1934 führte er mit einer Gruppe von 18 weiteren WissenschafterInnen, AnthropologiestudentInnen aus Harvard, Untersuchungen in Newburyport, einer Kleinstadt in Massachussetts von knapp 17.000 Einwohnern, durch, die später als die Yankee City Studies bekannt wurden. Partridge und Eddy urteilen darüber: "Warner’s study was and remains the most comprehensive of its kind to be undertaken in American society" (Partridge/Eddy 1987: 22).

1936 wechselte Warner von Harvard nach Chicago und gründete dort 1943 gemeinsam mit Burleigh Gardner das Committee on Human Relations in Industry. Dieses Komitee unterstützte eine große Zahl von anthropologischen Untersuchungen in Industriebetrieben, Dienstleistungsunternehmen und öffentlichen Einrichtungen (Whyte 1987: 160).

1946 wurde Warner selbst zum Unternehmer. Gemeinsam mit seinem Schüler Burleigh Gardner und dem Psychologen William Henry gründete er die Beratungsfirma Social Research, Incorporated (SRI). Warners Geschäftstüchtigkeit und sein vielseitiges Engagement führten zu Problemen mit der Universität. In der Institutsgeschichte firmiert er als "one of the most dynamic figures in midtwentieth-century American social science" (Stocking 2007 (1979)).

Warner definierte sich selbst immer als social anthropologist, obwohl er sich dafür interessierte, wie Institutionen und kulturelle Werte in modernen Industriegesellschaften funktionieren (Stocking 2007 (1979)).

Warner und die große Gruppe von AnthropologInnen, die er beeinflusste, leisteten insoferne Pionierarbeit, als sie die Anthropologie weg von den historischen Rekonstruktionen der Kultur von "primitive people" hin zu einer modernen Sozialwissenschaft führten, die uns selbst einschließt. Sie konzentrierten sich nicht auf die traditionelle amerikanische Anthropologie des "Four Field Approach" (Linguistik, Archäologie, physische und kulturelle Anthropologie) sondern wandten sich der Soziologie, der Sozialpsychologie und der Psychologie zu (Partridge/Eddy 1987: 24).

Internetquellen:

Warner, William Lloyd I[2]

Warner, William Lloyd II[3]

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.2
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Lloyd_Warner
[3] http://www.adb.online.anu.edu.au/biogs/A120434b.htm



2.1.1.1 Yankee City Studies (1930-1934)

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Foto: Geschichtsträchtig: Warner/Lunt an der UB Wien. Aus Schmutztitel Warner/Lunt 1941

Zwischen 1930 und 1934 hat William Lloyd Warner mit Unterstützung von 18 weiteren FeldforscherInnen Newburyport, Massachussets untersucht. Die Ergebnisse wurden in fünf Büchern, den Yankee City Series zwischen 1941 und 1959 publiziert. Warner ging es dabei ganz explizit darum, "the same techniques and viewpoints applied by them [social anthropologists] to the study of societies of simpler peoples are here subjected to empirical testing in a concrete case study in modern American society" (Warner/Lunt 1941: XIX). Auf methodischer Ebene wurde vorwiegend mit teilnehmender Beobachtung und unstrukturierten Interviews gearbeitet. Darüber hinaus sammelten die Feldforscher sämtliches quantitatives Material, dessen sie habhaft werden konnten. Ziel war die umfassende Darstellung der Sozialstruktur einer komplexen Gesellschaft. Für die Business Anthropology, wie sie heute in den USA verstanden wird, (Baba 2006, Jordan 2003) wurden folgende Ergebnisse relevant:

  • Klassenbegriff für den Bereich der Marktforschung;
  • Bedeutung der Mitgliedschaft in freiwilligen Vereinigungen (Clubs, Vereine) und in Firmen für die soziale Integration der US- AmerikanerInnen;
  • Für die Industrieanthropologie wurde besonders der Band "The Social System of a Modern Factory" (Warner/Low 1947) wichtig. Ein lang andauernder und erfolgreicher Streik in einer Schuhfabrik, der während der Feldforschungszeit stattfand, konnte detailreich auf seine Ursachen hin untersucht werden. Warner und Low zeigen, wie die Veränderung der Arbeitsprozesse in der Fabrik, nach einem Verkauf derselben an einen selten anwesenden Eigentümer im entfernten New York, aus stolzen Handwerkern Fließbandarbeiter machte. Die Identität der Arbeiter mit dem Beruf ging verloren aber auch die Loyalität gegenüber dem Management. Da das neu eingesetzte Management in der Kleinstadt keinen politischen Rückhalt hatte, war zudem die Solidarität der Bevölkerung mit dem Streik ungewöhnlich hoch (vgl. Baba 2006: 90).

Die "Yankee City Studies" sind eine sehr frühe aber keineswegs die erste Untersuchung einer US-amerikanischen Kleinstadt durch KulturanthropologInnen. Die erste Stadtstudie wurde bereits 1929 von Robert und Helen Lynd unter dem Titel "Middletown" publiziert (Goldschmidt 1950: 484).



2.1.1.2 Soziale Klasse bei W. L. Warner

Warner sieht soziale Klasse als strukturierendes Prinzip der US- amerikanischen städtischen Gesellschaft. Klasse basiert bei ihm, nicht wie in der marxistischen Tradition auf der Art, wie Menschen zu Geld kommen, sondern eher darauf, wie sie es ausgeben. Nicht die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln bestimmt die Klassenposition der Individuen, sondern neben rein ökonomischen Faktoren, die Warner durchaus anerkennt, sind die Weltsicht, Werte, Verhaltensweisen und insbesondere auch das Konsumverhalten ausschlaggebend für die Klassenzugehörigkeit.

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Foto: "Damentag im Casino Wien" (© Gertraud Seiser, 2005)

Warner und Lunt (1941: 81ff) schreiben, dass sie mit der Hypothese ins Feld gegangen wären, die grundlegende Struktur der amerikanischen Gesellschaft wäre ökonomisch determiniert und die Ökonomie bestimme letztendlich auch das Wertesystem. Unter sozialer Klasse verstehen sie "... two or more orders of people who are believed to be, and are accordingly ranked by the members of the community, in socially superior and inferior positions" (Warner/Lunt 1941: 82). Die Informanten konnten andere Personen sehr sicher einem bestimmten sozialen Rang zuordnen, wenn sie über folgende Informationen verfügten: Bildungsweg, Beruf, familiärer Hintergrund, enge Freunde, Club- und Vereinsmitgliedschaften, Besitz und Einkommen, genau so wie Umgangsformen, Sprache, Auftreten in der Öffentlichkeit und die Wohngegend.

Auf Basis dieses offenen und induktiven Zugangs "entdeckten" sie sechs soziale Klassen in Yankee City:

  • Upper-upper class: alteingesessene Familien, exklusive Clubs und Hobbies, durchgehend ethnisch weiß, kein demonstrativ verschwenderischer Umgang mit Geld;
  • Lower-upper class: neu zugezogene oder neureiche Familien, 5% ethnische Minderheiten, weiß, wie upper-upper class fast durchgängig selbstständig oder vollbeschäftigt und die Kinder gehen in Privatschulen außerhalb von Yankee City; Unterschied zu upper-upper: Kein Zutritt zu bestimmten noblen Clubs, demonstrativ verschwenderischer Umgang mit Geld;
  • Upper-middle class: zu 83% "Yankee", v.a. Geschäftsleute und höhere Beamte, Eigenheim, zu 80% vollbeschäftigt; im Unterschied zu "upper" Klassen gehen die Kinder in die lokale Highschool, Klasse mit der höchsten Bibliotheksbenützung und den meisten Zeitschriftenabos;
  • Lower-middle class: nur noch 67% "Yankee", ethnische Minderheiten, v.a. Iren, franz. Kanadier und Juden, v.a. mittlere Beamte, Facharbeiter und kleine Geschäftsleute, Arbeitslosigkeit 15%, im Gegensatz zu 1% in der upper- middle class; vorwiegend Mietwohnungen, bezahlen die Miete monatlich; Jugendliche sind berufstätig, besuchen nicht die Highschool;
  • Upper-lower class: mit 61% größter Anteil an ethnischen Minderheiten: Iren, Armenier, Italiener, Juden, Griechen, Russen und Polen, Arbeiter in Schuhfabriken und im Baugewerbe, 21% arbeitslos, gemietete Wohnungen, zahlen Miete monatlich, Jugendliche arbeiten;
  • Lower-lower class: 57% ethnische Minderheiten, alle Black Americans findet man in dieser Gruppe sowie einen Großteil der Polen und Russen; angelernte und Hilfsarbeiter in Fabriken und im Transportwesen, zahlen Miete wöchentlich, Arbeitslosigkeit bei einem Drittel, wenn Arbeit dann Teilzeit, höchster Anteil an Festnahmen, Jugendliche überwiegend arbeitslos; glauben im Gegensatz zu allen anderen Klassen nicht an die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs.

Obwohl Warners Aufspaltung der Klassen in sechs Unterteilungen nicht unwidersprochen blieb (z.B. Goldschmidt 1950, der zwei bis max. vier Klassen für ausreichend hält), so war sein Ansatz der Verknüpfung von Einkommen und Besitz, Beruf und Bildung mit Werthaltungen und Konsumpräferenzen für die damalige Zeit sehr innovativ. Die Yankee City Studies sind aus heutiger Perspektive auch als Vorläufer der Lebensstilforschung und teilweise auch von Klassenanalysen wie Pierre Bourdieus "feinen Unterschieden" (Bourdieu 1982/1979) zu sehen.

Was an Warners Klassenbegriff aber zurecht kritisiert wurde und wird, ist, dass er ahistorisch ist und gesellschaftliche und ökonomische Machtverhältnisse ignoriert.



2.1.1.3 Social Research Incorporated

Die Firma Social Resarch, Inc., (Kurzform SRI), 1946 von William Lloyd Warner gemeinsam mit seinem Studenten Burleigh Gardner und William Henry, einem klinischen Psychologen, gegründet, war "the first management consulting firm run by anthropologists and using anthropological techniques and theory to analyze problems in organizations (Jordan 2003: 12).

Besonders erfolgreich war SRI in den Bereichen Marktforschung und Motivforschung. Marktforschung bestand nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem aus Statistiken über Verkaufszahlen einerseits und demografischen Daten zur Abschätzung, wie hoch die Nachfrage sein könnte, andererseits. Werbung setzte sich nicht damit auseinander, wie neue Nachfrage stimuliert werden könnte (Easton 2001). Genau da setzte SRI mit anthropologischen Methoden an, indem Tiefenstudien zum Konsum verschiedenster Produkte, von Seifen zu soap operas, von Alkohol über Zigaretten und schnelle Autos durchgeführt wurden.

Over the next two decades SRI helped to revolutionize the field of market research, transforming its assumptions, methods, goals, and consequences in ways that quickly redirected the world of advertising and slowly, very slowly, made consumption - "the most studied single phenomenon in American life," according to Andrew Abbott, chair of sociology at Chicago - a focus of purely academic inquiry. (Easton 2001: 2)

Die zentrale Frage, der mit kulturanthropologischen und psychologischen Methoden nachgegangen wurde, war "what was then a neglected topic: why people buy stuff" (Easton 2001:2).

In Chicago wurde beispielsweise eine Studie über den "user-code" von Bier durchgeführt und herausgefunden, dass regelmäßige Biertrinker nicht dazu neigen, die high society zu imitieren. Eingefleischte Biertrinker wechseln für ein Bier nicht die Kleidung, sie benötigen nicht einmal bestimmte Trinkgläser, denn Bier marks the absence of power relations, authority, or social striving,’ says the foremost study of the subject. Beer advertisements that cater to status seekers - depicting sophisticates in elegant settings and formal attire, sipping this chilled, golden beverage while basking in the good life - evoke only hostility among beer drinkers. (Easton 2001: 1)

Im SRI suchte man nach der sozialen Bedeutung von Bier und den Verhaltensweisen von verschiedenen sozialen Klassen gegenüber diesem Getränk. Was sind die emotionalen und intuitiven Faktoren, die einzelne soziale Gruppen mit bestimmten Objekten verbinden? Aus solchen Informationen konnten die Firmen, die Untersuchungen in Auftrag gaben, nun ganz neue Werbestrategien entwickeln.

Michael Karesh, der 1995 im Rahmen seiner Masterarbeit eine Geschichte des SRI verfasst hat, weist darauf hin, dass die besondere Stärke des SRI darin bestand, informell über die Person Warner eng mit der Universität verbunden, aber formell von ihr unabhängig gewesen zu sein. Nur dadurch konnte SRI "acquire the latest conceptual and methodological tools in the social sciences and apply them to commercial ends" (Karesh 1995 zit. nach Easton 2001: 6).

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Foto: Werbung in organisationsdichtem Raum (© Gertraud Seiser, 2007)

Ein Begriff, der in der Folge aus der Marktforschung und der Werbung nicht mehr wegzudenken ist, geht ebenso auf das SRI, konkret auf Sidney Levy und Burleigh Gardner zurück: "brand image", das Image einer Marke, verstanden als Gesamtheit aller Ideen, Gefühle und Verhaltensweisen, die KonsumentInnen einem bestimmten Markenartikel gegenüber haben und die zu einer symbolischen Einheit verschmelzen.

Den Begriff des "brand image" haben Levy und Gardner nach einer Vergleichsstudie von 18 Automarken geprägt, das den Cadillac, Amerikas Traumauto der damaligen Zeit als die Luxuskarosse der Neureichen, der lower-upper class entlarvte, die einen Statusboost benötigen, weil es ihnen an der entsprechenden Herkunft fehlt (Easton 2001: 10).

Mitte der 1960er Jahre wurde es still um das SRI. Die zentralen Personen konzentrierten sich entweder ganz auf die Geschäftswelt, indem sie selbst Marketingabteilungen von Firmen übernahmen oder ganz auf die Wissenschaft. Die dominante Rolle in der Marktforschung wurde nun von den Wirtschaftswissenschaften eingenommen.

2.1.2 Hawthorne Experiments

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Foto: Autoproduktion am Fließband, Ford Company, Detroit, Michigan, 1913. Quelle

Die Hawthorne Experiments gehören zu den größten sozialwissenschaftlichen Studien, die jemals durchgeführt wurden. Durch den Einbezug eines Sozialanthropologen in der Schlussphase des Projekts gelten sie auch als Beginn der Organisations- und Betriebsanthropologie.

Begonnen hat das Projekt 1924 mit dem Versuch, die von Frederick W. Taylor 1911 postulierte "wissenschaftliche Betriebsführung" (Scientific Management) experimentell zu beweisen. Taylor plädierte für die Trennung von planender und durchführender Arbeit mit dem Ziel, die Arbeitsproduktivität zu steigern durch

a) die Vermeidung von unökonomischen Arbeitsprozessen und

b) "die Bekämpfung von Leistungszurückhaltungen der Arbeiter, der ’systematischen Bummelei’ in Taylors Worten" (Müller-Jentsch 2003: 51).

Bezüglich der durchführenden Arbeit schlug er vor, die Produktionsprozesse in möglichst kleine und vom Arbeitsablauf her effiziente Teilprozesse zu zerteilen. Die Details jeder Tätigkeit sollten zuerst untersucht, dann neu geplant und standardisiert werden. Wenn die physischen Bedingungen der Arbeit (Licht, Temperatur etc.) optimal sind, dann könne von den ArbeiterInnen die effiziente Durchführung der Tätigkeiten erwartet werden. Zusätzlich sei über entsprechende Kontrollen die "Leistungszurückhaltung" der ArbeiterInnen zu bekämpfen.

Das ist eine top-down Sicht der Organisation des industriellen Produktionssystems nach bestimmten Optimierungsvorstellungen, die Taylor klar formulierte:

Nur durch zwangsmäßige Einführung einheitlicher Arbeitsmethoden, durch zwangsmäßige Einführung der besten Arbeitsgeräte und Arbeitsbedingungen, durch zwangsmäßiges Zusammenwirken von Leitung und Arbeitern kann ein schnelleres Arbeitstempo gesichert werden. Die ’zwangsmäßige’ Einführung all dieser Dinge kann aber selbstredend nur Sache der Leitung sein. (...) Alle, die nach entsprechender Anweisung nicht nach den neuen Methoden und in schnellerem Tempo arbeiten wollen oder können, müssen für andere Arbeiten verwendet oder entlassen werden. (Taylor 1919: 86f zit. nach Müller-Jentsch 2003: 52)

Heute versteht man unter Taylorismus die Zerstückelung des Produktionsprozesses mit dem Ziel, Wissen beim Management zu konzentrieren und dadurch eine problemlose Ersetzbarkeit der Arbeitskräfte am Fließband zu ermöglichen. Die Anlernzeiten der ArbeiterInnen werden verkürzt, jede/r kennt nur noch Teilbereiche des Produktionsprozesses und ist dadurch jederzeit austauschbar.

Frederick W. Taylor forderte auch die wissenschaftliche Durchdringung der einzelnen Arbeitsprozesse und führte selbst umfangreiche Zeitstudien durch. Auf seine Anregung hin begannen viele Betriebe mit der Analyse und Rationalisierung der Produktionsprozesse und der physischen Produktionsbedingungen.

Das National Research Council (NRC) der National Academy of Sciences der USA gab ebenfalls eine entsprechende Studie in Auftrag. Das Western Electric Hawthorne Plant in Westchicago und Cicero, ein Zulieferbetrieb für die damals im rasanten Ausbau befindlichen Telefongesellschaften mit verschiedenen Standorten und über 50.000 Beschäftigten, wurde für diese Studie ausgewählt.

Man wollte herausfinden, unter welchen physischen Umweltbedingungen (Lichtverhältnissen) die ArbeiterInnen die besten Leistungen erbringen.



2.1.2.1 Hawthorne Experiments: Phase 1 (1924-1927)

Die Hawthorne Experiments waren keineswegs als sozialwissenschaftliches Vorhaben geplant. Es wurden Ingenieure des MIT (Massachussetts Institute of Technology) beauftragt, eine Serie von Experimenten durchzuführen um herauszufinden, unter welchen Lichtverhältnissen die Arbeitsleistungen in der Fabrik am besten sind. Dazu wurden z.B. zwei Gruppen von Arbeiterinnen, die in der Montage von Relais arbeiteten, in zwei gesonderten Räumen isoliert. Die eine Gruppe wurde unterschiedlichen Beleuchtungsintensitäten ausgesetzt, bei der zweiten Gruppe, der Kontrollgruppe, wurde die Beleuchtung des Arbeitsplatzes nicht verändert. Dann wurde laufend bei beiden Gruppen die Zahl der hergestellten Stücke gezählt.

This test resulted in very appreciable production increases in both groups and of almost identical magnitude. The difference in efficiency of the two groups was so small as to be less than the probable error of the values. Consequently, we were again unable to determine what definite part of the improvement in performance should be ascribed to improved illumination. (Roethlisberger/Dickson 1947: 16)
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Foto: Beleuchtung (© Gertraud Seiser, 2006)

Die Wissenschafter gingen von der Hypothese aus, dass eine bessere Beleuchtung einen höheren Arbeitsertrag bringen würde. Das Ergebnis war überraschend: Egal welche Änderung vorgenommen wurde, die Frauen reagierten mit einer Outputsteigerung. Auch der Output der Kontrollgruppe, bei der ja die Umweltbedingungen gleich geblieben sind, hat sich erhöht.

Dies stand im Widerspruch zum von Taylor prognostizierten Erfolg des "Scientific Management", das die Arbeitsleistung als "mechanische" Folge der physischen Arbeitsbedingungen ansah. Es wurde nun angenommen, dass psychologische Faktoren wichtiger sind, als die physische Arbeitsumgebung. Insbesondere wurde vermutet, dass die Erhöhung des Outputs die Folge der Aufmerksamkeit, die den Frauen durch die Forscher zuteil wurde, wäre. Dieser Einfluss der Forscher auf das Ergebnis eines Experiments aufgrund der experimentellen Bedingungen selbst wird seither "Hawthorne Effekt" genannt (Wright 1994: 6; Jordan 2003: 10; Baba 2006).

Zur genaueren Untersuchung des Phänomens wurde nun die Studie ausgeweitet.



2.1.2.2 Hawthorne Experiments: Phase 2 (1927-1930)

Relay Assembly Test Room Experiments und Mica Splitting Test Group

Das National Research Council setzte die Experimente ab 1927 in Kooperation mit der Harvard School of Business Administration unter der Leitung des Industriepsychologen Elton Mayo fort. Die Weiterführung des Projekts erfolgte unter Einbezug einer großen Gruppe von ForscherInnen aus der Firma selbst und von der Universität, finanziert durch die Rockefeller Foundation und Western Electric.

In den Relay Assembly Test Room Experiments wurden die Auswirkungen von verschiedenen sozialen Rahmenbedingungen auf die Arbeitseffizienz getestet. Die Forscher variierten die Bezahlungsweise (verschiedene Prämiensysteme), die Länge des Arbeitstages und der Arbeitswoche, die Verteilung der Ruhepausen über den Arbeitstag, und auch mit der Versorgung der ArbeiterInnen mit Essen wurde experimentiert. Die Auswirkungen auf die Arbeitseffizienz bestanden wiederum in einer leichten Erhöhung des Outputs, wobei diese auch hier nicht ursächlich einem bestimmten der getesteten Faktoren zugeordnet werden konnten.

Bei der Mica Splitting Test Group wurde nun der Stücklohn der ArbeiterInnen konstant gehalten, während alle anderen Faktoren variiert wurden. Wieder bestand das Ergebnis im ersten Jahr in einer durchgängigen etwa 15%igen Erhöhung der Arbeitsleistung, und wieder konnte dieses Ergebnis keiner bestimmten der veränderten Variablen zugeordnet werden. Die Vermutung wurde immer stärker, dass soziale Prozesse unter den ArbeiterInnen entscheidend auf die Arbeitseffizienz wirken. Eine eigens gegründete interne "Industrial Research Division" führte nun eine fabrikweite Fragebogenerhebung durch. Insgesamt wurden 21.126 ArbeiterInnen befragt, und es wurde klar: "(...) social groups in shop departments were capable of exercising very strong control over the work behavior of their individual members" (Roethlisberger/Dickson 1947: 379).

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Abbildung: Experimentanordnung "Menüplan" in Phase 2. Aus: Roethlisberger/Dickson (1947/1939): 52



2.1.2.3 Hawthorne Experiments: Phase 3 (1931-1932)

Elton Mayo, der Projektleiter, war ein enger Freund von Bronislaw Malinowski und A. R. Radcliffe-Brown. Diese haben ihm die Einbindung von Anthropologen angeraten, um über teilnehmende Beobachtung die soziale Organisation der Arbeitsgruppen zu erkunden und konkret William Lloyd Warner empfohlen. Warner hatte zu dem Zeitpunkt gerade drei Jahre Feldforschung über die Sozialstruktur der australischen Murngin hinter sich (Patterson 2001: 73f).

William Lloyd Warner hat das Konzept für das Beobachtungssetting entworfen und die Forschergruppe methodisch angeleitet und beraten (Roethlisberger/Dickson 1947: 389, FN 1).

Eine Gruppe von 14 Personen (Männer) wurde in einem Raum isoliert und von November 1931 bis Mai 1932 (teilnehmend) beobachtet. In diesem Experiment wurde getestet, wie die kollektive Arbeitsleistung der Gruppe zustande kommt. Das Abgeltungssystem, das sich aus Stundenlohn und Akkordzuschlägen zusammensetzte, war vom Management so designed, dass es den Individuen möglichst hohen Anreiz für individuelle Höchstleistungen bot.

Ergebnisse:

1. Das Management registrierte kontinuierlichen, gleich bleibenden Output.

2. Die Forscher konnten durch die lang andauernde Beobachtung zeigen, dass die Zahl der hergestellten Stücke tatsächlich täglich sehr verschieden war, aber die Arbeiter in ihren Meldungen entweder unter- oder übertrieben haben, um sie konstant zu halten. Insgesamt konnte belegt werden, dass "Each individual in the group was restricting his output" (Roethlisberger/Dickson 1947: 445). Dadurch konnte gezeigt werden:

3. Es existiert eine informelle Organisation der Arbeiter und diese steht in erheblichem Kontrast zu den formalen, vom Management vorgegebenen Regeln. Diese informelle Organisation richtet sich vor allem gegen Anreizsysteme, deren Ziel es ist, den Output kontinuierlich zu erhöhen. Die informelle Organisation der Arbeiter erfüllt eine klare Funktion: "This function could be characterized as that of resisting change" (Roethlisberger/Dickson 1947: 548).

4. Die Arbeiter teilen also eine gemeinsame Vorstellung über einen Standard-Tagesoutput. Die Forscher haben diesen Vorstellungen die Rationalität abgesprochen und sie „sentiments“, also Gefühle genannt. Über den ethnographischen Zugang konnte der erste solide empirische Beleg für "informal organization" - was wir heute berufliche Subkultur oder Gegenkultur nennen würden - erbracht werden (Baba 2006: 87). Elton Mayo, der Projektleiter und Psychologe vertrat die Interpretation, dass die Ursache für die geteilte Vorstellung der Arbeiter über einen Standard-Tagesoutput in einer psychologischen Fehlanpassung (maladjustment) begründet wäre. Seiner Ansicht nach würden die Arbeiter nicht in Übereinstimmung mit den eigenen ökonomischen Interessen handeln (Wright 1994: 7f; Diel-Khalil/Götz 1999: 29f).



2.1.2.3.1 Eigenschaften der informellen Organisation der Arbeiter

Die informelle Organisationsstruktur der ArbeiterInnen lässt sich wie folgt charakterisieren:

  • Sie ist eng mit der technisch-instrumentellen Arbeitsorganisation und mit der formellen Managementstruktur verwoben.
  • Auch die informelle Organisation entwickelt Regeln, Hierarchien und ein funktionierendes Belohnungs- und Bestrafungssystem. Roethlisberger und Dickson (1947: 511ff) nennen eine ganze Reihe von Schimpfwörtern und Spitznamen sowie von nonverbalen Handlungen, mit denen Gruppenkonformität eingefordert wird.
  • Die Hierarchie innerhalb der informellen Organisation ist von den beteiligten Personen abhängig, und die Autorität ist an persönliche Eigenschaften und nicht an formelle Rollen gebunden.
  • Sie baut auf persönlichen Freundschaften und Verwandtschaftsbeziehungen auf, die sich dem Zugriff expliziter Verhaltensanordnungen durch das Management entziehen.
  • Informelle Strukturen können nicht vollständig von der Organisationsleitung geplant, gesteuert und kontrolliert werden. Sie sind flexibler und oft auch organisationsübergreifend (Gewerkschaften).
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Abbildung: Zuneigung und Abneigung im Bank Wiring Observation Room. Aus: Roethlisberger/Dickson (1947/1939: 507)



2.1.2.4 Würdigung und Kritik

Die Hawthorne Experiments wurden 1932, als die Western Electric in Folge der Weltwirtschaftskrise in Konkurs ging, eingestellt.

Eine Zusammenfassung der Hawthorne Experiments wurde erstmals 1939 von Fritz Roethlisberger und William Dickson (Roethlisberger/Dickson 1947 (1939)) publiziert. Die Anordnung der Experimente, die Interview- und Beobachtungsmethoden, sowie die Ergebnisse wurden unter dem Titel "Management and the Worker. An Account of a Research Program Conducted by the Western Electric Company, Hawthorne Works, Chicago" detailreich dokumentiert.

Der Einsatz kultur- und sozialanthropologischer Methoden in der letzten Phase der Hawthorne Experiments führte zu wichtigen Erkenntnissen, die aus der Organisationsforschung nicht mehr weg zu denken sind (vgl.: Gamst/Helmers 1991: 33ff; Baba 2006: 86f).

Von besonderer Bedeutung ist die Entdeckung der informellen Organisation der ArbeiterInnen, die sehr unterschiedlich strukturiert sein kann, die aber in jedem Fall existiert.

Diese Entdeckung stand in starkem Kontrast zu den von Taylor geprägten Management- Theorien der damaligen Zeit. Taylor ging davon aus, dass die ökonomischen Akteure Individuen wären, die den maximalen Eigennutzen verfolgen. Dies träfe auch auf jeden Arbeiter, jede einzelne Arbeiterin zu. Das Management müsse die Belohnungsstrukturen nur so setzen, dass jede/r einzelne ArbeiterIn zur maximalen Anstrengung angeregt wird und gleichzeitig auch die langsameren KollegInnen mitzieht, dann lasse sich optimaler Gewinn für das Gesamtunternehmen erreichen. Die Beobachtungsphase im Bank Wiring Observation Room zeigte hingegen, dass die Arbeiter nicht als Individuen auf Anreize reagierten, sondern als Gruppe. Darüber hinaus hatten die Arbeiter "... developed their own informal theory of management that was based on distrust of managers, not on an interest in economic gain" (Baba 2006: 87).

Kritik an den Hawthorne-Studien gab es fallweise schon in den 1940er Jahren, massiv ab Ende der 1950er Jahre:

  • Das Handeln der Arbeiter habe sehr wohl eine Logik: eine höhere Durchschnittsleistung führt früher oder später zur Anhebung der Gesamtdurchschnittsleistung, die für das Grundgehalt erwartet wird. Akkordzuschläge setzen dann auf einem höheren Niveau an.
  • Die Studie habe somit einen top-down Approach: Die Forscher standen klar auf Seiten des Managements und hielten nur deren Zugang für rational. Die Hawthorne Experiments zielten explizit darauf ab, Mittel und Wege zu finden, um die Arbeitsleistung der ArbeiterInnen zu erhöhen (Wright 1994: 8).
  • Auf methodischer Ebene wurde der massive Einfluss von Forschern und Management auf die Datengewinnung und - Interpretation bemängelt. Erhobene Daten, die sich nicht mit den Konzepten der Forscher vereinbaren ließen, blieben in der Interpretation unberücksichtigt. Es wurden sogar zwei Arbeiterinnen, die in Phase 2 nicht kooperieren wollten, d.h. ihren Output nicht erhöhten, entlassen (Gamst/Helmers 1991: 31f; Baba 2006).

In der kultur- und sozialanthropologischen Rezeption des Bank- Wiring- Observation-Room Experiments wird immer wieder betont, dass Warner die 14 beobachteten Männer wie eine kleine Gesellschaft behandelt hat, in der jeder Aspekt des Lebens zu einem sozialen System verknüpft ist. Warner brachte damit die Methode der teilnehmenden Beobachtung und den Funktionalismus von Malinowski sowie den Strukturfunktionalismus von Radcliffe-Brown in die Organisationsforschung ein (Gamst/Helmers 1991: 28; Wright 1994: 7).

Dem wird entgegengesetzt, dass die Fabrik aber kein geschlossenes, von der Gesamtgesellschaft isolierbares Ganzes sei. Man muss der Hawthorne- Publikation "Management and the Worker" (1939/1947) allerdings zugute halten, dass die Forscher dies sehr wohl gesehen haben. In ihrer Zusammenfassung verweisen sie auf viele Fragen, die auf Basis ihrer Erhebungen nicht beantwortbar sind, weil die ArbeiterInnen nur einen Teil ihrer Lebenszeit in der Fabrik verbringen und auch ihre privaten Umstände Einfluss auf das Verhalten während der Arbeit haben. Darüber hinaus stellen Roethlisberger und Dickson mehrfach klar, dass viele Ängste und Befürchtungen, die von den ArbeiterInnen geäußert wurden, in unmittelbarem Zusammenhang mit der globalen wirtschaftlichen Situation der damaligen Zeit, insbesondere der Weltwirtschaftskrise zu sehen sind. Ein Teil der Kritik, die an den Hawthorne Experiments immer wieder geäußert wurde, ist daher durchaus unfair.

Trotz aller Kritik gelten die Hawthorne Experiments bis heute als „eine der einschneidendsten Organisationsstudien und als Geburtsstunde der Human- Relations-Bewegung“ (Diel-Khalil/Götz 1999: 28).

2.1.3 Human Relations Movement

Das Human Relations Movement (HRM) ging unmittelbar aus den Hawthorne Experiments hervor und formierte sich zuerst an der Harvard School of Business Administration. Diese Bewegung steht einerseits für eine bestimmte wissenschaftliche Ausrichtung innerhalb der Industriesoziologie, andererseits versuchte sie explizit auch Lösungen für Unternehmen und Betriebe zu erarbeiten und auf das Management von Fabriken einzuwirken. Die VertreterInnen des Human Relations Movements verstanden sich selbst als Gegenbewegung zum Taylorismus, der optimale Arbeitsergebnisse ausschließlich als Ergebnis der Verbesserung der technischen und prozessablaufbedingten Rahmenbedingungen sah. Sie plädierten für eine Verbesserung der Motivation der ArbeiterInnen über eine Verbesserung ihrer sozialen Rahmenbedingungen. Aber genau so wie der Taylorismus sah sich auch das HRM als Unterstützung des Managements und wollte diesem dazu verhelfen, die Arbeitseffizienz der ArbeiterInnen zu erhöhen. Beide hatten eine Steigerung des Outputs im Sinn (Marshall 1998: 288f).

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Foto: Hemdenfabrik. Aus: Zischka 1944: 325

Die Human Relations Bewegung war keine in sich geschlossene Schule, doch mehrere Annahmen wurden von allen geteilt:

  • Gemeinsame Basis war eine funktionalistische Gleichgewichtstheorie, die Organisationen als integrierte soziale Systeme betrachtete. Alle Teile wirken harmonisch zusammen um ein reibungslos funktionierendes Ganzes zu gewährleisten. Jedes Individuum hat seinen optimalen Platz und seine bestimmte Aufgabe in dieser funktionierenden Organisation. Auseinandersetzungen zwischen Management und ArbeiterInnen sind daher etwas Pathologisches, das das harmonische Zusammenwirken beeinträchtigt und das daher korrigiert werden muss. Die einzelnen Sozialwissenschaften können helfen heraus zu finden, was an der Interaktionsstruktur oder an einzelnen Personen dysfunktional ist und dem Management Ratschläge geben, wie das Gleichgewicht wieder erreicht werden kann. Ziel war dabei immer eine harmonische Management-ArbeiterInnen Beziehung mit dem Ergebnis einer maximalen Effizienz und Produktivität (Baba 2006: 87f).
  • Informelle Muster der Interaktion erzeugen Erwartungen und Zwänge, die nicht einfach mit Verweis auf die formale Organisationsstruktur oder dem finanziellen Belohnungssystem erklärt werden können.
  • Die Ansichten, Verhaltensweisen und Werte der ArbeiterInnen werden von diesen aus Nicht-Arbeitskontexten in die Firma mitgebracht und nehmen Einfluss auf die Weise, wie sie über sich selbst und die Organisation, in der sie beschäftigt sind, denken (Parker 2000: 32).

Im interdisziplinären Umfeld des HRM wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die zur Etablierung der neuen Subdisziplinen Industriepsychologie (Elton Mayo), Industriesoziologie (Talcott Parsons) und der Industrieanthropologie (William Lloyd Warner) beitrugen. Die Suche nach erfolgreichen Managementmethoden, um die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen und damit auch die Produktivität der ArbeiterInnen, wurde von einigen so explizit in den Vordergrund gestellt, dass die ganze Bewegung von Fachkollegen scherzhaft als "Cow Sociology" abgetan wurde, da ihre Grundannahme dem Sprichwort entspräche "Zufriedene Kühe geben die meiste Milch" (Marshall 1998: 289).

Marietta Baba weist auf die enge Verbindung der Human Relations Bewegung mit dem amerikanischen Wohlfahrtskapitalismus hin: "Not coincidentally, the Human Relations School often is associated with welfare capitalism, and with a tendency in managerial thought and action to resist unionization of the workforce" (Baba 2006: 88).

Die Vertreter der Human Relations Bewegung weisen dem gegenüber vehement darauf hin, dass die Fabriksstudien wesentlich mehr Ergebnisse brachten als eine Unterstützung des Managements, um die ArbeiterInnen glücklicher und gleichzeitig effizienter zu machen. Sie entdeckten auch die Bedeutung von Entfremdung, von Eigeninitiative und Spontanität für ArbeiterInnen wie Management und deren Implikationen für soziale Veränderungsprozesse (Arensberg 1987: 65).



2.1.3.1 Pareto Circle

In den 1930er Jahren traf sich in Harvard regelmäßig eine Gruppe von Wissenschaftern und Industriellen, um gemeinsam zu essen und anstehende Fragen zu diskutieren. Sie nannten sich „Pareto Circle Dining Club" und befassten sich ausgehend von den Hawthorne Experiments, in die einige von ihnen involviert waren, mit Problemen der sozialen Organisation der Arbeitswelt sowie mit den Möglichkeiten des Managements in die informellen Organisationsprozesse unter den ArbeiterInnen einzugreifen. Mitglieder dieser Runde waren u.a.: Elton Mayo, Talcott Parsons, Robert Merton, George Homans, Fritz Roethlisberger, Chester Barnard.

Martin Parker (2000: 32) hält den Einfluss dieser interdisziplinär zusammen gesetzten Gruppe von Wissenschaftern und Praktikern auf die Entwicklung der Organisationstheorie des 20. Jahrhunderts für substantiell.

Kultur- und SozialanthropologInnen oder VölkerkundlerInnen werden vor allem im deutschsprachigen Raum immer wieder mit Meinungen konfrontiert, die den Gegenstandsbereich der Disziplin auf nicht- industrialisierte, außer-europäische Gesellschaften beschränkt wissen wollen. Das sind Positionen, für die zutrifft, was Anthony Giddens feststellte, nämlich, dass damit dem Fach im 20. Jahrhundert der Gegenstand abhanden gekommen sei (Giddens 1995). Dem ist entgegenzuhalten, dass SozialanthropologInnen bereits in der Konsolidierungsphase der modernen Sozialwissenschaften methodisch wie theoretisch beteiligt waren. Ein Beispiel dafür ist der Pareto Circle in Harvard, von dem die Initiative für das Human Relations Movement ausging.



2.1.3.1.1 Vilfredo Pareto

Vilfredo Pareto (1848-1923): italienischer Ökonom und Sozialtheoretiker, für den das subjektive Entscheidungsverhalten der ökonomischen Akteure zentral war. Nach ihm ist das "Pareto-Prinzip" der Wohlfahrtsökonomik benannt, das auch die ethische Maxime der Human Relations Bewegung ist: Jede Handlung des Managements ist dann gut, wenn sie mindestens einer Person nützt und niemandem schadet.

Internet: Vilfredo Pareto [1]

Verweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Vilfredo_Pareto



2.1.3.1.2 Elton Mayo

Elton Mayo (1880-1949): Australier, der an der Harvard University als Leiter der Hawthorne Experiments zum Begründer der Industriepsychologie wurde. Ging, wie seine Freunde Malinowski und Radcliffe-Brown von einem funktionalistischen, harmonistischen Gesellschaftsbild aus. Mitinitiator der Human Relations Bewegung.

Internet: Elton Mayo [1]

Verweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Elton_Mayo



2.1.3.1.3 Robert Merton

Robert Merton (1910-2003): Soziologe und Begründer der Wissenschaftssoziologie, Studien zur Institutionalisierung und Professionalisierung von Wissenschaft; Zentralfigur in Bezug auf die Ausformulierung der qualitativen Methoden in der Soziologie, unter anderen auch stark von Paul Lazarsfeld beeinflusst.

Internet: Robert Merton[1]

Verweise:
[1] http://www.faculty.rsu.edu/~felwell/Theorists/Merton/



2.1.3.1.4 Talcott Parsons

Talcott Parsons (1902-1979): Primär theoretisch arbeitender Soziologe und dominante Figur der US-Soziologie der Nachkriegsjahre; hat die Ansätze Emil Durkheims und Max Webers in die USA gebracht, und strukturfunktionalistische und systemtheoretische Modelle entworfen. Einfluss auf Robert Redfield, Clifford Geertz und David Schneider.

Internet: Talcott Parsons[1]

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Talcott_Parsons



2.1.3.1.5 Chester Barnard

Chester Barnard (1886-1961): Industrieller und Manager mit starkem Interesse an vergleichender Organisationsforschung, sah Organisationen als kooperative Systeme. Dies stand in scharfem Kontrast zu vorhergehenden autoritären Zugängen und Regelsichten.

Internet: Chester Barnard [1]

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Chester_Barnard



2.1.3.1.6 George Homans

George Homans (1910-1989): Soziologe, Wirtschafts- und Verwandtschaftsethnologe, Formalist und bekannt für seine Kritik an Lévi-Strauss gemeinsam mit David Schneider; regte die Manchester Shop Floor Studies an. Sehr ungewöhnliche Karriere, schaffte es mit einem BA in englischer und amerikanischer Literatur (und dem Onkel) zum Harvard Professor für Soziologie.

Internet: Tilly, Charles. 1990. George Caspar Homans and the Rest of Us. Theory and Society. 19(3): 261-268.[1]

Verweise:
[1] https://www.jstor.org/stable/657695



2.1.3.1.7 Fritz Roethlisberger

Fritz Roethlisberger (1898-1974): Sozialwissenschafter, publizierte 1939 gemeinsam mit Dickson die Hawthorne Experiments; später an der Harvard Business School im Bereich der Managementwissenschaften tätig.

Internet: Fritz Roethlisberger[1]

Verweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Roethlisberger

2.1.4 1940er bis Mitte der 1960er Jahre in den USA

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurden nur wenige Studien in Auftrag gegeben oder durchgeführt, die der Industrieanthropologie zugeordnet werden können. Dies änderte sich mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941. Die Produktivität wurde enorm angekurbelt und neue Konflikte zwischen Arbeiterschaft und Management entstanden. Es ging nun aber nicht mehr um Erhöhung oder Sicherung des Profits einzelner Firmen, sondern um die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit (Baba 2006: 88). Eine ganze Gruppe von Industrieanthropologen, fast alle Schüler von William Lloyd Warner, wurde mit Studien beauftragt. Dazu gehören Conrad Arensberg, Elliot Chapple, Burleigh Gardner, Robert Guest, Solon Kimball, Frederick Richardson, Leonard Sayles und William Foote Whyte. Sie alle sind der Human Relations Bewegung zuzuordnen und untersuchten nun ArbeiterInnen und Management gleichermaßen, "with the goal of discovering factors and forces that could be manipulated to achieve an equilibrium state in the organizational system (that is, the elimination of conflict)" (Baba 2006: 88).

1941 wurde die „Society for Applied Anthropology“ von fast allen Schülern von Lloyd Warner, insbesondere Conrad Arensberg und Eliot Chapple gegründet. Die Gesellschaft gab die Zeitschrift "Applied Anthropology" heraus, die später in "Human Organization" umbenannt wurde (Partridge/Eddy 1978: 38f). Der Zeitpunkt der Gründung dieser Gesellschaft war kein Zufall: This stage in the development of applied anthropology started in the national crisis caused by the Great Depression and concludes in the crisis of war. The intensification of involvement in application caused by World War II is astounding. Mead (1977) estimates that over 95 percent of American anthropologists were involved with work in support of the war effort during the 1940s. (van Willigen 1986: 26)

In den 1940er und 1950er Jahren wurde daher eine Reihe von Studien über technischen Wandel, über die soziale Organisation der Arbeit in Fabriken, über Belohnungssysteme und deren Auswirkungen auf die Produktivität der ArbeiterInnen durchgeführt. Einige davon waren sehr feinkörnige und genaue Ethnographien, das ist eine Stärke der Humans Relations School.

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Foto: Western Electric Assembly Line HAWTHORNE WORKS CHICAGO August 1945 Quelle



2.1.4.1 Beispiele für Untersuchungsfelder

Von einer ersten Blütezeit der Industrial Anthropology – wie sie damals vorwiegend genannt wurde – kann in den USA zwischen 1940 und Anfang der 1960er Jahre gesprochen werden. Eine große Zahl von Studien ist insbesondere im Umfeld von Chicago und Harvard erschienen, die meisten davon von Schülern Lloyd Warners.

Beispiele für konkrete Themen von Studien aus dieser Zeit:

  • Beziehungsstrukturen zwischen leitendem Personal, KellnerInnen, KöchInnen und Gästen in alteingesessenen Restaurants in Chicago (William Foote Whyte)
  • Werkmeister bzw. Vorarbeiter als Personen, gefangen in ihrer Rolle zwischen FließbandarbeiterInnen und höherem Management (Burleigh Gardner, W.F. Whyte)
  • Technischer Wandel am Fließband bei IBM (Frederick Richardson)

An diesen Studien wurde kritisiert, dass der ökonomische, soziale und politische Kontext zuwenig berücksichtigt wurde. Technologien und Eigentumsverhältnisse wurden als Konstanten gesehen und nicht hinterfragt, genau so wenig wie die asymmetrischen Machtverhältnisse in den Fabriken.

Trotzdem sind drei wichtige Ergebnisse festzuhalten, die heute aus der Organisations- und Betriebsanthropologie nicht mehr wegzudenken sind:

  • Verfeinerung und Diversifizierung des Konzepts der informellen Organisationsstruktur;
  • Konzepte des Organisationsklimas und -Charakters, die teilweise als Vorläufer der späteren Organisationskulturansätze gesehen werden können;
  • Methodisch die teilnehmende Beobachtung, aber auch andere spezifizierte Beobachtungsverfahren und der holistische Zugang, die sich immer wieder als enorm fruchtbar erwiesen haben.



2.1.4.2 Theoretische Schwerpunkte

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Foto: Filiale einer großen Fastfoot-Kette (© Gertraud Seiser, 2007)

Auf theoretischer Ebene versuchte man Modelle zu entwickeln, die den formalen und den informellen Bereich in Organisationen verbinden. Das Konzept des Organisationsklimas und - Charakters entstand. Es schließt das Verhalten von Organisationsmitgliedern in formaler wie informaler Weise mit ein und umfasst den Führungsstil und die Weiterentwicklung der gesamten Belegschaft. Das Organisationsklima wurde dabei oft ähnlich gesehen, wie ab etwa 1980 die „Organisationskultur“.

Kulturellen Phänomenen wie z.B. den Mythen über Firmengründer, Symbolen der Identität und Zugehörigkeit aber auch der Abgrenzung im offiziellen wie im inoffiziellen Kommunikationsverhalten zwischen Management und Belegschaft wurde zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt.



2.1.4.3 Methodische Weiterentwicklungen

Alle Studien dieser Zeit beruhten auf Feldforschung mit mehr oder minder teilnehmender Beobachtung von kleinen, informellen Gruppen und von Netzwerken in großen Institutionen und Unternehmen. Die Einheiten, die für eine Feldforschung ausgewählt wurden, diversifizierten sich. Es war nicht mehr unbedingt ein einzelner Betrieb, der beforscht wurde, sondern z.B. Berufsgruppen, Statusgruppen oder mehrere kleine Familienbetriebe auf einmal. Untersucht wurden Ärzte, Ingenieure, PatientInnen, ArbeiterInnen, Management etc. Gerade die Erforschung der kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufs- und Statusgruppen und die daraus folgenden Dynamiken stellten laut Arensberg (1987: 60ff) das theoretische und empirische Potenzial der Kultur- und Sozialanthropologie unter Beweis.

Hence, social science discovered in that early anthropological fieldwork of modern culture not only some psychology of industrial morale, incentive, and productivity (or alienation and impersonalization, if you prefer) but also important dynamics of large- scale human organization. (Arensberg 1987: 65)

Auf empirischer Ebene wurden Malinowkis Feldforschungsansatz mit teilnehmender Beobachtung und holistischem Zugang zum Markenzeichen der Industrieanthropologie. Er ist das, was die meisten OrganisationsforscherInnen aus anderen Disziplinen von der Ethnologie wissen und was sie für wichtig halten (Diel- Khalil/Götz: 20ff, 34).

  • Beobachtung: Die üblichen Interviewverfahren und Fragebogenerhebungen erfassen, was über Sprechen zugänglich ist. Menschen handeln aber oft anders als sie sprechen. Sie können sich dabei dessen bewusst sein oder auch nicht – so ist z.B. aus den Interviews in den Hawthorne Experiments nicht hervorgegangen, dass die Arbeiter ihre Arbeitsergebnisse manipulieren, das konnte erst durch genaue teilnehmende Beobachtung festgestellt werden.
  • Holismus: Die klassischen qualitativen und quantitativen Methoden sind hypothesengesteuert. Sie gehen von bestimmten Annahmen aus, die sie testen wollen. In einem holistischen Ansatz ist das nicht der Fall. Die/der Forscher/in versucht alles, was ihm oder ihr auffällt zu registrieren und zu notieren. Dabei sollen keineswegs nur die spektakulären Ereignisse aufgezeichnet werden, sondern besonders auch die Alltagshandlungen. Daraus ergeben sich neue Zusammenhänge und Rückschlüsse auf die Struktur des Ganzen.

Elliot Chapple, Conrad Arensberg und andere Anthropologen dieser Zeit haben sich insbesondere auf die detaillierte und strukturierte Beobachtung spezialisiert. Die beobachteten Interaktionen wurden minutiös aufgezeichnet, und Chapple forderte, ArbeiterInnen, Manager und andere soziale Gruppen genau so zu beobachten, wie der Naturforscher das Verhalten von Tieren in freier Wildbahn (Richardson 1987: 99; Baba 2006: 89). Qualitative und quantitative Zugänge wurden kombiniert, insbesondere in der "interactional analysis" versuchte man, quantifizierbare Kriterien zur Messung von menschlichen Interaktionshandlungen zu entwickeln (Jordan 2003: 11). Baba (2006: 89) sieht darin die Vorläufer der späteren Technik der Videoanalysen von Arbeitsplatzinteraktionen. Arensberg selbst (1987: 61) sah die methodischen Innovationen von Warner, Chapple, Kimball und sich selbst als Vorläufer der späteren Netzwerkanalyse.

2.1.5 1960er und 1970er Jahre: Einfluss der Ethikdebatte auf die Industrial Anthropology

Hatte es zu Beginn der 1960er Jahre noch so ausgesehen, als würde sich die industrial anthropology als bedeutendes Teilgebiet der Anthropologie an Universitäten etablieren, so spricht Baba (2006: 90) von einem starken Rückgang, Ann Jordan (2003: 14ff) sogar von einem Schließungsprozess der Anthropologie gegenüber Unternehmen. Der wichtigste Grund für diesen Rückzug waren ethische Fragen.

Marietta Baba (2006: 90ff) nennt aber weitere Gründe für den Niedergang der industrial anthropology in den 1960er Jahren:

  • Veränderungen im akademischen Umfeld: Der wirtschaftliche Aufschwung brachte auch mehr Geld für die Forschung. Feldforschungsstipendien und Reisemittel führten zu mehr Feldforschung außerhalb der USA, und Feldforschung im eigenen Land verlor damit innerhalb des Faches an Prestige. Die von William Lloyd Warner ausgebildeten Industrieanthropologen gingen entweder ganz in die Privatwirtschaft (wie Burleigh Gardner oder Eliot Chapple) oder erhielten Professuren an Business Schools (wie Frederick Richardson, William Foote Whyte oder Leonard Sayles). Sie bildeten jedenfalls keine neuen SchülerInnen innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie aus.
  • Veränderungen in der sozialwissenschaftlichen Theorienbildung: Die Human Relationsbewegung konnte die Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft nicht mehr erklären. Mit ihrem Management-Bias und harmonistischen Modellen hatte sie keinen Zugang und keine Erklärung für die erstarkenden Gewerkschaften.

Eine Befassung mit industriellen Prozessen erfolgte ab etwa 1960 in drei neuen Feldern:

  • Marxistische und neomarxistische Kritik des Industriekapitalismus in und außerhalb der USA;
  • Ethnographien über einzelne Berufsgruppen und Beschäftigungsfelder;
  • Untersuchung der Industrialisierungsprozesse in den Ländern der Dritten Welt.

Ab Mitte der 1960er Jahre wurde die akademische Kultur- und Sozialanthropologie in den USA von einer heftigen Ethikdebatte erschüttert (vgl. Patterson 2001: 123ff). Auslöser waren das Project Camelot und das Thailand Project, die beide in unmittelbaren militärischen Zusammenhängen standen. Diese Ethikdebatte erschütterte auch deswegen die Disziplin so stark, weil alle wesentlichen FachvertreterInnen und Institute in der 1902 gegründeten American Anthropological Association (AAA) organisiert sind und die Ethikdebatte auf den jährlichen Tagungen und in den Publikationen der AAA ausgetragen wurde. 1971 verabschiedete die AAA die "Principles of Professional Responsibilities”, einen Ethik-Kodex, der gerade auf die industrial anthropology massive Auswirkungen hatte, da er Auftragsforschung mehr oder minder verunmöglichte.



2.1.5.1 Anlass

1964 schrieb das "Special Operations Research Office" (SORO) der US-Armee das Project Camelot aus. Die für die damalige Zeit unglaublich hohe Summe von 6 Mio. US Dollar sollte an sozialwissenschaftliche Forschung gehen, für Studien, deren Ziel es war, Armeeinformationen über die Wahrscheinlichkeit interner Revolutionen in Lateinamerika zu liefern. Das Projekt wurde nach dem energischen Protest Chiles zurückgestellt. Die Möglichkeit, dass sich AnthropologInnen in Geheimdienstrecherchen engagieren könnten, schockte die gesamte Profession. Die ethische Maxime, den Menschen, die man untersucht, nicht zu schaden, war damals bereits Mehrheitskonsens im Fach (van Willigen 1986: 49f).

1968 erschien ein Stellenangebot der US-Regierung in Publikationen der American Anthropological Association, in dem ein/e AnthropologIn gesucht wurde um in Vietnam die "Feindpropaganda" und die US-Gegenpropaganda zu evaluieren. Das führte zum Aufruhr in der AAA und löste eine massive Ethikdiskussion aus, vor allem als dann 1970 noch bekannt wurde, dass Anthropologen in Thailand zwischen 1967 und 1969 kriegsbezogene Feldforschungen durchgeführt haben (Jordan 2003:15; van Willigen 1986: 50f).

Die AAA setzte eine Ethikkommission ein und 1971 wurde ein sehr strikter Ethik- Kodex verabschiedet, die "Principles of Professional Responsibilities”.



2.1.5.2 “Principles of Professional Responsibilities”

Die 1971 beschlossenen “Principles of Professional Responsibilities” enthielten zwei Bestimmungen, die AnthropologInnen von Forschungen in Betrieben etwa 10 Jahre lang abhielten: “... no reports should be provided to sponsors that are not available to the general public. ... The anthropologist ... should enter into no secret agreement with the sponsor regarding the research, the results or the final report” (Jordan 2003: 15).

Egal ob eine Firma eine Studie direkt in Auftrag gibt und bezahlt, oder ob sie die Untersuchung dem/der AnthropologIn nur gestattet, sind Restriktionen darüber, was wann und in welcher Form publiziert werden darf, üblich. Eine Forschungsgenehmigung[1] wird in der Regel nur unter bestimmten Auflagen erteilt und ohne Forschungsgenehmigung ist es nicht möglich, in Organisationen Feldforschungen durchzuführen.

Mit ethischen Vorgaben, die sich gegen die Mitarbeit von AnthropologInnen in Geheimdiensten, militärischen und paramilitärischen Einheiten außerhalb der USA richteten, wurde daher auch die Forschung im privatwirtschaftlichen Sektor und öffentlichen Einrichtungen im Land selbst stark beeinträchtigt. Dieser Effekt war nicht gewollt.

Zu Beginn der 1980er Jahre wurden daher die Principles of Professional Responsibility neu debattiert und dahingehen abgemildert, dass Auftragsforschung wieder möglich wurde, sofern sie nicht mit Geheimdienstarbeit oder der Armee in Zusammenhang steht.

Inzwischen verfügen alle größeren Berufsorganisationen in der Anthropologie über ausformulierte ethische Richtlinien. Der derzeit gültige Ethik-Kodex der AAA steht unter folgendem Link zur Verfügung: Ethik-Kodex der AAA[2]

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Foto: Offener Zugang? (© Gertraud Seiser, 2007)

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 6.3.1.2
[2] http://ethics.americananthro.org/

2.1.6 Weiterführende Literatur und Quellen

Arensberg, Conrad M.

1987 Theoretical Contributions of Industrial and Development Studies. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 59-88. New York: Columbia University Press

Baba, Marietta L.

2006 Anthropology and Business. In: H. James Birx (ed.), Encyclopedia of Anthropology; pp. 83-117. Thousand Oaks: Sage Publications

Bourdieu, Pierre

1982 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Diel-Khalil, Helga, und Klaus Götz

1999 Ethnologie und Organisationsentwicklung. 2. Auflage. München: Rainer Hampp Verlag (Management-Konzepte, 3)

Easton, John

2001 Consuming Interests: The University of Chicago Magazine

Eddy, Elizabeth M., und William L. Partridge (eds.)

1987 Applied Anthropology in America. New York: Columbia University Press

Gamst, Frederick C., und Sabine Helmers

1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit: Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25-41.

Geertz, Clifford

1973 The Interpretation of Cultures: Basic Books
1987 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Giddens, Anthony

1995 Epiloque: Notes on the Future of Anthropology. In: Akbar Ahmed and Cris Shore (eds.), The Future of Anthropology; pp. 272-277. London: The Athlone Press

Goldschmidt, Walter

1950 Social Class in America - A Critical Review. American Anthropologist 52: 483-498.

Götz, Irene

2000 Unternehmensethnographie. Bemerkungen zur Debatte um Kultur(alisierung) und zur kulturwissenschaftlichen Betrachtungsperspektive. In: Irene Götz and Andreas Wittel (eds.), Arbeitkulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation; pp. 55-74. Münster; New York; München; Berlin: Waxmann

Götz, Irene, und Andreas Wittel (eds.)

2000 Arbeitkulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann

Jahoda, Marie, Paul F. Lazarsfeld, und Hans Zeisel

1975 Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Jordan, Ann T.

2003 Business Anthropology. Long Grove, Illinois: Waveland Press

Marshall, Gordon (ed.)

1998 Oxford Dictionary of Sociology. Oxford, New York: Oxford University Press

Müller-Jentsch, Walther

2003 Organisations-Soziologie. Eine Einführung. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag (Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek, 1)

Parker, Martin

2000 Organizational Culture and Identity. Unity and Division at Work. London: Sage Publications

Partridge, William L., und Elizabeth M. Eddy

1987 Introduction: The Development of Applied Anthropology in America. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 3- 55. New York: Columbia University Press

Patterson, Thomas C.

2001 A Social History of Anthropology in the United States. Oxford, New York: Berg

Petermann, Werner

2004 Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Peter Hammer Verlag

Richardson, Frederick L.W.

1987 The Elusive Nature of Cooperation and Leadership: Discovering a Primitive Process that Regulates Human Behavior. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 97-122. New York: Columbia University Press

Roethlisberger, Fritz J., und William J. Dickson

1947 Management and the Worker. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press

Silverman, Sydel

2005 The United States. In: Fredrik Barth, Andre Gingrich, Robert Parkin and Sydel Silverman (eds.), One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology; pp. 255-347. Chicago, London: University of Chicago Press

Stocking, George W. Jr.

2007 (1979) Anthropology at Chicago. Case 11: Getting to Know Modern Man. Chicago: The University of Chicago, Department of Anthropology

Taylor, Frederick Winslow

1919 Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. München; Berlin: Oldenbourg

van Willigen, John

1986 Applied Anthropology. An Introduction. South Hadley, Massachusetts: Bergin&Garvey Publishers, Inc.

Warner, Sam Bass, Jr.

1995 The Urban Wilderness: A History of the American City. Berkeley: University of California Press

Warner, W. Lloyd, und Josiah Orne Low

1947 The Social System of the Modern Factory: The Strike: A Social Analysis. New Haven: Yale University Press

Warner, W. Lloyd, und Paul S. Lunt

1941 The Social Life of a Modern Community. New Haven: Yale University Press (Yankee City Series, 1)

Whyte, William Foote

1987 Organizational Behavior Research: Changing Styles of Research and Action. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 571. New York: Columbia University Press

Wright, Susan (ed.)

1994a Anthropology of Organizations. London and New York: Routledge

1994b Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1- 31. London and New York: Routledge

Nächstes Kapitel: 2.2 Manchester Shop Floor Studies


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Vorheriges Kapitel: 2.1 Formative Phase in den USA

2.2 Manchester Shop Floor Studies

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Die Manchester Shop Floor Studies sind eine Serie von fünf Studien in englischen Fabriken, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ausgehend von Max Gluckman und der Manchester School of Social Anthropology durchgeführt wurden.

Die Manchester School entwickelte die volle teilnehmende Beobachtung in Fabriken und hat sich nicht mit ethnographischen Beschreibungen begnügt, sondern auch theoriegeleitet analysiert (Wright 1994: 10). Max Gluckman (1911-1975) und seine SchülerInnen verstanden sich bewusst als kritisch und radikal (Emmett/Morgan 1982:140). Ihr Fokus lag auf Konflikt und dem Problem der Analyse von Fallstudien in ihrem jeweiligen Kontext.

Max Gluckman hat seine Ansätze in Südafrika entwickelt und wollte sie in verschiedenen Kontexten testen. Wie William Lloyd Warner vertrat er die Auffassung, dass die Kultur- und Sozialanthropologie eine gegenwartsbezogene Disziplin ist, die sich mit aktuellen Phänomenen des ruralen wie urbanen Lebens zu befassen hat. Mit seinem Interesse für gesellschaftliche Dynamik, Widersprüche und Konflikte grenzte er sich deutlich von Malinowski und Radcliffe-Brown und deren mehr oder minder geschlossenem, harmonischem und statischem Gesellschaftsbild ab (Kuper 1996: 135ff).

Max Gluckman und die Manchester School of Social Anthropology haben viele Neuerungen in die Kultur- und Sozialanthropologie eingebracht (vgl. Evens/Handelman 2006). Hier geht es ausschließlich um jene Innovationen, die für die Organisations- und Betriebsanthropologie relevant geworden sind.

1953/54 hatte George Homans[1], Soziologie- und Anthropologieprofessor aus Harvard und Mitglied im Pareto Circle[2] in Manchester eine Gastprofessur inne. Er regte an, die Hawthorne Experiments in Großbritannien zu wiederholen und fortzuführen. Das geschah auch, aber unter theoretisch wie empirisch anderen Vorzeichen.

Der Manchester Gruppe gelang es, fünf Studien aus Mitteln des Marshall-Plans (Europäisches Wiederaufbauprogramm nach dem Zweiten Weltkrieg) finanziert zu erhalten.

Im Rahmen dieser Studien, die unter dem Titel „Manchester Shop Floor Studies“ bekannt geworden sind, wurden diverse Firmen vergleichend untersucht. Ziel war, Erklärungen für das Verhältnis von Produktionsstandards (output norms) zur informellen Gruppenstruktur zu finden (Lupton/Cunnison 1964/2007; Cunnison 1982; Emmett/Morgan 1982).

Es gab bis in die 1980er Jahre kaum Nachfolgestudien zu den Manchester Shop Floor Studies. Man hatte sich in der Anthropologie nunmehr eher den Modernisierungsprozessen in der Dritten Welt zugewandt. Ende der 1960er Jahre ging zudem der Trend weg von der Erforschung von face to face Beziehungen hin zu Weltsystemanalysen.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.3.1.6
[2] Siehe Kapitel 2.1.3.1


2.2.1 Max Gluckman und die Manchester School

Max Gluckman (1911-1975)

Max Gluckman ist 1911 in Johannesburg, Südafrika, als Sohn russisch-jüdischer Immigranten geboren. Er begann sein Sozialanthropologiestudium bei Winifred Hoernlé und Isaak Schapera an der University of the Witwatersrand. 1934 ging er nach Oxford und setzte seine Studien bei Evans-Pritchard und Radcliffe-Brown fort (Kuper 1996: 137ff). Nach seinem PhD 1936 führte er zwei Jahre lang Feldforschung im Zululand durch und baute als Direktor in den 1940er Jahren das Rhodes-Livingstone Institute in Lusaka, Zambia, zu einem erfolgreichen Forschungsinstitut aus (Kapferer 2006). 1949 wurde er auf den neuen Anthropologielehrstuhl nach Manchester berufen.

Das Department of Social Anthropology and Sociology at Manchester University wurde bereits ab Beginn der 1960er Jahre in der Fremd- und Selbstbezeichnung "Manchester School of Social Anthropology" im Sinne einer gemeinsamen theoretischen und methodologischen Ausrichtung genannt (Kempny 2006). David Mills (2006: 166) weist darauf hin, dass die Reputation von Manchester, eine theoretische Schule mit einer spezifischen Geschichte und Mythologie zu sein, nicht nur dem Charisma von Max Gluckman allein geschuldet war. Gluckman entwickelte die kollektive Reputation auf Basis eines gewissen Forschungs- und Schreibstils. Dazu gehörten:

  • Teamarbeit in der Feldforschung;
  • Reanalyse früheren ethnographischen Materials;
  • Praxis des gegenseitigen Zitierens und Diskutierens;
  • Identitätsbildung über die gemeinsamen Besuche von Manchester United (vgl. auch Barth 2005: 38).
Viewing themselves as a group of ecclectic and left-leaning marginals in an upper- middle- class academic discipline, both students and colleagues looked on Gluckman as their intellectual figurehead. (Mills 2006: 166)

Wie das Material aus den afrikanischen Feldforschungen, so wurden auch die ethnographischen Informationen aus den Manchester Shop Floor Studies zwischen 1959 (Lupton) und 1982 (Frankenberg) immer wieder auf Basis der neuesten theoretischen Entwicklungen in der Kultur- und Sozialanthropologie diskutiert und analysiert.



2.2.1.1 Blick auf Konflikte

Gesellschaften waren für Gluckman dynamische, sich verändernde, heterogene, mit Konflikten beladene Systeme. In jeder Gesellschaft existieren einander widersprechende Normen und Werte und aus diesen Widersprüchen resultieren Ambivalenzen und Konflikte. Die Struktur einer Gesellschaft erschließt man am ehesten durch die Analyse dessen, wie Menschen mit den jeder Gesellschaft inhärenten Widersprüchen umgehen, welche Mechanismen und Rituale der Konfliktlösung sie entwickeln.

Das primäre Forschungsinteresse von Max Gluckman und der Manchester School bewegte sich um die Themenfelder Krise und Veränderung. Diese Themen lagen zur damaligen Zeit keineswegs im Zentrum des anthropologischen Mainstreams (Kapferer 2006: 119). Bruce Kapferer zählt folgende Forschungsthemen der Manchester School auf:

  • Urbane und industrielle Prozesse;
  • Ethnizität und Arbeitsmigration;
  • Monetarisierung von Dörfern und die globale Kapitalexpansion;
  • Einführung neuer Macht- und Autoritätsformen während der kolonialen Herrschaft und die Widersprüche, die sich daraus ergeben;
  • Dilemmata der Modernisierung in Zentren und Peripherien;
  • Immigranten- und Siedlergemeinschaften und deren Erfindung und Rekonstruktion von Tradition u.v.a.m.;
Indeed, it was Gluckman and his associates who largely pioneered issues and themes that in many quarters these days are conceived to be vital to a reconstruction of anthropology as, through and through, the study of modernity. (Kapferer 2006: 119)

In den 1940er und 1950er Jahren hing Max Gluckman durchaus noch einem Strukturfunktionalismus Radcliffe-Brown’scher Prägung an. Er betrachtete die soziale Ordnung als organisches System, in dem die einzelnen Institutionen notwendig zur Aufrechterhaltung des Ganzen sind (Handelman 2006: 96). Gleichzeitig fokussierte er auf Krisen und Konflikte und vertrat die Meinung, dass es gerade die Konflikte wären, die eine Gesellschaft zusammen halten (Diel-Khalil/Götz 1999: 44). Obwohl Funktionalist, teilte er nicht das Gesellschaftsbild Malinowskis, der das harmonische Zusammenwirken der Institutionen betonte. Gluckmans Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel und sozialen Prozessen führte ihn zunehmend weg von einer Sicht von Gesellschaft als geschlossenes System und hin zur Wahrnehmung der Offenheit von sozialen Feldern, zu einer prozessualen Sicht von Praktiken und Ereignissen, deren Ausgang nunmehr unabsehbar ist:

I now abandon altogether the type of organic analogy for a social system with which Radcliffe-Brown worked and which led me to speak of civil war (through rituals of rebellion) as being necessary to maintain the system. Social systems are not as nearly integrated as organic systems, and the processes working within them are not as cyclical or repetitive as are those in organic systems... I think therefore much more in terms of series of social processes... These are never perfectly adjusted; and hence processes do not cancel themselves out as in organic systems. (Gluckman 1963: 38-39, zit. nach Handelman 2006: 96)

Gluckman und die Manchester School beschäftigte immer mehr die Frage, wie die soziale Ordnung aus der sozialen Praxis heraus verstanden werden könnte.



2.2.1.2 Fokussierender Zugang

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Foto: Spengler (© Gertraud Seiser, 2006)

In der Manchester School lag der Fokus nicht mehr auf der ethnographischen Untersuchung der Gesellschaft als komplexes Ganzes, sondern auf Phänomenen der Veränderung, des Kulturwandels, auf Geschichte und Konflikten.

Analysiert wurden einzelne Gesellschaftssegmente, Handlungen und Situationen. Max Gluckman gilt als Begründer der "situational analysis“, die in der Folge von der Machester Gruppe zur "extended case method" weiter entwickelt und ausgebaut wurde (Evens/Handelman 2006). Ausgangspunkt dieser neuen methodischen Richtung war Max Gluckmans "Analysis of a Social Situation in Modern Zululand" (1940/42).

Einzelne Ereignisse und Situationen, in obigem Fall die Feierlichkeiten zur Eröffnung einer neuen Brücke in Zululand, werden genau beobachtet und möglichst umfassend beschrieben. Dann wird die Abfolge der Ereignisse und Handlungen im größeren sozialen und historischen Kontext analysiert. Gluckman ging damit weg vom holistischen Anspruch Malinowskis, sondern forderte die bewusste Eingrenzung, die methodisch gezielte Fokussierung des Blicks in der Betrachtung der komplexen Realität. Nur die ethnographisch extrem sorgfältige und genaue Darstellung von Einzelfällen oder Ereignissen ermöglicht die Aufdeckung der dahinter liegenden Prinzipien der sozialen Situation. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich in jedem Einzelereignis die Strukturen der ganzen Gesellschaft spiegeln.

Wird die Eingrenzung des Forschungsfeldes nicht bewusst vorgenommen, sondern der Anspruch erhoben, „alles“ zu sehen, - was nie und nirgends möglich ist – dann erfolgt die Eingrenzung unbewusst und methodisch unsauber. Über den Einbezug des Kontextes einer Situation in die Analyse lässt sich aus Einzelfällen auf Muster oder Strukturen der Gesamtgesellschaft schließen. Wobei sich die relevanten Kontexte der Situation zum Teil erst aus der Beobachtung der Situation selbst ergeben (vgl. Devons/Gluckman 1964).

Ethnographische Feldforschung ist für Max Gluckman und die Manchester School ein Handwerk, das man nur durch lange und mühsame Praxis erlernen kann.

2.2.2 Theoretischer Zugang der Manchester Shop Floor Studies

Auf Anregung von George Homans begannen 1955 die Feldforschungen in englischen Fabriken. Als Projektleiter wurde Tom Lupton an das Departement of Social Anthropology and Sociology at Manchester University geholt, MitarbeiterInnen waren: Sheila Cunnison, Shirley Wilson, Isabel Emmett, David Morgan und Michael Walker. Lupton wurde später Leiter und Professor an der Manchester Business School.

Ausgangspunkt der Manchester Gruppe war eine intensive Lektüre der bereits vorliegenden amerikanischen Publikationen der VertreterInnen der Human Relations Bewegung.

Was in Manchester nicht geteilt wurde, das ist Elton Mayos Annahme der grundsätzlichen Interessenharmonie zwischen Arbeitern und Management. Malinowski’s Funktionalismus ist im Übrigen auch von einem harmonischen Gleichgewicht in Gesellschaften ausgegangen. Auch der psychologische Individualismus von Mayo wurde nicht weiter verfolgt. Lupton und Cunnison sahen das Verhalten der ArbeiterInnen gegenüber den Produktionsanforderungen explizit als soziales Verhalten, das sie mit fabriksinternen und externen Faktoren erklären wollten. Die Erklärungsansätze der Human Relations Bewegung, die mit Irrationalität und psychologischer Fehlanpassung argumentierten, schlossen sie explizit aus (vgl. Lupton/Cunnison 1964).

Was die Manchester Shop Floor Studies auszeichnet, ist das ständige Reflektieren der Forschungspraxis und das Hinterfragen der eigenen Prämissen:

To treat of our present problem and our data in this way had been fruitful, but we now think that it might be more useful and enlightening if we were to regard workshop social situations, and indeed all social situations, as points of articulation of several role systems. We would then look at the individuals whose behaviour and relationships define our situations, as bearers of values and expectations typical of such systems. To see things this way would be to avoid the stress on productive roles, and make it possible to analyse the process fully by which certain types of social situation stress certain kinds of role behaviour. Thus the problem to be studied would be couched in terms of the situational relationship of elements within the social context, rather than with performance in an abstracted role system. (Lupton/Cunnison 1964: 128)

Dieses Nicht-in-einer-bestimmten-Position-Verharren bis jemand Neuer von außen kommt und einen widerlegt, ist ein deutlicher Unterschied zu den Studien aus der Human Relations Bewegung.


2.2.3 Erhebungsdesign

Mit dem Geld aus dem Marshall Plan sollten fünf verschiedene Firmen nach dem selben Erhebungsdesign untersucht werden. Es waren dies:

  • Wye’s : Moderne Fabrik zur Herstellung von wasserfester Bekleidung; hauptsächlich Frauen beschäftigt (Tom Lupton)
  • Jay’s: Herstellung von Industrietransformatoren; hauptsächlich Männer beschäftigt (Tom Lupton)
  • Dee’s: Traditionelle Manufaktur zur Herstellung von wasserfester Bekleidung; sowohl Frauen als auch Männer beschäftigt (Sheila Cunnison)
  • Kay’s: Schneidereibetrieb; sowohl Männer als auch Frauen beschäftigt (Sheila Cunnison)
  • Avalco: Ventilmontagebetrieb; ausschließlich Frauen beschäftigt (Shirley Wilson)

In den fünf Studien haben alle ForscherInnen mindestens sechs Monate pro Fabrik Vollzeit gearbeitet, und zwar als „normale“ MitarbeiterInnen an den Fließbändern, Nähmaschinen etc. Dieses Vorgehen haben sie „open participant observation“ genannt, „offen“ deshalb, weil die ArbeitskollegInnen davon informiert waren, dass sie eine Studie machen und welche Ziele damit verfolgt werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Hawthorne, weil dort die Forscher nicht mitgearbeitet, nicht teilgenommen, sondern nur beobachtet haben (Cunnison 1982: 96).

Die Vorgangsweise, fünf Fabriken mit demselben Erhebungsdesign zu untersuchen, bot die Möglichkeit von expliziten Vergleichen.

In einer zweiten Phase der Manchester Shop Floor Studies wurden in den 1960er Jahren die Citroen-Werke aus drei verschiedenen Perspektiven untersucht: Isabel Emmett beforschte die Manager, David Morgan die Montagehalle und Michael Walker die Maschinenhalle (Emmett/Morgan 1982).

Der Manchester Gruppe ging es darum, auch die konkrete Arbeit und die Sprache der Leute zu erlernen und ihre Vorstellungen zu ergründen und zu verstehen. Ihr Feldforschungstagebuch mit den Aufzeichnungen des Beobachteten und Gehörten schrieben sie abends nach der Fabriksarbeit. Wichtig war dabei, von einem Ereignis sowohl das selbst Beobachtete zu beschreiben, als auch möglichst viele Erzählversionen zu sammeln, aufzuzeichnen und alle miteinander zu vergleichen (Emmett/Morgan 1982: 141).

Ziel war, nicht nur teilzunehmen, sondern "Insider" zu werden. "Outsider" blieben sie aber nicht nur durch die abendlichen Notizen, sondern auch durch ihr theoretisches Verständnis von Gesellschaft. Wie in den berühmten Seminaren der Manchester School of Anthropology laufend praktiziert, wurde jedes ethnographische Detail, jedes Ereignis, jeder Streitfall in der Fabrik von der Forschergruppe diskutiert und zu den vorhandenen theoretischen Modellen in Bezug gesetzt (Emmett/Morgan 1982: 161). Die laufende theoretische Diskussion erhält die Distanz aufrecht, die für Wissenschaft notwendig ist, während auf empirischer Ebene ein möglichst vollständiges Eintauchen in die untersuchte Gruppe gefordert wurde (Diel-Khalil/Götz 1999: 47ff). Daraus ergab sich das Spannungsverhältnis zwischen Teilnahme und Beobachtung, aus dem anthropologische Erkenntnisse gewonnen werden können:

(...) out of this tension between the two perspectives of an insider and an outsider, as participant and observer, anthropological analysis commences through the discovery of ’problems’. These are not a priori hypotheses. They arise from the interaction between the anthropologist’s wider understanding of social organization and the perspectives of workers learned in the field. (Wright 1994: 11)
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Foto: Strumpfkettelei. Aus: Zischka 1944: 274; (© Dr.Wolff & Tritschler)


2.2.4 Ergebnisse oder der Streit um den Kontext

Die erste Serie der Manchester Shop Floor Studies führte zu einem stark von den Hawthorne Experiments abweichenden Ergebnis. Die Männer bei Jay’s praktizierten ebenfalls eine bewusste Begrenzung des Outputs. Tom Lupton sah dies keineswegs als irrationale Handlung, denn aus einer "Insiderperspektive", sprich Arbeiterperspektive, ist es eine logische und nachvollziehbare Strategie, das Arbeitsleben aktiv mit zu gestalten. Die Arbeiterinnen bei Wye’s hingegen haben keine solidarischen Strukturen zur Steuerung ihres Outputs und damit zur Mitgestaltung ihres Arbeitslebens erkennen lassen.

Cunnison untersuchte eine Firma, in der weibliche Arbeitsgruppen um einen Tisch versammelt verschiedene Aufgaben wahrnehmen. Die einzelnen Arbeiterinnen kümmern sich nicht um steten gemeinsamen Arbeitsfluss, sondern zeigen "militanten Individualismus". In Cunnisons Vergleichsbetrieb (Dee’s) schienen sich die Arbeiterinnen individuell an die Outputanforderungen des Managements anzupassen, bis sie angesichts einer Krise plötzlich kollektiv handelten.

In jeder der fünf Fabriken zeigte sich eine ganze Reihe von Arten informeller Organisation unter den ArbeiterInnen und unterschiedliche Beziehungen zum Management. Das Spektrum reichte von totaler Anpassung an die Managementvorgaben bis zur versuchten kollektiven Steuerung des Outputs gegen die Vorgaben der Firmenleitung.

Daraus ergab sich nun das Problem, mit welchen theoretischen Modellen und Ansätzen diese Unterschiede erklärt werden können.

Dazu griffen die ForscherInnen auf ein Konzept Gluckmans zurück, das dieser 1940 entwickelt hatte: Eine konkrete soziale Interaktion, ein Ereignis, lasse sich aus dem historischen Gesamtsetting, aus dem Kontext, in dem dieses eingebettet ist, erklären.

Die Manchester ForscherInnen nahmen nun die Werkshalle als analytisch zentrale Situation her, auf die sie fokussierten, aber was ist der dazu gehörige soziale Kontext? Dieser relevante Kontext wurde in den einzelnen Studien ganz unterschiedlich gesehen.



2.2.4.1 Tom Lupton und die Spezifika der verschiedenen Branchen

Als erstes zog Tom Lupton die ökonomische und organisatorische Struktur der verschiedenen Industriezweige zur Erklärung heran. Einige Branchen sind hochkapitalisiert und technisiert mit geringer Bedeutung der Arbeitskosten. Auf Grund der Kostenintensität der technischen Anlagen haben sich die Betriebe spezialisiert, es gibt wenig Konkurrenz, man ergänzt sich und die Produktpreisgestaltung weist monopolartige Züge auf. Die Tätigkeiten sind stark spezialisiert und es handelt sich um qualifizierte Arbeit. In solchen Berufsfeldern sind die ArbeiterInnen in wesentlich höherem Ausmaß gewerkschaftlich organisiert (Lupton/Cunnison 1964).

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Foto: Herstellung von Zellstoff. Aus: Zischka 1944: 154; (© Dr.Wolff & Tritschler)

Andere Industriezweige zeigen gegenteilige Strukturen: Hier ist die Arbeit zentraler Kostenfaktor und schlägt sich in der Preiskonkurrenz zwischen Betrieben mit ähnlichen Produktpaletten nieder. Die ArbeiterInnen selbst benötigen nur wenige Fähigkeiten, sie sind schlecht bezahlt und rasch ersetzbar. Nach Lupton sei eine Kontrolle über den Output durch die ArbeiterInnen eher in den hochtechnisierten Betrieben möglich. In arbeitsintensiven Bereichen unter der Bedingung eines Überangebots an verfügbaren Arbeitskräften, die keine Ausbildung benötigen und starker Preiskonkurrenz zwischen Betrieben bestehe stärkere Unterwerfung unter Managementnormen. Luptons These hat den ethnographischen Test nicht bestanden. Emmett und Morgan (1982: 144) haben in einer Fabrik gearbeitet, in der alle Bereiche gleichermaßen durchkapitalisiert sind und trotzdem wurden in verschiedenen Werkshallen unterschiedliche Arbeitsstile, Solidarität wie Konkurrenz, entwickelt.



2.2.4.2 Cunnison und die durchlässigen Fabrikswände

Ein besonderes Spezifikum der Manchester School bestand darin, eigenes und fremdes ethnographisches Material immer wieder neu auf verschiedene Theorien hin zu analysieren. Diese "reanalysis" (Evens/Handelman 2006: 162) wurde auch mit dem ethnographischen Material der Fabriksstudien gemacht. Der zweite Ansatz bestand dann darin, die unterschiedlichen Verhaltensmuster zwischen ArbeiterInnen und Management in den untersuchten Fabriken im Kontext der britischen Klassengesellschaft zu analysieren. Dazu wurde auf Gluckmans Konzepte über Konflikt zurückgegriffen.

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Foto: Friedhof in einer Pendlergemeinde (© Gertraud Seiser, 2006)

Die VertreterInnen der Manchester School glaubten aber auch nicht an einen unüberbrückbaren Klassenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital, sondern gingen von einem ungleichen System aus, in dem es sehr wohl Verknüpfungen ("cross cutting ties“), Paradoxien und unvorhergesehene Allianzen gäbe. Diese würden sowohl das System als auch die diesem System inhärenten Konflikte über die Zeit hinweg aufrecht erhalten. Cunnison (1982) spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen Stilen der Anpassung (accommodation).

Als nächstes sieht sie den Arbeitsplatz als einen Ort, an dem sich auch die Strukturen der nicht arbeitsbezogenen sozialen Einbettung der dort arbeitenden Personen äußern.

Die Fabrik sei kein geschlossenes System, die Produktion sei nur ein Bereich, in dem die/der ArbeiterIn eine Rolle einnimmt. Genauso wichtig seien die sozialen Rollen in der Gemeinschaft, die Geschlechterrollen in der Familie, Alter und Ethnizität. Susan Wright schrieb darüber 1994: "This model of ever-inclusive multiple roles from overlapping social structures was somewhat unwieldy“ (Wright 1994: 13). Aus heutiger Perspektive lassen sich Cunnisons Ansätze als frühe Differenzansätze sehen, wie sie in den letzten Jahren boomen und fast schon Konsens der Jahrtausendwende sind.

Wichtiges Ergebnis von Cunnisons Analysen: Verschiedene Verhaltensweisen der Arbeiterinnen in den Fabriken gegenüber dem Management lassen sich mit aus den Familien importierten Geschlechterrollen erklären. Das Verhalten der männlichen Arbeiter aber nicht. Cunnison wurde später besonders von der feministischen Forschung und den Gender Studies aufgegriffen.



2.2.4.3 Emmett und Morgan zu den Formen des Widerstands

Emmett und Morgan kritisieren an den publizierten Manchester Shop Floor Studies von Lupton und Cunnison, dass diese zwar Marx und die marxistische Analyse von sozialer Klasse nicht sonderlich erwähnen, aber trotzdem von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den "inescapable fact of a conflict of interest between employers and employed" (1982: 146) ausgehen. Sie halten es für gleichermaßen naiv, von einer Interessenharmonie unter den Arbeitern auszugehen, wie von einem ständig präsenten und bewussten Klassenkampf. Die Widersprüche sind viel komplexer, die alltägliche, unmittelbare Auseinandersetzung wird nicht zwischen Arbeiter und Management geführt, sondern zwischen Arbeitern und Vorarbeitern einerseits, Vorarbeitern und Managern andererseits.

Emmett und Morgan (1982) argumentieren, das Verhältnis Arbeiter zu Management wäre nicht von offenem Klassenkampf geprägt, sondern von alltäglichen und vielfältigen, ständigen Handlungen der Auseinandersetzungen und des Widerstands. Dazu würden auch Verhaltensweisen wie Singen und Schweigen, Kartenspielen in der Pause und ein Überziehen der Pause, Krankenstände sowie am Abend mit dem Vorarbeiter Bier trinken gehen, gehören. Auch das Aufhängen von Pin-Ups sehen sie als Strategien der Arbeiter, die Arbeitsumgebung menschlicher zu machen (Emmett/Morgan 1982: 153f). Nur wenn man Widerstand so umfassend sieht, ist es möglich, Streiks an Orten zu verstehen, die keine gewerkschaftlich akzeptierten Formen des Klassenkampfs praktizieren.

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Foto: Ganz kleine Formen des Widerstands (© Gertraud Seiser, 1998)
We argue that, if such acts are not seen as part of a class struggle, investigators, and workers, run the risk of categorising as non- militant, without class consciousness, workers who, when the time is right for them, will indeed know how to act in solidarity. (Emmett/Morgan 1982: 154)

Diese Position, die Hervorhebung der vielen kleinen Formen des Widerstands, entsprach dem damaligen Zeitgeist. Obwohl Emmett und Morgan James Scott nicht erwähnen, so ist es doch ziemlich unwahrscheinlich, dass sie dessen bereits 1976 erschienenes "Domination and the Art of Resistence" nicht gekannt haben, da es auf sehr ähnliche Weise die vielfältigen Widerstandsformen von Kleinbauern reflektiert. Da ihre Feldforschungen im Rahmen der Manchester Shop Floor Studies vor 1982 nicht publiziert wurden, lässt sich nicht abschätzen, ob sie nicht doch schon vor Scott zu ähnlichen Ergebnissen gelangt sind.



2.2.4.4 Ausblicke

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Foto: Angehende EthnologInnen auf der Suche nach Strukturen (© Gertraud Seiser, Slowakeiexkursion 2006)
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Foto: Strukturen 1 (© Gertraud Seiser, Slowakeiexkursion 2006)
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Foto: Strukturen 2 (© Gertraud Seiser, Slowakeiexkursion 2006)

Die Suche nach dem Kontext am Arbeitsplatz zeigte, dass die Idee, die Sozialstruktur einer Gesellschaft ließe sich über face to face Kontakte zwischen Menschen in verschiedenen Rollen am Arbeitsplatz erklären, ihre Grenzen hat. Gegen Ende der Manchester Shop Floor Studies trat daher die Suche nach der Sozialstruktur der einzelnen Betriebe in den Hintergrund.

Eine neue Frage tauchte auf: Wie gehen Menschen mit ideologischen Konzepten um. Interessant schien nun, welche Bedeutungen ArbeiterInnen aus ihrer Außenwelt in die Fabrik importieren und wie diese Bedeutungen in den produktiven Prozess integriert werden. Dazu wurden Konzepte wie Goffman’s „semi-permeable membrane“ herangezogen. Nicht alle Aspekte eines Individuums sind am Arbeitsplatz relevant, manche bleiben außen vor, andere werden durch die Fabrik transformiert. Die Wände der Fabrikshalle werden als halbdurchlässige Membran interpretiert, an der die Selektion und Transformation der Bedeutungen und Rollen stattfindet (Emmett/Morgan 1982: 155ff).

In Manchester ging man also

  • weg vom Harvard-Konzept der Fabrik als geschlossenes System Richtung Einbindung des weiteren gesellschaftlichen Kontexts;
  • weg von der Vorstellung der Human Relations Bewegung, dass das "natürliche" Verhalten zwischen Arbeiterschaft und Management "spontane Kooperation" wäre, die nur durch den Mangel an Kommunikation gestört würde;
  • weg von Konzeptualisierung von Fabrik und Gesellschaft als made up of structures hin zur Analyse der Art und Weise, wie Menschen auf Basis des ihnen verfügbaren kulturellen Repertoires aus einer bestimmten Situation Sinn machen, ihr Bedeutungen verleihen;
  • weg von der Vorstellung, dass die Fabrik von nur einer gesellschaftlichen Spaltung geprägt wäre und zwar der zwischen Arbeit und Kapital, und hin zur Anerkennung weiterer Spaltungen, wie jene durch Ethnizität und Geschlecht.
Lupton, Cunnison and (above all, perhaps) Wilson were, long before it became fashionable, and long before ist vital importance became clear, concerned with class, gender and race on the shop floor. (Frankenberg 1982: 26)
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Foto: Strukturen 3 (© Gertraud Seiser, Slowakeiexkursion 2006)


2.2.5 Weiterführende Literatur und Quellen

Barth, Fredrik

2005 Britain and the Commonwealth. In: Fredrik Barth, Andre Gingrich, Robert Parkin and Sydel Silverman (eds.), One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology; pp. 1-57. Chicago, London: University of Chicago Press

Cunnison, Sheila

1982 The Manchester factory studies, the social context, bureaucratic organisation, sexual divisions and their influence on patterns of accommodation between workers and management. In: Ronald Frankenberg (ed.), Custom and Conflict in British Society; pp. 94-139. Manchester: Manchester University Press

Devons, Ely, and Max Gluckman

1964 Conclusion: Modes and Consequences of Limiting a Field of Study. In: Max Gluckman (ed.), Closed Systems and Open Minds: The Limits of Naïvety in Social Anthropology; pp. 158- 261. New Brunswick; London: AldineTransaction

Diel-Khalil, Helga, and Klaus Götz

1999 Ethnologie und Organisationsentwicklung. 2. Auflage. München: Rainer Hampp Verlag (Management-Konzepte, 3)

Emmett, Isabel, and D.H.J. Morgan

1982 Max Gluckman and the Manchester shop-floor ethnographies. In: Ronald Frankenberg (ed.), Custom and Conflict in British Society; pp. 140-165. Manchester: Manchester University Press

Evens, T.M.S., and Don Handelman (eds.)

2006a The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology. New York; Oxford: Berghahn Books
2006b Preface: Historicizing the Extended-Case Method. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 159- 164. New York; Oxford: Berghahn Books

Frankenberg, Ronald (ed.)

1982a Custom and Conflict in British Society. Manchester: Manchester University Press
1982b Introduction: A social anthropology for Britain? In: Ronald Frankenberg (ed.), Custom and Conflict in British Society; pp. 1-35. Manchester: Manchester University Press

Gluckman, Max (ed.)

1964 Closed Systems and Open Minds: The Limits of Naïvety in Social Anthropology. New Brunswick; London: AldineTransaction

Handelman, Don

2006 The Extended Case: Interactional Foundations and Prospective Dimensions. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 94-117. New York; Oxford: Berghahn Books

Kapferer, Bruce

2006 Situations, Crisis, and the Anthropology of the Concrete: The Contribution of Max Gluckman. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 118-155. New York; Oxford: Berghahn Books

Kempny, Marian

2006 History of the Manchester ’School’ and the Extended-Case Method. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 180-201. New York; Oxford: Berghahn Books

Kuper, Adam

1996 Anthropologists and Anthropology. The Modern British School. London; New York: Routledge

Lupton, Tom, and Sheila Cunnison

1964 Workshop Behaviour. In: Max Gluckman (ed.), Closed Systems and Open Minds: The Limits of Naïvety in Social Anthropology; pp. 103-128. New Brunswick; London: AldineTransaction

Mills, David

2006 Made in Manchester? Methods and Myths in Disciplinary History. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 165-179. New York; Oxford: Berghahn Books

Scott, James

1976 Domination and the Arts of Resistence. New Haven: Yale University Press

Wright, Susan

1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1-31. London and New York: Routledge

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2.3 1960 bis 1980: "Es tut sich wenig" im Feld der Organisationsanthropologie

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

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Foto: Damon Mill, New England, 2007 (© Muffet, Lizenz: CC BY-NC. Quelle)

KommentatorInnen der Geschichte der Organisationsanthropologie sind sich einig: Zwischen 1960 und 1980 tut sich in diesem Feld wenig. Sie sprechen von einer Zeit des Rückzugs (Schwartzman 1993), von einem Schließungsprozess der Anthropologie gegenüber Unternehmen (Jordan 2003: 14ff) und einer geringen Weiterentwicklung der Organisationsanthropologie (Gamst/Helmers 1991). Wright weist auf die fehlenden Nachfolgeprojekte zu den Manchester Shop Floor Studies[1] in Großbritannien hin (1994: 14). Baba berichtet vom Rückgang der anwendungsorientierten Forschung in den USA (2006: 90ff). Womit hängt dies zusammen?[2]

Doch selbst in dieser Zeit forschten AnthropologInnen über Organisationen - wenn auch in anderer Weise als bislang. Immer mehr AnthropologInnen begannen sich für formale Organisationen und Institutionen und den Einfluss, den sie auf das alltägliche Leben ausübten, zu interessieren. Ethnographien wurden in den Kontexten von Nationalstaat und Weltsystem[3] analysiert. Die Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse in verschiedenen Ländern waren im Blick. Laura Nader formulierte die Aufgabe der Anthropologie jener Zeit in ihrem Artikel "Up the Anthropologist. Perspectives Gained from Studying Up" (1969) in Form einer rhetorischen Frage:

What if, in reinventing anthropology, anthropologists were to study the colonizers, rather than die colonized, the culture of power rather than the culture of the powerless, the culture of affluence rather than the culture of poverty? (Nader 1969: 289, zitiert nach Schwartzman 1993: 27)

Zurück zur Organisationsanthropologie: In den Jahren 1960 bis 1980 zeigt sie keine einheitliche Ausrichtung. Baba spricht vielmehr von einer Fragmentierung der "Industrial Anthropology" in drei verschiedene Forschungsbereiche:

1)marxistische und neomarxistische Kritik des Industriekapitalismus in und außerhalb der USA,

2) Ethnographien über Berufsgruppen und

3) Forschung über Industrialisierungsprozesse in Ländern der Dritten Welt (Baba 2006: 92ff).

Marietta L. Baba führt drei weitere Autoren an, die in den Jahren 1960 bis 1980 publizierten und für die Organisationsanthropologie relevant sind. Baba ordnet sie jedoch keiner der oben genannten Forschungsfelder zu: Thomas Rohlen, Edward T. Hall und Alvin Wolfe (Baba 2006: 96f).

Thomas Rohlen (1974) legte eine klassische Ethnographie über eine japanische Bank und die dort praktizierten Managementmethoden vor.

Edward T. Hall (1959) entwickelte eine Kulturtheorie, in der er von "Primärinformationssystemen" (primary message systems) ausging, die in der menschlichen Biologie begründet liegen und durch Kommunikation erweitert und vergrößert werden. Halls Theorie wurde vom Feld der internationalen Managementwissenschaften sowie der interkulturellen Kommunikation aufgegriffen.

Alvin Wolfe (1977) hatte im Zuge seiner Forschungen über den Bergbau im Kongo ein komplexes, globales Netzwerk aus reichen Einzelpersonen, Familien, Unternehmen und Staaten entdeckt, die den Rohstoffabbau kontrollierten. Nationalstaatliche Interessen spielten in diesem Netzwerk keine Rolle. Wolfe entwickelte aus dieser Beobachtung die Idee supranationaler Netzwerke. Er argumentierte, dass Nationalstaaten nicht die höchste bzw. komplexeste Form soziokultureller Integration seien und stellte sich damit gegen namhafte AnthropologInnen wie z.B. Marshall Sahlins. Aus heutiger Sicht erscheinen Wolfes Beobachtungen, wie Baba schreibt, "still [..] fresh and relevant to theorizing on globalization processes" (Baba 2006: 97).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
[2] Siehe Kapitel 2.1.5
[3] Siehe Kapitel 5.3.4.1 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie

2.3.1 (neo)marxistische Kritik des Industriekapitalimus

Ein Fokus der anthropologischen Auseinandersetzung mit Unternehmen und Arbeit ab 1960 lag darauf, die Auswirkungen des Industriekapitalismus kritisch zu untersuchen. AnthropologInnen nutzten dazu marxistische[1] und neomarxistische[2] Theorie (Baba 2006; vgl. auch Jiménez 2007: xxvi; Schwartzman 1993; Wright 1994). Sie interessierten sich

  • für die Strategien des Managements, die Produktivität der ArbeiterInnen zu steigern. Automation und neue Technologien führten zur Beschleunigung der Produktionsprozesse, zum "de- skilling" der ArbeiterInnen und dazu, dass die ArbeiterInnen die Kontrolle über den Arbeitsprozess verloren, die sie vor dem 2. Weltkrieg in vielen Produktionsbetrieben noch hatten.
  • für die Strategien der ArbeiterInnen, mit diesen Arbeitsbedingungen umzugehen. Gemeinsam mit qualitativen SoziologInnen zeigten AnthropologInnen außerdem "the informal working knowledge that people use on the job, both to get the job done and to protect their jobs, skills, and earnings" (Baba 2006: 93).
  • für Frauen als Arbeiterinnen und Gender im Arbeitskontext,
  • für die Zusammenhänge zwischen Unternehmen, dem Nationalstaat und der globalen Ökonomie (Baba 2006: 92ff).

Helen Schwartzman (1993) und June Nash (1998) ordnen diese kritischen Studien des Industriekapitalismus den Anfängen der "Anthropology of Work Studies" zu. Die hier beschriebenen Forschungsinteressen wurden auch nach 1980 weiter verfolgt[3].

Beispiele:

  • die Forschungen von Louise Lamphere über die Textilindustrie in New England, USA (Lamphere 1979, 1986, 1987)
  • die Studie von June Nash über ein multinationales Unternehmen der Petrochemie (Nash 1979)

Websites:

Louise Lamphere[4]

June Nash[5]

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
[2] Siehe Kapitel 5 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
[3] Siehe Kapitel 2.5.1
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Louise_Lamphere
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/June_Nash

2.3.2 Ethnographien über Berufsgruppen: "industrial ethnology" - "occupational ethnographies"

Ein Zweig der "Anthropology of Work" widmet sich der ethnographischen Untersuchung von Berufsgruppen. Frederick C. Gamst und Herbert Applebaum sind zentrale VertreterInnen dieser "industrial ethnology" (Gamst 1977) bzw. der "occupational ethnographies" (Schwartzman 1993).

Analog zum klassischen Kulturkonzept der Anthropologie werden sog. Arbeitskulturen ("work cultures") beschrieben. Herbert Applebaum bspw. befasst sich in seinem Buch "Royal Blue" (1981) mit der Kultur von Bauarbeitern. Er versteht unter Arbeitskultur "a system of knowledge, techniques, attitudes, and behaviors appropriate to the performance of work and social interactions in a particular work setting" (Baba 2006: 94).

Frederick C. Gamst (1977) fordert, die Ethnographien sollen den "natives’ point of view" vorstellen und von der emischen Perspektive ausgehend die weitere soziale Realität untersuchen. In seiner Studie "The Hoghead" (1980) beschreibt Gamst die us-amerikanische Eisenbahn daher zunächst aus der Sicht eines Lokomotivführers. Er beginnt mit einer Beschreibung dessen Tagesarbeit und beleuchtet letztlich die Entwicklung der Bahngesellschaften in den USA. Gamst sieht sich in der Tradition von W. Lloyd Warner stehend und ordnet sich einer "Neo Human Relations Perspektive" zu (Schwartzman 1993: 31; Gamst/Helmers 1991: 36).

John Van Maanen, ein ethnographisch arbeitender Soziologe, forschte über die Polizei (1973; 1977; 1978; 1982). 1979 schrieb er in einem Artikel über sein Forschungsinteresse: Sein Ziel sei es, "to uncover and explicate the ways in which people in particular work settings come to understand, account for, take action, and otherwise manage their day-to- day situation" (Van Maanen 1979: 540, zitiert nach Schwartzman 1993: 31).

Weitere Beispiele sind die Ethnographien von William Pilcher über Hafenarbeiter (1972) und von James P. Spradley und Brenda Mann über Kellnerinnen (1975). Wieder andere Studien befassten sich mit HolzfällerInnen, StahlarbeiterInnen, MinenarbeiterInnen, KellnerInnen, StripteasetänzerInnen, BuchhalterInnen, MedizinstudentInnen, SozialarbeiterInnen, usw. - d.h. nicht nur mit HandwerkerInnen und (Fach-) ArbeiterInnen, sondern auch mit Angestellten und akademischen Berufen (Baba 2006: 95).

Die bisher genannten AutorInnen und Studien beziehen sich alle auf die USA. Britische Beiträge finden sich in dem von Sandra Wallman herausgegebenen Sammelband "The Social Anthropology of Work" (1979). Darin schreiben u.a. Gerald Mars über HafenarbeiterInnen in Israel, Leonard Mars über HafenarbeiterInnen in Kanada, Morris Fred über SozialarbeiterInnen in Schweden und Mary Searle-Chatterjee über StraßenkehrerInnen in Benares.


2.3.3 Verwendete und weiterführende Literatur

Applebaum, Herbert A.

1981 Royal Blue: The Culture of Construction Workers. New York: Holt, Rinehart and Winston

Baba, Marietta L.

2006 Anthropology and Business. In: James Birx (ed.), Encyclopedia of Anthropology; pp. 83- 117. Thousand Oaks: Sage

Fred, Morris

1979 How Sweden Works. A Case from the Bureaucracy. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 159- 176. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Gamst, Frederick C.

1977 An Integrating View on the Underlying Premises of an Industrial Ethnology in the United States and Canada. Anthropological Quarterly 50: 1-8.
1980 The Hoghead. An Industrial Ethnology of the Locomotive Engineer. New York: Holt, Rinehart, and Winston

Gamst, Frederick C., and Sabine Helmers

1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit: Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25-41.

Hall, Edward T.

1959 The Silent Language. New York: Doubleday

Holzberg, Carol S., and Maureen J. Giovannini

1981 Anthropology and Industry. Reappraisal and New Directions. Annual Review of Anthropology 10: 317-60.

Jiménez, Alberto Corsín

2007 The Anthropology of Organisations. Ashgate

Jordan, Ann T.

2003 Business Anthropology. Prospect Heights: Waveland Press

Lamphere, Louise

1979 Fighting the Piece Rate System. New Dimensions of an Old Struggle in the Apparal Industry. In: Andrew Zimbalist (ed.), Case Studies in the Labor Process; pp. 257- 276. New York: Monthly Review Press
1986 From Working Daughters to Working Mothers. Production and Reproduction in an Industrial Community. American Ethnologist 13: 118-130.
1987 From Working Daughters to Working Mothers. Immigrant Women in a New England Industrial Community. Ithaca, NY: Cornell University Press

Mars, Gerald

1979a The Stigma Cycle. Values and Politics in a Dockland Union. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 135- 158. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Mars, Leonard

1979b Learning the Ropes. The Politics of Dockland. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 43- 68. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Nader, Laura

1972 Up the Anthropologist. Perspectives Gained from Studying Up. In: Dell Hymes (ed.), Reinventing Anthropology. New York: Random House

Nash, June

1979 The Anthropology of the Multinational Corporation. In: G. Huizer and B. Mannheim (eds.), The Politics of Anthropology. From Colonialism and Sexism to a View From Below; pp. 421- 446. Paris: Mouton
1998 Twenty Years of the Anthropology of Work. Changes in the State of the World and the State of the Arts. Anthropology of Work Review 18: 1-6.

Rohlen, Thomas

1974 For Harmony and Strength. Berkeley: University of California Press

Schwartzman, Helen B.

1993 Ethnography in Organizations. London: Sage

Searle-Chatterjee, Mary

1979 The Polluted Identity of Work. A Study of Benares Sweepers. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 269- 286. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Spradley, James P., and Brenda Mann

1975 The Cocktail Waitress. Woman’s Work in a Man’s World. New York: Wiley

Van Maanen, John

1978 On Watching the Watchers. In: Peter K. Manning and John Van Maanen (eds.), Policing. A View From the Street; pp. 309-250. Santa Monica, CA: Goodyear Press
1979 The Fact of Fiction in Organizational Ethnography. Administrative Science Quarterly 24: 539- 550.

Van Maanen, John, and Stephen R. Barley

1982 Occupational Communities, TR-10 (Technical Report). Cambridge, MA: Sloan School of Management, MIT

Wallman, Sandra (ed.)

1979 The Social Anthropology of Work. London: Academic Press

Wright, Susan

1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1-31. London and New York: Routledge

Wolfe, Alvin

1977 The Supranational Organization of Production. An Evolutionary Perspective. Current Anthropology 19: 615-635.

Nächstes Kapitel: 2.4 Anthropologie und Organisationsforschung in den 1980er Jahren


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2.4 Anthropologie und Organisationsforschung in den 1980er Jahren

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Die Beziehung zwischen der Kultur- und Sozialanthropologie einerseits und der Organisationsforschung andererseits verstärkte sich in den 1980er Jahren aus zwei Richtungen. Dies gilt insbesondere für die Organisationsforschung in den USA, die im Unterschied zu Europa ein eigenständiges Feld darstellt. In Europa ist die Organisationsforschung stärker an andere Disziplinen gekoppelt, wie bspw. die Organisationspsychologie, Organisationssoziologie und eben auch die Organisationsanthropologie.

1. OrganisationsforscherInnen griffen anthropologische Konzepte, Theorien und Methoden auf und setzten sie in ihren Studien um.

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Abbildung: Anthropologische Konzepte, Theorien und Methoden in der OBA
  • Es ist insbesondere der Kultur-Begriff, der von der Organisationsforschung ab den späten 1970er Jahren übernommen wird und zwar in mehrfacher Form: als nationale Kultur und als Organisationskultur bzw. Corporate Culture (mehr dazu[1]).
  • Besonders häufig bezogen sich OrganisationsforscherInnen auf Clifford Geertz[2]. Auch die Ideen von z.B. Florence Kluckhohn (Kluckhohn/Strodtbeck 1961) und der Culture and Personality School (Ruth Benedict, Margret Mead) wurden aufgenommen (z.B. von Edgar Schein und Geert Hofstede[3]). (Die populäre Literatur zum Thema Organisationskultur[4] bezog sich insbesondere auf die funktionalistische Tradition der Anthropologie: Radcliffe-Brown und Malinowski.)
  • Neben "Kultur" fanden auch andere anthropologische Konzepte wie "Ritual", "Mythen" und "Tabu" Eingang in die Organisationsforschung. Für einen kritischen Kommentar vgl. Helmers (1993).
  • Innerhalb der Organisationsforschung wurde zu der Zeit der generelle sozialwissenschaftliche Trend zu qualitativen Forschungsmethoden, und damit auch zu ethnographischer Forschung, spürbar (vgl. Bate 1997; Czarniawska-Joerges 1992; Martin et al. 2006; Van Maanen 1998; 2001)

2. Sozial- und KulturanthropologInnen meldeten sich dazu kritisch zu Wort. Sie begannen auch selbst wieder stärker in und über Organisationen zu forschen (mehr dazu[5]).

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Abbildung: Kultur- und sozialanthropologische Kritik an der OBA

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4.1
[2] Siehe Kapitel 2.4.2
[3] Siehe Kapitel 3.3.1
[4] Siehe Kapitel 3.2
[5] Siehe Kapitel 2.5


2.4.1 Migration des Kulturbegriffs in die Organisations- und Managementforschung

In den 1970/1980er-Jahren "wanderte" mit dem Kulturbegriff einer der zentralen Begriffe der Kultur- und Sozialanthropologie in die Organisations- und Managementforschung. Innerhalb kürzester Zeit wurde in vier verschiedenen Zusammenhängen von Kultur gesprochen (Sackmann et al. 1997; Wright 1994; vgl. Gamst/Helmers 1991; Schwartzman 1993).

  • Die kulturvergleichende Managementforschung[1] begann sich damit zu beschäftigen, wie global agierende Unternehmen geführt werden sollten, deren Produktions- oder Vertriebsstätten in jeweils unterschiedlichen lokalen Nationalkulturen angesiedelt waren. Die Forschung zielte darauf ab, Kulturvergleiche durchzuführen. Die Ergebnisse sollten anwendungsorientiert das Management globaler Unternehmen unterstützen.
  • Eine zweiter Themenbereich bezog sich auf interkulturelle Aspekte des Managements und die Zusammenarbeit ethnischer Gruppen in Organisationen.

In diesen ersten beiden Zusammenhängen wird Kultur als "organisations-externe Variable" verstanden: "... culture is viewed as residing in geographic, linguistic or ethnic groups" (Schwartzman 1993: 34). In den nächsten zwei Zusammenhängen wird Kultur innerhalb von Organisationen verortet (mehr[2] zum Thema "Kultur als externe/interne Variable"; Smircich 1983).

  • Organisationskultur bzw. Unternehmenskultur wurde auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen verwendet. Sie stand zum Einen für die informellen Konzepte, Einstellungen und Werte einer Organisation. Forschung über Organisationskultur schloss so auf gewisse Weise an die Forschungen über den informellen Bereich von Organisationen an.
  • Zum Anderen bezeichnete "Corporate Culture" jene Richtlinien, Werte und Verhaltensweisen, die vom Management eines Unternehmens formuliert und in Form eines Leitbildes[3] o.ä. installiert. Susan Wright (1994) unterscheidet zwei Ausprägungen dieser formalen Corporate Culture: In manchen Fällen standardisieren Unternehmen mit Verweis auf "ihre Corporate Culture" Arbeitsabläufe und Verhaltensweisen. In anderen Fällen propagiert die Unternehmensführung eine "flexible Unternehmenskultur", flache Hierarchien und die Delegation von Verantwortung "nach unten" (zu dieser Form der Politisierung von Kultur im Management vgl. auch Wright 1998).

... zur Weiterentwicklung der interdisziplinären Organisationskulturforschung (hier[4]) und zur anthropologischen Organisationskulturforschung (hier[5])

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.3
[2] Siehe Kapitel 3.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.4.1
[4] Siehe Kapitel 3.1
[5] Siehe Kapitel 2.5.2


2.4.2 Clifford Geertz und die Organisationskulturforschung

Der Kulturanthropologe Clifford Geertz (1926-2006) gilt als wesentlicher Vertreter der symbolischen Anthropologie und als Begründer der interpretativen Anthropologie (Silverman 2005: 320f; Petermann 2004: 998ff). Sein wohl am meisten zitierte Aufsatz ist "Thick Description: Towards an Interpretative Theory of Culture", der 1973 in der Aufsatzsammlung "The Interpretation of Cultures" erschien.

In der Organisations- und Betriebsanthropologie wird Geertz selten aufgegriffen. Anders in der interdisziplinären Organisationskulturforschung. Dort finden sich häufig Verweise auf Geertz, inbesondere auf unten angeführtes Zitat. Sehr häufig wird Geertz in dieser Literatur jedoch stark vereinfacht rezipiert (Götz 2000: 59; Wright 1994: 23).

Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen. (Geertz 1987: 9)

Der Beitrag von Clifford Geertz zur Anthropologie geht über seinen semiotischen Kulturbegriff (mehr[1]) hinaus. Von Geertz gingen auch wesentliche Impulse zur Reflexion der ethnologischen Tätigkeit bzw. der Rolle des Forschers/der Forscherin im Forschungsprozess aus, die die Anthropologie im Kontext der Entkolonialisierung ab den 1960er Jahren beschäftigte (Ethikdebatte[2]). Im Zuge dieser Diskussion waren auch zunehmend Vorbehalte gegenüber den naturwissenschaftlich orientierten erkenntnistheoretischen Prämissen und den ethnographischen Forschungsmethoden laut geworden.

Dichte Beschreibung

Die Vorstellung, eine Ethnologin/ein Ethnologe könne die Realität abbilden, ist laut Geertz Illusion. Er oder sie kann nur Vermutungen über die Bedeutungszusammenhänge anstellen, nach denen die Menschen ihr Leben ordnen. Geertz hält Interpretationen dennoch keineswegs für beliebig. Er stellt hohe Ansprüche an die Ethnographie und plädiert für teilnehmende Beobachtung mit möglichst genauer Erfassung des Beobachteten, das dann mit seinen Bedeutungszusammenhängen in Beziehung gesetzt werden soll ("dichte Beschreibung").

Dies bedeutet jedoch nicht, dass man einzelne Verhaltensweisen direkt und kausal kulturellen Teilelementen zuordnen kann. Kultur muss vielmehr als ein Rahmen verstanden werden, als Kontext, der diesen Verhaltensweisen Sinn verleiht. Das Aufdecken dieser Kulturmuster oder Vorstellungsstrukturen habe im Gespräch mit den Beforschten zu erfolgen.

Um diese Vorstellungsstrukturen aufzudecken, bedarf es nach Geertz der Entwicklung eines analytischen Begriffsystems, das es ermöglicht, die typischen Eigenschaften einer Kultur im Vergleich zu einer anderen herauszuarbeiten. Bedeutungszusammenhänge zu erkennen erfolgt einerseits über Verstehen, andererseits über das “in- wissenschaftliche Begriffe-Fassen”.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4.2.1
[2] Siehe Kapitel 2.1.5



2.4.2.1 Zum Kulturbegriff von Clifford Geertz

“Kultur” ist für Clifford Geertz ein zentrales Konzept, für das er verschiedene Metaphern gefunden hat. Hier eine Auswahl dieser Metaphern:

  • Kultur als Text, als Gebilde von Symbolen, aus denen Bedeutungszusammenhänge geschlossen werden können: Was der Ethnograph/die Ethnographin macht, ist der Versuch, diesen Text, der fremdartig, unvollständig und voller Widersprüche ist, zu lesen. Der Ethnologe ist also ein Interpret, dessen Ziel es ist, Sinnzusammenhänge aus Symbolen, d.h. Handlungs- und Verhaltensweisen deutend zu verstehen (Diel-Khalil/Götz 1999: 59).
  • Kultur als ein von Menschen selbst gesponnenes Gewebe von Bedeutungen: Es geht um das Deuten und Verstehen, nicht um eine Suche nach universellen Regeln und Gesetzen. Das System von Bedeutungen ist nicht widerspruchsfrei und nicht harmonisch. Dominante Elemente einer Kultur und solche, die diesen entgegenwirken: beide sind Aspekte eines Systems. Die Bedeutungen stehen zueinander in Beziehung und sind Teil eines komplexen Gefüges.
  • Kultur als öffentliches Dokument: Kultur ist extrinsisch, also außerhalb der einzelnen Individuen lokalisiert. Sie spielt sich im Handeln, im konkreten Ablauf des sozialen Diskurses zwischen Menschen ab (im Unterschied zur kognitiven Anthropologie, für die sich Kultur im Kopf abspielt). Kultur ist eine Informationsquelle wie ein Bauplan. Kulturmuster liefern Programme, die das Verhalten der Menschen steuern - aber nicht eindeutig, sondern wie ein grober Rahmen, der verschiedene Handlungsmöglichkeiten bietet.
  • Es gibt für Geertz nichts “typisch Menschliches” unabhängig von Kultur, und zwar nicht von Kultur allgemein, sondern in ihrer ganz konkreten spezifischen Form. D.h., wenn eine Ethnographin forscht, dann tritt sie den Beforschten nicht als objektive Wissenschafterin gegenüber, sondern mit dem gesamten Gepäck ihrer Geschichte und Kulturmuster. Die Ethnographin kann nur versuchen, durch den Wust der eigenen Deutungsmuster hindurch andere deutend zu verstehen.


2.4.3 Verwendete und weiterführende Literatur

Bate, S. Paul

1997 Whatever Happened to Organizational Anthropology? A Review of the Field of Organizational Ethnography and Anthropological Studies. Human Relations 50: 1147- 1175.

Czarniawska-Joerges, Barbara

1992 Preface. Towards an Anthropology of Complex Organizations. International Studies of Management and Organization 19: 3-15.

Diel-Khalil, Helga, and Klaus Götz

1999 Ethnologie und Organisationsentwicklung. München: Rainer Hampp Verlag. [2. Auflage]

Gamst, Frederick C., and Sabine Helmers

1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit. Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25-41.

Geertz, Clifford

1973 The Interpretation of Cultures. Basic Books
1987 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Götz, Irene

2000 Unternehmensethnographie. Bemerkungen zur Debatte um Kultur(alisierung) und zur kulturwissenschaftlichen Betrachtungsperspektive. In: Irene Götz and Andreas Wittel (eds.), Arbeitskulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation; pp. 55- 74. Münster; New York; München; Berlin: Waxmann

Gregory, Kathleen

1983 Native-View Paradigms. Multiple Cultures and Culture Conflicts in Organizations. Administrative Science Quarterly 28: 359-376.

Helmers, Sabine

1993 Beiträge der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschung. In: Meinolf Dierkes et al. (eds.), Unternehmenskultur in Theorie und Praxis. Konzepte aus Ökonomie, Psychologie und Ethnologie; pp. 147- 187. Frankfurt am Main: Campus

Kluckhohn, F. R., and F. L. Strodtbeck

1961 Variations in Value Orientation. New York

Martin, Joanne, Peter J. Frost, and Olivia A. O’Neill

2006 Organizational Culture. Beyond Struggles for Intellectual Dominance. In: Stewart L. Clegg and Christine Hardy (eds.), The Sage Handbook of Organization Studies. London [u.a.]: Sage

Petermann, Werner

2004 Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Peter Hammer Verlag

Pettigrew, Andrew M.

1979 On Studying Organizational Culture. Administrative Science Quarterly 24: 570-581.

Sachs, Patricia

1989 Anthropology Approaches to Organizational Culture. Anthropology of Work Review 10.

Sackmann, Sonja A. et al.

1997 Single and Multiple Cultures in International Cross-Cultural Management Research. In: Sonja A. Sackmann (ed.), Cultural Complexity in Organizations. Inherent Contrasts and Contradictions.; pp. 1-13: Sage

Schein, Edgar H.

1992 Organizational Culture and Leadership. San Francisco: Jossey-Bass Publishers. [2. Auflage]

Schwartzman, Helen B.

1993 Ethnography in Organizations. London: Sage

Silverman, Sydel

2005 The United States. In: Fredrik Barth, Andre Gingrich, Robert Parkin and Sydel Silverman (eds.), One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology; pp. 255- 347. Chicago, London: University of Chicago Press

Smircich, Linda

1983 Concepts of Culture and Organizational Analysis. Administrative Science Quarterly 28: 339- 358.

Van Maanen, John

1988 Tales of the Field. On Writing Ethnography. Chicago: University of Chicago Press
2001 Afterword: Natives ‚R’ Us. Some Notes on the Ethnography of Organizations. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work. Oxford; New York: Berg

Wright, Susan

1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1-31. London and New York: Routledge
1998 The Politicization of Culture. Anthropology Today 14: 7- 15.

Nächstes Kapitel: 2.5 Entwicklungen und Forschungsstränge der Organisationsanthropologie ab 1980


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2.5 Entwicklungen und Forschungsstränge der Organisationsanthropologie ab 1980

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Das Feld der Organisations- und Betriebsanthropologie erlebt seit 1980 einen Aufschwung. Dieser Abschnitt der Lernunterlage präsentiert die Forschungsschwerpunkte dieser "Renaissance" der Organisationsanthropologie. Die Gliederung orientiert sich an Marietta L. Baba (2006), ergänzt um einen separaten Teilabschnitt über die Anthropology of Work Studies (vgl. Nash 1998).

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Foto: Ball © ruurmo/Rufino
Lizenz: CC BY-SA. Quelle

Was zeichnet die Organisationsanthropologie der letzten 30 Jahre aus?

Dazu Marietta L. Baba: During much of the 20th century, anthropologists were more or less partisans in the continuing struggle between these two classes of employees [managers and workers] that coexist in business organizations. In Warner’s era, anthropologists often were management centric in their views, following Mayo’s influence; Marxists held sway in the years between 1960 and 1980. ... anthropologists [today] are no longer so polarized. (Baba 2006: 107, Hervorhebung G.Sch.)

Die Anthropologie habe sich theoretisch und methodologisch weiterentwickelt: Soziale AkteurInnen werden mit ihren komplexen Agenden wahrgenommen. ForscherInnen beziehen mehrere Perspektiven in ihre Analysen mit ein, anstatt sich ausschließlich auf ManagerInnen oder auf ArbeiterInnen zu konzentrieren. Das Ergebnis seien vielschichtigere Analysen - ein Zeichen für theoretische und intellektuelle Reife, so Baba (2006: 107).


2.5.1 Anthropology of Work Studies: Managementkritik und globale Prozesse

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Foto: Steuerung (© matt.ohara, Lizenz: CC BY-ND Quelle)

Das Jahr 1980 markiert den Beginn einer verstärkten Auseinandersetzung von AnthropologInnen mit Organisationen. Etwa zu dem Zeitpunkt wurde das Konzept der Organisationskultur bekannt und AnthropologInnen begannen, sich in die Organisationskultur- Diskussion einzubringen. Die Neuformulierung der Richtlinien[1] bzgl. nicht publizierbarer Auftragsforschung ("proprietary research") durch die American Association of Anthropologists (AAA) unterstützte diese Entwicklung (Baba 2006; Wright 1994).

Die Organisationskultur-Forschung wird einhellig den 1980er und 1990er Jahren zugeordnet. Andere Forschungsstränge der Organisationsanthropologie ab 1980 sind eher als Fortsetzung und Weiterentwicklung der Schwerpunkte der Jahre davor[2] zu sehen, denn als Neubeginn. So streichen z.B. Schwartzman (1993) und Nash (1998) in ihren Darstellungen der Anthropology of Work stärker die Kontinuität als den Beginn einer neuen Phase der Organisationsanthropologie heraus.

Die Anthropology of Work Studies zeichnet aus, dass sie - anders als die frühere Human Relations School bspw. - eine breitere Perspektive auf Arbeit und Arbeitsplatz einnehmen. Viele ForscherInnen nehmen eine deutlich management- und kapitalismuskritische Haltung ein.

Beispiele:

  • Studien über Kontrollstrategien des Managementsin us-amerikanischen Unternehmen: z.B. Louise Lamphere (1987), June Nash (1989), Andrew Zimbalist (1979)
  • Studien über Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse in Ländern der Dritten Welt: z.B. M. Patricia Fernandez- Kelly (1983), June Nash (1979a; 1979b), Aihwa Ong (1987)[3] und Helen Safa (1986)

Auch die Studien von G.M. Britan und R. Cohen über Bürokratie (1980) und von Sidney Mintz[4] über die Zuckerindustrie (1985) werden im Zusammenhang mit Anthropology of Work Studies genannt (Schwartzman 1993: 27ff) bzw. als weitere anthropologische Beiträge zur Organisationsforschung angeführt, die unabhängig von der Organisationskultur-Debatte zu sehen sind (Wright 1994).

Neue Forschungsfragen ab 1990

Mit den strukturellen Veränderungen auf globaler Ebene und in Unternehmen stellten sich für AnthropologInnen neue Forschungsfragen (siehe auch hier[5]):

  • Neoliberalismus und Post-Fordismus. Beispiele: Laura Benton forschte über illegale Fabriken in Spanien (1990), Michael Blim über die Zersplitterung von Unternehmen in Italien und die Produktionsverlagerung in Heimarbeit (1990).
  • In jüngerer Zeit richtete Marietta L. Baba (2004) ihren analytischen Blick in ein Großunternehmen und auf seine Schwierigkeiten, die es mit der Umgestaltung nach post-fordistischen Prinzipien ("flexible Produktion", vertikale anstelle horizontaler Gliederung des Unternehmens, strategischer Einsatz von Informationstechnologie) hatte.
  • Kapitalistische/s Unternehmensführung/Wirtschaften in sozialistischen und postsozialistischen Staaten. Beispiele: Josephine Smart und Alan Smart untersuchten, auf welche Weise es InvestorInnen aus Hong Kong gelang, Produktionsstätten in China aufzubauen (1992); vgl. auch Elizabeth C. Dunn (1999; 2004)[6].

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.5.2
[2] Siehe Kapitel 3.3
[3] Siehe Kapitel 5.6
[4] Siehe Kapitel 5.3.2 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
[5] Siehe Kapitel 2.5.3
[6] Siehe Kapitel 5.1

2.5.2 Anthropologische Forschung über Organisationskulturen

In den 1980er Jahren wurde das Konzept der "Corporate Culture"/ Organisationskultur/ Unternehmenskultur populär und mit ihm ein zentrales Konzept der Kultur- und Sozialanthropologie. AnthropologInnen kamen damals unter Druck, so Marietta Baba (2006; vgl. auch Schwartzman 1983; Wright 1994), Stellung dazu zu beziehen.

Die erste Welle anthropologischer Organisationskultur-Forschung trat denn auch mit der Absicht an, "on demonstrating the subtelty and complexity of anthropological conceptions of cultural phenomenon in organizations, and in introducing the ’native’s point of view’ as a valid and powerful source of empirical data" (Baba 2006: 99).

Es sollten unter anderem die Unterschiede anthropologischer Forschung zu anderen Disziplinen, die sich mit Organisationskultur befassen, gezeigt werden (zu einer Diskussion der Unterschiede vgl. Gamst/Helmers 1991; Helmers 1993; Sachs 1989; Schwartzman 1993; Wright 1994). Die us-amerikanische Anthropologin Kathleen L. Gregory schreibt zum Beispiel,

In anthropology, where the concept [of culture] ist most fully developed, culture concerns all aspects of a group’s social behavior, including their formal laws and technical know how ... Applying this [Malinowskian] anthropological approach in corporations leads one to study participants’ views about all aspects of the corporate experience''. These would include the work itself, the technology, the formal organization structure, the everyday language, not only myths, stories or special jargon. That some researchers select these for special emphasis says more about the culture of the researchers than the researched, for whom all culture is equally taken for granted. (Gregory 1983: 359, Hervorhebung G.Sch.)

Gregorys Hauptargument bezieht sich auf die Nutzung emischer Kategorien, der "native views". Sie grenzt sich darüber hinaus von jenen Organisationskultur-Studien ab, die sich auf einzelne kulturelle Formen konzentrieren (eine Teilströmung der Integrationsperspektive[1]); genauso wie von Studien, die Organisationskultur ausschließlich mit dem informellen Bereich gleichsetzen.

Gut ein Jahrzehnt später argumentiert die britische Anthropologin Susan Wright in ihrem Artikel "Culture in Anthropology and Organizational Studies" (1994), dass es insbesondere der Fokus auf Macht sei, der die Anthropologie auszeichne und der Organisationskulturforschung häufig fehle. AnthropologInnen würden außerdem klarer als viele andere sehen, dass Organisationen im Kontext größerer gesellschaftlicher Strukturen stehen und keine abgegrenzten Einheiten sind (Wright 1994: 20ff).

Doch damit ist der Zeit etwas vorgegriffen. Hier einige empirische Beispiele früher anthropologischer Organisationskulturforschung:

  • Die bereits genannte Kathleen Gregory (1983) nutzte Ethnoscience, um herauszufinden, wie TechnikerInnen in Silicon Valley ihre soziale Welt verstanden.
  • In den späten 1980er Jahren forschte Frank Dubinskas (1988) über ein neu gegründetes Biotechnologie-Unternehmen und die dortigen Konflikte zwischen ManagerInnen und MolekularbiologInnen über Forschungsziele und Entscheidungsfindung.
  • Elizabeth Briody und Marietta Baba (1991) befassten sich mit den Schwierigkeiten, die General Motors damit hatte, ManagerInnen nach ihrer Rückkehr von Auslandseinsätzen wieder ins Unternehmen zu integrieren.
  • Julian Orr (1996) trug durch eine Studie über Reparatur- und Service- TechnikerInnen von Kopiergeräten zum Verständnis darüber bei, wie Erfahrungswissen weiter gegeben wird. Orr und andere AnthropologInnen, die am Palo Alto Research Center (PARC) von Xerox bzw. an seinem Spin- off, dem Institute for Research on Learning (IRL) tätig waren, lieferten zentrale Beiträge zur Entwicklung des "Wissensmanagements". Jean Lave bspw. erkannte, dass Lernen jeweils innerhalb einer sog. "Community of Practice" stattfindet. Eine "Community of Practice" ist ein Netzwerk von Menschen, das sich durch ein Set an gleichen Arbeitspraktiken und eine gemeinsame berufliche Identität auszeichnet (Baba 2006: 100).

In diesen Studien ist teilweise der Einfluss der früheren Literatur über Arbeitskulturen (Fragmentierungsperspektive[2]; vgl. auch Parker 2000). "Anthropologists seemed more interested in the blurring and crossing of boundaries than in descriptions of what they might demarcate" (Baba 2006: 101).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 3.1.2.3

2.5.3 Border Crossing in a Global Context

Der Schwerpunkt organisationsanthropologischer Forschung verlagerte sich in den 1990er Jahren von der Organisationskultur-Forschung stärker zu interkulturellen Fragestellungen bzw. Forschungen über multinationale und transnationale Unternehmen. Baba überschreibt diese Phase der Entwicklung der Organisationsanthropologie mit dem Titel "Border Crossing in a Global Context" (2006: 102) und stellt exemplarisch einige empirische Studien vor (Baba et al. 2004; Caulkins 1992; Freeman 2000; Hamada 1995). In jeder dieser Arbeiten, schreibt sie, würden AnthropologInnen Menschen und Gemeinschaften entdecken,

"whose selves and lives are transformed through work in a multinational or transnational business, suggesting that such organizations are becoming one of the most powerful forces giving meaning and direction to human experience in post- modern society" (Baba 2006: 102).

Beispiele:

  • Tomoko Hamada veröffentlichte mehrfach über japanische Unternehmen in den USA. Mit ihrem Artikel "Inventing Cultural Others in Organizations" (1995) bietet sie eine komplexe Fallstudie über einen japanischen Manager, der der sexuellen Belästigung angeklagt wurde. Hamada stellt den Fall aus den verschiedenen Perspektiven dar, zeigt die Paradoxien und Widersprüche auf und liefert damit ein gelungenes Beispiel einer postmodernen Erzählung über eine interkulturelle Begegnung in einer Fabrik in den USA.
  • Carla Freeman (2000) forschte über "pink collar workers" in Barbados, und zwar über Frauen, die in kühlen und kahlen Großraumbüros in der Verarbeitung von Fluckticket- Daten arbeiten. Wie die Arbeiterinnen in den Fabriken der Umgebung sind sie gering bezahlt, haben kaum Aussicht auf Beförderung und stehen unter ständiger Aufsicht. Dennoch: sie verstehen sich nicht als manuelle Arbeiterinnen, sondern als Büro-Angestellte. Um diese berufliche Identität zu unterstreichen, nutzen die Frauen modische Kleidung, Styling und Auftreten. Freeman zeigt, wie im Fall dieser Frauen Produktion (die Dateneingabe) und Konsum (der Kauf passender Kleidung) miteinander verwoben sind: Viele der Frauen nutzen Gratisflüge (die das Unternehmen als Bonus vergibt), um in New York Stoffe und Kleidung zu kaufen und sie später weiter zu verkaufen. Sie bessern dadurch ihren Lohn auf und ermöglichen es den anderen Frauen, preisgünstige Kleidung zu kaufen, die dem "Büro-Look" entsprechen. ' ' Production and consumption processes also mutually reinforce one another while being enmeshed in global flows of goods, services, capital, and people. Freeman’s engaging analysis is edged with criticism as she interrogates the relationship between the workers’ clothing preferences and managerial intentions to discipline and control their female subordinates. (Baba 2006: 103)
  • Marietta Baba, Julia Gluesing und KollegInnen (Baba et al. 2004) untersuchten den konfliktträchtigen Versuch eines multinationalen Konzerns mit Sitz in den USA, ihre Marketing- Methodologie in ein französisches Handelsunternehmen zu übertragen. Ihre Studie zeigt, dass AkteurInnen sich je nach Situation und individuellem Ziel auf kulturelle Unterschiede beziehen bzw. sie bewusst in den Hintergrund treten lassen. Viele theoretische Modelle der Managementwissenschaften gehen von stabilen "kulturellen Variablen" aus. Diese Studie zeichnet ein anderes Bild: "... agents’ behavior causes variables to fluctuate" (Baba 2006: 103).
  • siehe auch: Galit Ailon-Souday und Gideon Kunda (2003) und Elizabeth C. Dunn (2004)[1]

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1

2.5.4 Regionale Perspektiven auf Arbeit und Unternehmen

Schon William Lloyd Warner, der zentrale Pionier der Organisationsanthropologie, legte Wert auf die regionale Kontextualisierung industrieller Phänomene (vgl. Yankee City Studies[1]). Heutige us- amerikanische AnthropologInnen knüpfen an diese Tradition - modernisiert um globale Aspekte - an. Auf besonderes Interesse stoßen, so Baba, geographische Regionen mit spezifischen ökonomischen Formen (Baba 2006: 103ff).

Ein Beispiel dafür ist das kalifornische Silicon Valley (USA). Die Forschung über Silicon Valley und die dort konzentriert angesiedelten High Tech-Unternehmen begann in den 1980er Jahren und wird bis heute fortgesetzt. Kathleen Gregory war eine der ersten AnthropologInnen, die sich für Unternehmen und arbeitende Menschen im Silicon Valley interessierte (Gregory 1983; 1984). Zu den heute dort aktiven ForscherInnen zählen Chuck Darrah, E. Gabriella Coleman und J. A. English-Lueck, die ihre Forschungsergebnisse u.a. 2001 in einem Special Issue der Zeitschrift "Anthropology of Work Review" veröffentlichten. Diese AutorInnen erkannten, "that the language and culture of high- tech work is permeated with a sense of ’doing good’, a social construction with roots that connect Silicon valley with notions of technical ’progress’ grounded in the Industrial Revolution" (Baba 2006: 104).

Als zweites Beispiel nennt Baba (2006: 105f) die Studien über die Viehwirtschaft und die fleischverarbeitende Industrie in den USA. Der Anthropologe Donald Stull und der Geograph Michael Broadway arbeiten seit mehr als zehn Jahren über die industrialisierte Fleischproduktion und Fleischverarbeitung (vgl. ihr 2004 erschienenes Buch "Slaughterhouse Blues: The Meat and Poultry Industry in North America"). Sie berichten darin über die Entwicklung der Fleischindustrie seit den 1960er Jahren, die Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen der Produktion auf die lokale Umgebung.

Mark Grey (1999) befasste sich mit mexikanischen Arbeitsmigranten im Unternehmen "Hog Pride" und ging den Zusammenhängen der dortigen hohen Personalfluktuation nach. In Greys Fall handelte es sich um Forschung im Auftrag des Managements des Unternehmens. Darin unterscheidet sich die Studie von Grey von den jenen von Stull und Broadway und jenen über Silicon Valley, die mit wissenschaftlichen Forschungsgeldern finanziert wurden (Baba 2006: 105f).

Website: J. A. English-Lueck[2]

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1.1
[2] https://web.archive.org/web/20080513082841/http://www.sjsu.edu/faculty/jenglish/

2.5.5 Verwendete und weiterführende Literatur

Anthropology of Work Review

2001 Special Issue on Silicon Valley, ed. J.A. English-Lueck.

Baba, Marietta L.

2006 Anthropology and Business. In: James Birx (ed.), Encyclopedia of Anthropology; pp. 83- 117. Thousand Oaks: Sage

Baba, Marietta L. et al.

2004 The Contexts of Knowing. Natural History of a Globally Distributed Team.

Benton, Lauren

1990 The Informal Economy and Industrial Development in Spain. Albany: SUNY Press

Blim, Michael

1990 Made in Italy. Small-Scale Industrialization and Its Consequences. New York: Praeger

Briody, Elizabeth K., and Marietta L. Baba

1991 Explaining Differences in Repatriation Experiences. The Discovery of Coupled and Decoupled Systems. American Anthropologist 93: 322- 344.

Britan, G. M., and R. Cohen

1980 Towards an Anthropology of Formal Organizations. In: G. M. Britan and R. Cohen (eds.), Hierarchy and Society. Anthropological Perspectives on Bureaucracy. Philadelphia: Institute for the Study of Human Issues

Burawoy, Michael

1979 The Anthropology of Industrial Work. Annual Review of Anthropology 8: 231- 266.

Caulkins, Douglas

1992 The Unexpected Entrepreneurs. Small High-Technology Firms, Technology Transfer, and Regional Development in Wales and Northeast England.

Dubinskas, Frank (ed.)

1988 Making Time. Ethnographies of High Technology Organizations. Philadelphia: Temple University Press

Dunn, Elizabeth C.

1999 Slick Salesmen and Simple People. Negotiated Capitalism in a Privatized Polish Firm. In: Michael Burawoy and Katherine Verdery (eds.), Uncertain Transition: Ethnographics of Change in the Postsocialist World. Rowman & Littlefield
2004 Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor. Ithaca; London: Cornell University Press

Fernandez-Kelly, M. Patricia

1983 For We Are Sold, My People and I. Women and Industry in Mexico’s Frontier. Albany: State University of New York Press

Freeman, Carla

2000 High Tech and High Heels in the Global Economy. Women, Work, and Pink- Collar Identities. Durham; London: Duke University Press

Garsten, Christina

1991 Outlining the Organization. Creating Culture Across Boundaries. Zeitschrift für Ethnologie 116: 5-24.
1994 Apple World. Core and Periphery in a Transnational Organizational Culture. (Stockholm Studies in Social Anthropology)

Gregory, Kathleen L.

1983 Native-View Paradigms. Multiple Cultures and Culture Conflicts in Organizations. Administrative Science Quarterly 28: 359-376.
1984 ’Signing Up’. The Cultures and Careers of Silicon Valley Computer People. [Unpubl. Doctoral dissertation, Northwestern University]

Grey, Mark

1999 Immigrants, Migration, and Worker Turnover at the Hog Pride Pork Packing Plant. Human Organization 58: 16-27.

Hamada, Tomoko

1995 Inventing Cultural Others in Organizations. A Case of Anthropological Reflexivity in a Multinational Firm. Journal of Applied Behavioral Science 31: 162 - 185.

Lamphere, Louise

1979 Fighting the Piece Rate System. New Dimensions of an Old Struggle in the Apparal Industry. In: Andrew Zimbalist (ed.), Case Studies in the Labor Process; pp. 257- 276. New York: Monthly Review Press
1986 From Working Daughters to Working Mothers. Production and Reproduction in an Industrial Community. American Ethnologist 13: 118-130.
1987 From Working Daughters to Working Mothers. Immigrant Women in a New England Industrial Community. Ithaca, NY: Cornell University Press

Mintz, Sidney

1985 Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History. Harmondsworth: Penguin

Nash, June

1979a The Anthropology of the Multinational Corporation. In: G. Huizer and B. Mannheim (eds.), The Politics of Anthropology. From Colonialism and Sexism to a View From Below.; pp. 421-446. Paris: Mouton
1979b We Eat the Mines and the Mines Eat Us. Dependency and Exploitation in Bolivian Tin Mines. Philadelphia: Columbia University Press
1989 From Tank Town to High Tech. The Clash of Community and Industrial Cycles. Albany: SUNY
1995 Post-Industrialism, Post-Fordism, and the Crisis in World Capitalism. In: Frederick C. Gamst (ed.), Meanings of Work. Considerations for the Twenty-First Century; pp. 189-211. Albany: SUNY

Nash, June, and M. Patricia Fernandez-Kelly (eds.)

1983 Women, Men, and the International Division of Labor. Albany: SUNY Press

Rothstein, Frances A., and Michael Blim (eds.)

1992 Anthropology and the Global Factory. Studies of the New Industrialization in the Late Twentieth Century. New York: Bergin and Garvey

Ong, Aihwa

1987 Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in Malaysia. New York: State University of New York Press

Orr, Julian E.

1996 Talking about Machines. An Ethnography of a Modern Job. Ithaca and London: Cornell University Press

Safa, Helen

1981 Runaway Shops and Female Employment. The Search for Cheap Labor. Signs 2: 418-433.
1986 Runaway Shops and Female Employment. The Search for Cheap Labor. In: Eleanor Leacock and Helen Safa (eds.), Women’s Work. South Hadley, MA: Bergin and Garvey

Smart, Alan, and Josephine Smart

1992 Capitalist Production in a Socialist Society. The Transfer of Manufacturing from Hong Kong to China. In: Frances A. Rothstein and Michael Blim (eds.), Anthropology and the Global Factory. Studies in the New Industrialization in the Late Twentieth Century; pp. 47-61. New York: Bergin and Garvey

Stull, Donald, and Michael Broadway

2004 Slaughterhouse Blues. The Meat and Poultry Industry in North America.: Thomson Wadsworth

Yanagisako, Sylvia

2002 Producing Culture and Capital. Family Firms in Italy. Princeton: Princeton University Press

Zimbalist, Andrew (ed.)

1979 Case Studies in the Labor Process. New York: Monthly Review Press

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3. Ausgewähltes aus anderen Disziplinen und der Praxis

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
Manche Phasen und Forschungsthemen der Organisations- und Betriebsanthropologie stehen in deutlichem Zusammenhang mit Beiträgen und Entwicklungen anderer Disziplinen beziehungsweise mit interdisziplinären Projekten.

Dieser Bereich der Lernunterlage bietet kurze Einblicke in ausgewählte Themenfelder und Entwicklungen, die über die Disziplingrenzen der Kultur- und Sozialanthropologie hinausreichen.

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Foto: New York Public Library, 2004 (© Thomas Hawk, Lizenz: CC BY-NC. Quellle)


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3.1 Das interdisziplinäre Feld der Organisationskulturforschung

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Beginn der Organisationskulturforschung

In den späten 1970er Jahren erstmalig aufgetaucht, zog der Begriff Organisationskultur insbesondere in den 1980er Jahren großes Interesse im interdisziplinären Feld der Organisationsforschung auf sich.

Dies ist mit einem verstärkten "Soft Thinking" von ManagementpraktikerInnen und in der Organisationsforschung in Verbindung zu bringen. ForscherInnen versprachen sich geeignetere Antworten auf ihre Fragen. Bis dahin hatten - zumindest in den betriebswirtschaftlichen Wissenschaften - quantitativ ausgerichtete Makromodelle dominiert. Mit "Organisationskultur" traten die sozialen Beziehungen bzw. die symbolischen und kognitiven Aspekte von Organisationen wieder in den Vordergrund.

Die Organisationskulturforschung schloss dabei auch an jene v.a. psychologischen und soziologischen Forschungen an, die sich mit informellen Systemen, Betriebsgemeinschaften und Organisationsklima beschäftigten (vgl. Ebers 1988; Novak 1994; Parker 2000).

Theorienvielfalt innerhalb der Organisationskulturforschung

Von Beginn an und bis heute ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Organisationskultur an keine spezifische theoretische Positionierung gebunden. Darin gleicht dieses interdisziplinäre Feld der Kultur- und Sozialanthropologie. Auch sie kennt unzählige Konzeptionen von Kultur. Einen Überblick über die theoretische Vielfalt in der Organisationskulturforschung bieten unter anderem folgende AutorInnen:

  • Linda Smircich (1983) führte die Unterscheidung von Variablen- und Metaphern-Ansätzen[1] in der Auseinandersetzung mit Organisationskultur ein.
  • Yvan Allaire und Mihaela Firsirotu (1984) beziehen sich auf die Kategorisierung anthropologischer Kulturkonzeptionen von Keesing (1974), legen sie auf die Theorien der Organisationskulturforschung um und erkennen dort zwei entsprechende Traditionen: die eine fasst Kultur als Ideensystem, die andere als soziokulturelles System.
  • Debra Meyerson und Joanne Martin unterscheiden erstmals 1987 mehrere Perspektiven der Organisationskulturforschung[2]. Sie berichten davon, wie vehement sich VertreterInnen der verschiedenen Perspektiven voneinander abgrenzten und versuchten, die je eigene Perspektive durchzusetzen (Meyerson/Martin 1987). Die Darstellung dieser Perspektiven wurde später von Martin und KollegInnen erweitert und ergänzt (Martin 1992; Martin/Frost 1999; Martin et al 2006).
  • Darstellungen jüngeren Datums schließen auch postmoderne Konzeptionen von Organisationskultur ein (Martin et al 2006; Raeder 2000).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1.1
[2] Siehe Kapitel 3.1.2


3.1.1 Hat eine Organisation Kultur oder ist sie eine Kultur?

Linda Smircich,eine us-amerikanische Organisationsforscherin mit anthropologischer Grundausbildung, geht in ihrem bis heute viel zitierten Artikel "Concepts of Culture and Organizational Analysis" (1983) der Bedeutung des Kulturkonzeptes für die Analyse von Organisationen nach. Sie gibt einen Überblick über fünf Forschungsrichtungen, die sich Anfang der 1980er Jahre mit Kultur und Organisationen beschäftigten, und erkennt in der vielfältigen Auseinandersetzung zwei grundlegende verschiedene Annahmen: 1) Dem Variablen- Ansatz liegt die Vorstellung von Kultur als Variable zugrunde; 2) der Metaphern-Ansatz nutzt Kultur als Organisationsmetapher.

1) Kultur als Variable

  • Sowohl die kulturvergleichende Management-Forschung als auch die Corporate Culture-Studien verstehen Kultur als Variable. Die kulturvergleichende Management-Forschung[1] nimmt Kultur als externe Variable bzw. Kontextfaktor von Organisationen an. (National-)Kultur wirkt so gesehen auf Organisationen ein bzw. wird durch Organisationsmitglieder in die Organisation eingebracht.
  • "Eine Organisation hat eine Kultur" umschreibt Smircich die Position der sog. Corporate Culture-Studien. Eine Organisation habe Kultur, ähnlich wie sie eine Strategie und eine Struktur habe. "Organisationskultur" ist demnach ein Teil bzw. eine interne Variable einer Organisation. Sie gilt als gestaltbarer Faktor, der die Leistungsfähigkeit der Organisation beeinflusst. In sog. Erfolgsfaktorstudien[2] (z.B. Peters/Waterman 1982, Deal/Kennedy 1982) werden Überlegungen angestellt, wie die Organisationskultur gestaltet und gesteuert werden kann, um den wirtschaftlichen Erfolg der Organisation sicherzustellen.
  • Beide - die kulturvergleichende Management-Forschung und die Corporate Culture- Forschung - sind dem funktionalistischen Paradigma zuzuordnen (siehe Funktionalismus und Strukturfunktionalismus in der Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie: Link 1[3], Link 2[4]). Ihre Forschungsthemen sind grundverschieden; dennoch teilen sie ein gemeinsames Forschungsinteresse, so Smircich. Beide interesseren sich letztendlich dafür, wie Organisationen kontrolliert und besser geführt werden können. "Underlying the interests in comparative management and corporate culture ist the search for predictable means for organizational control and improved means for organization management (Smirich 1983: 347).

2) Kultur als Metapher: "Eine Organisation ist eine Kultur"

  • Den Variablen-Ansätzen stellt Smircich jene theoretischen Zugänge gegenüber, die Kultur als Metapher für Organisationen verwenden. Sie zählt dazu die kognitive, die symbolische, die strukturalistische und die psychodynamische Organisationstheorie. Gemeinsam ist diesen Theorien, so Smircich, dass sie sich gegen funktionalistische Positionen stellen. Nicht die Gestaltbarkeit von Kultur ist von Interesse, sondern Organisationen wie Kulturen zu analysieren. Im Mittelpunkt stehen daher die kognitiven und symbolischen Prozesse, mittels derer Bedeutung und soziale Wirklichkeit geschaffen werden. "Characterized very broadly, the research agenda stemming from this perspective is to explore the phenomenon of organization as subjective experience and to investigate the patterns that make organized action possible" (Smirich 1983: 348).
  • Aus der Perspektive des Metaphern-Ansatzes hat eine Organisation keine Kultur - sie ist vielmehr eine Kultur (Smircich 1983).

Andere Organisationsmetaphern (vgl. dazu auch Morgan 1986)

  • Mit der Kultur-Metapher wird auch deutlich, wie sich diese Organisationstheorien von anderen theoretischen Zugängen abgrenzen. Von einer gänzlich anderen Organisationsmetapher geht beispielsweise das Scientific Management des Frederick Taylor (Taylorismus[5]) aus. In Taylors Vorstellung sind Organisationen wie Maschinen. Seine Überlegungen sind darauf ausgerichtet, reibungslose und effiziente Arbeitsabläufe zu sichern.
  • Der oben vorgestellte Variablen-Ansatz wiederum begreift eine Organisation als Organismus, der Anpassungsleistungen an das Umfeld zu vollbringen hat. Im Fall der kulturvergleichenden Managementforschung zeigt sich dies deutlich: sie befasst sich mit der Beziehung zwischen Umfeld und Organisation. Die Corporate Culture-Studien gehen der Ausgestaltung der Beziehungen innerhalb der Organisation nach.

Website: Linda Smircich

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.3
[2] Siehe Kapitel 3.2
[3] Siehe Kapitel 14.4 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung
[4] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
[5] Siehe Kapitel 2.1.2

3.1.2 Worauf richten ForscherInnen ihren Blick, wenn sie Organisationskultur sehen?

Die Organisationskulturforschung umfasst drei Forschungsperspektiven, die ihren je eigenen Fragestellungen nachgehen (Frost et al. 1991b; Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006; Meyerson/Martin 1987).

  • Die "integration perspective" fragt danach, wie in einer Organisation Übereinstimmung und Commitment hergestellt werden.
  • Die "differentiation perspective" untersucht Unterschiede in Organisationen.
  • Die "fragmentation perspective" streicht die Mehrdeutigkeit des Geschehens in Organisationen und die zeitliche Begrenztheit von Konsens heraus.

KommentatorInnen berichten von heftigen Kontroversen zwischen VertreterInnen der verschiedenen Perspektiven. Von „Organizational Cultural War Games“ ist die Rede; gerade in den Anfängen der Organisationskulturforschung sei ungewöhnlich offen um die intellektuelle Dominanz gekämpft worden. Die Auseinandersetzungen drehten sich um Fragen der Theorie, der Epistemologie, der Forschungsmethodik und der politischen Ausrichtung (Frost et al. 1991b; Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006; Meyerson/Martin 1987).

Welche Perspektive wird dem Forschungsfeld Organisation am besten gerecht? Alle und keine, meint Joanne Martin (1992). Jede der Perspektiven bringe Wesentliches ans Licht und lasse Anderes außer Acht. Martin fordert einen sog. Drei-Perspektiven- Ansatz. Forschungen müssten alle drei Perspektiven berücksichtigen, um auf diese Weise ein vollständigeres Bild von Organisationen zu erreichen (vgl. auch Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006).

Website: Joanne Martin[1]

Verweise:
[1] https://www.gsb.stanford.edu/faculty-research/faculty/joanne-martin



3.1.2.1 Die Integrationsperspektive

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Foto: Gummibänder (© fuzzbabble / Joshua Whiting, Lizenz: CC BY-ND Quelle)

Was ist das organisationskulturell Spezifische der Firma A? Was ist typisch für Firma B? Worin sind sich die Mitglieder der Organisation C einig? Was ist eindeutig? Wie wird Übereinstimmung hergestellt? Wie wird Zugehörigkeitsgefühl und Einsatzbereitschaft erreicht? …

Diese und ähnliche Fragen sind es, für die sich die Integrationsperspektive interessiert (z.B. Pettigrew 1979, McDonald 1991).

Organisationskultur gilt den VertreterInnen der Integrationsperspektive als "internally consistent package of cultural manifestations that generates organization-wide consensus, usually around some set of shared values" (Martin/Frost 1999: 348).

Die Schlüsselbegriffe dieser Perspektive sind demnach Konsens, Konsistenz und Klarheit:

  • übereinstimmende Sichtweisen innerhalb der Organisation,
  • konsistente "kulturelle Manifestationen" (z.B. Werte, formale und informelle Praxis, organisationsspezifische Sprache, Geschichten, Witze, Rituale, usw.) und
  • klare Bedeutungen dieser kulturellen Manifestationen.

Konflikt, Widersprüche und Mehrdeutigkeiten bleiben aus den Forschungen der Integrationsperspektive ausgeklammert bzw. gelten nicht als Organisationskultur (Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006; Meyerson/Martin 1987).



3.1.2.2 Die Differenzierungsperspektive

Etwa zeitgleich mit dem Beginn der Integrationsperspektive[1] in den 1980er Jahren nahm eine Reihe von ForscherInnen eine andere Perspektive auf Organisationskultur ein. Sie erarbeiteten, zunächst unabhängig voneinander, die später so bezeichnete „differentiation perspective“ der Organisationskulturforschung (Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006; Meyerson/Martin 1987).

Wie die VertreterInnen der Integrationsperspektive befassen sich die ForscherInnen der Differenzierungsperspektive mit den ideellen Aspekten von Kultur – Werte, Bedeutung, Symbole und Emotionen. Für ein reicheres Verständnis von Organisationen sei es jedoch wichtig, betonen viele, auch materielle Aspekte – Entlohnung, Arbeitsbedingungen, hierarchische Strukturen, formelle Richtlinien, usw. – in die Forschungen miteinzubeziehen.

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Foto: Zahnrad (© bulldog65/Lew Foster Lizenz: CC BY-ND Quelle)

Studien der Differenzierungsperspektive richten ihre Aufmerksamkeit auf Unterschiede, Abweichungen und Unklarheiten. Sie zeigen z.B. Abweichungen zwischen formalen Richtlinien und informeller Praxis auf. Sie fokussieren Unterschiede zwischen Gruppen innerhalb von Organisationen und sprechen in dem Zusammenhang von sog. Subkulturen[2. Konsens und Klarheit lokalisiert die Differenzierungsperspektive ausschließlich auf der Ebene der Subkulturen.

Organisationskultur aus dieser Perspektive is "not unitary; it is a nexus where environmental influences intersect, creating a nested, overlapping set of subcultures within a permeable organizational boundary" (Martin et al. 2006).

Zu den beispielhaften Studien dieser Perspektive zählen die Untersuchung von Jean Bartunek und Michael M. Moch über ein Veränderungsprojekt in einer Bäckerei (Bartunek/Moch 1991), Gideon Kundas Analyse einer Computerfirma im us- amerikanischen Kalifornien (Kunda 1992) sowie John Van Maanens Forschung über Disneyland (Van Maanen 1991) (vgl. Frost et al. 1991b; Martin et al. 2006).

Siehe auch: Andreas Wittel (1997)[3] "Belegschaftskultur im Schatten der Firmenideologie"

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 3.1.2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.4



3.1.2.2.1 Vertikale - horizontale - organisationsübergreifende Subkulturen

"Vertikale Subkulturen" reflektieren die Hierarchieebenen der Organisation (z.B. oberes Management, mittleres Management, ArbeiterInnen).

"Horizontale Subkulturen" beziehen sich auf Organisationseinheiten oder Funktionen (z.B. Personalabteilung, Vertrieb, Einkaufsabteilung).

Berufsgruppen bilden die Basis für sog. organisationsübergreifende Subkulturen (z.B. TechnikerInnen, BuchhalterInnen, PersonalmanagerInnen).



3.1.2.3 Die Fragmentierungsperspektive

Studien der Integrationsperspektive[1] verorten Konsens, Konsistenz und Klarheit auf der Ebene der Gesamtorganisation, Studien der Differenzierungsperpektive[2] auf der Ebene sog. Subkulturen. Die „fragmentation perspective“ der Organisationskulturforschung nimmt dazu eine dritte Position ein (Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006; Meyerson/Martin 1987):

  • In Organisationen finde sich Konsens nur in Form zeitlich begrenzter, inhaltlicher Übereinstimmung. Die Fragmentierungsperspektive stellt sich damit gegen die Idee eines stabilen Konsenses und einer klaren, eindeutigen Organisationskultur (bzw. klarer, eindeutiger Subkulturen).
  • Organisationskultur wird als vor allem mehrdeutig und verwirrend angenommen. Die zentrale Qualität von Organisationskultur sei ihre Ambiguität.
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Tabelle: Charakteristika der drei Perspektiven der Organisationskulturforschung (Abbildung nach Frost et al. 1991a: 9)

Studien der Fragmentierungsperspektive

Als frühes Beispiel der Fragmentierungsperspektive wird u.a. die Studie von Debra Meyerson (1991) über SozialarbeiterInnen genannt. Meyerson analysierte Humor und Ironie der SozialarbeiterInnen, durch die die Ambiguität ihres Berufs zum Ausdruck kam: unklare Zielsetzungen, unklare Wege und Mittel zur Zielerreichung, unklare Ergebniskontrolle bzw. zum Teil fehlende Rückmeldung, inwieweit Interventionen erfolgreich waren. Ihre Forschungsergebnisse wären zumindest unvollständig geblieben – hätten möglicherweise sogar in die Irre geführt –, wenn sie Ambiguität ausgeklammert hätte, schließt Meyerson (vgl. Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006).

Martin und ihre KollegInnen zählen zur Fragmentierungsperspektive u.a. auch Karl Weicks Analyse eines Flugzeugunglücks (1991). Weick zeigt, wie es 1977 am Flughafen Teneriffa im Nebel zum Zusammenstoß zweier Flugzeuge kam, bei dem 583 Menschen starben. Zentrale Ursachen lagen in mehrfachen Veränderungen der Routine, Zeitdruck und missglückter Kommunikation aufgrund von Sprach- und Statusunterschieden der beteiligten Personen.

Maxine Robertson und Jacky Swan (2003) machen in ihrer Studie über UnternehmensberaterInnen deutlich, dass in hochqualifizierter Projektarbeit Ungewissheit, Komplexität, Ambiguität unvermeidbar bleibt (vgl. Martin/Frost 1999; Martin et al. 2006).

Websites:

Debra Meyerso[3]3

Maxine Robertson[4]

Jacky Swan[5]

Karl Weick[6]

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 3.1.2.2
[3] https://ed.stanford.edu/faculty/debram
[4] https://warwick.ac.uk/fac/soc/wbs/research/ikon/people/maxinerobertson/
[5] https://www.wbs.ac.uk/about/person/jacky-swan/
[6] https://michiganross.umich.edu/faculty-research/faculty/karl-weick

3.1.3 Verwendete und weiterführende Literatur

Allaire, Yvan, and Mihaela E. Firsirotu

1984 Theories of Organizational Cultures. Organization Studies 5: 193- 226.

Bartunek, Jean, and Michael M. Moch

1991 Multiple Constituencies and the Quality of Working Life Intervention at FoodCom. In: Peter J. Frost et al. (eds.), Reframing Organizational Culture; pp. 104-14. Newbury Park: Sage Publications

Ebers, Mark

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1997 Belegschaftskultur im Schatten der Firmenideologie. Eine ethnographische Fallstudie. Berlin

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3.2 Organisationskultur: Managementtrend der 1980er Jahre

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Nicht nur OrganisationsforscherInnen sondern auch ManagerInnen und UnternehmensberaterInnen entdeckten in den 1980er Jahren "Organisationskultur" ("Unternehmenskultur", "Corporate Culture") für sich. Sie verstanden Organisationskultur als Managementkonzept, das effizientere Koordination und Personalführung ermöglichen sollte.

Der Managementtrend Organisationskultur hängt mit der Entwicklung der japanischen Wirtschaft zusammen. US- amerikanische Unternehmen empfanden den wirtschaftlichen Aufschwung Japans in der Zeit als Bedrohung und suchten nach Erklärungen für den Erfolg der japanischen Wirtschaft. Die Antwort fanden sie bei sog. "kulturellen Faktoren". Darunter verstanden sie bspw. die starke Identifikation japanischer ArbeitnehmerInnen mit ihrem Arbeitgeber, eine hohe Arbeitsethik und bestimmte Arbeitsprinzipien (z.B. das Streben nach kontinuierlicher Verbesserung, Null-Fehler-Prinzip, usw.).

Wesentliche AkteurInnen waren us-amerikanische BeraterInnen, die äußerst erfolgreiche Bestseller auf den Markt brachten. Peters und Waterman (1982) sowie Deal und Kennedy (1982) zählen zu den bekanntesten. In ihren Büchern stellen sie die Frage, was Unternehmen erfolgreich macht. Sie kamen zum Schluss, dass Organisationskultur ein Erfolgsfaktor[1] sei, den es zu managen gilt. Für UnternehmensberaterInnen wurde Organisationskultur so zum attraktiven neuen Beratungsprodukt (Ebers 1988; Parker 2000; Wright 1994).

Aus anthropologischer Sicht wurde Kritik an der Managementliteratur der 1980er Jahre laut, insbesondere an der Art und Weise, wie "Kultur" darin verwendet wird. Susan Wright (1998) schreibt über den politischen Gebrauch des Kulturbegriffs in verschiedenen Machtfeldern, u.a. im Management. Martin Parker spricht von "Kulturalismus" im Management und - wie Wright - von der Instrumentalisierung des Kulturbegriffs für Kontrollzwecke. Das Ziel sei das gleiche wie schon bei Frederick Taylor: "eine Belegschaft, die mitmacht, und ein profitables Unternehmen" - nur die Strategie eine andere. An die Stelle autoritärer Kontrolle seien die Managementinterventionen unter dem Stichwort "Organisationskultur" jedoch auf eine Stärkung der Selbstverpflichtung und der Engagements ausgerichtet (Parker 2000).

Literatur:

Deal, Terrence E., and Allan A. Kennedy

1982 Corporate Cultures. The Rules and Rituals of Corporate Life. Reading, MA: Addison- Wesley

Ebers, Mark

1988 Der Aufstieg des Themas ’Organisationskultur’ in problem- und disziplingeschichtlicher Perspektive. In: E. Dülfer (ed.), Organisationskultur; pp. 23-48. Poeschel Verlag

Parker, Martin

2000 Organizational Culture and Identity. Unity and Division at Work. London: Sage Publications

Peters, Tom, and Robert Waterman

1982 In Search of Excellence: Lessons from America’s Best Run Companies. New York: Harper & Row

Wright, Susan

1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1- 31. London and New York: Routledge

1998 The Politicization of Culture. Anthropology Today 14: 7-15.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.1.1


Nächstes Kapitel: 3.3 Kulturvergleichende Managementforschung


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3.3 Kulturvergleichende Managementforschung

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Die Anfänge der kulturvergleichenden Managementforschung (auch: interkulturelle Managementforschung) werden mit den 1950er/1960er Jahren, von manchen AutorInnen mit den 1970er Jahren datiert. Der politische und ökonomische Kontext dieser Jahrzehnte prägte dieses damals neu entstehende interdisziplinäre Forschungsfeld.

Die Internationalisierung vieler us-amerikanischer Konzerne brachte mit sich, dass diese Unternehmen in verschiedenen Nationen operierten. ForscherInnen wie PraktikerInnen versuchten die Auswirkungen zu verstehen, die dies auf das Management der Unternehmen hatte. Die Einsicht in kulturelle Unterschiede im Arbeits- und Führungsverhalten sollte erfolgreiches Managementhandeln erleichtern. Der Kalte Krieg stellte den politischen Kontext dar. Aus der Sicht der USA sollten wirtschaftliche Entwicklungsprogramme den kommunistischen Einfluss in verschiedenen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas verringern. Vergleichende Managementforschung sollte einen Beitrag auch dazu leisten (Sackmann et al. 1997; Schlamelcher 2003).

Eine Schlüsselperson im Feld der kulturvergleichenden Managementforschung ist Geert Hofstede[1]. Hofstede entwickelte fünf Dimensionen, anhand derer Kulturvergleiche vorgenommen werden können, wobei er Nation und Kultur gleichsetzt.

Kultur definiert Hofstede als "kollektive Programmierung des Geistes", als "mentale Software". Er bezieht sich dabei auf ein Kulturkonzept der us-amerikanischen Anthropologie der 1930er/1940er Jahre (Culture and Personality School; Ruth Benedict, Margret Mead), ohne sich jedoch mit der Kritik daran auseinander zu setzen. Zu einer Darstellung dieser und anderer Kritikpunkte an Hofstede vgl. z.B. McSweeney (2002); Hofstedes Replik erschien kurz darauf (Hofstede 2002).

Auch Fons Trompenaars und Alexander Thomas werden häufig wegen ihrer Beiträge zur kulturvergleichenen bzw. interkulturellen Managementforschung - positiv wie kritisch - gewürdigt. Trompenaars (1993a; 1993b) entwickelte ein Modell aus sieben Werte-Kontinuen. Thomas (1991; 1996) ist für sein Konzept der sog. Kulturstandards bekannt.

Wie Hofstede werden Trompenaars und Thomas nicht nur im wissenschaftlichen Kontext rezipiert, sondern auch für interkulturelle Beratung und interkulturelles Training herangezogen. Breidenbach und Nyiri (2001), Dahlén (1997) und Wiedermann (2004) bieten eine Diskussion dieser Thematik aus anthropologischer Perspektive (vgl. auch Forum 2002).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.3.1


3.3.1 Geert Hofstede: fünf Kulturdimensionen

In seiner Studie "Culture’s Consequences" (1980) stellt der niederländische Sozialpsychologe Geert Hofstede die Ergebnisse seiner Forschung im internationalen Unternehmen IBM vor.

Seine Daten hatte er durch eine schriftliche Befragung gewonnen. Mittels Fragebogen gaben die befragten IBM- MitarbeiterInnen detailliert an, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten, wie sie ihren eigenen Arbeitsstil einschätzten und was sie von einer Führungskraft erwarten. Hofstedes Untersuchung war demnach auf die Erhebung arbeitsbezogener Werte ausgerichtet.

Nach zwei Erhebungsrunden (1967 und 1973) standen Hofstede mehr als 116.000 Fragebögen (mit jeweils mehr als 100 Fragen) aus den IBM-Niederlassungen in 72 Ländern zur Analyse zur Verfügung. Hofstede gilt als der erste kulturvergleichende Forscher, dem eine derart groß angelegte empirische Untersuchung gelang.

Auf der Basis dieser Daten entwickelte Hofstede vier grundlegende Dimensionen, anhand derer Nationalkulturen verglichen werden können. Die Dimensionen nannte er "Machtdistanz", "Unsicherheitsvermeidung", "Individualismus / Kollektivismus" und "Maskulinität / Feminität". Nach weiteren Studien kam mit "kurzfristige / langfristige Orientierung" eine fünfte Dimension hinzu.

Beschreibung der Dimensionen:

  • hohe / niedrige Machtdistanz: das Ausmaß, in dem die Mitglieder der Gesellschaft Hierarchien und ungleiche Machtverteilung akzeptieren
  • hohe / niedrige Unsicherheitsvermeidung: das Ausmaß, in dem die Mitglieder der Gesellschaft sich durch Unsicherheit bedroht fühlen und Risiken vermeiden
  • Individualismus / Kollektivismus: das Verhältnis zwischen dem Individuum und der kollektiven Gruppe
  • Maskulinität / Feminität: das Ausmaß, in dem die Mitglieder der Gesellschaft materialistisch und wettbewerbsorientiert (Maskulinität) oder fürsorglich, serviceorientiert und um Lebensqualität bemüht sind (Feminität)
  • kurzfristige / langfristige Orientierung: das Ausmaß, in dem die Mitglieder der Gesellschaft, pragmatisch- zukunftsorientiert oder dogmatisch-gegenwartsbezogen ausgerichtet sind

Website: Geert Hofstede[1]

Verweise:
[1] http://www.geert-hofstede.com/

3.3.2 Verwendete und weiterführende Literatur

Breidenbach, J., and P. Nyiri

2001 Interkulturelle Kompetenz als Business. Organisationsentwicklung 4: 70-75.

Dahlén, Tommy

1997 Among the Interculturalists. An Emerging Profession and its Packaging of Knowledge. Stockholm (Stockholm Studies in Social Anthopology, 38)

Forum

2002 Interkulturelle Kompetenz als Business. Organisationsentwicklung 3: 81-93.

Hofstede, Geert

1980 Culture’s Consequences. International Differences in Work- Related Values. Sage

1994 Uncommon Sense About Organizations. Cases, Studies and Field Observations. Sage

2001 Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management. München: DTV-Verlag

2002 Dimensions Do Not Exist. A Reply to Brendan McSweeney. Human Relations 55(11).

2006 What Did GLOBE Really Measure? Respondents’ Minds Versus Researchers’ Minds. Journal of International Business Studies 37: 882-896.

McSweeney, Brendan

2002 Hofstede’s Model of National Cultural Differences and their Consequences. A Triumph of Faith – or a Failure of Analysis. Human Relations 55(1).

Sackmann, Sonja A. et al.

1997 Single and Multiple Cultures in International Cross-Cultural Management Research. In: Sonja A. Sackmann (ed.), Cultural Complexity in Organizations. Inherent Contrasts and Contradictions.; pp. 1-13: Sage

Schlamelcher, Ulrike

2003 Kultur und Management. Theorie und Praxis der Interkulturellen Managementforschung: Rainer Hampp Verlag

Thomas, Alexander (ed.)

1991 Kulturstandards in der internationalen Begegnung. Saarbrücken (u.a.)

1996 Analyse der Handlungswirksamkeit von Kulturstandards. In: Alexander Thomas (ed.), Psychologie interkulturellen Handelns.; pp. 107-136. Göttingen

Trompenaars, Fons

1993a Handbuch globales Managen. Wie man kulturelle Unterschiede im Wirtschaftsleben versteht. Düsseldorf

1993b Riding the Waves of Culture. Understanding Cultural Diversity in Business. London: Brealey

Wiedermann, Maria

2004 Kultur x Globalisierung = Interkulturelle Kompetenz (?). Ein Vergleich dieser drei Begrifflichkeiten zwischen dem Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien. [Unpubl. Diplomarbeit, Universität Wien]

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4. Staatliche Organisationen und Non-Profit-Organisationen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
In diesem Abschnitt werden beispielhaft einige wenige Einblicke in ein Forschungsfeld der Organisationsanthropologie geboten, das in den letzten 20 Jahren insbesondere in der angewandten Kultur- und Sozialanthropologie an Bedeutung gewinnt: die Auseinandersetzung mit bürokratischen Organisationen im Dienstleistungs- und Verwaltungssektor.

Im Bereich der Organisationsanthropologie wird meist sehr grob in Profit- und Non- Profitorganisationen einerseits und in Regierungs- und Nicht- Regierungsorganisationen andererseits unterschieden.

  • Primäres Organisationsziel von Profitorganisationen (POs) ist die Erzielung von Gewinn für die EigentümerInnen.
  • Non-Profitorganisationen (NPOs) sind private und nicht-staatliche Organisationen, die in erster Linie gesellschaftliche Ziele verfolgen. Das Spektrum reicht von internationalen Organisationen, die sich z.B. auf Katastrophenhilfe spezialisiert haben, wie das Internationale Rote Kreuz, der Rote Halbmond oder Ärzte ohne Grenzen bis hin zum dörflichen Musikverein.
  • Regierungsorganisationen (GOs) sind staatlich legitimiert und verfolgen gesetzlich festgelegte Aufgaben.
  • Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) sind Zusammenschlüsse von Menschen auf der Basis gemeinsamer Interessen und Ziele, oft um gesellschaftliche Anliegen wie Umweltschutz (Global 2000, Greenpeace) oder Menschenrechte (Human Rights Watch, Amnesty International) auch gegen Regierungen zu vertreten.

Die Grenzen zwischen dem, was als ausschließlich staatliche und was als ausschließlich private Aufgaben wahrgenommen wird, sind fließend und sie werden unterschiedlich interpretiert. Gesundheits- und Bildungswesen sind in vielen Länder seit langem vorwiegend privat organisiert, staatliche Kernbereiche wie die Landesverteidigung, die Ausübung von Polizeigewalt oder das Gefängniswesen weisen inzwischen mancherorts auch private Organisationsformen auf.

Darüber hinaus entstanden nach dem 2. Weltkrieg zahlreiche supranationale (EU, Mercosur, NAFTA, ASEAN etc.) und internationale (UNO, UNESCO, Weltbank etc.) Organisationen auf der Basis von multilateralen Verträgen, die ebenso eigene Verwaltungszentren mit ausgeprägten Organisationsstrukturen und -kulturen hervorgebracht haben.


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4.1 Dienstleistungseinrichtungen und Verwaltungsorganisationen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Seit etwa 1950 ist ein weltweites Anwachsen des tertiären Sektors (Dienstleistungseinrichtungen und Verwaltungsorganisationen mit regulierenden und redistributiven Funktionen) zu beobachten. Alle diese Organisationen haben eines gemeinsam: "In interacting with these organizations people were constructed as ’clients’. As Collmann puts it ’clients’ are bureaucratic creations" (Wright 1994: 161).

Je nachdem wie dieses Verhältnis zwischen Klienten und Organisation gestaltet ist, und wer die jeweiligen Nutznießer sind, lassen sich vier Typen von Organisationen im Dienstleistungs- und Verwaltungssektor unterscheiden:

  • Gemeinwohlorganisationen: Dazu gehören z.B. die Steuerbehörden und die Polizei. Nutznießer ist die Allgemeinheit, die "Klienten" im Sinne der unmittelbar von Amtshandlungen Betroffenen zeigen diesen Organisationen gegenüber meist ein ambivalentes Verhältnis.
  • Dienstleistungsorganisationen wie Krankenhäuser oder Wohlfahrtseinrichtungen nützen individuellen Klienten, die deren Dienste benötigen. Es handelt sich dabei entweder um öffentliche Einrichtungen mit Redistributionscharakter oder um private Non- Profitorganisationen.
  • Organisationen zum gemeinsamen Nutzen (mutual benefit organizations) wie Gewerkschaften oder Genossenschaften dienen in erster Linie den Interessen ihrer freiwilligen Mitglieder.
  • Privatwirtschaftliche Dienstleistungseinrichtungen (Banken, Fluglinien etc.) haben als primäre Nutznießer die Eigentümer, die Gewinn erwirtschaften wollen. (Blau/Scott 1962, nach Wright 1994: 162).

Gegenüber diesen vier Typen von Dienstleistungsorganisationen empfinden sich die Klienten oder Kunden in unterschiedlichen Machtpositionen. Und genau diese Beziehungen zwischen "KlientInnen" und Organisationen sind in den letzten Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher anthropologischer Untersuchungen geworden. Ein Großteil aller Artikel der Zeitschrift "Human Organization" ist dem Themenfeld einer "anthropology from below" (Wilson 1998) zuzuordnen. Dieses neue und ständig wachsende Forschungsfeld von Kultur- und SozialanthropologInnen hängt mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Die ungeheure Ausweitung und Ausdehnung des tertiären und bürokratischen Sektors in den letzten 50 Jahren in allen Teilen der Welt hat auch zu zunehmendem Widerstand der "KlientInnen" geführt. Immer mehr Menschen fühlen sich von mächtigen Organisationen zu Objekten degradiert (in Krankenhäusern, auf Sozialämtern, in Schulen, am Bankschalter, gegenüber der Gewerkschaftsführung, der Kirchenleitung, den Einwanderungsbehörden). In Europa wird daher ausgehend von Großbritannien ab Ende der 1970er Jahre über "empowerment" oder "Selbstermächtigung" der Bürger gegenüber diesen Organisationen in allen politischen Lagern diskutiert (Wright 1994).


4.1.1 Organisationen als Bürokratien

Bürokratische Macht von Organisationen ist omnipräsent, als Kultur- und SozialanthropologInnen und Individuen sind wir ständig damit konfrontiert. Josiah Heyman (2004) fordert eine explizite empirische wie theoretische Auseinandersetzung der Kultur- und Sozialanthropologie mit Bürokratie. Und er fordert dazu auf, sich jedenfalls eine Meinung dazu zu bilden, denn:

Through funding of graduate training projects and provision of postgraduation jobs, bureaucracies have significant effects on career trajectories and orientations to knowledge. We usually work for bureaucracies, including universities, hospitals, and devlopment agencies. Finally, although anthropologists are on the whole romantic populists and rebels against routinization, we are by no means immune to the cultural effects of the bureaucratization of society. (Heyman 2004: 495)

Ein zentrales Charakteristikum von Bürokratien ist, dass sie "entpersonalisierte Machtinstrumente" sind. (Heyman 2004: 488). Sie sind nicht nur - wie Max Weber sie idealtypisch herausgearbeitet hat - Mittel zum Zweck in rational agierenden modernen Gesellschaften, sondern sie bringen selbst Macht hervor. Bürokratien gestalten politische Prozesse. Sie produzieren soziale "Indifferenz" im Sinne dessen, dass sie nicht das Besondere jedes individuellen Falles anerkennen, sondern jeden Fall nach ihrem bürokratischen Muster behandeln. Indifferenz wird so zur Zurückweisung der allgemeinen Menschlichkeit, zur Verweigerung von Identität und der Besonderheit jeder Person (Herzfeld 1992).

Bürokratien sind zur Organisation großer komplexer Gesellschaften unvermeidlich, da sie aber genau so unvermeidlich dazu tendieren ein Eigenleben zu entwickeln, sind sie einer laufenden demokratischen Kontrolle zu unterziehen. Engagierte anthropologische Forschung im Interesse der Betroffenen kann dazu beitragen, unerwünschte bürokratische Effekte aufzudecken und bei Gegenstrategien zu unterstützen (Heyman 2004).

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Foto: EU-Außengrenze Polen-Ukraine (© Gertraud Seiser, 2007)



4.1.1.1 Charakteristika von Bürokratien nach Max Weber

Max Weber hat einen Idealtypus "moderner" Verwaltung skizziert, der seiner Ansicht nach die Grundlage für "rationale, legale" Herrschaft sein muss (Weber 1922: 219ff).

Dazu gehören:

1. Ein kontinuierlicher, regelgebundener Betrieb von Amtsgeschäften innerhalb einer

2. klaren und sachlich abgegrenzten Zuständigkeit und der für die Leistungsverpflichtung eventuell erforderlichen Befehlsgewalt. Sind Zwangsmittel zur Durchsetzung der Aufgaben erforderlich, so müssen das Ausmaß und die Voraussetzung für die Anwendung dieser Zwangsmittel festgelegt sein.

3. Prinzip der Amtshierarchie im Sinne einer Ordnung der Befehlshierarchie und der Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten.

4. Klare Regeln, nach denen zu verfahren ist und die entsprechende Ausbildung und Fachschulung der Personen, die diese Regeln anzuwenden haben.

5. Prinzip der vollen Trennung von Privatvermögen und dem Vermögen, das vom Beamten zu verwalten ist. Hinzu kommt die vollständige Trennung von seinem Haushalt und der Amtsbetriebsstätte oder dem Büro.

6. Es gibt kein Recht einer Person auf ein bestimmtes "Amt", außer dies ist sachlich zur Sicherung der unabhängigen, ausschließlich normengebundenen Arbeit im Amt notwendig.

7. Die Verwaltung hat aktenmäßig zu erfolgen. Aktenmäßigkeit der Verwaltung bedeutet, dass zumindest Anträge, Entscheidungen, Verfügungen und Verordnungen schriftlich dokumentiert werden.

Diese Grundprinzipien des bürokratischen Handelns unter den Bedingungen von "rationaler Herrschaft" gelten nach Weber für große Privatbetriebe, Parteien, Armeen, für Staat und Kirche gleichermaßen (Weber 1922: 220).

Dazu Max Weber im O-Ton:

Die rein bürokratische, also: die bürokratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herren wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung. Die Entwicklung "moderner" Verbandsformen auf allen Gebieten (Staat, Kirche, Heer, Partei, Wirtschaftsbetrieb, Interessenverband, Verein, Stiftung und was immer es sei) ist schlechthin identisch mit Entwicklung und steter Zunahme der bürokratischen Verwaltung: ihre Entstehung ist z.B. die Keimzelle des modernen okzidentalen Staats. (Weber 1922: 224)

Diese idealtypische Form der Bürokratie war für Max Weber mit "rationaler Herrschaft" verbunden, die er von zwei anderen Formen der Herrschaft, nämlich "traditionaler" und "charismatischer" Herrschaft abgrenzte (Weber 1922: 214-299). Michael Herzfeld (1992: 19) weist darauf hin, dass sich Weber sehr wohl darüber im Klaren war, dass die "reine legal-rationale Bürokratie" in der Praxis nicht umsetzbar ist.



4.1.1.2 Street-Level Bureaucracy (Lipsky 1980)

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Foto: Lokalisierung von Street-Level-Bureaucrats (© Gertraud Seiser, 2007)

Dem Idealtypus der rationalen Verwaltung von Max Weber (1922) steht eine anders geartete Wirklichkeit gegenüber. Der US-amerikanische Politikwissenschafter Michael Lipsky hat die Dilemmata der BürokratInnen herausgearbeitet (1980, 2003). Unter Street- Level Bureaucracy versteht er jene Personen im öffentlichen Dienst, die in unmittelbarem und massenhaftem Kundenkontakt stehen. Es sind dies LehrerInnen und Schulverwaltung, PolizistInnen und Beschäftigte in Wohlfahrts- und Sozialeinrichtungen jeder Art, SozialarbeiterInnen, MitarbeiterInnen von Gemeindeämtern, Bezirksgerichten und Rechtsberaterinnen etc.

Sie alle sollen öffentliche Mittel zuteilen (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Stipendien etc.), Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen erbringen oder die Einhaltung von Regeln überwachen und sanktionieren. So wie sie agieren, wird staatliche Verwaltung in der Öffentlichkeit wahrgenommen und nicht wie Spitzenbeamte auf höchster Ebene sich hinter verschlossenen Türen verhalten.

Viele Bedienstete in diesen Berufsfeldern haben sich aus idealistischen Gründen für ihren Job entschieden. Sie gingen mit der Ambition in den Beruf gute Dienste für die Öffentlichkeit zu leisten. Auch die Ausbildung bereitet sie darauf vor, auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen, mit denen sie zu tun haben, einzugehen. Die Realität sieht meist anders aus:

  • Sie sind mit chronischer Ressourcenknappheit (Geld, Personal) bei hohen Ansprüchen der KlientInnen konfrontiert.
  • Sie haben keine Möglichkeit, auf einzelne Personen einzugehen, sondern sollen in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Anzahl von Menschen "abfertigen".
At best, street-level bureaucrats invent benign modes of mass processing that more or less permit them to deal with the public fairly, appropriately, and successfully. At worst, they give in to favoritism, stereotyping, and routinizing - all of which serve private or agency purposes. (Lipsky 2003: 504)

Die Folgen sind:

  • hohe Burnout-Raten und eine kurze Verweildauer im Job;
  • schlechtes Service wird frustrierend präsentiert;
  • Innenorientierung der Arbeitskultur: nicht die Klienten stehen im Vordergrund, sondern die Konkurrenz mit den KollegInnen und die Beziehungen zu den Vorgesetzten;
  • Entwicklung von Sanktionen, um "Respektlosigkeit" der KlientInnen zu bestrafen, z.B. Kind erhält schlechtere Note in Mathematik, weil es am Klo geraucht hat.

Besonders die arme Bevölkerung ist auf Street-Level Bureaucrats angewiesen. Diese Bevölkerungsgruppen haben keine Möglichkeit, die Schule zu wechseln oder auf Sozialprogramme zu verzichten. Auch kommen sie häufiger mit der Polizei in Konflikt. Die Street-Level Bureaucrats selbst rechtfertigen ihre schlechte Behandlung der KlientInnen mit deren sozialen Defiziten. Sie reproduzieren damit die soziale Stigmatisierung der Armut in den USA (Lipsky 2003: 514).

Lipsky weist darauf hin, dass es sich bei diesen Verhaltensweisen - er beschreibt viele für die KlientInnen entwürdigende Situationen - nicht um deren individuelle Bösartigkeit handelt, sondern um ein allgemeines Dilemma von Verwaltungen, hier in ihren speziellen US-amerikanischen Ausformungen:

The impulse to provide fully, openly, and responsively for citizens’ service needs exists alongside the need to restrict, control, and rationalize service inadequacies or limitations. This is the central contradiction of social services. This is more than simply a tension between costs and benefits. It is critical to reassure mass publics that their elemental needs will be taken care of if they are not met privately and to rationalize service inadequacies by deflecting responsibility away from government. (Lipsky 2003: 517)



4.1.1.3 Heyman (2004) über bürokratisches Denken

Heyman (2004) schlägt Forschungsfragen vor, die seiner Meinung nach aus einer kultur- und sozialanthropologischen Perspektive besonders lohnend zu bearbeiten sind. Hier ein paar Beispiele zur Illustration:

  • Das Anlegen von Akten ist nach Weber notwendig und rational, um bürokratisches Handeln nachvollziehbar und kontrollierbar zu machen. Akten werden nach Regeln erstellt und sie enthalten nur bestimmte Informationen über betroffene Menschen. Durch Akten wird fixiert und klassifiziert. Was nicht festgehalten wird, ist genau so relevant, wie das, was aufgezeichnet wird. Heyman bringt Beispiele aus eigenen Untersuchungen über die US- amerikanischen Einwanderungsbehörden: Aufgrund von wenigen Merkmalen (Herkunft, Rasse, Alter, Geschlecht, Religion, etc.) wird entschieden, ob jemand ins Land darf oder nicht. Heyman zeigt, dass der ideologische Hintergrund der einzelnen BeamtInnen großen Einfluss darauf hat, ob eine Person eine Aufenthaltsberechtigung erhält oder nicht.
  • Der bürokratische Arbeitsprozess erfordert, sich durch komplexe Fälle zu denken und diese auf ein einfaches Ergebnis zu reduzieren (z.B. Flüchtlingsstatus ja oder nein).
  • BürokratInnen sammeln nicht nur Informationen über die Welt, sie stellen soziale Gruppen nicht einfach nur fest, sondern sie schaffen diese Gruppen selbst aktiv durch die Kategorien, die sie anlegen.
  • Die Politik formuliert Regeln, BürokratInnen handeln entsprechend dieser Anweisungen und übersetzen die Regeln in eine Praxis. Auch ohne bewussten Missbrauch haben diese Praktiken und die Konzepte, die hinter den Praktiken verborgen sind, Folgen für die davon Betroffenen. Die Anwendung von Regeln und Politiken ist Interpretation und klassifiziert. Menschen werden dadurch entweder z.B. in ein Armutsbekämpfungsprogramm aufgenommen oder davon ausgeschlossen. BürokratInnen haben dabei - in Anlehnung an Foucault - nicht nur die Macht zu bestrafen, sondern auch "the power to bring into being and give motivation and meaning" (Heyman 2004: 490).
  • Wie BürokratInnen arbeiten und ihren KlientInnen gegenübertreten, hängt auch mit der spezifischen internen Organisationskultur zusammen (vgl. Lipsky 1980), die sehr verschieden sein kann und nicht nur durch die Hierarchie und das spezifische Tätigkeitsfeld determiniert ist. Auch die Binnenkultur und der Kontext, in dem sie steht, beeinflusst die Anwendung der Regeln. Ein Dorfgendarmerieposten wird eine andere Binnenkultur und ein anderes Außenverhältnis entwickeln als eine großstädtische Polizeispezialeinheit, obwohl beide die Überwachung der Einhaltung derselben Regeln zur Aufgabe haben.

Im Zusammenhang mit diesen bürokratischen Phänomenen sieht Heyman eine besondere Rolle der Kultur- und Sozialanthropologie. Die Analyse von Bürokratie darf sich nicht auf die Analyse der Regeln und deren Umsetzung sowie auf eine Ideengeschichte des bürokratischen Denkens beschränken. Sie muss ganz explizit das konkrete Handeln mit einbeziehen. Die bürokratischen Praktiken müssen in ihrer Ausübung beobachtet werden. Nur dadurch lassen sich die dahinter liegenden Mechanismen in vollem Umfang erkennen.


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4.2 Beispiel Universitäten aus organisationsanthropologischer Perspektive

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Im Folgenden werden organisationsanthropologische Untersuchungen über Universitäten und Frauen an Universitäten vorgestellt. Dies erscheint aus zwei Gründen sinnvoll:

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Foto: Universität Wien, Hauptportal (© Gertraud Seiser, 2007)
  • Um die Organisationsformen von Gesellschaften oder Gesellschaftssegmenten verstehen zu können, ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Umfeld unumgänglich. Die Universität ist für die meisten Studierenden wie eine neue Gesellschaft, deren Sprache sie sich zuerst aneignen und deren Regeln sie erlernen müssen, wollen sie darin bestehen. Insofern bietet sich ein feldforschender Blick auf diese Organisation geradezu an.
  • Im Besonderen sollen hier auch zwei Studien zur Bedeutung von Gender an der Universität vorgestellt werden, die beide von wiener Sozialanthropologinnen durchgeführt wurden. Zirka 80% der Studierenden der Kultur- und Sozialanthropologie und fast 64% an der Universität Wien sind weiblich, bei den Professorinnen sieht die Situation völlig anders aus.


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Abbildung: Verhältnis Studierende - Wissenschaftliches Personal
Quelle: Referat für Frauenförderung und Gleichstellung der Universität Wien (2007)

Die Auseinandersetzung mit der Organisation, in die Sie als Studierende neu eingetreten sind, kann daher durchaus von praktischem und nicht nur von theoretischem Nutzen sein.

Universitäten sind Orte der Produktion (Forschung) und Reproduktion (Lehre) von Wissen. Gleichzeitig dienen sie der Produktion und Reproduktion nationaler wie internationaler Eliten (Bourdieu 1988; Nöstlinger/Schmitzer 2007). Diese Ziele und Aufgaben sollen sie in "größtmöglicher Autonomie und Selbstverwaltung" erfüllen. In Bezug auf Österreich sind diese Ziele und Aufgaben unmissverständlich in den Paragrafen 1 bis 3 des Universitätsgesetzes 2002 festgelegt.


4.2.1 Pierre Bourdieu: Homo Academicus

Ausgangspunkt unseres kritischen Blicks auf die Universitäten ist Pierre Bourdieus Homo Academicus (1988), eine "monumentale Ethno-Studie des universitären Milieus" (Hassauer 1994: 6).

Bourdieu nimmt die Universität als jene Institution in den Blick, der die Produktion und Reproduktion der geistigen und ökonomischen Elite des Landes obliegt. Sein Ziel ist, den "Homo academicus, diesen Klassifizierer unter Klassifizierenden, den eigenen Wertungen zu unterwerfen" (Bourdieu 1988: 9). Es geht darum, "dem Gewohnten die Dimension des Exotischen zurückgeben" (ebd.: 9), "auf die vertraute Welt jenen distanzierten Blick zu richten, den der Ethnologe - außer in Momenten besonderer Wachsamkeit - spontan auf eine Welt richtet, an die ihn kein geheimes Einverständnis bindet" (ebd.: 10).

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Abbildung: Sozialer Raum der Eliten nach Bourdieu

Bourdieu stellt sich folgende Fragen:

  • Wenn den Universitäten die Produktion und Reproduktion der geistigen Eliten eines Landes obliegt, wie machen sie das?
  • Wie wird man zu einem "einflussreichen Universitätsangehörigen"? Was sind dessen Eigenschaften?
  • Wie wird in Universitäten Bedeutung, Prestige, Macht hergestellt?

Wen untersucht Bourdieu: 405 Professoren aus verschiedenen Disziplinen, mächtige, berühmte wie bedeutungslose Professoren.

Methoden:

Qualitative wie quantitative Daten wurden gesammelt und analysiert. Das Spektrum reicht von Korrespondenzanalysen, Analysen von Lebensläufen, Interviews bis zum Auszählen, wer wen wie oft zitiert hat.

Bourdieus Studie bildet das Milieu an französischen Universitäten knapp vor 1968 ab. Die Erhebungen wurden also 15 bis 20 Jahre vor der Publikation durchgeführt (vgl. Bourdieu 1988, Anhang 1: 307ff).

Bourdieus Modelle der sozialen Welt sind sehr umfassend. Hier geht es ausschließlich darum, jene vorzustellen, die an verschiedenen Universitäten Anstöße zu weiteren Untersuchungen gegeben haben.



4.2.1.1 Machtarten nach Bourdieu

Nach Bourdieu ist das universitäre Feld über zwei gegensätzliche Hierarchisierungsprinzipien organisiert:

Auf der eine Seite befindet sich die soziale Hierarchie entsprechend ererbtem Kapital und aktuellem Besitz von ökonomischem und politischem Kapital; auf der anderen die spezifische, ngenuin kulturelle Hierarchie nach Maßgabe von Kapital an wissenschaftlicher Autorität bzw. intellektueller Prominenz. (Bourdieu 1988: 100)
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Abbildung: Verteilung der Professoren der verschiedenen Fakultäten auf die Machtfelder nach Bourdieu

Ererbtes Kapital ist am ehesten in der Medizin und den Rechtswissenschaften anzutreffen, es kann dort auch einfacher in ökonomisches und politisches Kapital umgewandelt werden. Für den Aufstieg an diesen Fakultäten ist die Integration in die soziale Ordnung und die Identifikation mit der hierarchischen Ordnung der Universität zentral. Die Professoren der medizinischen Fakultäten hatten zum Zeitpunkt von Bourdieus Untersuchung die höchsten Gehälter, die höchste soziale Herkunft, aber den niedrigsten Notendurchschnitt an den Mittelschulen (im Vergleich zu den Professoren der anderen Fakultäten).

In den obersten Positionen wird nicht mehr geforscht, sondern es wird die soziale Position eingesetzt, um Forschungsmittel zu lukrieren und ForscherInnen zu rekrutieren. Am anderen Pol, den Bourdieu den intellektuellen Pol nennt, stehen die Natur- und die Geisteswissenschaften. Intellektuelle oder wissenschaftliche Macht hängt an der konkreten Person und wird über internationale Publikationen und innerhalb der "scientific community" hergestellt. Intellektuelle Macht lässt sich anhand allgemeiner Kriterien wie externem Bekanntheitsgrad oder wissenschaftlicher Anerkennung messen. Auch diese Art von Erfolg ist an allen Fakultäten vorhanden und bei den einzelnen Personen an geographische und soziale Herkunft gekoppelt (Bourdieu 1988: 142).

Auf der Ebene der einzelnen Fakultäten wiederholt sich die Positionierung der Fächer und der Professoren. Auch im humanwissenschaftlichen Bereich besteht der zentrale Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Macht und der Macht der Wissenschaftsverwalter, wobei letztere nicht an der Person, sondern an der Position (Dekan, Rektor, etc.) festgemacht ist. Eine wesentliche Funktion der Wissenschaftsverwalter liegt darin, dass sie es sind, die die Herrschaft über die Instrumente zur Reproduktion der Körperschaft ausüben (Bourdieu 1988: 149). Das heißt, sie sind es, die über die Aufnahme in höhere Positionen der Universitäten bestimmen. Sie sitzen in den Habilitations- und Berufungskommissionen und den anderen bedeutsamen universitären Gremien, denn die Professoren am intellektuellen Pol meiden Kommissionen. Wissenschaftliches oder intellektuelles Prestige ist beständiger als universitäre Macht, da man eine universitäre Position rasch wieder verlieren kann.

Bourdieu beschreibt die einzelnen Fächer als Felder ständiger Auseinandersetzung zwischen universitärer und intellektueller Macht:

die Struktur des universitären Feldes ist nichts anderes als der zu einem jeweiligen Zeitpunkt vorliegende Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Akteuren oder, genauer, zwischen den Machtformen über die sie jeweils persönlich und vor allem vermittels der Institutionen verfügen, denen sie angehören. Die innerhalb dieser Struktur eingenommene Position bildet die Grundlage der Strategien, die darauf abzielen, durch Modifikation bzw. Bewahrung der relativen Stärke der verschiedenen Machtformen oder, wenn man will, der zwischen den verschiedenen Kapitalarten bestehenden Äquivalenzen die Struktur zu verändern beziehungsweise zu wahren. (Bourdieu 1988: 213)
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Abbildung: Machtarten im universitären Feld nach Bourdieu



4.2.1.2 Hierarchien nach Bourdieu

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Foto: Wissenschaftliche Konferenzen: subtile Marktplätze für intellektuelles Kapital (© EASA-Conference Vienna, 2004)

Wie entsteht Hierarchie an Universitäten, wie wird akademisches Kapital akkumuliert?

Die Anhäufung von akademischem Kapital braucht Zeit. Die hierarchischen Entfernungen werden entlang einer Modellkarriere gedacht, die mit dem Eintritt in die Universität beginnt und sich in geordneten zeitlichen Abständen von akademischem Titel zu Titel bewegt.

Mag. ►Dr. ►Doz. ►Prof.

Die Voraussetzung für die Reproduktion der Hierarchie ist die geordnete Nachfolge, wie sie durch die Aufrechterhaltung der zeitlichen Abstände entsteht.

Auf der Ebene der Akteure, die sich auf derselben Karrierestufe befinden, stellt sich ihre wissenschaftliche Arbeit als Wettlauf, als Konkurrenzsituation dar (Bourdieu 1988: 153ff). Aber diese Konkurrenz beschränkt sich auf jene auf gleiche Höhe, die Schiedsrichter stehen immer darüber.

Nicht minder evident ist aber auch, dass die Macht, die sich auf der Herrschaft über die strategischen Positionen und aus der damit ermöglichten Kontrolle des Vorwärtskommens der Konkurrenten ergibt, nur dann wirklich gegenüber den Neuankommenden - zum Beispiel den Assistenten - greift, wenn diese einwilligen, in das Wettbewerbsspiel einzutreten, also bereit sind, anzuerkennen, worum es darin geht. (Bourdieu 1988: 155)

So entstehen und festigen sich dauerhafte Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse, die auf der Ebene der hierarchisch Niedrigeren durch „Erwartung“ und auf jener der hierarchisch Höheren durch die „Kunst des Wartenlassens“ geprägt sind. Die Macht der Professoren zeigt sich in ihrer Fähigkeit, die Karriere der Schüler zu manipulieren, genauer, den Rhythmus ihrer Karriere zu beschleunigen oder zu verzögern. Dies geht nur mit dem stillschweigenden Einverständnis der Betroffenen, "die so zuweilen bis ins fortgeschrittene Alter hinein in jener gehorsam-unterwürfigen, kurz, ein wenig infantilen Haltung gehalten werden (...), die den guten Schüler noch jeden Alters auszeichnet" (Bourdieu 1988: 155).

Konkurrenzmuss vorhanden sein, aber nicht zuviel, sonst gibt es kein „berechtigtes Hoffen“, die interessantesten Schüler wenden sich ab. Allfällige Professorenanwärter begeben sich selbsttätig unter die Fittiche der mächtigsten Professoren. Die "hellsten Schüler" unterwerfen sich quasi unbewusst den einflussreichsten Lehrern und stützen dann deren Macht. Ein Effekt, über den Kapital wieder zu Kapital kommt (Bourdieu 1988: 160).

Der Schüler bringt damit Gespür für die richtige Wahl, die richtige Investition zum Ausdruck. Um die wichtigsten Professoren scharen sich so die Kandidaten mit den im Feld wirksamsten sozialen Eigenschaften: Sie sind primär männlich, verfügen über die entsprechende soziale Herkunft und sind Absolventen von einschlägigen Eliteschulen. Die Professorenbetreuen nicht ein bestimmtes Thema (bei Dissertation oder Habilitation), sie betreuen eine Karriere.

Bourdieu schließt resignierend:

... es ist nicht zu sehen, wo Kräfte herkommen sollten, die in der Lage wären, auf praktischer Ebene eine Ordnung durchzusetzen, in der die Rekrutierung und Beförderung ausschließlich von Kriterien pädagogischer und wissenschaftlicher Produktivität und Leistung abhängen. (Bourdieu 1988: 253)


4.2.2 Nöbauer/Zuckerhut (2002): Differenzen – Einschlüsse und Ausschlüsse in der Wissenschaft

Herta Nöbauer und Patricia Zuckerhut (2002, 2003) haben sich die Frage gestellt, welche StudienabsolventInnen eine wissenschaftliche Berufslaufbahn realisieren können und wie sich insbesondere der Zugang von Frauen zum wissenschaftlichen Berufsfeld darstellt.

Das Problem, von dem sie ausgegangen sind, ist die große Anzahl von "freien Wissenschafterinnen", die außerhalb und am Rande der Universitäten in prekären Beschäftigungsverhältnissen versuchen, von der Wissenschaft zu leben. Sie bemühen sich um Lehraufträge, führen Forschungsprojekte durch, allerdings immer mit befristeten Verträgen und mehr oder minder langen Phasen der Arbeitslosigkeit dazwischen. Sie arbeiten immer wieder außerhalb der Wissenschaft um ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten zu finanzieren. In einem besonders großen Ausmaß sind "freie Wissenschafterinnen" in den Sozial- und Kulturwissenschaften anzutreffen. In der Kultur- und Sozialanthropologie bestreiten beispielsweise fast ausschließlich weibliche freie Wissenschafterinnen über zwei Drittel der gesamten Lehre. Daraus ergaben sich konkrete Forschungsfragen:

  • Wer betreibt Wissenschaft: Wie werden die Grenzen markiert?
  • Innen und außen: Wer von den WissenschafterInnen schafft es an die Universität?
  • Welche Kontinuitäten und Brüche in den Karrieren werden sichtbar?
  • Wie erfolgen genau der Einstieg und die Integration von JungwissenschafterInnen in die Universität?
  • Anthropologisch gesehen geht es vor allem darum, wie und entlang welcher Ordnungen der universitäre Alltag in den verschiedenen sozialen Beziehungen gelebt wird?


Diese Fragen werden zudem vor einem konkreten politikrelevanten Hintergrund gestellt. Ab den 1980er Jahren wurden zahlreiche Maßnahmen zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft gesetzt (vgl.: Seiser 2003) und es ging nunmehr auch um ein kritisches Hinterfragen von Sondermaßnahmen zur Förderung von Frauen und feministischen Wissenschaften. Haben Maßnahmen wie sonderfinanzierte Lehrveranstaltungen über Genderforschung zu einer Integration von Frauen in die Universitäten beigetragen oder zu einer neuen Form der Marginalisierung geführt? (Nöbauer/Zuckerhut 2002: 14f)

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Foto: Repräsentation von universitärer und intellektueller Macht an der Univ. Wien (© Gertraud Seiser, 2007)



4.2.2.1 Nöbauer/Zuckerhut (2002): Vorgehensweisen und Methoden

Um auf die Unterschiede zwischen wissenschaftlichen Feldern einzugehen und das Forschungsfeld sinnvoll zu begrenzen, wurde ein expliziter Vergleich zwischen der Studienrichtung Physik einerseits und der Kultur- und Sozialanthropologie andererseits gewählt. Die Ausgangsbasis bildete eine intensive Literatur- und Quellenrecherche zur Situation von Frauen in der Wissenschaft im deutschsprachigen Raum. Darauf aufbauend erfolgte eine quantitative Fragebogenerhebung aller AbsolventInnen der Studienrichtungen Physik und Völkerkunde der Abschlussjahre 1982 bis 1997. Dadurch sollte herausgefunden werden, welche AbsolventInnen immer noch wissenschaftlich tätig sind.

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Foto: Privater Wohnraum einer "freien Wissenschafterin" nach Abgabe der Habilitation. (Kein Büro an der Universität, keine Ehegattin zum Ordnung machen.) (© Gertraud Seiser, 2003)

Dabei war für unsere Fragestellung von zentralem Interesse, unter welchen sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen Männer und Frauen der beiden zu vergleichenden Studienrichtungen ihre wissenschaftliche Tätigkeit verrichten und wie die beiden Geschlechter vergleichsweise ihre subjektive Zufriedenheit und gesellschaftliche Anerkennung einschätzen. (Nöbauer/Zuckerhut 2002: 17f)

Die Ergebnisse der quantitativen Erhebung stellten den Bezugsrahmen für qualitative Interviewserien und teilnehmende Beobachtungen dar. Im Zentrum der teilnehmenden Beobachtung standen die Alltagspraktiken des Ein- und Ausschlusses von JungwissenschafterInnen. Dazu wurden in beiden Studienrichtungen jeweils drei DissertantInnenseminare ein Semester lang teilnehmend beobachtet.

Alle vier Zugänge zusammen bildeten die Grundlage einer möglichst dichten Beschreibung der Praktiken, durch die soziale Kategorien wie Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft, Alter und Verpflichtungen wirksam werden und eine wissenschaftliche Karriere an der Universität fördern oder behindern.



4.2.2.2 Nöbauer/Zuckerhut (2002): ausgewählte Ergebnisse - soziale Kategorien in der KSA

Sämtliches gewonnenes Erhebungsmaterial wurde darauf hin analysiert, wie die sozialen Kategorien gender, class, race, generation und obligation wirken.

Ausgewählte Ergebnisse:

Der quantitative Befund ist eindeutig:

Kultur- und Sozialanthropologie

  • Gender: 1945-1982: Dissertationen: 50 % Frauen, ab dann 2/3 Diplomabschlüsse von Frauen; bis 2006 keine Professorin; das heißt, Gender ist eine wesentliche Kategorie für Ein- und Ausschluss;
  • Race/Religion: Im österreichischen Durchschnitt sind 10% der AbsolventInnen nicht- österreichischer Staatsbürgerschaft, in der Kultur- und Sozialanthropologie nur 2%. Das heißt, die ExpertInnen des Fremden sind in Bezug auf race fast durchgehend "weiße" ÖsterreicherInnen mit entweder römisch- katholischer Konfession oder ohne religiöses Bekenntnis (Nöbauer/Zuckerhut 2003: 60);
  • Class: Der familiäre Hintergrund hat einen erheblichen Einfluss auf die Karriere; nur 1,9% der Mütter von wissenschaftlich tätigen EthnologInnen sind Arbeiterinnen, die Väter sind mehrheitlich leitende oder höhere Angestellte. Wissenschaftlich tätige EthnologieabsolventInnen kommen in wesentlich stärkerem Ausmaß aus bildungsnahen Schichten als AbsolventInnen von naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen (Német 2003);
  • Generation: Kultur- und SozialanthropologInnen sind im Durchschnitt älter als beispielsweise PhysikerInnen. Dies hängt mit einem späteren Studienbeginn einerseits und einer längeren Studiendauer andererseits sowie mit einem höheren Anteil an Berufstätigen zusammen;
  • Obligations: wirken stark hemmend auf eine wissenschaftliche Karriere. Nöbauer/Zuckerhut verstehen darunter Verpflichtungen, die sich durch Heirat, Kinderversorgung, Verpflichtungen gegenüber kranken und alten Personen ergeben. Diese können finanzieller Natur (verstärkter Zwang zum Geld verdienen) oder zeitbedingt sein.
Die besten Chancen für eine schnelle wissenschaftliche Karriere haben nach wie vor weiße jüngere Männer ohne soziale oder sonstige Verpflichtungen. (Nöbauer/Zuckerhut 2003: 67)

Geschlecht ist allgemein nicht als "reine" Kategorie zu sehen, sondern auch hier geht es um Überschneidungen und Verflechtungen. Diejenigen wenigen Frauen, die Professorinnen werden, haben einen entsprechenden sozialen und/oder ökonomischen Hintergrund. Sie kommen zum allergrößten Teil aus der Mittelklasse oder dem gehobenen Beamtentum, und sie haben wesentlich seltener eigene Kinder als ihre männlichen Kollegen. Es gibt kaum Professorinnen, deren Herkunft das ArbeiterInnenmileu ist. Class und Obligations verstärken also die Wirkungen von Gender.



4.2.2.3 Nöbauer/Zuckerhut (2002): Ausgewählte Ergebnisse - Vergleich Physik/KSA

Forschung und Lehre, sowie der Zugang von JungwissenschafterInnen zu einer wissenschaftlichen Laufbahn sind im Vergleich Physik - Kultur- und Sozialanthropologie sehr unterschiedlich.

Forschung:

Markantes Charakteristikum in naturwissenschaftlichen Fächern ist die dortigeStrukturierung in Forschungsgruppen und -teams. Das hat damit zu tun, dass diese entsprechende technische Ressourcen und auch teure Gerätschaften benötigen, die sich Einzelpersonen nicht leisten könnten. Es bilden sich Forschungsgruppen, die von Professoren (meist männlich) geleitet werden. Um diese herum bilden sich Teams von NachwuchswissenschafterInnen, DiplomandInnen, DissertantInnen und Postdocs, die für solche Gruppen rekrutiert werden. Meistens arbeiten diese JungforscherInnen in universitären Projekten, die fast immer zeitlich befristet sind. Dies ist die wichtigste Zugangsmöglichkeit zur Universität für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Entscheidend ist also, wer in eine solche Forschungsgruppe kommt, und das ist immer die alleinige Auswahlentscheidung der TeamleiterInnen. Aus Studien ist bekannt, dass durch diese Gruppenbildungen Nachwuchsforscherinnen wesentlich besser gefördert werden als DissertantInnen, die alleine an Einzelarbeiten schreiben.

Die Anfertigung von Dissertationen im Rahmen von Forschungsprojekten bedeutet in der Physik, dass diese in der Regel im Rahmen befristeter Dienstverträge, die zwar schlecht bezahlt werden aber doch, erfolgt. EthnologInnen finanzieren sich demgegenüber ihre Dissertationen fast immer selbst (Nöbauer/Zuckerhut 2002: 45ff).

Lehre:

"Interne" WissenschafterInnen sind solche, die befristete oder unbefristete Dienstverträge mit der Universität haben. Sie sind in der Regel verpflichtet, auch einen Teil ihrer Arbeitszeit in die Lehre zu investieren. Lehre wird von den Internen sowohl in der Physik als auch in der Kultur- und Sozialanthropologie wesentlich schlechter bewertet als Forschung. Lehre ist das, was von der "eigentlichen" Aufgabe, der Forschung, abhält.

Für "externe" WissenschafterInnen ist Lehre hingegen extrem wichtig. Es ist ihre - oft einzige - Anbindung an die Universität. "Prestige und Anbindungsmöglichkeit an die Universität ist im Hinblick auf die Lehre für die wissenschaftliche Identität externer Lektorinnen unfreiwillig wichtiger als Ökonomie" (Nöbauer/Zuckerhut 2002: 84). Um Zugang zum symbolischen Kapital Universität zu erhalten nehmen sie die schlechte Bezahlung der externen Lehraufträge in Kauf.

Im Bereich der Physik wird der Großteil der Lehre von Internen bestritten, in der Kultur- und Sozialanthropologie von Externen, auch in der Kultur- und Sozialanthropologie sind die fest angestellten ForscherInnen vorwiegend Männer, die externen Lehrenden aber vorwiegend Frauen.

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Foto: Forschungs- und Lehrfreiheit im Neuen Institutsgebäude (© Gertraud Seiser, 2007)

Ein oft reproduzierter universitärer Mythos besagt: Forschung und Lehre gehören eng zusammen. Im Zentrum stehe die Forschung, und deren Inhalte und Ergebnisse werden auch in die Lehre getragen, wenn möglich von den gleichen Personen. Tatsache ist allerdings, dass die Lehre oft von Externen übernommen wird und auch bei den Internen die Inhalte, die sie lehren, nicht zu deren Forschungsfeld gehören.

Diese Organisation der Teilung von Forschung und Lehre kann so betrachtet werden, dass dieser Teilung selbst wieder geschlechtsspezifische Merkmale zugeschrieben werden können. Die Forschung wird höher bewertet, und sie wird entsprechend der quantitativen Erhebungen auch häufiger von Männern betrieben. Forschung ist männlich konnotiert, während Lehre weiblich markiert ist.

Lehre ist im Gegensatz zur Forschung nicht nur minder bewertet sondern auch - wenn sie extern erfolgt - schlecht bezahlt. Es fragt sich, ob es hier um Aspekte geht, die lehrspezifisch sind, oder ist es ein Bereich, in dem Systemisierung erfolgt? Berufsbereiche in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, werden generell in unserer Gesellschaft abgewertet und schlechter bezahlt.


4.2.3 Schliesselberger/Strasser (1998): In den Fußstapfen der Pallas Athene: Mentoring an der Universität Wien

Der Begriff Mentor bezieht sich auf eine Figur der griechischen Mythologie. Odysseus hat seinen Freund Mentor gebeten, sich während seiner Irrfahrten um seinen Sohn Telemach zu kümmern und Mentor begleitete Telemach auf der Suche nach dessen Vater. Tatsächlich war es aber die Göttin Pallas Athene, die die Gestalt Mentors annahm, um Telemachs Entwicklung und Erziehung zu leiten. Durch einen 1699 erschienenen Erziehungsroman wurde Mentor zum Gattungsbegriff für eine ältere Person, die eine jüngere (Mentee) in der persönlichen und intellektuellen Entwicklung begleitet und unterstützt (Schliesselberger/Strasser 1997: 186).

Die Sozialanthropologin Sabine Strasser und die Pädagogin Eva Schliesselberger haben in den Jahren 1995/96 eine Pilotstudie zur Bedeutung von Förderungsbeziehungen für die universitäre Laufbahn an der Universität Wien durchgeführt. Der Weg von dem/der StudienanfängerIn bis zur fertig ausgebildeten Wissenschafterin, die zur Ausübung von Lehre und Forschung durch die Institution in vollem Umfang ermächtigt ist, ist lang. Er dauert in den Kultur- und Sozialwissenschaften bis zur Habilitation zwischen 20 und 25 Jahren, bis zur Berufung auf eine Professur noch etwas länger. Zwischen dem Alter von idealtypisch 18 und etwa 45 Jahren verbringen also angehende WissenschafterInnen in Beziehungen, die von Abhängigkeits- und Förderungsstrukturen geprägt sind. In den USA gibt es seit den 1970er und insbesondere den 1980er Jahren eine explizite Auseinandersetzung mit diesen Förderungsbeziehungen, die zu konkreten Mentoringprogrammen geführt haben. Zuerst wurde Mentoring im Bereich der Wirtschaft thematisiert und in der gezielten Karriereförderung im Sinne des Aufbaus von NachfolgerInnen eingesetzt.

An den Universitäten gab es bereits sehr bald Kritik an der Widersprüchlichkeit und Schlüpfrigkeit von Mentorinkonzepten: Mentoring ist einerseits eine notwendige Voraussetzung für den Eintritt und die Karriere im universitären System, andererseits perpetuiert es, vor allem wenn es informell und unreflektiert erfolgt, patriachale Herrschafts- und "Hofnachfolgestrukturen" (Bourdieu 1988; Schliesselberger/Strasser 1997, 1998).

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Foto: Es gibt sie schon, die Frauen im Arkadenhof der Uni Wien (© Gertraud Seiser, 2007)

Informelles Mentoring ist überall anzutreffen: Der „Mentor“ wählt sich seinen „Telemach“ (Mentee). Es ist eine Art kostenlose Förderung der nachfolgenden Generation durch die etablierte Generation. Zentrale Werte und Normen der Organisation werden in vielen Alltagsinteraktionen weitergegeben. Das Ziel ist die Reproduktion der Organisationskultur, die Stabilisierung der Organisation, die Weiterbildung/Heranbildung von „Thronfolgern“. Informelles Mentoring tendiert zur Selbstverschleierung. Es gibt keine offiziellen Kriterien, wer wie gefördert wird. Der Mentor begründet die Auswahl von konkreten Mentees mit dem Mythos des individuellen Erfolges – der Mentee erhält zusätzliche Chancen und Möglichkeiten, weil er es durch "Talent und Fleiß" verdient hat.

Formalisiertes Mentoring bedeutet, dass es Programme für bestimmte Zielgruppen gibt; an Universitäten sind dies z.B. Frauenförderungsprogramme oder Programme für ethnische Minderheiten. Die Charakteristika des formalisierten Mentoring sind die Offenlegung der geförderten Zielgruppen und was wie gefördert wird. Formalisiertes Mentoring will einen Reflexionsprozess, einen Veränderungsprozess hervorrufen, die Benachteiligung unterrepräsentierter Gruppen vermindern und neue Zugänge für diese finden, um den Kreislauf des informellen Mentoring zu durchbrechen und in einer langfristigen Perspektive die Förderungskultur selbst zu verändern.


Die Pilotstudie von Schliesselberger/Strasser wurde vom Wissenschaftsministerium in Auftrag gegeben und sollte politikrelevante, anwendungsorientierte Fragestellungen bearbeiten. Dass informelles Mentoring für eine universitäre Karriere wesentlich ist, war vorher bereits bekannt. Durch die Studie wurde überdeutlich, welche Gefahren sich für unterrepräsentierte Gruppen durch unreflektiertes Mentoring ergeben. Die Ergebnisse der Studie wurden als Grundlage verwendet, um dem informellen Mentoring ein formelles Mentoringprogramm entgegenzusetzen. Beide Formen dienen der Karriereunterstützung für die Mentees, aber die Zielgruppen und auch die konkrete Ausgestaltung unterscheiden sich.

Strasser und Schliesselberger haben sich nun folgende Fragen gestellt:

  • Wie funktionieren Förderungsbeziehungen an der Universität Wien?
  • Welche Bedeutung haben Differenzen (Gender, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung, ethnische und kulturelle Identität) für Mentoring?
  • Was bedeutet Mentoring für eine erfolgreiche Karriere?




4.2.3.1 Schliesselberger/ Strasser (1998): Methoden

Ausgangssituation der Studie war der ungleiche Zugang der Geschlechter zur Institution Universität und die internationale Erfahrung, dass gesetzliche Frauenförderungsmaßnahmen nur wenig an der Unterrepräsentation von Frauen in höheren akademischen Positionen geändert haben. "In den Fußstapfen der Pallas Athene" ist insofern eine Pilotstudie als erstmals eine österreichische Universität im Detail untersucht wurde, wie "die formale Aufgabe der HochschullehrerInnen, den wissenschaftlichen Nachwuchs heranzubilden und zu fördern, wahrgenommen und in der Praxis umgesetzt wird" (Schliesselberger/Strasser 1997: 185).

Nach einer umfassenden Literaturanalyse zum internationalen Forschungsstand zu Mentoring führten die beiden Autorinnen qualitative biografische Interviews mit ProfessorInnen an kultur- und sozialwissenschaftlichen Studienrichtungen der Universität durch. Die ProfessorInnen wurden zu den Förderungserfahrungen in ihrer eigenen wissenschaftlichen Laufbahn sowie zu ihrer Einschätzung der Grenzen und Möglichkeiten von Mentoring befragt.

In einem weiteren Schritt wurde ein einzelnes kulturwissenschaftliches Institut ausgewählt und dort mit den WissenschafterInnen auf allen Karriereebenen über ihre persönlichen Förderungserfahrungen und die Förderungskultur am gesamten Institut gesprochen.

Mit diesem Fallbeispiel als Ausschnitt alltäglicher Praxis im universitären Feld richtete sich unser Interesse darauf, welche Auswirkungen Hierarchie und Geschlecht auf die interaktiven Prozesse in Mentoringbeziehungen haben. (Schliesselberger/Strasser 1997: 185)

Kriterium für die Auswahl des Instituts war, dass sich auf allen Ebenen (ProfessorInnen, DozentInnen, AssistentInnen, externe LektorInnen) sowohl Männer als auch Frauen befinden und daher Hierarchie und Geschlecht in Erhebung und Analyse in alle Richtungen hin kombiniert werden konnte.



4.2.3.2 Schliesselberger/ Strasser (1998): ausgewählte Ergebnisse

Zunächst ist einmal zwischen "same-gender-Mentoring" und "cross-gender Mentoring" zu unterscheiden.

Same-gender Mentoring: Mann fördert Mann oder Frau fördert Frau;

Cross-gender Mentoring: Mann fördert Frau oder Frau fördert Mann;

Aus der Analyse der vorhandenen Literatur wird deutlich: Geschlecht, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung, ethnische und kulturelle Identität führen zu unterschiedlichen Voraussetzungen für Förderungsbeziehungen. Frauen und Minderheitenangehörige haben mehr Probleme, MentorInnen zu finden und finden sie welche, dann gelingen die Förderungsbeziehungen seltener.

  • Männliche wie weibliche Mentees bevorzugen männliche Mentoren, da sie ihnen mehr Autorität und Einfluss zuerkennen (Schliesselberger/Strasser 1997: 196);
  • Frauen als Mentees von Mentoren klagen oft über mangelnde Aufmerksamkeit, paternalistische Verhaltensweisen oder ungewollt sexuelle Dimensionen der Beziehung (Schliesselberger/Strasser 1997: 198f);
  • Die wissenschaftliche Berufslaufbahn wird als angeleiteter Sozialisierungs- und Reifungsprozess verstanden, der in den Sozial- und Kulturwissenschaften auch stark mit der Weitergabe von Denktraditionen (wissenschaftliche Schulenbildung) verbunden ist. Förderungsbeziehungen sind für Mentees daher auch Identifikationsprozesse, die auf symbolischer Ebene analog zu Verwandtschaftsverhältnissen gedacht werden (Schliesselberger/Strasser 1997: 201f).

Während der "geistige Sohn" aber als potentieller Nachfolger des väterlichen Erbes und damit auch als potentieller Konkurrent des Vaters anerkannt ist, kennt die Vater-Tochter-Beziehung keine vergleichbaren Muster der Ablöse, sonder nur die Übergabe der Tochter an einen Ehemann.

Schon der Begriff Doktormutter stellt nach Dietzen ein semantisches Unding dar, Doktorvater steht hingegen für paternalistische Strukturen, die "alte" Abhängigkeiten weiterführen und "erfolgreiche" Akademikerinnen als Seltenheitskategorie reproduzieren. (Schliesselberger/Strasser 1997: 202)

Das von Schliesselberger und Strasser untersuchte konkrete Fallbeispiel hat folgendes gezeigt:

  • Die Auswahl der Geförderten liegt ausschließlich im Ermessen der MentorInnen. Eine bereits vorhandene Förderungsbeziehung war in jedem Einzelfall Voraussetzung für die erfolgreiche Bewerbung als AssistentIn. Obwohl Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Akzeptanz des Abhängigkeitsverhältnisses und Sympathie eine wesentliche Rolle bei der Auswahl spielen, verhalten sich alle so, als ginge es ausschließlich um die Auswahl der Qualifiziertesten nach "objektiven" Kriterien. Das wirkliche Selektionsverfahren findet also bereits vor der Ausschreibung eines Postens statt.
  • Von den Mentees werden bis zur Habilitation und oft noch danach ständige Investitionen in die Aufrechterhaltung der Beziehung erwartet. Es ist ein langer Prozess, der ständige "Bewährung" erfordert und mit enormen Anpassungsleistungen an die Institution Universität verbunden ist. Auf diese Weise überbrücken Förderungsbeziehungen die Diskrepanz zwischen dem "Idealtypus unabhängige WissenschafterInnen" und der Universität als einer Organisation mit strenger hierarchischer Ordnung (Schliesselberger/Strasser 1997: 223).

Fazit:

Für Frauen wird der Versuch, sich in diesen informellen Beziehungen zurechtzufinden, zum doppelten Balanceakt, denn die Repräsentation der Universität nach außen beinhaltet, daß nicht nur Beziehungen, sondern auch dem Geschlecht in diesem Kontext keine Bedeutung zukommt. Der von uns untersuchte Ausschnitt der Praxis zeigte, wie sich die Geschlechterhierarchie in den universitären same- und cross-gender- Beziehungenfortsetzt. Frauen sind dabei offenen und subtilen Formen der Diskriminierung ausgesetzt, ebenso fügen sie sich selbst in mannigfaltiger Hinsicht den geschlechtsstereotypen Erwartungen an ihr Geschlecht. Die Abhängigkeit in hierarchischen Förderungsbeziehungen läßt ihnen in einem männlich dominierten Feld wenig Spielraum. (Schliesselberger/Strasser 1997: 224)


4.2.4 Aufgabe: Universitätsgesetz 2002

Aufgabe:

Im Folgenden finden Sie die Paragrafen 1 bis 3 des Universitätsgesetzes 2002.

  1. Entwickeln Sie auf Basis der kritischen Lektüre dieses Textes konkrete organisationsanthropologische Forschungsfragen;
  2. Skizzieren Sie auf Basis dessen, was Sie über Ethnografie in Organisationen wissen, ein Forschungsdesign, wie diese Fragen methodisch umgesetzt werden könnten:


Universitätsgesetz 2002[1]

I. Teil Organisationsrecht
1. Abschnitt Allgemeine Bestimmungen
1. Unterabschnitt Grundsätze, Aufgaben und Geltungsbereich
Ziele
§ 1. (1) Die Universitäten sind berufen, der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, der Entwicklung und der Erschließung der Künste sowie der Lehre der Kunst zu dienen und hiedurch auch verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen sowie zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen. Universitäten sind Bildungseinrichtungen des öffentlichen Rechts, die in Forschung und in forschungsgeleiteter akademischer Lehre auf die Hervorbringung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie auf die Erschließung neuer Zugänge zu den Künsten ausgerichtet sind. Im gemeinsamen Wirken von Lehrenden und Studierenden wird in einer aufgeklärten Wissensgesellschaft das Streben nach Bildung und Autonomie des Individuums durch Wissenschaft vollzogen. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses geht mit der Erarbeitung von Fähigkeiten und Qualifikationen sowohl im Bereich der wissenschaftlichen und künstlerischen Inhalte als auch im Bereich der methodischen Fertigkeiten mit dem Ziel einher, zur Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen in einer sich wandelnden humanen und geschlechtergerechten Gesellschaft beizutragen. Um den sich ständig wandelnden Erfordernissen organisatorisch, studien- und personalrechtlich Rechnung zu tragen, konstituieren sich die Universitäten und ihre Organe in größtmöglicher Autonomie und Selbstverwaltung.
(2) Soweit dieses Bundesgesetz keine abweichenden Bestimmungen enthält, sind der 1. und 2. Abschnitt des Forschungsorganisationsgesetzes (FOG), BGBl. Nr. 341/1981, auch im Anwendungsbereich dieses Bundesgesetzes anzuwenden.
Leitende Grundsätze
§ 2. Die leitenden Grundsätze für die Universitäten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben sind:
1. Freiheit der Wissenschaften und ihrer Lehre (Art. 17 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867) und Freiheit des wissenschaftlichen und des künstlerischen Schaffens, der Vermittlung von Kunst und ihrer Lehre (Art. 17a des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger);
2.Verbindung von Forschung und Lehre, Verbindung der Entwicklung und Erschließung der Künste und ihrer Lehre sowie Verbindung von Wissenschaft und Kunst;
3.Vielfalt wissenschaftlicher und künstlerischer Theorien, Methoden und Lehrmeinungen;
4.Lernfreiheit;
5.Berücksichtigung der Erfordernisse der Berufszugänge, insbesondere für das Lehramt an Schulen bzw. Berufstätigkeiten an elementarpädagogischen Bildungseinrichtungen;
6. Mitsprache der Studierenden, insbesondere bei Studienangelegenheiten und bei der Qualitätssicherung der Lehre;
7. nationale und internationale Mobilität der Studierenden, der Absolventinnen und Absolventen sowie des wissenschaftlichen und künstlerischen Universitätspersonals;
8. Zusammenwirken der Universitätsangehörigen;
9. Gleichstellung von Frauen und Männern;
10. soziale Chancengleichheit;
11. besondere Berücksichtigung der Erfordernisse von behinderten Menschen;
12. Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit der Gebarung;
13. Vereinbarkeit von Studium oder Beruf mit Betreuungspflichten für Kinder und pflegebedürftige Angehörige;
14. Nachhaltige Nutzung von Ressourcen.
Aufgaben
§ 3. Die Universitäten erfüllen im Rahmen ihres Wirkungsbereichs folgende Aufgaben:
1. Entwicklung der Wissenschaften (Forschung und Lehre), Entwicklung und Erschließung der Kunst sowie Lehre der Kunst;
2. Bildung durch Wissenschaft und durch die Entwicklung und Erschließung der Künste;
3. wissenschaftliche, künstlerische, künstlerisch-pädagogische und künstlerisch-wissenschaftliche Berufsvorbildung, Qualifizierung für berufliche Tätigkeiten, die eine Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden erfordern, sowie Ausbildung der künstlerischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten bis zur höchsten Stufe;
4. Heranbildung und Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses;
5. Weiterbildung, insbesondere der Absolventinnen und Absolventen von Universitäten und von Pädagoginnen und Pädagogen;
6. Koordinierung der wissenschaftlichen Forschung (Entwicklung und Erschließung der Künste) und der Lehre innerhalb der Universität;
7. Unterstützung der nationalen und internationalen Zusammenarbeit im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre sowie der Kunst;
8. Unterstützung der Nutzung und Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse in der Praxis und Unterstützung der gesellschaftlichen Einbindung von Ergebnissen der Entwicklung und Erschließung der Künste;
9. Gleichstellung von Frauen und Männern und Frauenförderung;
10. Pflege der Kontakte zu den Absolventinnen und Absolventen;
11. Information der Öffentlichkeit über die Erfüllung der Aufgaben der Universitäten.

Verweise:
[1] https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20002128 Abgerufen am 11.12.2019


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4.3 Beispiel Gesundheitswesen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Das Gesundheitswesen und im Speziellen Krankenhäuser sind aus organisationsanthropologischer Perspektive in vielerlei Hinsicht interessant. Spitäler als funktionierende Organisationen verlangen das Zusammenwirken sehr unterschiedlicher Personengruppen:

  • ÄrztInnen sind hochspezialisierte ExpertInnen mit einer ausgeprägten Berufskultur. Sie identifizieren sich primär über ihre fachliche Rolle und die Möglichkeiten zur fachlichen Profilierung (Szabo 1998: 310).
  • Das Spitalsmanagement muss versuchen, die divergierenden Interessenlagen zusammenzuführen und zudem auch ökonomische Effizienkriterien durchzusetzen (Sobo/Sadler 2002).
  • Das Pflegepersonal befindet sich oft in einer Situation der von Lipsky (1980) beschriebenen Street-Level Bureaucracy. Es ist zwischen den Bedürfnissen der PatientInnen, den Anforderungen durch die ÄrztInnen und den Restriktionen, die von der Verwaltung vorgegeben werden, "eingeklemmt".
  • Die PatientInnen sind meist auf mehrfache Weise wehrlos. Sie sind auf die Organisation angewiesen und sie haben Angst. Mögliche Fehlentscheidungen treffen sie unmittelbar. Zusätzlichen Stress verursacht die fast immer unvollständige Information über ihren Gesundheitszustand und dessen mögliche Folgen (Parker 2001).

In der Folge werden konkrete Studien zum Zusammenwirken dieser Personengruppen in Spitälern präsentiert.


4.3.1 Abraham (1997) Interkulturelle Kommunikation in einem Krankenhaus

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Foto: Wiener Spitalskomplex Quelle

Eine der ersten Studien zu interkulturellen Kommunikation in einem österreichischen Organisationssetting wurde 1997 von Elisabeth Abraham im Rahmen ihrer Diplomarbeit vorgelegt.

Reibungslose Kommunikationsabläufe zwischen Pflegepersonal und ÄrztInnen sowie innerhalb des Pflegepersonals sind für eine optimale Patientenversorgung von enormer Bedeutung. In Wiener Spitälern kommt das Pflegepersonal häufig aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Aufgrund dieser Situation hat sich Abraham folgende Frage gestellt:

Sind eventuell auftretende sprachliche oder sonstige Missverständnisse kulturell bedingt?

Die Ethnologin hat sich für die aktive Suche nach kulturellen Unterschieden in der Kommunikation auf die urologische Station eines Wiener Krankenhauses begeben.



4.3.1.1 Abraham (1997): Methoden und Vorgehensweise

Die Erhebung beruht auf teilnehmender Beobachtung und informellen Gesprächen über einen Zeitraum von neun Wochen auf der urologischen Station eines größeren Wiener Spitals. Im Zentrum stand dabei die Kommunikation unter dem multikulturellen Pflegepersonal und zwischen PflegerInnen und ÄrztInnen. Ziel war eine linguistische Analyse von interkulturellen Interaktionen. Die Datenbasis für die linguistische Analyse lieferten aufgezeichnete formalisierte Gespräche - die Dienstübergaben zwischen den Tag- und Nachtdiensten des Pflegepersonals. Insgesamt 27 solcher Dienstübergaben, in die PflegerInnen unterschiedlicher Herkunftskulturen involviert waren, wurden aufgenommen.

Dienstübergaben

zwischen Tag- und Nacht- sowie zwischen Nacht- und Tagdiensten finden jeweils um 19 Uhr und um 7 Uhr statt. Sie dauern zwischen 15 Minuten und einer Stunde und werden im untersuchten Fall zu etwa einem Drittel im Beisein von ÄrztInnen abgehalten. Dienstübergaben folgen einem formalisierten Ablauf. In einer vorgegebenen Reihenfolge wird PatientIn für PatientIn durchbesprochen: Diagnose, gesundheitlicher Zustand, Vorkommnisse wie Ausscheidungen, Medikation etc. Der Informationsfluss erfolgt dabei primär von jenen, die den Dienst verlassen, zu jenen, die ihn gerade antreten.

Interkulturelle Kommunikation

Um besser vergleichen zu können, hat Abraham die in Frage kommenden interkulturellen Kommunikationssituationen eingegrenzt und konkretisiert: Kriterium für die Auswahl der Dienstübergaben war die Beteiligung von Pflegepersonen aus drei bestimmten Herkunftsregionen, nämlich Oberösterreich, den Philippinen und Tunesien. Bei den tunesischen Pflegern handelt es sich ausschließlich um Männer, bei den PflegerInnen von den Philippinen um Männer und Frauen und bei den Oberösterreicherinnen ausschließlich um Frauen.

Eine Dienstübergabe wurde dann aufgezeichnet und in die Analyse mit einbezogen, wenn mindestens zwei der drei Gruppen bei der Übergabe präsent waren. Alle bei den Dienstübergaben anwesenden ÄrztInnen kamen ausschließlich aus Österreich.



4.3.1.2 Abraham (1997): Ergebnisse

`58; Organisation und Abläufe auf der Station beeinflussen stattfindende Gespräche

Die Kommunikation unter den PflegerInnen auf der Station bezieht sich generell in einem sehr hohen Ausmaß auf das, was auf der Station passiert. Informelle Gesprächspausen werden durch die Ablauforganisation determiniert. Auch Kantinengespräche sind primär berufsbezogen.

`58;Reihung der Themen bei Dienstübergaben richtet sich nach den Vorgaben der Institution. Notfälle ändern die Reihung der Themen

Die Dienstübergaben sind stark reglementiert und alle PatientInnen werden in einer vorgegebenen Reihenfolge anhand einer Checkliste durchbesprochen. Diese Reihenfolge wird im Regelfall auch eingehalten. Werden Notfälle eingeliefert oder traten im letzten Dienst bei einzelnen PatientInnen Komplikationen auf, so wirkt sich das stark auf die Kommunikation aus. Die Reihenfolge der Themen und der besprochenen PatientInnen verändert sich.

`58;Redezeitverteilung ist kulturunabhängig; bei Anwesenheit von ÄrztInnen starke Abweichungen = Hinweis auf Hierarchie

Die Messung der Verteilung der Redezeit bei den Dienstübergaben hat ein sehr uniformes Muster ergeben. Das Pflegeteam, das den Dienst übergibt, beansprucht etwa 95% der Zeit, die restlichen 5% werden von jenen, die den Dienst übernehmen für kurze Nachfragen genützt. Im Bezug auf die Redezeitverteilung sind keine Unterschiede zwischen den beteiligten Kulturen und auch nicht zwischen den Geschlechtern festzustellen.

Sind ÄrztInnen anwesend, verändert sich jedenfalls die Verteilung der Redezeit stark. Auch wenn sie nur die Rolle des/der ZuhörerIn ausüben, beanspruchen diese mindestens 35% der Zeit. Das wird von Abraham als deutlicher Hinweis auf ein hierarchisches Verhältnis gewertet.

`58;Keine Belege für die Bildung nationalkultureller Subgruppen unter den PflegerInnen

Obwohl Abraham explizit nach kulturellen Unterschieden gesucht hat, ließen sich solche auch außerhalb der Dienstübergaben nicht feststellen. Auch in den Diensteinteilungen fanden sich keine Hinweise für die Bildung nationalkultureller Subgruppen finden. Die einzelnen PflegerInnen können beispielsweise mitbestimmen, wann sie ihre Dienste verrichten wollen. Dies orientiert sich aber viel stärker an privaten Verpflichtungen, als daran, ob KollegInnen mit derselben nationalen Herkunft für bestimmte Dienste eingetragen sind.

`58; „Wir“ und "Die" auf der Station

Als nächstes hat sich Abraham angesehen, wer bei den Gesprächen während der Dienstübergaben jeweils als "wir" kategorisiert wird und wer als "die anderen".

In keinem Fall konnte eine "wir - sie" Abgrenzung der PflegerInnen untereinander in Bezug auf nationale Herkunft festgestellt werden, obwohl "wir - sie" Abgrenzungen insgesamt sehr häufig vorkommen. Sie beziehen sich entweder auf andere Stationen - "wir" von der Urologie versus "die" von der Chirurgie - oder auf andere Statusgruppen ("wir" PflegerInnen versus "die" ÄrztInnen).

Wird von "wir" gesprochen, war damit entweder das aktuell im Dienst befindliche Pflegeteam oder die Station als Subeinheit gemeint. Die PflegerInnen fühlen sich somit einem ständig anders zusammengesetzten Arbeitsteam zugehörig. Am stärksten ist die Abgrenzung gegenüber der Gruppe der ÄrztInnen: Diese sind jedenfalls "die anderen".

`58;PatientInnen werden nach Krankheiten kategorisiert; Ausnahme: „KlassepatientInnen“, diese bilden eigene Subgruppe

Die Gruppe der PatientInnen wird nach zwei Kriterien in Subgruppen unterteilt. Die wesentliche Unterscheidung ist in "Klasse-" und "Nicht-Klasse"-PatientInnen, der versicherungsrechtliche Status wird jedenfalls betont. Eine weitere Klassifizierung der PatientInnen erfolgt nach den Krankheiten, die den Aufenthaltsgrund auf der Station bilden.

Elisabeth Abraham fasst die Ergebnisse ihrer Diplomarbeit wie folgt zusammen:

Der Einfluss der Institution ist so stark, dass soziale Variablen der Pfleger und Schwestern wie Geschlecht, Alter und Nationalkultur an Bedeutung verlieren. (Abraham 1997: 96)

4.3.2 Sobo/Sadler (2002) Improving Communication and Cohesion in Health Care

Sobo/Sadler (2002) ist ein Beispiel für eine rein angewandte Organisationsanthropologie in einem Krankenhaus. Das Management eines großen Kinderspitals und Kindergesundheitszentrums in San Diego, Kalifornien, startete 1999 ein Organisationsprojekt (keine Forschung), um gezielt die Arbeitsmoral der etwa 3000 KrankenhausmitarbeiterInnen zu erhöhen. Man beauftragte zusätzlich die Anthropologin Elisa Sobo mit einer Begleitforschung, um den in der Managementliteratur dominierenden monolithischen Kulturbegriff aufzubrechen.

Die folgende Projektkurzdarstellung stützt sich auf den von Elisa Sobo und Blair Sadler (Leiter des Krankenhauses) verfassten Artikel in "Human Organization". Das Projekt ist wegen der Kombination Anthropologin und Top- Manager auch in Hinblick auf die professionelle Verantwortung von OrganisationsanthropologInnen relevant sowie auch in Bezug auf die Frage von Publikationsrechten bei angewandter Auftragsforschung.

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Foto: Children’s Hospital-San Diego Quelle



4.3.2.1 Sobo/Sadler (2002): Historischer Kontext

Die 1990er Jahre waren in den USA von einem so genannten "Re-engineering"des Gesundheitswesens geprägt. Unter "Re-engineering" versteht man eine Mischung aus "Downsizing" und "Restructuring", das heißt, Organisationen werden zuerst verkleinert (Personal wird entlassen) und dann so umstrukturiert, dass von nunmehr weniger Personal mehr Leistungen erbracht werden.

Es wurde enormer gesellschaftlicher Druck auf Spitäler ausgeübt, ihre Dienste für weniger Geld zu verrichten.

Gründe:

  • Zunehmende Eltern- und Patientenerwartungen, ihre Kinder oder sich selbst auf dem neuesten Stand der medizinischen Möglichkeiten versorgt wissen zu wollen.
  • Versicherungsunternehmen entwickeln Strategien, um die Inanspruchnahme von Leistungen zu reduzieren. Dies erfolgt vor allem durch "managed care", das bedeutet, die Versicherungsunternehmen legen fest, wie hoch die Abgeltung von medizinischen Leistungen an Krankenhäuser und ÄrztInnen bei definierten Indikationen ist.
  • Leistungen, die schlecht oder nicht abgegolten werden, müssen vom Krankenhausmanagement reduziert werden oder das Krankenhaus geht in Konkurs.

Spezifische Probleme der Region San Diego: Armut und illegale Immigration führen dazu, dass viele Kinder nicht oder sehr schlecht versichert sind.

Ungewollter Nebeneffekt dieser Entwicklungen und politischen Rahmenbedingungen war ein starkes Absinken der Arbeitsmoral beim Personal. Drei Fünftel der MitarbeiterInnen dieses Kinderspitals empfanden die eigene Arbeitsmotivation als niedrig. Aus anderen US-Studien in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ist bekannt, dass "Re-engineering" zu einem Anstieg von Depressionen, zu Angst, Jobunsicherheit und in der Folge zu einem Qualitätsverlust der Leistungen führt.

Für engagiertes medizinisches Personal ist es besonders frustrierend, wenn sie Kinder nicht auf dem Stand ihres professionellen Könnens behandeln dürfen, weil die Bezahlung nicht möglich oder nicht geklärt ist. Es kam zu einem Aufruhr in diesem Spital und zu einer massiven Forderung nach gewerkschaftlicher Organisation. Die Spitalsleitung entschied sich für ein partizipatorisches Projekt, das zum Ziel hatte, die Zufriedenheit der MitarbeiterInnen wieder zu heben.

Interessanter Link: Managed Care Plan des Childrens Hospital, San Diego[1]


Verweise:
[1] https://www.rchsd.org/health-articles/health-insurance-basics/



4.3.2.2 Sobo/Sadler (2002): Projekt

Im Kinderspital wurden so genannte ELCs (Employee-Leadership Councils) eingesetzt. Nach dem Schneeballprinzip sollten sich Angestellte monatlich mit dem Management treffen, um über die Besprechung aktueller Probleme eine positive Veränderung der Organisationskultur zu bewirken. Die Gruppen umfassten maximal dreißig Personen und wurden immer aus verschiedenen Abteilungen und Personalkategorien zusammengesetzt. Der oberste Spitalschef, der bei diesen Sitzungen immer anwesend war, kam somit erstmals persönlich mit beispielsweise Putzfrauen in Kontakt.

Aufgabe der Anthropologin war, diese Beratungssitzungen teilnehmend zu beobachten und zu evaluieren. Zusätzlich führte sie eine Fragebogenerhebung über die Probleme der Angestellten, deren Informationsstand und Problembewusstsein durch. Die Forderungen des Personals wurden somit anonym erhoben und waren keine Einzelmeinungen mehr. In den ELCs konnten Probleme und Forderungen in der Folge in persönlicher Diskussion erläutert und besprochen werden. In diesen Sitzungen wurde auch nach Problemlösungen gesucht.



4.3.2.3 Sobo/Sadler (2002): Ergebnisse

Mit der Einsetzung der ELCs wurde 1999 begonnen, nach einem Jahr waren folgende Ergebnisse festzustellen:

  • Eine deutliche Anhebung der Angestelltenzufriedenheit wurde von Sobo/Sadler konstatiert, obwohl substantielle Forderungen wie solche nach mehr Gehalt und mehr Personal nicht erfüllt wurden. Dieses Ergebnis wollen wir hier nicht bewerten.
  • Es gibt nicht eine "corporate culture", sondern viele. Die Grenzen zwischen einzelnen Abteilungen und Aufgabenbereichen, z.B. Verwaltungseinheiten und mit PatientInnen befassten Kliniken sind stark ausgeprägt. Die daraus resultierenden Kommunikations- und Verständnisprobleme werden von allen wahrgenommen. Es fehlt vor allem ein Verständnis für die Arbeitszwänge anderer Subeinheiten.
  • Als gravierendes Problem wurde das Verhältnis zwischen ÄrztInnen und Pflegepersonal identifiziert. Aus Sicht der PflegerInnen wurde kritisiert, dass die ÄrztInnen ihre Anweisungen nicht verschriftlichten. Kam es zu einer Fehlbehandlung oder zu Komplikationen bei PatientInnen, wurde die Verantwortung dafür regelmäßig den PflegerInnen zugeschrieben. Die Leitung reagierte darauf mit der Anweisung, dass in der Folge alle Pflegeanordnungen schriftlich zu erteilen und ihre Durchführung zu protokollieren sei. Dies führte wiederum zu einem erheblichen Mehraufwand und zu zeitlichen Mehrbelastungen.



4.3.2.4 Selbstrepräsention von "Childrens"

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Foto: Selbstrepräsentation Quelle: [1]

It is the phone call that every parent dreads — the news that something terrible has happened. It is the sickening sound of tires screeching — the scream or, perhaps worse, the silence, that follows. It is the way your heart seems to suddenly stop beating when the sound of the ambulance is coming to your street. To your home. To your child.

On February 24, 2006, eight families shared these frightening, life-changing moments. Eight children received care from Children’s Trauma Care Center, a team of caregivers who are incredibly technical and precise and efficient, but also gentle and caring. To share in this day is to see a side of Children’s that you never want to experience in person — but also to share in the profound relief that this team is waiting... just in case.

Nächstes Kapitel: 4.4 Weiterführende Literatur und Quellen


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4.4 Weiterführende Literatur und Quellen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Abraham, Elisabeth

1997 Interkulturelle Kommunikation in Organisationen. Eine empirische Studie über die Kommunikation des Pflegepersonals an einer Wiener Klinik Universität Wien]

Blau, P.M., and W.R. Scott

1962 Formal Organizations. San Francisco: Chandler

Bourdieu, Pierre

1988 Homo Academicus. Frankfurt/Main: Suhrkamp

Hassauer, Friederike

1994 Homo. Academica. Geschlechterkontrakte, Institution und die Verteilung des Wissens. Wien: Passagen Verlag

Herzfeld, Michael

1992 The Social Procuction of Indifference. Exploring the Symbolic Roots of Western Bureaucracy. London, Chicago: University of Chicago Press

Heyman, Josiah

2004 The Anthropology of Power-Wielding Bureaucracies. Human Organization 63: 487-500.

Lipsky, Michael

1980 Street-Level Bureaucracy: Dilemmas of the Individual in Public Services. New York: Russel Sage Foundation

2003 Street-Level Bureaucracy. Dilemmas of the Individual in Public Services. In: Michael L. Handel (ed.), The Sociology of Organizations. Classic, Contemporary, and Critical Readings; pp. 503-518. Thousand Oaks: Sage Publications

Német, Mark

2003 Quantitäten in Völkerkunde. Zur Entwicklung von Studium und Beruf in der Ethnologie. Universität Wien]

Nöbauer, Herta, and Patricia Zuckerhut

2002 Differenzen. Einschlüsse und Ausschlüsse - Innen und Außen - Universität und freie Wissenschaft. Wien

2003 Differenzen in der Wissenschaft. In: Gertraud Seiser, Julia Czarnowski, Petra Pinkl and Andre Gingrich (eds.), Explorationen ethnologischer Berufsfelder. Chancen und Risken für UniversitätsabsolventInnen; pp. 57- 68. Wien: WUV Universitätsverlag

Nöstlinger, Elisabeth, and Ulrike Schmitzer (eds.)

2007 Bourdieus Erben. Gesellschaftliche Elitebildung in Deutschland und Österreich. o.O.: Mandelbaum Verlag

Parker, Melissa

2001 Stuck in GUM: An Ethnography of a Clap Clinic. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work; pp. 137- 156. Oxford, New York: Berg

Referat Frauenförderung und Gleichstellung der Universität Wien (ed.)

2007 Gender im Fokus. Frauen und Männer an der Universität Wien. Wien

Schliesselberger, Eva, and Sabine Strasser

1997 In den Fußstapfen der Pallas Athene? Möglichkeiten und Grenzen des Mentoring von unterrepräsentierten Gruppen im universitären Feld am Beispiel von Frauen in den Kulturwissenschaften. In: Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr (ed.), 100 Jahre Frauenstudium. Zur Situation der Frauen an Österreichs Hochschulen; pp. 185-226. Wien: Selbstverlag. (Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft)

1998 In den Fußstapfen der Pallas Athene? Möglichkeiten und Grenzen des Mentoring von unterrepräsentierten Gruppen im universitären Feld. Wien: Österreichische Staatsdruckerei (Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft, 7)

Seiser, Gertraud

2003 "Man muss die gewinnen, die das Handeln haben." Die Entwicklung der Frauenförderung an Österreichs Universitäten in den 1990er-Jahren aus Verwaltungsperspektive. In: Roberta Schaller-Steidl and Barbara Neuwirth (eds.), Frauenförderung in Wissenschaft und Forschung. Konzepte, Strukturen, Praktiken; pp. 17-39. Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur

Seiser, Gertraud, Julia Czarnowski, Petra Pinkl, and Andre Gingrich (eds.)

2003 Explorationen ethnologischer Berufsfelder. Chancen und Risken für UniversitätsabsolventInnen. Wien: WUV Universitätsverlag

Sobo, Elisa J., and Blair L. Sadler

2002 Improving Organizational Communication and Cohesion in a Health Care Setting through Employee-Leadership Exchange. Human Organization 61: 277-287.

Szabo, Erna

1998 Organisationskultur und Ethnographie. Fallstudie in einem österreichischen Krankenhaus. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag

Weber, Max

1922 Wirtschaft und Gesellschaft. Paderborn: Voltmedia

Wilson, T.M.

1998 An Anthropology of the European Union, From Above and Below. In: S. Parman (ed.), Europe in the Anthropological Imagination. Upper Saddle River: Prentice Hall

Wright, Susan

1994 Clients and empowerment. Introduction. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 161-167. London and New York: Routledge

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5. Profit-Organisationen: Ausgewählte Studien

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

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Foto1: Tea Company. Foto: Stuck in Customs, Lizenz: CC-BY-NC. Quelle
Foto2: Herstellung optoelektronischer Elemente, ShenZhen, China, 2006. Steve Jurvetson, Lizenz: CC BY. Quelle
Foto3: Schweißer. Lizenz: CC Public Domain. Quelle

Dieser Abschnitt stellt ausgewählte Studien über Unternehmen in Europa, Südostasien und dem Nahen Osten vor, die von Kultur- und SozialanthropologInnen, EthnologInnen und von WissenschafterInnen aus Nachbardisziplinen (v.a. Europäische Ethnologie/Volkskunde und Soziologie) erstellt wurden.

Gemeinsam ist den Studien ihre qualitative Vorgehensweise. Ausschließlich oder vorrangig quantitative Forschungen sind nicht vertreten.

Die Themenstellungen spiegeln die Breite und Facetten aktueller organisationsanthropologischer Forschung.


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5.1 Elizabeth Dunn (2004) "Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

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Abbildung: Landkarte Polen Quelle

Was geschieht in einem ehemaligen sozialistischen Staatsbetrieb, der privatisiert und von einem US-Konzern gekauft wurde? Welche neuen, kapitalistischen Managementtechniken werden eingeführt? Wie verändern sich die Machtbeziehungen innerhalb des Betriebs und wie die Vorstellungen von Produktion, Arbeit und Erfolg? Welche Wirkung hat dies auf das Selbstbild der ArbeiterInnen? ...

Diesen und weiteren Fragen geht die US-amerikanische Anthropologin Elizabeth Dunn in "Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor" nach (2004; siehe auch Dunn 1999). Detailreich beschreibt und analysiert sie die Transformation des ehemaligen Staatsbetriebs Alima-Gerber in Rzeszów in ein kapitalistisch geführtes Unternehmen. Dunn porträtiert auf diese Weise anschaulich den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel im postsozialistischen Polen.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Partei 1989 war es zunächst darum gegangen, politische und wirtschaftliche Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Bald jedoch schon wurden Stimmen laut, die eine neue "Mentalität" bzw. einen "kulturellen Wandel" verlangten. Das postsozialistische Subjekt sollte frei wählen, unabhängig und unternehmerisch agieren, risikofreudig und flexibel sein. Einer der Orte, an dem dieses Subjekt geformt werden sollte, war der Arbeitsplatz. Dunn liefert mit ihrer Analyse der Managementpraktiken, die bei Alima-Gerber eingeführt wurden, und den damit verbundenen Auseinandersetzungen und Konflikten im Betrieb daher auch einen Beitrag zur anthropologischen Diskussion um "personhood" (Dunn 2004).

Literatur:

Dunn, Elizabeth C.

1999 Slick salesmen and simple people. Negotiated capitalism in a privatized Polish firm. In: Michael Burawoy and Katherine Verdery (eds.), Uncertain Transition: Ethnographics of Change in the Postsocialist World. Rowman & Littlefield
2004 Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor. Ithaca; London: Cornell University Press

Website: Elizabeth Dunn[1]

Verweise:
[1] http://www.elizabethcullendunn.com/

5.1.1 Dunn (2004): Das Forschungsfeld: Alima-Gerber in Rzeszów, Polen

Die Nahrungsmittelfabrik Alima in Rzeszów war vor dem zweiten Weltkrieg gegründet worden und stellt Kindernahrung, Säfte, Marmeladen, Kompotte, Ketchup, Konserven und Tiefkühlgemüse her. 1992 war sie eine der ersten Staatsbetriebe Polens, die an westliche Konzerne verkauft wurden. Aus Sicht der polnischen Regierung sollten die Privatisierungen Finanzmittel und westliches Know How in die ehemaligen Staatsbetriebe bringen. Denn der neoliberale post- sozialistische Plan sah vor, Produktion und Distribution neu zu ordnen und global wettbewerbsfähige Unternehmen entstehen zu lassen.

Mehrere westliche Konzerne interessierten sich für den Kauf von Alima. Den Zuschlag erhielt die im US-amerikanischen Fremont in Michigan angesiedelte Gerber Products Company. Ziel der Gerber Products Company war es, vom Produktionsstandort Rzeszów aus den Markt in Frankreich, Tschechien und Ungarn zu erschließen.

Um dies zu erreichen, führte das Management des privatisierten Unternehmens, nun Alima-Gerber genannt, neue Funktionen (z.B. Marketing, Vertrieb, Personalmanagement) und ein aufwändiges System zur Qualitätskontrolle ein. Die verantwortlichen ManagerInnen schränkten die Produktpalette ein und nutzten das bis dahin in Polen kaum bekannte Nischenmarketing, um neue Produkte für neue Zielgruppen auf den Markt zu bringen. Im Bereich des Personalmanagements wurde ein System zur Arbeitsplatzbewertung und zur Leistungsbeurteilung entwickelt und an das Entlohnungs- und Prämiensystem gekoppelt. Ganze Unternehmensbereiche (z.B. Wäscherei, Wachdienst) wurden ausgelagert. Alima-Gerber reduzierte die Belegschaft um rund ein Drittel auf etwa 1000 MitarbeiterInnen. Im Vertriebsbereich wurde neues Personal aufgenommen. Zum Ausgleich saisonaler Produktionsspitzen zog das Unternehmen LeiharbeiterInnen heran. Kurz gesagt: Die Unternehmensführung von Alima-Gerber setzte auf westliche, post-fordistische Managementpraktiken, um den Betrieb auf kapitalistische Profitorientierung hin auszurichten (Dunn 2004).

5.1.2 Dunn (2004): Methodisches Vorgehen: "Fieldwork Is Work"

Elizabeth Dunn verbrachte zwischen 1995 und 1997 sechzehn Monate in Rzeszów. Im Sinne teilnehmender Beobachtung arbeitete Dunn in dieser Zeit in der Produktion von Alima-Gerber. Sie bediente und überwachte Maschinen und Anlagen, verpackte Flaschen, putzte Böden, führte Tests zur Qualitätskontrolle durch, usw. "It was often mind-numbing and always exhausting work, but it allowed me to understand the production process and to observe conflicts, negotiations, and employee discipline on the shop floor." (Dunn 2004: 24)

Die Unternehmensbereiche Marketing und Vertrieb lernte Dunn näher kennen, indem sie VertreterInnen auf ihren Dienstreisen begleitete und an Ausbildungsseminaren für den Vertrieb teilnahm.

Im Bereich Human Resource Management arbeitete sie an einem Projekt mit, das Arbeitsplatzbewertungen und ein System zur Leistungsbeurteilung von MitarbeiterInnen entwickelte.

Formale Interviews führte Dunn ausschließlich mit dem oberen Management von Alima-Gerber, mit JournalistInnen und mit BeamtInnen relevanter Ministerien.

Zur teilnehmenden Beobachtung im Betrieb und den Interviews kam die Forschung außerhalb des Unternehmens. Dunn wurde von ArbeitskollegInnen zum Abendessen eingeladen, schloss Freundschaften auch mit deren FreundInnen und erweiterte so das Feld, in dem sie sich bewegte. Diese Forschungsstunden beschreibt Dunn so:

Because most of the shop floor workers were women, our conversations went on around children demanding to be heard, husbands demanding dinner, and pots on the stove demanding attention. Much of my research time was spent giving piggybacks, playing Barbie, peeling potatoes, and making dumplings. No matter what was going on, the television was always blaring away. The quiet conversations over cups of coffee that I had envisioned rarely took place. Instead, I built rapport with my informants and understood their daily activities by participating in their tasks. Fieldwork was work. (Dunn 2004: 25)


5.1.3 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 1: Dichotomisierung von Produkten und Menschen

"’Frugo!’ intoned a disembodied voice speaking Polish. Then, set against a dynamic background of color and noise, a young kid dressed like a Los Angeles gang member appeared, wearing fashionably baggy clothes and spray painting graffiti. In the background, a voice whispered the Frugo slogan, ’Frugo without boundaries’ (Frugo bez ograniczeri). Suddenly there was a rupture: the commercial became quiet, and the scene jump-cut to a monotonous, drab setting." (Dunn 2004: 58f)

So beschreibt Elizabeth Dunn den Beginn der TV-Werbung für ein neues Produkt, das Alima-Gerber Mitte der 1990er Jahre auf den Markt brachte. Zum ersten Mal setzte Alima-Gerber dabei Nischenmarketing ein; eine bis dahin in Polen unbekannte Marketingmethode. In den Worten des Marketingchefs von Alima-Gerber: "A product for everybody is a product for nobody. Nobody identifies with it." (Dunn 2004: 58) Nischenmarketing hingegen bedeutet, für spezifische Zielgruppen spezifische Produkte zu entwickeln und zu vermarkten.

Das neue Produkt Frugo richtete sich an die Zielgruppe der 13 bis 18-Jährigen und wurde in vier Geschmacksrichtungen produziert. Für jede der vier Frugo-Sorten gab es eine eigene Fernsehwerbung. Jeder Spot begann mit der oben zitierten Szene und zeigte dann eine/n dicke/n, unbewegliche/n Erwachsene/n.

"In the commercial for red Frugo, for example, the hated adult was a fat woman in black cloths and a beret, sitting against a red background. She said, aggressively, ’Fruit? They want fruit? When I was young, we often lacked beets! And they are asking for fruit!’ In the orange ad, a dumpy older woman with dyed orange hair and long orange fingernails sat at a table decorated with fussy lace doilies. She said, tremulously, ’Fruit? Fruit is good for decorating tables. But of course, plastic fruit can be decorative, too’." (Dunn 2004: 59)

Die Pointe verstanden?

Das polnische Publikum bog sich vor Lachen, berichtet Dunn. Es war vertraut mit der Dichotomie, die in der Frugo-Werbung benutzt wurde, um das Produkt und seine KonsumentInnen von allem Sozialistischen abzugrenzen und als kapitalistisch zu definieren. Die Tabelle zeigt die Dichotomie und die Assoziationen, die zu der Zeit – Mitte der 1990er Jahre – mit Sozialismus bzw. Kapitalismus verknüpft wurden.

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Tabelle: Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie nach Dunn 2004: 64

Die Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie wurde nicht nur auf Produkte und KonsumentInnen, sondern auch auf die ArbeiterInnen und Angestellten von Alima-Gerber angewandt. Die für die Auswahl und Einstellung neuen Personals verantwortliche Managerin bspw. wählte neue VertriebsmitarbeiterInnen danach aus, inwieweit sie den mit Kapitalismus assoziierten Eigenschaften "jung, modern, dynamisch, gescheit, flink" entsprachen.

Dem gegenüber wurden die ProduktionsmitarbeiterInnen von Alima-Gerber gestellt. Ihnen wurde zugeschrieben, unbeweglich, verständnislos, nicht lernfähig, "proste" (polnisch: einfach, dumm) zu sein. So schien es der Personalmanagerin denn auch unmöglich, – und nicht nur ihr, sondern auch ihren KollegInnen im Verkauf, im Marketing und der Betriebsleitung – ArbeiterInnen aus der Produktion in den Vertrieb zu versetzen; selbst als in der Produktion Leute gekündigt und zur selben Zeit VertriebsmitarbeiterInnen gesucht wurden.

Nicht nur in der Auswahl- und Einstellungspraxis wurde die ideologische Konstruktion der Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie bedeutsam. Sie schlug sich auch in der Arbeitsplatzbewertung und im darauf aufbauenden Entlohnungsschema nieder, das Mitte der 1990er Jahre bei Alima-Gerber eingeführt wurde (Dunn 2004; 1999).


5.1.4 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 2: Gegenstimmen aus der Produktionshalle

PersonalmanagerInnen, Marketingfachleute und VertreterInnen waren sich darin einig, dass die ArbeiterInnen in der Produktion von Alima-Gerber "unflexibel", "dumm" und "nicht lernfähig", kurzum "einfache, schlichte Leute" seien. Sie assoziierten die ArbeiterInnen mit "Sozialismus" und nutzten sie als Andere ("Others"), um sich selbst als "kapitalistisch, dynamisch, modern, jung, flexibel" zu definieren.

Die ProduktionsarbeiterInnen hatten ein anderes Bild von sich und der eigenen Tätigkeit im Betrieb. Sie argumentierten, dass gerade die Erfahrungen im Sozialismus sie zu besseren ArbeiterInnen im kapitalistisch geführten Unternehmen mache.

Aus sozialistischer Zeit seien sie es gewohnt, flexibel und vielseitig einsetzbar zu sein. Alima habe damals hunderte verschiedene Produkte hergestellt: Säfte, Ketchup, Marmeladen, Konserven, Tiefkühlgemüse. Die Produktion sei dabei jeweils kurzfristig darauf abgestimmt worden, welches Obst und Gemüse in welcher Qualität und Quantität geliefert worden war. Außerdem mussten fehlende oder mangelhafte Anlagen kompensiert werden. ArbeiterInnen arbeiteten daher mal an diesem, mal an jenem Arbeitsplatz; sie erwarben dabei umfangreiche Fähigkeiten und lernten den Produktionsprozess sehr genau kennen.

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Foto: Äpfel (© robinhamman, 2007 Lizenz: CC BY-NC Quelle)

Genau darin – in ihren sozialistischen Arbeitserfahrungen – begründeten die ArbeiterInnen ihre Flexibilität und den besonderen Wert ihrer Kompetenz für den Produktionsalltag bei Alima-Gerber. Denn Nischenmarketing bedeutet in der Produktion kleine Mengen herzustellen und die Anlagen immer wieder rasch zu reinigen und neu einzurichten. Dazu bedarf es kompetenter und gut aufeinander eingespielter ArbeiterInnen. Dunn beschreibt dies am Beispiel[1] der Division 4 von Alima-Gerber.

"Oh yes! These are universal people - they can do any job in the factory" (eine Vorarbeiterin, zitiert in Dunn 2004: 84, Hervorhebung G.Sch.)

Seit der Privatisierung hatten die ArbeiterInnen der Produktion deutlich an Macht und Einfluss verloren. Wenn sie nun ihre Vielseitigkeit, ihre Erfahrung und ihr Wissen hervorhoben, wollten sie damit ihre Position verbessern. So machten sie zum Einen deutlich, dass ihre Aufgaben kaum von kurzfristig eingestellten LeiharbeiterInnen erfüllt werden könnten – ein Versuch, die Arbeitsplätze abzusichern. Zum Anderen erhoben sie Anspruch darauf, einen Teil des erwirtschafteten Gewinns zu erhalten; sei es, indem der Sozialfonds des Unternehmens aufgestockt würde oder in Form von Lohnerhöhungen bzw. Prämienzahlungen (Dunn 2004; 1999).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.4.1



5.1.4.1 Zitat aus Dunn (2004): Produktion in der Division 4

"The Division 4 line could produce either baby foods or Frugo. Baby foods for Russia, Saudia Arabia, Israel, and Kuwait as well as Poland came off the line on days when we made baby food. In the course of one shift on a baby food day, we often made four or five different kinds of baby food, each destined for a different market. Even if we made only one flavor of baby food all day, the recipe and the packaging had to be changed between batches, since, as everyone assured me, each nationality has ’different taste’, and Polish babies won’t eat food made for American babies. Often, we had to do more than change recipes for the same thing all day. We had to shut down the line after a small batch of fourty or fifty thousand jars, wash everthing, reset all the machinery, and begin production of a completely new product. Depending on the degree of change, we could have the line down and back up again in under thirty minutes." (Dunn 2004: 83)


5.1.5 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 3: Arbeitsplatzbewertung und Entlohnungssystem

Mitte der 1990er Jahre wurde bei Alima-Gerber – neben vielen anderen Veränderungen – auch ein neues Lohn- und Gehaltssystem eingeführt. Das Management wollte ein transparentes und objektives System einführen, nach dem die Höhe der Entlohnung festgesetzt wird. Die Zusammensetzung des Projektteams, das bei Alima-Gerber damit beauftragt wurde, und die interne Kommunikationspolitik waren gleichermaßen darauf ausgerichtet, die wissenschaftliche Fundiertheit und Objektivität des Systems zu demonstrieren. Damit sollte u.a. erreicht werden, dass alle Organisationsmitglieder und die GewerkschaftsvertreterInnen das neue Entlohnungssystem akzeptieren. In der internen Unternehmenszeitung argumentierte der Leiter des Personalmanagements im Oktober 1995 so:

An employer can’t ignore the situation in the labor markets if he wants to remain attractive to competent specialists and if he wants to maintain a relatively stable workforce and prevent a high rate of turnover among employees. This proves that a change in the structure and proportion of pay has to evolve over time on the basis of principles and differences specified in advance. ... What we can say to those who are crying ’unfair!’ is that this simply has to happen at this stage of the firm’s - and the market’s - growth. (Aktualino"7;ci 1995, zitiert in Dunn 2004: 110)

Mit den "principles and differences specified in advance" sind die Arbeitsplatzbewertung und der dafür entwickelte Kriterienkatalog gemeint. Abbildung 1[1] zeigt den Kriterienkatalog im Gesamten; Abbildung 2[2] beispielhaft die Detailbeschreibung eines Kriteriums. Jeder Arbeitsplatz von Alima- Gerber wurde anhand von Aufgabenbeschreibungen bewertet, d.h. mit Punkten versehen, und fand sich entsprechend im neuen Entlohnungssystem wieder. Ein zweiter Aspekt des neuen Entlohnungssystems sah leistungsabhängige Bezahlung vor; dazu wurde ein Leistungsbeurteilungssystem eingeführt.

Dunn analysiert die Zusammenhänge und Effekte der Einführung dieser Personalmanagement- Systeme bei Alima-Gerber. Auf zwei dieser Aspekte sei hier hingewiesen:

  • Die Arbeitsplatzbewertung spiegelte die Haltung wieder, dass Produktionsarbeit wenig Kompetenz brauche. Eine empirische Analyse hätte jedoch das Ausmaß des Praxiswissens gezeigt, das ProduktionsarbeiterInnen einbrachten, damit die Produktion reibungslos laufen konnte. Dieses Praxiswissen schlug sich weder in der Arbeitsplatzbewertung, noch in der darauf aufbauenden Entlohnung nieder.
  • Die Systeme waren mit der deklarierten Absicht entwickelt worden, eine objektive Möglichkeit für Gehalts- und Lohnentscheidungen zu haben. Weder sozialistische Ideologie noch persönliche Beziehungen sollten Einfluss auf die Entlohnung haben, sondern ausschließlich Ausbildung, Erfahrung und individuelle Leistung. Dies hatte zur Folge, dass die neuen Systeme jene Unterschiede reproduzierten und kodifizierten, die seit der Privatisierung entstanden waren: die Produktion hatte an Macht, Einfluss und Prestige verloren; Marketing und Vertrieb – zu einem geringeren Teil auch die Labors der Qualitätskontrolle – hatten nun die internen Machtpositionen inne. "This system thus effectively codified emergent hierarchies and legitimated the fact that some members of the corporation made salaries comparable to those of managers of the West, drove Toyotas and Fords provided by the company, and lived in houses that the firm paid for, while others made less than two dollars an hour." (Dunn 2004: 112)

Literatur:

Aktualinosci 1995. Employee Newsletter, Alima-Gerber S.A., Oktober 1995

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.5.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.5.1



5.1.5.1 Abbildungen aus Dunn (2004): Faktoren der Arbeitsplatzbewertung und Kriterienbeschreibung

File:Images/organthro-113 1.jpg
Abbildung 1: Faktoren und Subfaktoren der Arbeitsplatzbewertung
Abbildung nach Dunn 2004: 106
File:Images/organthro-113 2.jpg
Abbildung 2: Beschreibung des Kriteriums "Innovation und Kreativität"
Abbildung nach Dunn 2004: 106

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5.2 Ailon-Souday/Kunda (2003) "The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

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Foto: Tel Aviv, 2005 (© Bright Tal, Lizenz: CC BY-NC-SA Quelle)

Welche Bedeutung und welchen Einfluss hat nationale Identität im Kontext der Globalisierung von Unternehmen?

Galit Ailon-Souday und Gideon Kunda (2003) bieten mit ihrem Artikel "The local selves of global workers" einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage.

Die empirische Basis für ihre Argumentation bildet ethnographisches Material aus dem in Tel Aviv angesiedelten High Tech-Unternehmen Isrocom (ein Pseudonym), das im Forschungszeitraum mit einem US-amerikanischen Konkurrenzunternehmen fusionierte.

Ailon-Souday und Kunda erkennen in nationaler Identität eine symbolische Ressource. Organisationsmitglieder können diese Ressource in den sozialen Kämpfen nutzen, die durch Globalisierungsprozesse in Organisationen ausgelöst werden.

Die AutorInnen stellen sich damit gegen den Trend innerhalb der Organisationsforschung, nationale Identität als objektive, kognitive Essenz zu betrachten. Sie zeigen stattdessen die soziale Konstruiertheit nationaler Identität auf. Organisationsmitglieder können wählen, wie sie nationale Identität definieren und wie (und wofür) sie sie im Unternehmen einsetzen.

Literatur:

Ailon-Souday, Galit, and Gideon Kunda

2003 The local selves of global workers. The social construction of national identity in the face of organizational globalization. Organization Studies 24: 1073-1096.

5.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Forschungsfeld und methodisches Vorgehen

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Abbildung: Landkarte Israel Quelle

Der Artikel von Galit Ailon-Souday und Gideon Kunda (2003) basiert auf den Ergebnissen einer einjährigen Feldforschung im israelischen High Tech-Unternehmen Isrocom (ein Pseudonym). Im Forschungszeitraum beschäftigte Isrocom rund 1000 Mitarbeiterinnen.

Isrocom war in Israel als ein besonders erfolgreiches israelisches Unternehmen bekannt. Anfang der 1980er Jahre in einem Bürogebäude in Tel Aviv gegründet, wuchs es zu einem Großunternehmen mit internationalen KundInnen und einem globalen Netz an Geschäftsniederlassungen heran.

Dennoch, betonen Ailon-Souday und Kunda, war Isrocom ein Unternehmen mit einem ausgeprägt lokalen Charakter. Fast alle der 1000 Beschäftigten waren Israelis, die in Israel lebten. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung sowie die Produktion waren in Tel Aviv angesiedelt. Marketing und Kundenservice wurden von der Zentrale aus gesteuert und international meist von Israelis umgesetzt. Isrocom galt als "one of the few Israeli high tech companies to fulfill the dream of international status" (aus einer israelischen Zeitschrift, zitiert nach Ailon- Souday/Kunda 2004: 1077). Ein Manager von Isrocom beschrieb das Unternehmen so: Isrocom verfolge einen Traum, "a dream ... to be like Ericsson: a company from a small country that conquers the global market" (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1077).

Ende 1998 fusionierte Isrocom schließlich mit einem US-amerikanischen Konkurrenzunternehmen (Amerotech, ebenfalls ein Pseudonym). Rechtlich durch einen Aktientausch zwischen dem Mutterunternehmen Com und Amerotech zustande gekommen, wurde die Transaktion innerhalb von Isrocom und in der israelischen Presse als Akquisition interpretiert: "Isrocom kauft Amerotech".

Mit der Fusion veränderte sich der lokale Charakter von Isrocom. Die Büros in Tel Aviv konnten bspw. nun nicht mehr als Zentrale eines global agierenden Unternehmens gesehen werden. Wesentliche Entscheidungen wurden nicht mehr allein in Tel Aviv getroffen, und auch die Beschäftigtenstruktur sah plötzlich ganz anders aus: kaum die Hälfte der Beschäftigten waren Israelis (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1076ff).

Die Forschung konzentrierte sich auf die israelische Perspektive in dieser internationalen Fusion, die us- amerikanische Seite blieb aus pragmatischen Gründen ausgespart.

Die ethnographische Forschung begann am ersten Tag der Fusion und endete ein Jahr später. An Methoden kam zum Einen teilnehmende Beobachtung zum Einsatz; und zwar bei Schulungen, internationalen Telefonkonferenzen und bei Besprechungen genauso wie bei informellen Begegnungen, z.B. in Kaffeepausen und im Aufzug. Darüber hinaus wurden mehr als 130 unstrukturierte Interviews mit MitarbeiterInnen aus den verschiedenen Aufgabenbereichen und Hierarchiestufen und gemeinsam mit den Beobachtungsdaten ausgewertet (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1076ff).


5.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ergebnisse

Der Fusionsprozess des israelischen Unternehmens Isrocom mit Amerotech war deutlich von zwei sozialen Kämpfen der Isrocom-MitarbeiterInnen geprägt. Sie kämpften um lokale Abgegrenztheit und um globalen Status.

Nationale Identität nahm in diesem Prozess drei Bedeutungen an.

  • 1. Nationale Identität wurde in den alltäglichen Interaktionen als Mittel zur Abgrenzung vom Fusionspartner Amerotech eingesetzt. Die Isrocom-MitarbeiterInnen bezeichneten ihre KollegInnen von Amerotech pauschal als "Americans", "Jimmys" o.ä., machten sich über deren Verhaltens- und Ausdrucksweisen lustig, usw. Sie nutzten außerdem die hebräische Sprache, um die Grenze "zwischen den nationalen Identitäten" symbolisch zu betonen. In all diesen Interaktionen erscheint die Grenze als "natürlich", objektiv und unüberschreitbar.
  • 2. Die Mitglieder von Isrocom sprachen von nationaler Identität oft im Sinne eines kollektiven Charaktertyps. Die israelische nationale Identität würde sich im Arbeitskontext vor allem positiv – und nur in geringerem Maße negativ – zeigen. Sie konstruierten sich auf diese Weise nicht nur als "anders als die AmerikanerInnen", sondern als "anders und besser" - fleißiger, zielorientierter, flexibler, ehrlicher und damit für das Unternehmen wertvoller - als ihre US-amerikanischen KollegInnen.
  • 3. Die MitarbeiterInnen von Isrocom akzeptierten die in Israel weit verbreitete Haltung, die den USA ein höheres Prestige und Israel einen marginalen globalen Status zuschrieb. Aus ihrer Sicht unterstrich dies sogar ihre Leistung. Ailon-Souday und Kunda formulieren es so: "Since it was Israelis who were on the acquiring side, they had defeated the undefeatable, conquered the conquerers ... Accordingly, rather than evading the issue of the general superiority of Americans, members emphasized it, perceiving it as an aggrandizement of their organizational value and achievements" (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1088).



5.2.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Forschungsnotizen

Beispiel 1 dokumentiert ein Gespräch zwischen Yossi und Rutti über einen Besuch einiger KollegInnen von Amerotech.

Yossi: ’There were all the Jimmys [plural of Jimmy] .. who came here around January or February.’

Rutti: ’When was Harold here with Rick?’

Yossi: ’The Harolds are still with us. They haven’t left yet.’ [Rutti laughs.]

Rutti: ’What was the name of the bold one.’

Yossi: ’Mike is a good name.’

Rutti: ’No, no ...’

Yossi: ’It doesn’t matter, why does it matter?’ (Auszug aus den Feldnotizen, Ailon- Souday/Kunda 2000: 1081)

Beispiel 2 schildert eine Situation, die sich beim Fest zum ersten Jahrestag der Fusion zutrug.

A young engineer at the table makes a small parody of the American handshake by fiercely tilting his friend’s hand, saying in English, ’very nice to meet you’ ... I ask a secretary who sits next to me what she is thinking about all this. She grins. With a cynical imitation of an American accent she says, ’Oh ... it is a great opportunity!’ (Auszug aus den Feldnotizen, Ailon-Souday/Kunda 2000: 1081)



5.2.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Interviews

MitarbeiterInnen von Isrocom fassten israelische Identität als Cluster kollektiver Eigenschaften, wie die folgenden Auszüge aus Interviews veranschaulichen.

  • Most people [here] have 10 to 20 extra work hours a week. Managers have 30 to 40 extra hours a month. There are also people who work 260 hours a month. They work differently ... only 9.00 to 6.00. This is the Americans, this is their work style. In Israel we are crazy when it comes to work ... (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1084)
  • [Americans] are very submissive to authority. The word of the boss is the word of God. ... Our perception is that what the manager says is important and that is has to be seriously considered, but if he does not seem reasonable or if we think that he is wrong then it is legitimate to come out and say that it isn’t right, or that it doesn’t seem right. ... That is the Israeli character. It doesn’t exist as much in their character. (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1085)
  • The typical American is more bounded ... here everything is flexible, flexible schedules, contacts, everything. If something isn’t working I will get there and I will take care of it and over there everything is more rigid. (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1085)
  • We work here like we worked in the army. We have a goal and we have to accomplish it, the quicker the better. ... It is an Israeli characteristic. All of us together for a very clear, marked- off goal. For Americans the process is important, how things will be managed, ordered. The goal is clear but they don’t fight for it. They approach it, but they do not charge toward it. (Ailon- Souday/Kunda 2003: 1085)
  • I think we are a little too pushy. We overrun them a little too much ... it doesn’t grant us the love and respect of the Americans ... there are times in meetings in which I simply squirm in my chair, in which I feel uncomfortable. I am Israeli born, a tzabar [native Israeli], but it still bothers me - our attitude and all that. (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1087)


5.2.3 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ausgewählte Schlussfolgerungen

Ailon-Souday und Kunda ziehen aufgrund der Analyse ihrer empirischen Daten mehrere Schlussfolgerungen:

  • In vielen, wenn nicht allen, Fusionen spielen soziale Kämpfe um Abgegrenztheit und Status eine bedeutende Rolle. Isrocom ist diesbezüglich keine Ausnahme. Im Fall einer internationalen Fusion steht mit der nationalen Identität ein besonders machtvolles Instrument zur symbolischen Produktion von Differenz zur Verfügung.
  • Organisationsmitglieder setzen ihre Konstruktion nationaler Identität ein, um soziale Ziele zu erreichen. Sie schaffen und nutzen positive Stereotype. Kulturvergleichende Management- und OrganisationsforscherInnen müssten diesen Aspekt mit berücksichtigen: "[...] national difference may be socially essentialized no less than it is a cognitive essence" (Ailon- Souday/Kunda 2003: 1090; Hervorhebung G.Sch.).
  • Diese Einsicht müsse sich auch in der Praxis interkulturellen Trainings wieder finden, die Theorien und Modelle der kulturvergleichenden Management- und Organisationsforschung verwenden.
  • Zielorientierung, Zeitdisziplin, persönliche Einsatzbereitschaft, Fleiß und Effizienz – kollektive israelische Eigenschaften (laut den MitarbeiterInnen von Isrocom) und global dominante Ideale zugleich. Die Grenze zwischen "uns" (Isrocom, Israelis) und "ihnen" (Amerotech, AmerikanerInnen) basiert stärker auf dem Gemeinsamen als auf dem Trennenden (vgl. Barth 1969). Die stereotypen Charakteristika werden als gegensätzlich verstanden, gerade weil sie aus einer einzigen Bedeutungswelt ("world of meaning") stammen (Ailon- Souday/Kunda 2003: 1091).
  • Die Ergebnisse sprechen gegen die These, dass die Globalisierung von Unternehmen die symbolische Kraft nationaler Identität verringern und die Entstehung transnationaler Identitäten fördern würde (vgl. Hannerz 1996). Die MitarbeiterInnen von Isrocom verstanden sich als bessere Organisationsmitglieder gerade wegen – und nicht trotz– ihrer nationalen Identität (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1089-1092).


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5.3 Parker (2000) "Organizational Culture and Identity. Unity and Divison at Work"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

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Foto: Gasflamme (© PhotScot, 2007, Lizenz: CC BY-NC-ND Quelle )

Der britische Soziologe Martin Parker untersuchte drei Organisationen in Großbritannien, darunter ein Unternehmen, das er "Vulcan Industries" nennt. Die Ergebnisse legte er 1995 an der Staffordshire University als Dissertation vor; 2000 publizierte er sein Buch "Organizational Culture and Identity. Unity and Division at Work".

Ausgangspunkt von Parkers empirischer Forschung war es gewesen, technologischen Wandel in Organisationen zu untersuchen. Er konzentrierte sich aus zwei Gründen auf Kultur. "First, because it was a concept that interested me, and secondly, because it seemed to me that an adequate treatment of technology would require it to be embedded in cultural understandings and practices." (Parker 2000: 236, Hervorhebung G.Sch.)

Literatur:

Parker, Martin

1997 Dividing organizations and multiplying identities. In: Kevin Hetherington and Rolland Munro (eds.), Ideas of Difference. Social Ordering and the Labour of Division; pp. 114- 138. Oxford: Blackwell
2000 Organizational Culture and Identity. Unity and Division at Work. London: Sage

Website: Martin Parker[1]

Verweise:
[1] https://research-information.bris.ac.uk/explore/en/persons/martin-parker(f6702005-ada6-48dd-bc91-27b668a0f5a2).html

5.3.1 Parker (2000): Forschungsfeld Vulcan Industries und methodisches Vorgehen

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Abbildung: Landkarte Großbritannien Quelle

Das Unternehmen "Vulcan Industries"

Das britische Unternehmen "Vulcan Industries" (ein Pseudonym) stellt Kochherde her. Es ist in einem großen Industrieballungszentrum angesiedelt und beschäftigte zur Zeit, als Parker dort forschte, rund 800 Menschen.

Gegründet 1826, war Vulcan Industries bis 1964 in Familienbesitz, als es von der Industrieholding BLC gekauft wurde. Mitte der 1980er Jahre wurde von Massenproduktion auf eine differenzierte Produktpalette umgestellt; Design und Marketing gewannen an Bedeutung. Außerdem wurde ein umfassenderes Finanzcontrolling und ein erfolgsabhängiges Entlohnungssystem eingeführt. Das Management von Vulcan Industries antwortete mit diesen Maßnahmen auf die wirtschaftliche Krise, die das Unternehmen seit Ende der 1970er Jahre durchlebte. Anfang der 1990er Jahre waren Produktionszahlen und Marktanteil deutlich gestiegen; dem Unternehmen ging es wirtschaftlich wieder besser.

Im Forschungszeitraum wurden bei Vulcan Industries zwei Innovationen geplant bzw. umgesetzt. Im Produktionsbereich wurde ein Just In Time[1] -Projekt (JIT) durchgeführt. Dieses Projekt zielte darauf ab, die Produktion auf Zwischenlager zu verringern. Die Finanzabteilung wiederum trieb die Einführung eines "Integrierten Computersystems" (ICS). Dieses IT-System sollte alle Informationen, die bis dahin in isolierten Systemen und Datenbanken gespeichert waren (z.B. je ein IT-System für den Einkauf, die Produktionskontrolle und für Löhne und Gehälter), miteinander verknüpfen.

Methodisches Vorgehen

Martin Parker führte teilstrukturierte Interviews mit Führungskräften aus der Produktion, der Technik, dem Marketing und anderen Abteilungen von Vulcan Industries. Er interviewte viele Personen mehrfach; den Großteil der Interviews zeichnete er auf Tonband auf.

Parker nutzte jede sich ihm bietende Möglichkeit zu beobachten.

I treated every visit as an opportunity to see the organization at work. If I had an interview I would arrive early and stay on long after the interview was concluded. This was, in a sense, the most useful time I spent since it enabled me to ’feel’ the organization. Waiting outside managers’ offices, often for long periods of time, and wandering around the factory or offices allowed me to take copious notes about noticeboards, clothing, noise, furniture and so on - small details that seemed to illuminate so much. (Parker 2000: 236)

In manchen Organisationen erhielt Parker die Genehmigung, beobachtend an Besprechungen teilzunehmen. Ob dies auch bei Vulcan Industries so war, geht aus seiner Darstellung nicht hervor (Parker 2000).

Verweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Just-in-time-Produktion

5.3.2 Parker (2000): Ausgewählte Ergebnisse Vulcan Industries

Die von Parker befragten ManagerInnen beschrieben Vulcan Industries zunächst als "Familie" und "Familienbetrieb" und weniger als Division eines Konzerns. Sie bezogen sich u.a. auf die lange Tradition als Familienunternehmen (1826-1962), auf die Tatsache, dass der überwiegende Großteil der Beschäftigten aus der unmittelbaren Umgebung stammte und auf die gute informelle Kommunikation im Betrieb. Hohe Identifikation mit dem Unternehmen drückten sie rhetorisch als "becoming ’vulcanized’" und "being Vulcan through and through" aus.

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Foto: Fabrikgebäude (© hugovk, Lizenz: CC BY-SA Quelle)

Im Verlauf des Forschungsprozesses wurde jedoch deutlich, dass auch bei Vulcan Industries Unterschiede eine wesentliche Rolle spielten.

  • Der Unterschied zwischen Produktions- und Angestelltenbereich tauchte am häufigsten auf. Zur Beschreibung wurde die Topographie des Firmengeländes herangezogen: Im höher gelegenen Bereich (intern "top site" genannt) befanden sich die Büros des Managing Director sowie die Abteilungen Marketing, Design, Finanzen, Verkauf und Datenverarbeitung. Die Produktionsgebäude ("bottom site") standen im niedriger gelegenen Teil des Geländes.
  • Die Trennlinie zwischen "top site" und "bottom site" wurde in den Interviews durch abwertende Bemerkungen über die jeweils anderen deutlich. Ein häufiger Vorwurf lief darauf hinaus, dass die anderen chaotisch seien und/oder das Geschäft nicht verstünden.
  • Auch die beiden damals laufenden Veränderungsprojekte wurden ausgesprochen unterschiedlich eingeschätzt. Für die Führungskräfte der "bottom site" war Just In Time (JIT) eine Möglichkeit, den Produktionsprozess effizienter zu gestalten. Aus Sicht der Führungskräfte der "top site" ging es bei JIT nur um Lagerhaltung (meinten manche) bzw. um eine Methode der Finanzkontrolle, wenn auch eine unverständliche (meinten andere). Vom Integrierten Computersystem (ICS) versprachen sie sich, das Unternehmen zentral steuern zu können. Die Führungskräfte der "bottom site" standen diesem Projekt ausgesprochen ablehnend gegenüber; für sie handelte es sich um eine "alien technology imposed from above and bottom site managers were simply hoping it would go away" (Parker 2000: 139).
  • Quer durch "bottom site" und "top site" zogen sich andere Unterschiede, die ebenfalls in der Bewertung der beiden Veränderungsprojekte zum Ausdruck kamen. Einer dieser Unterschiede war jener zwischen jungen und alten Ingenieuren. Auch hier war die wechselseitige Abwertung ausgeprägt. Die jungen Ingenieure verfügten über eine akademische Ausbildung und meinten von sich, einen frischen und systematischen Zugang zur Lösung von Problemen einzubringen. Die alten Ingenieure wiederum sahen in ihrer Erfahrung und ihrem praktischen Zugang zur Problemlösung die wertvolleren Kompetenzen.
  • Parker beschreibt anhand der Emailier-Abteilung und der Marketing-Abteilung einen weiteren Unterschied, auf den sich die Führungskräfte bezogen: Beinahe jede Abteilung sah sich selbst als anders und besser als die anderen Abteilungen.
  • Mittleres und oberes Management unterschieden sich in ihren Vorstellungen über Kommunikation, konkret über die Bedeutung informeller Kommunikation und ob/wie umfassend MitarbeiterInnen frühzeitig über Veränderung informiert werden sollten.
  • Die Dauer der Betriebszugehörigkeit schien Hinweise darauf zu geben, wie die Veränderungen des Unternehmens generell bewertet wurden (Parker 2000).

Zusammenfassend in den Worten von Martin Parker:

So, talk about technologies, communication and change [..] seemed to illustrate that divides were often more characteristic than unity. Understandings of technology were crucially shaped by the ’top- site/bottom- site’ distincton, with the added complexity of old engineers versus new engineers. Ideas about communication were very much related to the divides between groups of managers and, most importantly, that between managers and directors. Finally, attitudes toward change appeared to be partly a function of age - the longer the manager had been in post the more likely they were to be nostalgic about a valued past. (Parker 2000: 136)


5.3.3 Parker (2000): Organisationen - Einheit und Differenz

Martin Parker beginnt sein Buch (2000) mit einer kritischen Auseinandersetzung mit Organisationskultur-Konzepten. Er befasst sich sowohl mit der populären Managementliteratur der 1980er Jahre als auch mit den diversen Ansätzen der kritischen Organisationskulturforschung. Auf Basis seiner empirischen Forschung entwirft Parker ein gänzlich anderes Verständnis von Organisationskultur: er spricht von "fragmentierten Einheiten".

To put it simply, I suggest that organizational culture should be seen as ’fragmented unities’ in which members identify themselves as collective at some times and divided at others. (Parker 2000: 1)

Parker schließt damit einerseits an die gängige Konzeption von Organisationskultur an, die sie als ein konsensuales Ganzes bzw. als geteilte Werte, Glaubensätze, Normen, usw. sieht. In einem gewissen Sinn sei dies zutreffend, meint Parker. In jeder der von ihm untersuchten Organisationen teilten die Mitglieder gewissen Ideen, sprachliche Elemente und Vorstellungen von Kollektivität und Gemeinschaft. Sie waren sich auch darin einig, dass sich "ihre" Organisation von anderen unterscheidet.

Parker meint jedoch, "that my stories suggest that organizational cultures have multiple divides" (2000: 187). Die Organisationsmitglieder vertraten zum Teil sehr unterschiedliche Meinungen darüber, was die Organisation wie tun sollte, was wichtig und richtig sei – und welche Gruppe innerhalb der Organisation die richtige und welche die falsche Sicht auf die Organisation habe. Das empirische Material Parkers zeigt drei zentrale Trennlinien, die sich um diese Fragen durch Organisationen ziehen (Parker 2000).


5.3.4 Parker (2000): Trennlinien sind symbolische Ressourcen

Veränderungen in Organisationen rufen in den meisten Fällen mehr oder weniger deutlichen Widerspruch hervor; so auch in den drei von Parker untersuchten Organisationen.

Doctors, administrators, old engineers, old Head Office managers and so on were all sceptical about the justifications for change, or the new styles of management, or technologies and so on. I want to suggest here that the articulation of divisions within an organization were often centrally concerned with these responses to change. In that sense a member’s identifications were a crucial part of this contest, and a wide variety of identities could be articulated as for, or against, whatever changes were happening. (Parker 2000: 194)

Die Tabelle zeigt die drei zentralen Unterschiede, auf die sich u.a. die Führungskräfte von Vulcan Industries bezogen, wenn sie über das Unternehmen, über Technologien und die Veränderungen im Unternehmen sprachen.

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Abbildung: Trennlinien in Organisationen nach Parker 2000: 188

Parker möchte diese Unterschiede bzw. Trennlinien als Identifikationsressourcen verstanden wissen, nicht als fixe Identitäten. Organisationsmitglieder können in einer gegebenen Situation eine oder mehrere dieser Ressourcen einsetzen, um ihre Positionen und Meinungen zu begründen. Sie argumentieren mit ihrer Hilfe bspw., welche Technologie im Unternehmen wie eingesetzt oder nicht eingesetzt werden sollte, und welche Praxis von zentraler Bedeutung für die Organisation ist oder sein sollte (z.B. Kontrolle durch das Management, Design eleganter Systeme, usw.) (Parker 2000; siehe auch Parker 1997).


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5.4 Wittel (1997) "Belegschaftskultur im Schatten der Firmenideologie"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Andreas Wittel geht in seiner Dissertation (1997) dem Verhältnis von „Firmenideologie“ und „Belegschaftskultur“ bei einem Computerkonzern nach. Unter Belegschaftskultur versteht Wittel die gelebte Realität im Unternehmen.

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Abbildung: Firmenkultur

Als Firmenideologie bezeichnet er die von der Unternehmensleitung propagierten Einstellungen und Verhaltensweisen, die alle Unternehmensmitglieder zeigen sollen. Aussagen solcher Art finden sich häufig in "Leitbildern[1]" oder "Leitsätzen" bzw. werden als "Werte" beschrieben. Im von Wittel untersuchten Unternehmen (GT, ein Pseudonym) wurde die Firmenideologie als "GT-Firmenkultur" beschrieben.

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Foto: Kaffeekanne (© Certassar/Rune Johnsson, Lizenz: CC BY-NC Quelle)

Auch wenn innerhalb des Unternehmens die Einzigartigkeit und Besonderheit von GT betont wurde, hing die Firmenideologie doch deutlich mit außerbetrieblichen ökonomischen Entwicklungen zusammen, so Wittel. Bei GT waren diese Entwicklungen durch die Schlagworte Informalität, Kreativität, Selbstverwirklichung, Flexibilität, Verantwortung und Vertrauen ausgedrückt (siehe Abbildung).

Zu Beginn seiner Studie fragt sich Wittel, ob Firmenideologie und Belegschaftskultur gänzlich verschieden sind oder ob sie sich überschneiden. Weder noch, beantwortet er diese Frage letztlich.

Wittel erkennt in der Firmenideologie ein hegemoniales Instrument zur Definition betrieblicher Realität. Die MitarbeiterInnen des untersuchten Unternehmens seien ihr jedoch nicht ohnmächtig ausgeliefert. Sie reproduzieren sie (einerseits) und grenzen sich (andererseits) kritisch ab, weichen informell ab bzw. entwickeln Interpretationen, die sich von Leitbild und Managementperspektive unterscheiden.

Die Belegschaftskultur ist, so Wittel, demnach weder unabhängig von der Firmenideologie noch ein Ausschnitt von ihr. Sie formt sich vielmehr mit Bezug auf die Firmenideologie (Wittel 1997).

Literatur:

Wittel, Andreas

1997 Belegschaftskultur im Schatten der Firmenideologie. Eine ethnographische Fallstudie. Berlin: Edition Sigma

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.4.1


5.4.1 Beispiele von Leitbildern verschiedener Organisationen und Lernaufgabe

Viele Organisationen veröffentlichen ihr Leitbild, ihre Leitsätze bzw. Aussagen über ihre Werte auf ihrer Website. Hier einige zufällig ausgewählte Liste:

https://corporate.homedepot.com/about/values

https://www.energieag.at/Konzern[2]

https://www.db.com/cr/de/konkret-kulturwandel.htm[3]

https://www.eurotours.at/unsere-werte/[4]

https://www.fwf.ac.at/de/ueber-den-fwf/leitbild/[5]

https://corporate.gapinc.com/en-us/news/values[6]

https://www.medaire.com/about/about-medaire[7]

http://www.nonprocons.ch/ueber-uns/das-leitbild/[8]

https://www.medunigraz.at/die-med-uni-graz/die-universitaet/die-gesundheitsuniversitaet/leitsaetze/[9]

http://www.tcgunitech.com/unternehmen/leitbild/[10]


Lernaufgabe:

Finden Sie zehn Websites von Profit- oder Non-Profit-Organisationen, auf denen Aussagen über Leitsätze, Leitbilder, Werte der Organisation o.ä. gemacht werden. Vergleichen Sie diese Aussagen.

  • Worin ähneln sich die Aussagen?
  • Worin unterscheiden sie sich?
  • Welche Inhalte kommen häufig vor?
  • Was wird selten genannt?
  • Welches Verhalten, welche Eigenschaften und Einstellungen werden positiv bewertet?
  • Welche/s negativ?


Verweise:
[1] https://corporate.homedepot.com/about/values
[2] https://www.energieag.at/Konzern
[3] https://www.db.com/cr/de/konkret-kulturwandel.htm
[4] https://www.eurotours.at/unsere-werte/
[5] https://www.fwf.ac.at/de/ueber-den-fwf/leitbild/
[6] https://corporate.gapinc.com/en-us/news/values
[7] https://www.medaire.com/about/about-medaire
[8] http://www.nonprocons.ch/ueber-uns/das-leitbild/
[9] https://www.medunigraz.at/die-med-uni-graz/die-universitaet/die-gesundheitsuniversitaet/leitsaetze/
[10] http://www.tcgunitech.com/unternehmen/leitbild/

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5.5 Novak (1994) ’’Die Zentrale. Ethnologische Aspekte einer Unternehmenskultur"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Andreas Novak war einer der ersten EthnologInnen im deutschsprachigen Raum, der eine Organisation als Forschungsfeld wählte – in seinem Fall ein Einzelhandelsunternehmen in Süddeutschland, dem er das Pseudonym "Funktiona" gibt. Funktiona führt ihr Vertriebsnetz im Franchise-System, d.h. die Verkaufsstellen sind im Unterschied zu einem Filialsystem rechtlich und wirtschaftlich eigenständige Unternehmen, die von selbständigen Franchise-NehmerInnen geführt werden.

Novaks Ziel war es, eine Unternehmensstudie im Sinne einer traditionellen ethnologischen Monographie zu erstellen. Zu diesem Zweck verbrachte er 1991 sieben Monate in der Unternehmenszentrale, in der im Forschungszeitraum etwa 400 Personen beschäftigt waren. Mit teilnehmender Beobachtung und weitgehend offenen Interviews setzte er bewährte ethnographische Forschungsmethoden ein. 1994 legte er schließlich mit der Studie "Die Zentrale" die Ergebnisse seiner Feldforschung vor und dissertierte damit an der Universität Frankfurt am Main.

In seiner Dissertation geht Novak der Frage nach, "wie die Menschen in Gruppen [bei Funktiona] ihr Zusammenleben ordnen" (1994: 185). Als Überbegriff für diese Ordnung nimmt er "Kultur". Novak beschreibt, wie die "kulturellen Manifestationen" bei Funktiona miteinander verschränkt sind und wechselseitig voneinander abhängen, aber auch wie sie in Widerspruch zueinander stehen und wie sie sich verändern.

Literatur:

Novak, Andreas

1994 Die Zentrale. Ethnologische Aspekte einer Unternehmenskultur. Bonn: Holos

Website: Andreas Novak[1]

Verweise:
[1] http://www.andreas-novak.de


5.5.1 Novak (1994): Inhaltliche Gliederung

Die inhaltliche Gliederung der Studie "Die Zentrale" (Novak 1994) erinnert deutlich – ganz im Sinne des Autors – an eine traditionelle ethnologische Monographie.

Das erste Kapitel "Topographie" beleuchtet die Gebäude- und Bürogestaltung und die Sitzordnung bei Besprechungen. Novak bringt die topographischen Aspekte mit dem Führungsverständnis, mit Ideologie, Macht und Kontrolle in Verbindung.

So war es bei Funktiona beispielsweise üblich, dass bei Besprechungen die hierarchisch Höherrangigen eine "hierarchielose" Sitzordnung wählten, d.h. sie saßen meist an der Längsseite von Besprechungstischen. Diese Sitzordnung spiegelte das Führungsverständnis wider, "Hierarchien flach zu halten und Management durch Überzeugung, nicht durch Anordnung, auszuüben" (Novak 1994: 91).

Novak beschreibt jedoch auch, dass – und zwar vor allem bei abteilungsinternen Sitzungen – Führungskräfte in problematischen und krisenhaften Situationen an der Stirnseite Platz nahmen, um ihre Machtposition zu zeigen bzw. zu unterstreichen.

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Foto: Sitzungszimmer (© hasensaft, 2005, Lizenz: CC BY-NC-ND Quelle)

Im Kapitel "Mythen und Ideologien" beschreibt und analysiert Novak u.a. die Gründungsgeschichte des Unternehmens Funktiona, d.h. die Erzählungen darüber, wie das Unternehmen gegründet wurde und welche Schwierigkeiten dabei auf welche Weise überwunden wurden. Die Gründungsgeschichte gibt Aufschluss über zentrale Aspekte der Ideologien, die im Unternehmen wirksam sind; sie legitimiert die Ideologien. Bei Funktiona sind dies vor allem "Verzicht auf Machtgehabe, offene und möglichst hierarchiefreie Kommunikation, unbedingte Leistungsideologie, die symbolisiert wird durch die schnörkellose Funktionalität [der Gebäude und Büros] etc." (Novak 1994: 120).

Die Aufbauorganisation von Funktiona beschreibt Novak im Kapitel "Sozialaufbau - Hierarchie - Bürokratie". Novak geht hier zudem der Frage nach der Funktion von Hierarchie und Bürokratie nach.

Im Kapitel "Rituale und Symbole" kritisiert Novak, wie undifferenziert "Ritual" in der Managementsprache verwendet wird. Er plädiert für eine Unterscheidung zwischen Ritual und Habitualisierung. Unter Habitualisierungen sind "wiederkehrende Handlungsmuster [zu verstehen], die miteinander interagierenden Personen die Möglichkeit geben, aufeinander zu reagieren"(Novak 1994: 157; vgl. Berger/Luckmann 1990).

Ritualisiertes Handeln hingegen tritt in Situationen auf, in denen Habitualisierungen nicht mehr ausreichen. Dies können Krisensituationen oder besondere Vorkommnisse sein. Rituale drücken die Ideologie einer Gruppe aus und haben eine hohe symbolische Bedeutung. Sie müssen vollzogen werden und folgen dabei einem festgelegten Handlungsablauf. Novak gibt als ein Beispiel eines Rituals bei Funktiona das Übergangsritual bei der Verleihung der Prokura an.

Das Kapitel "Ethnozentrische Aspekte" befasst sich mit den Beziehungen der Abteilungen untereinander. Novak meint, dass auch in Bezug auf Abteilungen Ethnozentrismus, "die Tendenz einer Gruppe (Ethnie), sich selbst in den Mittelpunkt (Zentrum) des Geschehens zu stellen" (1994: 142) zur Wirkung kommt. So sah sich beinahe jede Abteilung von Funktiona als zentral und damit besonders wichtig für das Unternehmen. Eine Ausnahme bildeten "junge" Abteilungen, die erst gegründet worden waren. Sie definierten sich und ihren Einfluss eher über die Sonderaufgaben, mit denen sie betraut waren.

Um Funktiona zu verstehen, ist es zum Beispiel bedeutsam zu wissen, dass und wie der Einkaufsabteilung die zentrale Stellung und Bedeutung für das Gesamtunternehmen durch den Vertrieb streitig gemacht wurde. Im Zentrum zu stehen war mit Macht verknüpft: der Vertrieb gewann, der Einkauf verlor Einfluss auf Unternehmensentscheidungen.

Im Ausblick seiner Studie plädiert Novak denn auch dafür, in der Organisationsforschung den Blick vor allem auf Abteilungen und deren Beziehungen zueinander zu richten. Nur auf diese Weise könnten ForscherInnen Organisationen – und wie sie sich verändern – verstehen (Novak 1994).


5.5.2 Jordan (2003): Universelle Komponenten von Kultur und Organisationskultur

Die US-amerikanische Anthropologin Ann Jordan erinnert in ihrem Buch "Business Anthropology" (2003) an eine traditionelle Perspektive der Kultur- und Sozialanthropologie: "A traditional view in anthropology is that every human culture includes a set of universal components: subsistence patterns, religion, an economic system, a political system, a language, social structure, and art." (Jordan 2003: 87)

Wird diese Perspektive auf Organisationen umgelegt, können entsprechende universelle Komponenten von Organisationskultur beobachtet werden (siehe Tabelle) (Jordan 2003: 84ff).


Universelle Komponenten von Kultur und Organisationskultur (nach Jordan 2003: 88):

Culture Organizational Culture
Patterns of subsistance Type of technology, division of labor
Religion and magic Values, goals, ceremonies, myths
Economic system Reward system
Political system Organizational structure, leadership behavior, power and politics, conflict management
Language and communication Communication
Social structure Group formation other than formal organizational structure
Art Organizational artifacts: dress, building type, logos


Literatur:

Jordan, Ann T.

2003 Business Anthropology. Prospect Heights: Waveland Press

Website: Ann Jordan[1]

Verweise:
[1] http://anthropology.unt.edu/facultybio-jordan.php

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5.6 Ong (1987) "Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in Malaysia"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

"Why are Malay women workers periodically seized by spirit possession on the shopfloors of modern factories?" Mit dieser Frage beginnt die Anthropologin Aihwa Ong ihr Buch "Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in Malaysia" (1987: xiii).

Was folgt, ist eine vielschichtige Darstellung

  • der Industrialisierung Malaysias ab 1970 und der staatlichen Politik zur Förderung der kapitalistischen Marktökonomie,
  • der in den 1970er und 1980er Jahren rasant vor sich gehenden Proletarisierung der bäuerlichen Bevölkerung sowie der damit verbundenen Veränderungen im Leben malayischer Frauen (und Männer).

Ong ermöglicht einen Blick in die lokalen Produktionsstätten transnationaler Unternehmen. Sie zeigt die Erfahrungen malayischer Frauen in diesen Fabriken, die Kontrollmechanismen des Managements und die Widerstandsformen der Arbeiterinnen (Ong 1987; siehe auch Ong 1988).

Literatur:

Ong, Aihwa

1987 Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in Malaysia. New York: State University of New York Press
1988 The production of possession. Spirits and the multinational corporation in Malaysia. American Ethnologist 15: 28-42.

Website: Aihwa Ong[1]

Verweise:
[1] https://anthropology.berkeley.edu/aihwa-ong

5.6.1 Ong (1987): Das Forschungsfeld Freie Handelszone Telok

Die Studie von Aihwa Ong (1987) basiert auf einer 14-monatigen Feldforschung in den Jahren 1979 bis 1980 im Bezirk Kuala Langat in Selangor, Malaysia.

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Abbildung: Landkarte Malaysia Selangor Quelle (GNU FDL)

Ongs Forschung führte sie u.a. in die Freihandelszone (Free Trade Zone, FTZ) nahe der Stadt Telok, einer im Vergleich eher kleinen Freihandelszone. Sie bestand im Forschungszeitraum aus drei japanischen Fabriken. Alle drei Fabriken in der FTZ Telok stellten elektronische Komponenten her, wobei geistige und manuelle Arbeit strikt getrennt wurde (siehe Taylorismus[1]).

Insgesamt waren etwa 2000 Menschen (großteils Malays, zu einem geringeren Teil ChinesInnen und InderInnen) in der Freihandelszone Telok beschäftigt. 85% der Gesamtbelegschaft waren Frauen; 80% der Produktionsarbeiterinnen stammten aus den umliegenden Dörfern.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.2


5.6.2 Ong (1987): Industrialisierung in Malaysia

Die Regierung Malaysias reagierte 1971 auf die schlechte ökonomische Lage der bäuerlichen Bevölkerung, zunehmende Landlosigkeit und steigernde Armut mit einer neuen nationalen Wirtschaftspolitik.

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Foto: Flagge Malaysia (© khairudin, Lizenz: CC BY-NC-SA. Quelle)

Eine Kernsäule dieser Politik bestand darin, exportorientierte Industrialisierung zu fördern. Bis 1980 wurden 59 Industriezentren, darunter neun Freihandelszonen (Free Trade Zones, Exportproduktionszonen) errichtet. Die Freihandelszonen sollten transnationale Unternehmen ins Land bringen. Als Anreiz bot die malayische Regierung bis zu zehn Jahren Steuerbefreiung, niedrige Zölle, keinen gesetzlichen Mindestlohn und keine Gesetze gegen ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern. Die Gründung von Gewerkschaften wurde erschwert, wenn auch nicht gänzlich verboten.

Malaysia entwickelte sich in dieser Zeit zu einem der bevorzugten Länder, in die transnationale Unternehmen ihre arbeitsintensive Produktion auslagerten.

Hunderte Unternehmen mit Zentralen in den USA, Japan und Westeuropa errichteten in Malaysia Produktionsstätten z.B. für Textilien und elektronische Komponenten.

Die geschaffenen Niedriglohn-Arbeitsplätze standen vor allem Frauen offen. Statistische Daten belegen, wie rasch sie in die Lohnarbeit eintraten: 1970 waren in Malaysia nicht mehr als 1.000 Frauen in Fabriken tätig, Ende der 1970er Jahre waren es bereits 80.000 Frauen. Mehr als die Hälfte davon arbeitete in der Elektronikindustrie (Ong 1987).


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5.7 Verwendete und ausgewählte weiterführende Literatur

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Ailon-Souday, Galit, and Gideon Kunda

2003 The local selves of global workers. The social construction of national identity in the face of organizational globalization. Organization Studies 24: 1073- 1096.

Barth, Fredrik

1969 Introduction. In: Fredrik Barth (ed.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Difference. Allen & Unwin

Berger, Peter L., and Thomas Luckmann

1990 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer

Brumfiel, Elizabeth M.

2006 Cloth, gender, continuity, and change. Fabricating unity in anthropology. American Anthropologist 108: 862-877.

Burawoy, Michael

1979 Manufacturing Consent. Chicago: Chicago University Press

Burawoy, Michael, and János Lukács

1992 The Radiant Past. Ideology and Reality in Hungary’s Road to Capitalism. Chicago: University of Chicago Press

Dunn, Elizabeth C.

1999 Slick salesmen and simple people. Negotiated capitalism in a privatized Polish firm. In: Michael Burawoy and Katherine Verdery (eds.), Uncertain Transition. Ethnographics of Change in the Postsocialist World. Rowman & Littlefield

2004 Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor. Ithaca; London: Cornell University Press

Fernandez-Kelly, Maria Patricia

1993 For We Are Sold, My People and I. Women and Industry in Mexico’s Frontier. Albany: State University of New York Press

Freeman, Carla

2000 High Tech and High Heels in the Global Economy. Women, Work, and Pink- Collar Identities. Durham; London: Duke University Press

Hannerz, Ulf

1996 Transnational Connections. London: Routledge

Humphrey, Caroline

2002 The Unmaking of Soviet Life. Everyday Economies after Socialism. Ithaca; London: Cornell University Press

Jordan, Ann T.

2003 Business Anthropology. Prospect Heights: Waveland Press

Mandel, Ruth, and Caroline Humphrey (eds.)

2002 Markets and Moralities. Ethnographies of Postsocialism. Oxford: Berg

Moore, Fiona

2005 Transnational Business Cultures. Life and Work in a Multinational Corporation. Aldershot: Ashgate.

Novak, Andreas

1994 Die Zentrale. Ethnologische Aspekte einer Unternehmenskultur. Bonn: Holos

Ong, Aihwa

1987 Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in Malaysia. New York: State University of New York Press

1988 The production of possession. Spirits and the multinational corporation in Malaysia. American Ethnologist 15: 28- 42.

1991 The gender and labor politics of postmodernity. Annual Review of Anthropology 20: 279- 309.

Parker, Martin

1997 Dividing organizations and multiplying identities. In: Kevin Hetherington and Rolland Munro (eds.), Ideas of Difference. Social Ordering and the Labour of Division; pp. 114- 138. Oxford: Blackwell

2000 Organizational Culture and Identity: Unity and Division at Work. London: Sage

Paulsen, Neil, and Tor Hernes (eds.)

2003 Managing Boundaries in Organizations. Multiple Perspectives. Basingstoke; New York: Palgrave Macmillan

Schwartzman, Helen B.

1989 The Meeting. Gatherings in Organizations and Communities. New York: Plenum

Shackel, Paul A., and Matthew M. Palus

2006 The gilded age and working-class industrial communities. American Anthropologist 108: 828- 841.

Wilson, Tamar Diana

2006 Subsidizing Capitalism. Brickmakers on the U.S.-Mexican Border. New York: State University of New York Press

Wittel, Andreas

1997 Belegschaftskultur im Schatten der Firmenideologie. Eine ethnographische Fallstudie. Berlin: Edition Sigma

Yanagisako, Sylvia

2002 Producing Culture and Capital. Family Firms in Italy. Princeton: Princeton University Press

Zlolniski, Christian

2006 Janitors, Street vendors, and Activists. The Lives of Mexican Immigrants in Silicon Valley. Berkeley: University of California Press

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6. Ethnographische Feldforschung in Organisationen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

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Foto: Mögliche Forschungsfelder der Organisationsanthropologie (© Gertraud Seiser, 2007)

Im Rahmen dieses Contentpools, der Studierende im zweiten Jahr ihres Bachelorstudiums der Kultur- und Sozialanthropologie ansprechen soll, geht es nicht um eine Einführung in die Methoden der KSA, sondern um drei Dinge:

  1. Einige grundlegende Bemerkungen zu Ethnographie als forscherischer Aktivität, die notwendig für das Verständnis von Feldforschung in Organisationen sind und die während des Studiums sowieso nicht oft genug wiederholt werden können;
  2. Dargestellt an einem idealtypischen Forschungsprozess einige Besonderheiten, die bei Feldforschung in Organisationen und Betrieben bereits im Vorfeld bedacht werden sollten;
  3. Einige Stichworte dazu, was eine gute Ethnographie ausmacht.



Nächstes Kapitel: 6.1 Begriff "Ethnographie"


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6.1 Begriff "Ethnographie"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Der Begriff "Ethnographie" ist inzwischen sehr populär und keineswegs nur akademischen Kreisen bekannt. Gleichzeitig haben selbst fortgeschrittene Studierende der Kultur- und Sozialanthropologie - die als Fach einen Hauptvertretungsanspruch darauf stellt, Ethnographien zu produzieren - oft Schwierigkeiten, den Begriff zu konkretisieren oder zu erklären, was sie tun.

Undeterred by the almost religious mystique with which some anthropologists used to surround the term, we may say that ’ethnography’ refers (1) to a set of activities, a way of doing research work ’in the field’, and (2) to the product of those activities. It is the activity which comes first. (Hirsch/Gellner 2001:1)

Die forscherische Aktivität, die als ethnographisch bezeichnet wird, besteht ganz grob gesprochen darin, das man zu den Menschen hingeht, die man beforschen will, versucht, ihr Leben so weit als möglich zu teilen, idealerweise ihre Sprache erlernt und ohne dazwischen geschalteten Dolmetscher ihr Denken und Handeln in ihren eigenen Begriffen versteht. Das Ergebnis dieses Forschungsprozesses ist eine Beschreibung der Gruppe, eine Ethnographie.

Seit Bronislaw Malinowski kennzeichnet ethnographische Forschung im Sinne von Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung die Kultur- und Sozialanthropologie. Ethnographie ist aber nicht der einzige methodische Zugang im Fach und sie ist auch keineswegs auf die Kultur- und Sozialanthropologie beschränkt. In der Soziologie und der Psychologie wird ebenso seit langer Zeit damit gearbeitet. Hirsch und Gellner (2001:2) weisen darauf hin, dass Ethnographie als Methode ganz generell den Weg der Sozialwissenschaften weg vom Positivismus darstellt. Entwickelt wurde dieser methodische Zugang in der Auseinandersetzung mit nicht industrialisierten und schriftlosen Kulturen.

Ethnography is art, science, and craft rolled into one. As artists we seek to capture experiences in images and representations which symbolize reality; in this regard, expression is more important than precision. As scientists, we are data hunter- gatherers who go out and collect information, analyze it, and forge it into testable hypotheses and theories. And as craftsmen and women we are writers who write; issues of style and a pride in good writing are paramount, not because of any misplaced literary ambition, but because the very materials of theory making are words, phrases, and sentences. (Bate 1997: 1153)


Nächstes Kapitel: 6.2 Erkenntnisgewinnung durch Feldforschung


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6.2 Erkenntnisgewinnung durch Feldforschung

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Eine ethnographische Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung führt zu einer spezifischen Art der Erkenntnisgewinnung:

Dadurch, dass man zu den Menschen in ihr alltägliches oder professionelles Umfeld geht und sie dort auch beobachtet, gewinnt man Informationen über ihr praktisches Handeln. Dadurch, dass man mit ihnen spricht, sich die Handlungen und ihr Denken darüber, erklären lässt, Interviews führt, wird auch die Dimension des Sprechens abgedeckt. EthnographInnen suchen somit sowohl zu den Dimensionen des Sprechens als auch jenen des Handelns Zugang. Sprechen und Handeln der Menschen sind üblicherweise nicht deckungsgleich. Ziel einer Feldforschung ist daher, die Unterschiede wahrzunehmen, aufzuzeichnen und zu erklären.

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Foto: Beim informellen Gespräch über Arbeit (© Elisabeth Anderl, 2005 (Projekt KASS))


6.2.1 Teilnahme

Es existiert mit anderen Worten eine Reihe sehr wichtiger Phänomene, die möglicherweise nicht durch Befragung oder Auswertung von Dokumenten in Erfahrung zu bringen sind, sondern in ihrer vollen Wirklichkeit beobachtet werden müssen. Nennen wir sie die Imponderabilien des wirklichen Lebens. (...) Andererseits nützt es bei dieser Art von Arbeit dem Ethnographen, manchmal Kamera, Notizbuch und Bleistift zur Seite zu legen und sich selbst am Geschehen zu beteiligen. (Malinowski 1979 [1922]: 42f; 45)

Diese Aufforderung Malinowskis aus 1922 verweist auf etwas sehr Wesentliches: Feldforschung bedeutet Wahrnehmung mit allen Sinnen (vgl. dazu Spittler 2001), es bedeutet, das Leben, den Alltag der Menschen am eigenen Körper erfahren wollen, nicht nur zuhören, was sie z.B. unter Arbeit, Anstrengung, Müdigkeit etc. erzählen, sondern mitmachen, die Rhythmen, Anstrengungen, Erfolge mit dem eigenen Körper nachvollziehen. Teilnahme verlangt daher empathische Nähe, den Aufbau von Vertrauen und von Beziehungen, um die Vorstellungen und Konzepte der Menschen, mit denen man sich beschäftigt, auch verstehen zu können. In diesem Zusammenhang wird häufig von einer "zweiten Sozialisation" und von "rites de passage" gesprochen. Übergangsrituale, die auch eine Aufnahme in eine andere Gesellschaft symbolisieren.

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Foto: Die Ethnologin Irmgard Hitthaler (rechts) bei der Teilnahme (© Matthias Hartl, 2005 (Projekt KASS))

Feldforschung in Organisationen bezieht sich meistens auf ein Arbeitssetting in einer Welt, die eine Trennung von Arbeit und Freizeit kennt. Die Teilnahme beschränkt sich daher oft auf einen berufsbezogenen Ausschnitt in einer privaten Firma oder öffentlichen Organisation und folgt z.B. nicht den Managern oder Arbeiterinnen auch in ihre Wochenendbeschäftigungen.

In komplexen Gesellschaften ist es fast immer unmöglich, alle Aspekte des Lebens einer Gruppe von Menschen mit teilnehmender Beobachtung zu umfassen, weil die Individuen mehrere Gruppenzugehörigkeiten haben und sich in verschiedenen sozialen Räumen bewegen. Die Ergebnisse bleiben daher immer nur partikulär. Innerhalb des gewählten Rahmens können aber wichtige Aufschlüsse gewonnen werden, da nur über Teilnahme z. B. im Sinne von Mitarbeiten die Erfahrung von spezifischen Zeit- und Raumorganisationen, die von Macht und Hierarchie durchdrungen sind, möglich ist.

Es gibt auch Beispiele für teilnehmende Beobachtung in "totalen Organisationen". Das sind solche, die alle Lebensbereiche einschließen, wie Gefängnisse (z.B. Rhodes 2001; 2004), Klöster (z.B. Hüwelmeier 2004) oder die geschlossene Psychiatrie.

Ziel der Teilnahme ist jedenfalls, die Logik des Systems, Zusammenhänge, Vorstellungen, etc. von innen heraus zu verstehen. Dazu gehört auch die Darstellung des "native’s point of view", das heißt, wie die Beforschten selbst ihre Situation oder bestimmte Ereignisse sehen und beurteilen.


6.2.2 Beobachtung

Wenn Teilnahme als Eintauchen, als Herstellen von Nähe bezeichnet werden kann, so ist Beobachtung das Gegenteil davon. Beobachtung heißt zurücktreten, heißt kritisch hinterfragen, was man tut. Immer wieder Distanz herzustellen ist wichtig, sonst "geht man im Feld auf". In der Kultur- und Sozialanthropologie lautet der entsprechende Fachterminus „going native“ – aus einer Person, die eine Gruppe beforscht, wird ein Teil dieser Gruppe. Die Position als WissenschafterIn wird dabei aufgegeben. Persönlich muss das keineswegs von Nachteil sein. Es gibt viele Beispiele von EthnologInnen, die ins Feld einheiraten und dort bleiben. Im Fall der Organisations- und Betriebsanthropologie ist es gar nicht selten, dass AnthropologInnen eine Karriere in der Firma oder dem Berufsfeld machen, das sie im Rahmen eines Forschungsvorhabens als teilnehmende BeobachterIn kennen gelernt haben. Aber um WissenschafterIn zu bleiben, muss man auch wieder auf Distanz gehen können. Das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen "Insider" werden und "Outsider" bleiben, soll sicherstellen "that one is close enough to see what is going on, but not so close as to miss the wood for the trees (Bate 1997: 1151). Die Wechselspielherstellung ist vielfältig als Quelle ethnographischer Erkenntnis beschrieben worden (z.B. Hauser-Schäublin 2003; Diel-Khalil 1999).

Beobachtung kann unsystematisch oder systematisch erfolgen (vgl. Beer 2003 c). Unsystematische Beobachtung liegt z.B. dann vor, wenn in einer Feldforschung abends in einem Feldtagebuch die Erinnerungen an die Ereignisse des Tages festgehalten werden. Systematische Beobachtung bezieht sich auf ein gezieltes und geplantes Beobachtungssetting mit genauer Festlegung dessen, wer und was beobachtet wird. Das Ziel ist dabei Verhalten quantifizierbar und messbar zu machen (Beer 2003c: 122; vgl. auch Bernard 2002: 390ff).

In der Industrieanthropologie und der Business Anthropology werden besonders häufig strukturierte und stark systematisierte Beobachtungstechniken verwendet (interactional analysis).

Beispiele, die in dieser e-learning Unterlage genauer ausgeführt werden, sind Beispiel dafür sind die Manchester Shop Floor Studies, ein anderes die Hawthorne Experiments.



6.2.2.1 Beispiel Hawthorne

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Abbildung: Raumplan mit Tisch des Beobachters aus: Roethlisberger/Dickson (1947/1939): 403

Im Gegensatz zu den Manchester Shop Floor Studies war Beobachtung in Hawthorne und in vielen weiteren Ethnographien der "interaction analysis" eine sehr distanzierte Form der Beobachtung. Im "bank wiring observation room" saß der Beobachter an einem eigenen Tisch hinter den Werkbänken der Arbeiter und war den ganzen Tag mit minutiösen Aufzeichnungen von allem, was er hörte und sah, beschäftigt. Gegenüber den Arbeitern versuchte er so unauffällig wie möglich zu sein und sich aus deren "normalen" Aktivitäten so weit es irgendwie ging, heraus zu halten (Wright 1994: 11).


6.2.3 Eingrenzung des Feldes

Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung erfordert, dass die Gruppe und die Orte, die man beforscht, hinreichend begrenzt sind. Niemand kann Feldforschung z.B. in der Ukraine machen und die UkrainerInnen teilnehmend beobachten oder bei IBM und die IBM- MitarbeiterInnen weltweit ethnographisch beschreiben. Die Einheiten und die Orte, die man beforscht, müssen also überschaubar und zugänglich sein. Die Eingrenzung des Feldes - so nennt man die Entscheidung für eine kleine, beforschbare Einheit - hat bewusst zu erfolgen. Es muss immer klar bleiben, dass die Eingrenzung künstlich ist, dass ein Dorf, eine Insel, ein Stamm, eine Firma nicht abgeschlossen sind und jedenfalls über Außenbeziehungen verfügen. Diese Beziehungen nach außen (z.B. ökonomische, verwandtschaftliche, transkulturelle, transnationale etc.) sind einzubeziehen. Trotzdem definiert man ein Feld, z.B. eine bestimmte Personengruppe oder Organisation mit dem Bewusstsein, dass dieses Feld nach allen möglichen Richtungen offen ist und dass diese Menschen z.B. in der Organisation nur einen begrenzten Zeitraum verbringen und auch noch ein anderes Leben daneben haben.

Vered Amit (2000) fordert daher, das Feld bewusst zu konstruieren. Wie das zu erfolgen hat, lässt sich nicht generell sagen. Jedes konkrete Forschungsvorhaben muss sich auf Basis der Fragestellung und der Rahmenbedingungen gezielt damit auseinandersetzen.


6.2.4 Vergleich

Viele der frühen Ethnographien, denen es primär um die Beschreibung "fremder" Völker ging, waren von impliziten Vergleichen bestimmt. Ohne es klar auszusprechen, werden die Unterschiede zwischen den "Anderen" und dem "Wir" herausgearbeitet. Implizite Vergleiche haben meist eine Folge: Die Unterschiede werden viel stärker betont als die Ähnlichkeiten. Organisationsanthropologische Feldforschung ist fast immer Feldforschung in der eigenen Gesellschaft. Hier führt das "Allzubekannte", auf das EthnographInnen auf Grund von Gemeinsamkeiten und Überschneidungen treffen, zu häufigen Problemen:

  • Auf Basis von einzelnen Anknüpfungspunkten werden eigene Vorannahmen vorschnell bestätigt.
  • Unter der Annahme einer gemeinsamen Rationalität werden die Kategorien und Erklärungsmodelle der Beforschten kritiklos übernommen.
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Abbildung: Organigramme von Universitäten im Vergleich
Quellen: Universität Wien und Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Von Ouroussoff (2001) hat die Managementstruktur einer Firma untersucht und auf Basis ihrer Feldforschung ein Modell erstellt. Zehn Jahre später beforschte sie mit einer ähnlichen Fragestellung eine andere Firma, ebenfalls in Großbritannien. Erst durch die Forschung in der zweiten Firma wurde ihr bewusst, dass die Schlüsse aus der Analyse des ersten Managements falsch waren. Ohne Vergleichsmöglichkeit hatte sie die "indigenen Konzepte" des ersten Managements vorschnell akzeptiert und zu ihren eigenen wissenschaftlichen Ergebnissen gemacht (von Ouroussoff 2001: 50). Der Prozess der Feldforschung selbst und die Auswertung der Daten schließen immer Vorannahmen und Vergleiche mit ein. Vergleiche sind eine wesentliche Quelle anthropologischer Erkenntnis. Aber man muss wissen, dass man vergleicht und was womit. Wird Feldforschung im eigenen Land, "at home", betrieben, dann kann implizites Vergleichen noch viel unkontrollierter werden, weil als Raster nicht "wir - sie" sondern "rational - irrational", "normal - anormal" angelegt wird.

Wichtig ist immer kritisch zu hinterfragen, ob und inwiefern man seine eigenen Konzepte in die anderen hineinprojiziert.

6.2.5 Offenheit des Forschungsprozesses

Die Forderung nach Offenheit des Forschungsprozesses wird generell mit qualitativen Methoden verknüpft (Mayring 2002). Für die ethnographische Feldforschung ist Offenheit ein definierendes Kriterium, das aus der Beschäftigung mit fremden Gesellschaften kommt.

Diese Offenheit muss ständig neu hergestellt werden, da die Tendenz groß ist - wenn man schon nicht mit vorgefassten Hypothesen ins Feld geht - im Feld rasch welche zu bilden, und sich dann ausschließlich darauf zu konzentrieren. Offenheit bedeutet zu akzeptieren, dass in jeder Phase einer Feldforschung Relevantes auftauchen kann, das die bereits vorgefassten Hypothesen und Schlüsse wieder über den Haufen wirft.


6.2.6 Methodenvielfalt

Feldforschung schließt immer Methodenvielfalt mit ein. Üblicherweise werden verschiedene Beobachtungstechniken mit mehreren Interviewverfahren kombiniert, manchmal durchaus auch quantifizierbare Daten erhoben. Welche Methoden konkret verwendet und wie sie kombiniert werden, hängt nicht nur von der Fragestellung ab, sondern auch von den Spezifika des Feldes, das man beforscht. Der sinnvolle Einsatz jeder Erhebungstechnik setzt die Akzeptanz durch alle Beteiligten voraus.

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Foto: Sharmin Farzana und Michael Santos beim Abgleich von Feldforschungsdaten (© Gertraud Seiser, 2005, (Projekt KASS))


6.2.7 Selbstreflexion

Reflexion und Selbstreflexion sind in einem offenen Forschungsprozess mit teilnehmender Beobachtung von enormer Bedeutung. Fragen dabei sind:

  • Wie wirkt sich meine Befindlichkeit auf die Wahrnehmung der anderen aus?
  • Inwieweit beeinflusst die Interaktionssituation die Forschung?
  • Wie komme ich mit Zurückweisungen oder mit Vereinnahmungen zurecht?
  • Wie verändert sich mein Verhalten und das der Beforschten im Forschungsprozess?
  • Wie präsentiere ich mich meinen Forschungssubjekten - und wenn das nur freundlich, lieb und hilfsbereit ist - wie lange halte ich das durch, und kommt es überhaupt an?

Selbstverständlich ist jede Feldforschung eine nicht wiederholbare und unmittelbar vergleichbare Erfahrung. Trotzdem wurden aus publizierten Erfahrungsberichten typische Phasen der emotionalen Involviertheit herausgearbeitet, die verallgemeinerbar sind (z.B. Bernard 2002: 356ff; Agar 1996: 90ff). Der Beginn einer Feldforschung ist meistens von Enthusiasmus, aber auch Unsicherheit geprägt. Darauf folgt oft ein emotionaler Absturz, Einsamkeit, Langeweile, Unverständnis, Frustration. Um dem zu entkommen, wird meist ein Urlaub von der Feldforschung empfohlen, der sinnvollerweise schon vorher fix eingeplant wird. Der weitere Verlauf der Feldforschung hängt entscheidend davon ab, wie mit dieser Krise umgegangen werden kann. Ziel sollte sein, einen professionellen und von der Erhebungsarbeit bestimmten Umgang mit sich und den anderen zu finden. Insgesamt ist es sehr hilfreich, sich bereits im Vorfeld auch mit der persönlichen, emotionalen Seite der Feldforschung auseinanderzusetzen.

Michael Agar, der sowohl eine klassische Feldforschung auf einem anderen Kontinent als auch Feldforschung in der eigenen Stadt durchgeführt hat, weist darauf hin, dass Feldforschung zuhause viel stressiger sein kann, als in einem anderen Land. Es ist dann nicht ein langer, langsamer und kontinuierlicher Prozess, an dem man sich sozial adaptiert, sondern es handelt sich um ständige, rasche und abrupte Rollenwechsel, die Stress verursachen (Agar 1996: 102f).

Ziel der Forderung nach Selbstreflexion und Reflexion der Interaktionssituationen ist nicht die große Nabelschau in publizierter Form, sondern das Vermeiden von massiven Verzerrungen der Daten.


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6.3 Spezifika der Feldforschung in Organisationen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Der Prozess einer ethnographischen Forschung lässt sich ganz grob in folgende Abschnitte unterteilen:

1. Projektentwicklung und Vorbereitung;

2. Prüfung der Durchführbarkeit und des Zugangs;

3. "Ins Feld gehen" oder Studiendurchführung;

4. Aufbereitung der Daten und Auswertung;

5. Schriftliche Ausarbeitung und Publikation.

Entlang dieser sehr allgemeinen Phasen des Forschungsprozesses soll nun auf einige Spezifika der Feldforschung in Organisationen hingewiesen werden.

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Foto: Der Ethnograf unter den Säulen der Alma Mater (© EASA Local Committee, Vienna Conference, 2004)


6.3.1 Projektentwicklung

Am Anfang eines Forschungsprojekts steht meistens eine Idee, ein Thema oder eine Frage, der man sich widmen möchte. Davon ausgehend muss dann ein mehr oder weniger ausgefeiltes Projektexposé oder ein Projektantrag entwickelt werden (allgemein dazu: Beer 2003b: 15ff). Dieses Projektkonzept hat fast immer mehrere Adressaten. Es geht dabei darum,

  • seine eigenen Fragestellungen zu entwickeln und sich über die Vorannahmen klar zu werden;
  • falls es eine universitäre Arbeit ist, den Erwartungen der BetreuerInnen oder anderer relevanter universitärer Gremien zu entsprechen;
  • falls die Forschung nicht zur Gänze selbst finanziert werden soll, sind die Anforderungen und Vorgaben möglicher Geldgeber zu berücksichtigen;
  • in vielen Fällen und bei Forschungen in Organisationen in allen Fällen, ist eine Forschungsgenehmigung erforderlich. Auch diese ist nur unter Vorlage eines Projektentwurfs zu erlangen;
  • die Menschen, die man zu beforschen vor hat, fordern ebenfalls Erklärungen über Ziele, Inhalte und Absichten des Forschungsvorhabens ein.

Egal wie umfangreich ein Projektentwurf ist, es ist nie möglich, alle Adressaten mit einem einzigen Papier zufrieden zu stellen. Der zentrale Punkt ist der Zugang zum Feld. Niemand kann einem z.B. verbieten, in einer österreichischen Kleinstadt ein Zimmer zu mieten, die öffentlichen Orte wie Wirtshaus oder Kirche aufzusuchen und dort mit Menschen Kontakte zu knüpfen. In der Literatur wird dieser Zugang als "hanging around" bezeichnet.

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Foto: Claudia Grill bei der Kontaktaufnahme (© Gertraud Seiser, 2005 (Projekt KASS))

Zielt man allerdings auf die teilnehmende Beobachtung des Managements eines multinationalen Konzerns ab oder der informellen Arbeitsorganisation der ArbeiterInnen eines Mittelbetriebs, dann wird eine entsprechende Abklärung des Zugangs bereits im Vorfeld nötig sein. Wahrscheinlich scheitern mehr Forschungsprojekte am Zugang zum Feld als an der Organisation der erforderlichen Finanzierung. "For the ethnographer, adaptability to the circumstances is essential, since as Buchanan et al. (1988:56) remark, ’negotiating access for the purposes of research is a game of chance, not of skill’." (Hirsch/Gellner 2001: 5).



6.3.1.1 Forschungsgenehmigung

Im Zugang zu Organisationen sind jedenfalls formale Schranken zu überwinden.

Für die Vorbereitung heißt dies: ein Projekt nicht erst vollständig auszuarbeiten und dann um Genehmigung anzusuchen, sondern bereits die Grobideen der Firma vorzustellen, um eine Forschungsgenehmigung zu erhalten und dann am Konzept weiterzuarbeiten.

Auf drei Fragen sollte man vorbereitet sein:

  • Wie lässt sich zeigen, dass man selbst oder das Forschungsvorhaben der Organisation keine Kosten verursacht?
  • Was hat die Organisation davon? Welche Nutzenargumente lassen sich vorbringen?
  • Inwieweit kann man entkräften, dass der Organisation ein materieller oder ideeller Schaden entstehen könnte?

Brian Moeran (2005: 92ff), der in einem Unternehmen der japanischen Werbebranche Feldforschung betrieben hat, weist darauf hin, dass für den Zugang zur Geschäftswelt persönliche Netzwerke unumgänglich sind. Dies träfe nicht nur auf Japan zu. Man benötigt Kontakte in eine Organisation, seien diese nun professioneller oder privater Natur, es braucht jemanden, der oder die einen mit der Managementebene zusammenführt und jemanden, der oder die einen dort unter die Fittiche nimmt. Dieser persönliche Kontakt "bürgt" auch für die Schadensvermeidung. Das Kostenargument lässt sich entkräften, indem man eine eigene Finanzierung mitbringt. Nutzenargumente können symbolisches Kapital für die Firma sein und bis zu konkreten Beiträgen zur Problemlösung reichen. Unabhängig davon, was im Vorfeld ausverhandelt wurde, muss man sich darüber im Klaren sein, dass in fast allen Ethnographien von der Einforderung von Reziprozität durch die Organisation berichtet wird. In den meisten Fällen wird der Zugang zu einer Organisation im Vorfeld sehr genau ausverhandelt, klar geregelt und limitiert. Das betrifft oft weniger die Inhalte als methodische Aspekte - wo man sich bewegen darf, wobei keinesfalls zu stören ist, wie lange und wann man die MitarbeiterInnen für Interviews, Gespräche beanspruchen darf.



6.3.1.2 Ethikfragen

Jede wissenschaftliche Untersuchung, jede kultur- und sozialanthropologische Feldforschung ist mit ethischen Fragen und vor allem auch mit Verantwortung verknüpft. Die Weigerung, sich damit auseinanderzusetzen - v.a. wer die Ergebnisse wie verwenden kann - ist entweder naiv oder zynisch und kann auch sehr karriereschädigende Folgen haben. Um späteren Missverständnissen vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, die ethischen Dimensionen eines Projekts bereits vor Feldforschungsbeginn mit dem Auftraggeber abzuklären und in der Forschungsgenehmigung schriftlich fest zu legen.

Heikle Fragen (besonders bei Auftragsstudien für Unternehmen):

1. “Informed consent” der Untersuchten: Die wichtigen Berufsvereinigungen der Kultur- und Sozialanthropologie fordern in ihren ethischen Richtlinien den "informed consent" der Untersuchten. Darunter versteht man die Information der Menschen, die interviewt und beobachtet werden sollen, über Inhalte und Ziele des Forschungsvorhabens. Die Information soll so weitgehend sein, dass diese bei ihrer Zustimmung zum "beforscht werden" in der Lage sind, etwaige Konsequenzen abzuschätzen.

2. Schadensvermeidung: Jede Untersuchung soll grundsätzlich so angelegt werden, dass den Untersuchten dadurch kein Schaden entsteht. Sehr schwierig ist in diesem Zusammenhang die Anonymisierung von InterviewpartnerInnen oder Ereignissen, da eine einfache Umbenennung der Personen in vielen Fällen nicht ausreicht.

3. Verwertung der Ergebnisse: Verwertungsrechte sollten jedenfalls formell geklärt werden, was aber oft nicht davor schützt, wie Ergebnisse einer Untersuchung genutzt werden und wer sie wozu in Zukunft verwendet. Oft ist nicht abschätzbar, was passiert, wenn man z.B. beschreibt, dass ArbeiterInnen anders handeln als es die betrieblichen Richtlinien verlangen. Das Management kann verbessern oder bestrafen. Sehr heikel sind auch Grenzverletzungen, die fast unvermeidbar sind, wenn jemand mit den Menschen arbeitet, die er oder sie untersucht. Wie soll man als ForscherIn mit Informationen umgehen, die man als KollegIn und FreundIn, aber niemals als Forscherin erhalten hat?

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Foto: Projektpräsentation (Lisa Anderl) vor der untersuchten Gemeinde (© Matthias Hartl, 2005 (Projekt KASS))

Ethische Probleme ergeben sich in fast jeder anthropologischen Forschung: Bewusstsein und Sorgfalt sind wichtig.


6.3.2 Abtesten des Projektes

You arrive, tape recorder in hand, with a grin rigidly planted on your face. You probably realize that you have no idea how the grin is being interpreted, so you stop and nervously attempt a relaxed pose. Then you realize that you have no idea how that is being interpreted. Soon you work yourself into the paralysis of the psychiatrist in a strip joint - she knows she can’t react, but she also knows she can’t not react. It is little wonder that people sometimes hide in a hotel room and read mysteries. (Agar 1996: 133)

Zwischen der Konzeptentwicklung, der Erledigung der notwendigen Formalitäten und der Feldforschung selbst - mit fließenden Übergängen in beide Richtungen - liegt eine Zwischenphase, die einerseits noch zur Vorbereitung gehört, andererseits bereits Teil der Feldforschung selbst ist. Insbesondere bei aufwändigen Forschungsvorhaben lohnt es sich, einen Vorabbesuch im Feld zu machen, um für die eigentliche Feldforschung noch Vorbereitungen treffen zu können. Die Forschungsgenehmigung ist entweder mit Behörden oder dem verantwortlichen Management vereinbart, es bedarf nunmehr auch einer erfolgreichen Kontaktaufnahme mit den Menschen, die man beforschen will. Auch hier gilt es, sich mit der Situation vertraut zu machen, die "gate keepers" ausfindig zu machen, die vorbereiteten Methoden zu testen und gegebenenfalls Adaptionen vorzunehmen. In Organisationen inkludiert dies fast immer eine Projektpräsentation vor der Belegschaft.

Eine Pause zwischen der ersten Kontaktaufnahme und dem Beginn der eigentlichen Feldforschung ist für den Forschungsprozess meist von Vorteil. Die benötigte Infrastruktur kann jetzt noch vervollständigt werden, und auf der Basis der ersten Eindrücke ist es möglich sich besser auf die Situation einzustellen.


6.3.3 Ins Feld gehen – Studiendurchführung

Zur Durchführung einer Feldforschung lässt sich einerseits sehr viel sagen, andererseits ist es kaum möglich, zu verallgemeinern. Wir können daher nur raten, statt Krimis manchmal Ethnographien zu lesen. Neuere Ethnographien beinhalten fast immer auch detaillierte Beschreibungen und Reflexionen des Forschungsprozesses. Ist man dann selbst in einer bestimmten Situation, erinnert man sich an ähnliche beschriebene Situationen und wie damit umgegangen wurde. Bei Feldforschungen in Organisationen, die auch teilnehmende Beobachtung mit einschließen, ist es wesentlich, eine Rolle zu finden, die von den KollegInnen dort nicht als störend oder beeinträchtigend empfunden wird.

Beispiele für Rollen im Feld:

Die Praktikantin

Die Professionistin

Der Forscher

Worauf sollte bei der Feldforschung in Organisationen besonders geachtet werden?

Unabhängig davon, was in der Forschungsgenehmigung vereinbart worden ist, sollte damit gerechnet werden, dass das Management, aber auch andere Mitglieder der Organisation versuchen werden, auf den Fortgang der Forschung einzuwirken.

Beispiele:

Die Organisationsleitung

  • begrenzt den Umfang der Interviewzeit mit Angestellten während der Arbeitszeit;
  • gibt eine Fülle von Informationen, aber alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit und der Auflage, nichts davon zu verwenden;
  • gibt Ratschläge, mit wem unbedingt gesprochen werden soll und mit wem nicht.

Organisationsmitglieder

  • laden ForscherIn zum Essen ein, und fragen, was denn der Kollege/die Chefin so erzählt haben;
  • wollen von ForscherIn wissen, wie er oder sie bestimmte Situationen, z.B. eine Sitzung oder einen Streit empfunden hat;
  • fordern Ratschläge/Coaching/Reziprozität ein u.v.a.m.

Dies sind alles mehr oder minder bewusste Versuche, die Richtung der Forschung zu lenken oder deren Ergebnisse zu beeinflussen. Gleichzeitig sind es fast immer auch Bemühungen, den oder die ForscherIn in die mikropolitischen Machtspiele der Organisation hineinzuziehen. Und genau das sollte man tunlichst vermeiden. Informationen aus der Forschung zurückzuhalten erhöht langfristig auch das Vertrauen bei jenen, die diese einfordern.

In hierarchischen Situationen, in denen mit Genehmigung des Managements die Belegschaft untersucht werden soll, ist mit verschiedenen Abwehrreaktionen von deren Seite zu rechnen. Eine häufige Verdächtigung besteht darin, SpionIn des Managements zu sein. Diese Anschuldigungen erfolgen meist verdeckt, und trotzdem ist es nötig, sich damit auseinanderzusetzen. Man muss unterscheiden lernen, ob es sich um einen Scherz handelt oder ob durch die Anspielungen der Forschungsprozess bereits ernsthaft in Gefahr gerät. Alle hierarchischen Ebenen haben ihre "gate keeper" (z.B. Betriebsrat, gewählte oder informelle Vertrauenspersonen), die informiert und einbezogen werden sollten.

Sind in einer Organisation mehrere politische Fraktionen erkennbar, sollte man vorschnelle Instrumentalisierungen durch eine Seite vermeiden. Das bedeutet nicht, dass man jede Positionierung vermeiden kann. Ich bin in meinen Forschungen bisher immer gefragt worden, welche Partei ich wähle, wie es mit meiner Religionszugehörigkeit und -Ausübung aussieht, warum ich nicht verheiratet bin und Kinder habe, etc. Ich halte es für das Vernünftigste, diese Fragen halbwegs ehrlich und ohne ideologische Prinzipienreiterei zu beantworten. Offene ethnographische Feldforschung stößt fast immer auf Skepsis durch die Beforschten, weil unklar bleibt, was man sucht und herausfindet, und wie dieses Wissen verwendet werden kann. Je höher die formale Ausbildung der Beforschten, umso häufiger der Vorwurf, nicht objektiv zu messen und irgendwie ein nicht kalkulierbares Geheimwissen anzusammeln. Feldforschung im eigenen Land und in Organisationen verlangt der EthnographIn viel Zeit und Geduld zur Rechtfertigung des methodischen Zugangs und der Sinnhaftigkeit von ethnographischer Forschung ab.

Nowak (1994) weist unter vielen anderen darauf hin, dass die Funktionalisierung des Forschers durch das Feld integraler Bestandteil eines jeden Forschungsprozesses ist. Diese Funktionalisierungen, Vereinnahmungen, Manipulationen sind der Regelfall, nicht die Ausnahme.




6.3.3.1 Rollen im Feld: die Praktikantin

Heike Wieschiolek (1999) hat als Westdeutsche einen ehemals ostdeutschen Betrieb zu einer Zeit untersucht, zu der ArbeiterInnen in ostdeutschen Produktionsstätten in ständiger Furcht vor Entlassung lebten. Nach längerem Hin und Her hat sie sich für die Rolle einer Praktikantin entschieden. In den 1990er Jahren waren PraktikantInnen, die von den Arbeitsämtern hin und her geschickt wurden, eine alltägliche Erscheinung im ehemaligen Osten, an die sich die verbliebene Stammbelegschaft gewöhnt hatte. Diese Rolle hatte ihr auch gestattet, verschiedenste Bereiche der Firma mit etwa 80 MitarbeiterInnen kennen zu lernen, da sie immer dort eingesetzt wurde, wo gerade "Not am Mann" war. Sie konnte so ihre beiden Wünsche, den nach Integration und den nach Bewegungsfreiheit vereinbaren (Wieschiolek 1999: 50).

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Foto: Graffiti aus der Nähe von Leipzig (© Gertraud Seiser, 1993)



6.3.3.2 Rollen im Feld: die Professionistin

Melissa Parker (2001) wurde als Anthropologin in ein interdisziplinäres Projekt geholt, in dem es um die Verbreitungswege von ansteckenden Geschlechtskrankheiten ging. Die Untersuchung fand in einer Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten statt, die neben dem normalen Patientenbetrieb auch Forschung und Lehre durchführt. Um Zugang zu den entsprechenden PatientInnen zu erhalten - sie sollte herausfinden, mit wem diese in den letzten Monaten sexuellen Kontakt hatten, und auch diese Personen kontaktieren und ebenfalls interviewen - wurde sie zuerst mehrere Wochen lang zur Gesundheitsberaterin ausgebildet.

Das Projekt, das Kontaktfeld von Personen mit chronischen Geschlechtskrankheiten zu erforschen, ist gescheitert. Die Personen mit wiederholten Reinfektionen von Gonorrhoe waren schlicht nicht bereit, eine Anthropologin in ihr privates Kontaktumfeld eindringen zu lassen. Aus der medizinanthropologischen Forschung ist mit Einverständnis der Klinikleitung eine organisationsanthropologische Untersuchung geworden. Die Klinik besteht aus einer frei zugänglichen Ambulanz für Personen mit Geschlechtskrankheiten, einer Spezialklinik für AIDS- PatientInnen und einer anderen für chronische Geschlechtskrankheiten. Parker beschäftigte sich nun mit dem Verhältnis des Personals der verschiedenen Teilkliniken zueinander und zu den jeweiligen PatientInnen. Während der zweijährigen Forschungszeit wurde - mit kurzer Unterbrechung - die Doppelrolle Gesundheitsberaterin/Forscherin beibehalten.

I had not been employed to write an ethnography of a clap clinic and I probably would not have kept an on-going account of events, conversations and conflicts at the clinic if the project I had planned to work on had not been such a failure. However, the clinic proved to be an extraordinary place to work and while the culture of work undoubtedly contributed to the difficulties of identifying sexual networks and understanding the transmission of gonorrhoea, it also proved to be a fruitful avenue of research in ist own right. (Parker 2001: 140f)

Der Artikel von Melissa Parker zeigt auch sehr eindrücklich, dass eine Forschungsgenehmigung und selbst massive Unterstützung durch die Leitung einer Organisation keineswegs hinreichen, um Zugang zu den Personen zu erhalten, die man untersuchen möchte.



6.3.3.3 Rollen im Feld: der Forscher

Jede Feldforschung wirft auch ethische Fragen auf, denn "we, as researchers are parasites on our subjects" (O’Neill 2001:229).

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Foto: Rettungswagen in der Karpato-Ukraine (© Gertraud Seiser, 2007)

Wie schwer wiegend diese ethischen Dilemmatas sein können, in die man als ForscherIn gerät, hängt vom Feld ab, in dem man sich bewegt. Matin O’Neill wirft die Komplexität ethischer Fragen am Beispiel seiner Feldforschung unter britischen Rettungsfahrern auf. O’Neill hatte selbst vor seinem Anthropologiestudium sieben Jahre bei einem Rettungsdienst gearbeitet und wollte nunmehr seinen PhD auf Basis einer organisationsanthropologischen Untersuchung bei seinem ehemaligen Team machen.

Da er dort gut bekannt war, erhielt er auch sofort die Genehmigung zur Forschung inklusive der Erlaubnis, bei allen täglichen Abläufen einschließlich Rettungsausfahrten dabei zu sein. Die Auflage war, keinen Patienten und auch keine Gerätschaften des Ambulanzwagens anzurühren. Aus rechtlichen und versicherungstechnischen Gründen wurde Beobachtung ermöglicht, Teilnahme allerdings unter keinerlei Umständen. Der "informed consent" der KollegInnen war herstellbar, jener der PatientInnen ist in Notfallsituationen unmöglich. Bereits in den ersten Forschungswochen wurden sie zu einem fünf Tage alten Baby gerufen, das zu atmen aufgehört hatte. Ohne Chance, nachdenken zu können, ist er in die Rolle des Notfallssanitäters geschlüpft. Als er nachher das forschungsethische und rechtliche Problem mit einem Kollegen erörterte, unterbrach dieser:

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Foto: Alles Müll? (© Gertraud Seiser, 2007)
’ We worked as a team and who gives a fuck as long as the baby is alright?’ I realized then that that said it all. Whatever my role or responsibility as a researcher these were secondary to my roles and responsibilities as a human being. If I could help, I had a duty to help, regardless of any arguments concerning research ethics; the ethical issues in this situation were a lot deeper. (O’Neill 2001: 227)

Dieses Beispiel zeigt folgendes: Auch wenn wir uns im Rahmen einer Feldforschung auf eine Rolle, und zwar auf die der Forscherin/des Forschers begrenzen, werden wir in die Dynamik des Feldes involviert. Abhängig davon, welche Gruppe in welchem Umfeld untersucht wird, ergeben sich fast immer Situationen, in denen wir als Menschen gefordert sind.


6.3.4 Datenaufbereitung

Die Datenaufbereitung folgt je nach Art des gesammelten Materials den üblichen methodischen Regeln. Wichtig ist zu bedenken, dass anders als bei der sprichwörtlichen Dorfstudie in der Ferne, sich hier Auftraggeber, Untersuchte und das Publikum der Ethnographie viel stärker überschneiden. Es können zumindest alle das Produkt des Forschungsprozesses lesen. Das hat vor allem Konsequenzen für die Frage der Anonymisierung: Werden z.B. Konfliktsituationen genauer beschrieben, so nützt es unter Umständen nichts, wenn die Firma und die beteiligten Personen andere Namen erhalten. Wird der Text intern gelesen, sind die einzelnen Positionen konkreten Personen zuzuordnen. Dies kann beispielsweise arbeitsrechtliche Folgen haben. Es ist daher eine erhöhte Sensibilität gegenüber den möglichen Folgen des Geschriebenen angebracht. Das kann sogar den Verzicht auf die Auswertung von besonders aussagekräftigem und wissenschaftlich interessantem Material erforderlich machen.

Organisationsanthropologische Untersuchungen werden daher nicht nur aufgrund von entsprechenden Vereinbarungen mit der Organisationsleitung erst lange nach der eigentlichen Feldforschung publiziert, sondern auch, um die InformantInnen zu schützen.


6.3.5 Schriftliche Ausarbeitung / Publikation

In der Forschungsgenehmigung sollte bereits vertraglich festgelegt werden, ob etwas, was und wie viel publiziert werden darf. Dies hängt auch von der Art der Forschung ab:

  • Auftragsforschung im Bereich der angewandten Ethnologie: Auftraggeber und meist auch Geldgeber ist die Organisation selbst - in diesem Fall sind Publikationsverbote zumindest über einen bestimmten Zeitraum fast immer Bestandteil des Vertrags. Es wird empfohlen, sich vor Ausverhandlung des Auftrags über die nationalen gesetzlichen Regelungen zum Schutz geistigen Eigentums zu informieren. AutorInnenrechte können je nach Land unterschiedlich gekauft oder verkauft werden. Am Ende einer Auftragsforschung steht ein Bericht an den Auftraggeber, aber nicht unbedingt eine Publikation.
  • Auftragsforschung für nationale oder internationale Behörden (z.B. EU-Projekte): In diesem Fall sind Geldgeber und Auftraggeber eine Organisation und die Untersuchte(n) Organisation(en) davon verschieden. Es ist darauf zu achten, dass die Interessen von Auftraggeber, beforschter Organisation und ForscherIn miteinander kompatibel und vertraglich abgesichert sind. Der/die ForscherIn darf keine Auflagen für die Forschungsgenehmigung akzeptieren, welche die Vertragserfüllung gegenüber dem Auftraggeber gefährden. Auch hier ist das Resultat ein Bericht an den Auftraggeber und in Hinblick auf eine Publikation ist eher mit zwei als mit keiner Zensurinstanz zu rechnen.
  • Forschung im Rahmen einer wissenschaftlichen Institution (Universität, Forschungsfonds etc.) oder selbst finanzierte Forschung im Rahmen einer akademischen Abschlussarbeit: Eine Forschungsgenehmigung mit massiven Auflagen und Restriktionen in Bezug auf die Publikation der Ergebnisse ist in diesem Fall wertlos und selbstschädigend. Da in vielen Ländern die AutorInnenrechte bereits sehr stark gesichert sind, kann man natürliche schon die Auflagen akzeptieren, trotzdem publizieren und eine Klage der Firma auf Einhaltung der Vertragspflichten riskieren. Es ist aber fast immer besser, sich ein anderes Forschungsfeld oder eine andere Firma zu suchen. Im Falle von akademischen Abschlussarbeiten ist ein Zulassen von Forschungsrahmenbedingungen, die den Abschluss gefährden ein klarer Betreuungsfehler.

Egal wie die Vereinbarungen mit der beforschten Organisation sind, sie entbinden nicht von der Pflicht sich zu fragen: Was kann ich ethischerweise schreiben und was nicht. Viele meiner Informationen habe ich auf Vertrauensbasis erhalten, und ich sollte dieses Vertrauen auch rechtfertigen.


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6.4 Qualitätskriterien für "gute" Ethnographie

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Eric Hirsch und David Gellner präsentieren in ihrer Einleitung zu "Inside Organizations" (2001: 9) eine Liste von Kriterien, die ihrer Meinung nach erfüllt sein müssen, um eine gute Ethnographie zu erreichen. Diese Liste soll hier wiedergegeben und kurz kommentiert werden, weil sie zum Nachdenken anregen kann, welche Qualifikationen von EthnographInnen gefordert sind.

Eine gute Ethnographie nach Hirsch/Gellner leistet folgendes:

1. Vermittelt Gefühl von „being there“

Dieses Gefühl bekommt der/die LeserIn nur dann, wenn die Beschreibung entsprechend "dicht" (Geertz 1987) ist und der Text auch über eine gewisse literarische Qualität verfügt.

2. Liefert Details und unerwartete Ergebnisse

Unerwartete Ergebnisse und Details lassen sich nur durch Offenheit im Forschungsprozess erreichen, durch einen ethnographischen Blick, der auch das Unerwartete wahrnimmt und durch Interviewverfahren, die den InterviewpartnerInnen die Möglichkeit lassen, neue Themen einzubringen und auszuführen.

3. Widerspiegelt Polyphonie der wirklichen Welt

In komplexen sozialen Situationen gibt es nie nur eine Sicht der Dinge. Gute Ethnographien reduzieren die Komplexität nicht, sondern lassen Vielstimmigkeit zu. Beobachtungen, die nicht in vorgefasste Modelle passen, werden weder verschwiegen noch als Irrationalitäten o.ä. abgetan.

4. Bietet Modell oder Theorie an

Um dem wissenschaftlichen Anspruch zu genügen, bleibt eine Ethnographie nicht auf der Ebene der bloßen Beschreibung, sondern versucht, zu Modellen oder Theorien zu kommen, die das Vorgefundene auch erklären.

5. Kontextualisiert Ergebnisse

Der qualitative und offene Zugang der Feldforschung fokussiert auf kleine Einheiten oder Gruppen. Deren Einbindung in einen weiteren räumlichen, zeitlichen und sozialen Zusammenhang muss aber zumindest umrissen werden.

6. Ist aufmerksam gegenüber Fragen von Macht und Ungleichheit

Organisations- und betriebsanthropologische Forschung findet nicht in macht- und hierarchiefreien Räumen statt. Allein durch die Notwendigkeit einer offiziellen Forschungsgenehmigung und die Tendenz von Führungskräften aus Wirtschaft und Verwaltung, die Außenrepräsentation unter Kontrolle zu halten, entsteht potenziell ein Managementbias. Führungskräfte und ForscherInnen wurden oft in denselben oder ähnlichen Bildungseinrichtungen sozialisiert, sie sprechen daher eine ähnlich Sprache und verwenden ähnliche Rationalisierungen. ForscherInnen tendieren daher dazu, die Argumentationen des Managements zu übernehmen und als wissenschaftliche Modelle oder Erklärungen auszugeben. Ein Beispiel dafür sind viele Studien der Human Relations School.

7. Achtet auf Differenz zwischen Sprechen und Handeln

Die Methode der teilnehmenden Beobachtung bezieht die Dimension des Handelns ganz explizit mit ein. Beobachtungsdaten auszuwerten und zu präsentieren fällt aber vielen schwerer, als Interviewpassagen zu zitieren. Es bedarf daher oft einer gezielten Anstrengung, das Handeln und die Differenz zwischen Handeln und Sprechen nicht aus den Augen zu verlieren.

8. Bleibt nicht auf der Ebene von „front-stage perfomance“

In der Kultur- und Sozialanthropologie wird der lange Feldaufenthalt, idealerweise ein ganzes Jahr, gefordert. Ein wesentlicher Grund dafür liegt darin, dass es einfach Zeit benötigt, die Ebene der Außenrepräsentationen zu verlassen und Einblicke hinter die Kulissen zu erlangen. Ziel einer guten Ethnographie ist immer auch die Darstellung von hinter den Selbstdarstellungen liegenden Zusammenhängen.

9. Achtet auf die verwendete Sprache

Wie Sprache von den verschiedenen handelnden Personen in einem konkreten Organisationskontext verwendet wird, ist eine wichtige Informationsquelle z.B. über berufliche Subkulturen, Über- und Unterordnungsverhältnisse, soziale Herkunft, Außen- und Innenbezug etc.

10. Reflektiert die Position des Ethnographen mit

Der/die EthnographIn ist immer in einer ambivalenten Position: Er/sie versucht sich in die Situation von verschiedenen Personen hinein zu versetzen, empathisch deren Standpunkte nachzuvollziehen, ohne die wissenschaftliche Position des immer wieder Distanzfindens aufzugeben. Der notwendige Spagat zwischen Nähe und Distanz erfordert die ständige Reflexion des eigenen Tuns.

11. Sucht nicht nur Bestätigung des bereits Gewussten

Das ethnographische Material darf nicht nur eine eklektische Illustration der eigenen schon vorgefassten theoretischen Position sein. Es muss so genau und umfassend präsentiert werden, dass FachkollegInnen auch andere Schlüsse daraus ziehen können.

Es geht also darum, den "native’s point of view" darzustellen, aber dabei nicht stehenzubleiben, sondern sich zwischen den detaillierten Beobachtungsdaten, den Mustern der Alltagspraktiken und der Interaktionen, allen Daten aus anderen Quellen, wie z.B. harte Informationen über Gehälter, hin und herzubewegen. Die Aufbereitung muss so sein, dass der Leser/ die Leserin eingeladen wird, an der Feldforschung teilzunehmen, ein Leser "...who is invited - indeed, required - to participate in the research act, to check the conclusions against the evidence, to test out, on the basis of the evidence provided alternative interpretations. This is one of the marks of a good ethnography" (Emmett/Morgan 1982: 142).


Nächstes Kapitel: 6.5 Weiterführende Literatur und Quellen


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6.5 Weiterführende Literatur und Quellen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Agar, Michael H.

1996 The Professional Stranger. An Informal Introduction to Ethnography. San Diego, New York, London: Academic Press

Amit, Vered

2000 Introduction: Constructing the Field. In: Vered Amit (ed.), Constructing the Field: Ethnographic Fieldwork in the Contemporary World; pp. 1-18. London: Routledge

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1997 Whatever Happened to Organizational Anthropology? A Review of the field of Organizational Ethnography and Anthropological Studies. Human Relations 50: 1147-1175.

Beer, Bettina

2003b Einleitung: Feldforschungsmethoden. In: Bettina Beer (ed.), Methoden und Techniken der Feldforschung; pp. 9-31. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. (Ethnologische Paperbacks)

(ed.)

2003a Methoden und Techniken der Feldforschung. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. (Ethnologische Paperbacks,

2003c Systematische Beobachtung. In: Bettina Beer (ed.), Methoden und Techniken der Feldforschung; pp. 119-141. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. (Ethnologische Paperbacks)

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2002 Research Methods in Anthropology. Qualitative and Quantitative Approaches. Walnut Creek, New York: Altamira Press

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1999 Ethnologie und Organisationsentwicklung. 2. Auflage. München: Rainer Hampp Verlag (Management-Konzepte, 3)

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1982 Max Gluckman and the Manchester shop-floor ethnographies. In: Ronald Frankenberg (ed.), Custom and Conflict in British Society; pp. 140-165. Manchester: Manchester University Press

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1987 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Gellner, David N., and Eric Hirsch (eds.)

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2003 Teilnehmende Beobachtung. In: Bettina Beer (ed.), Methoden und Techniken der Feldforschung; pp. 33-54. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. (Ethnologische Paperbacks)

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2001 Introduction: Ethnography of Organizations and Organizations of Ethnography. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work; pp. 1-15. Oxford; New York: Berg

Hüwelmeier, Gertrud

2004 Närrinnen Gottes. Lebenswelten von Ordensfrauen. Münster/New York: Waxmann Verlag

Malinowski, Bronislaw

1979 Argonauten des westlichen Pazifik. Frankfurt/Main: Syndikat

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2002 Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim, Basel: Beltz Verlag (Beltz Studium,

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2005 The Business of Ethnography. Strategic Exchanges, People and Organizations. Oxford, New York: Berg

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1994 Die Zentrale: Ethnologische Aspekte einer Unternehmenskultur. Bonn: Holos

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2001 Participation or Observation? Some Practical and Ethical Dilemmas. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work; pp. 221-230. Oxford, New York: Berg

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2001 What is an Ethnographic Study? In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work; pp. 35-58. Oxford, New York: Berg

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1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1-31. London and New York: Routledge

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7. Bildquellen und Lizenzen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
Bildquellen:

Warner, Sam Bass, Jr.

1995 The Urban Wilderness: A History of the American City. Berkeley: University of California Press

Zischka, Anton

1944 5000 Jahre Kleidersorgen. Eine Geschichte der Bekleidung. Leipzig: Wilhelm Goldmann Verlag


Bildquellen im Internet:

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6c/MalaysiaSelangor.png[1] (Landkarte)

https://web.archive.org/web/20061128101617/http://gerber.adv.wroc.pl/[2] (Foto)

https://web.archive.org/web/20071128202708/http://grin.hq.nasa.gov/[3] (Fotos)

http://www.flickr.com[4] (Fotos)

http://pdphoto.org[5] (Foto)

https://www.carolsbycandlelight.com/rady-childrens-hospital-san-diego/ (Foto)

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Verweise:
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[23] http://en.wikipedia.org/wiki/GNU_Free_Documentation_License